Читать книгу 1 Jahr und JanuS - Karin Szivatz - Страница 4
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Karin Szivatz /EgoLiberaVerlag 2018
Einbandgestaltung: Walt H. Johnson
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Alle Rechte vorbehalten.
1. Auflage
Printed in Germany
www.egolibera.at
„Ja“, sage ich leise, „ich habe sie verstanden. Zumindest weiß ich, was sie gesagt haben. Aber es ist so weit weg, so irreal und im Moment ohne Bedeutung.“
Ein ironisches Lächeln huscht über meine Lippen und lässt mein Gesicht wahrscheinlich wie einen Bioapfel nach der Ernte am Baum aussehen. Dann öffne ich meinen Mund, sehe den Arzt an und möchte ihm etwas sagen. Doch es entweicht lediglich ein Atemstoß. Aber dieser zeigt mir, dass ich am Leben bin….
Ich verlasse die Arztpraxis und stehe wieder im geschäftigen Leben. Inmitten der Fußgängerzone, in der Menschen aneinander vorüber eilen, Geschäftsleute mit noch weit überteuerten Schnäppchen locken um mehr Profit aus ihren Waren zu schlagen und in der das Leben am frühen Abend zusammenbricht wie der Verstand eines Mannes während einer Erektion.
Direkt vor dem Eingang, der jetzt zu meinem Ausgang geworden ist, stehe ich und sehe der Hektik zu. Der Interessenlosigkeit, die sich in den Gesichtern der Menschen spiegelt. Dem Zeitmangel, der sich in den übereilten Bewegungen der Beine widerspiegelt. Und der Diktion der Werbung, die aus den einheitlichen Schuhen, Taschen und Kleidern lacht; willige Opfer tragen, was Modeschöpfer gerne auf den Straßen sehen möchten.
Dazu fällt mir mein Beruf ein. Auf den Pflegestationen laufen wir in sauberem Weiß herum. Im Operationssaal begegnen wir uns in dunklem Grün und auf der Intensivstation leuchten wir in grellem Orange.
Allerdings stehen wir dazu, dass wir eine Uniform tragen – die Menschen auf der Straße meinen, sie seien individuell gekleidet, wenn sie sich an die aktuelle Mode klammern, nur um nicht aufzufallen. Was wäre denn, wenn sie auffallen?
Die anderen würden ebenso an ihnen vorbei laufen wie jetzt auch.
Möglicherweise würde eine Fremde ihrer Freundin erzählen, dass da eine Fremde war, die sich nicht dem Trend unterworfen hat. Wen interessiert schon, was eine Fremde ihrer Freundin erzählt?
Mich hat es nur selten interessiert. Bei Bekannten gar nicht und bei Freunden war ich immer daran interessiert, eine gute Meinung von mir in ihnen zu wissen. Ich wollte immer, dass sie wissen, wie ich ticke. Dass ich eigentlich nur Gutes wollte; mal für mich und mal für sie. Auch wenn das nicht immer im Einklang miteinander gestanden hat.
Und außerdem wollte ich immer, dass sie wissen, wie intelligent, gebildet und belesen ich bin. Aber das interessierte nur die Wenigsten, weil sie das Ausmaß meiner Bildung nicht selten als Bedrohung wahrgenommen hatten. Deshalb haben sie sich mit mir oft auf einem sehr niedrigen Niveau unterhalten, damit der Unterschied nicht auffällt. Wer lässt sich schon gerne von seinem Gegenüber zeigen, dass er ihm geistig unterlegen ist?
Im Laufe der Jahre bin ich dahinter gekommen, dass mich manche Menschen nicht für dumm hielten sondern dass sie einfach nur Angst vor mir hatten. Vor meiner offenen Art und vor den Aussagen, die ihnen ihre eigene Unzulänglichkeiten aufzeigten.
Und als Antwort darauf bekam ich nicht selten Mitteilungen, von denen ich mir dachte, sie hielten mich für dumm. Und es ärgert mich, dass ich nicht früher darauf gekommen bin, dass es sich lediglich um nackte Angst handelte. Aber das nennt man wohl Lebenserfahrung.
Ob ich meine Lebenserfahrung jetzt auch noch werde nutzen können, wird sich weisen. Mein Leben hat gerade einen Knick erfahren, auch wenn ich noch nicht bereit bin, ihn wirklich zu sehen. Somit kann ich auch den Grad der tatsächlichen Schwere nicht absehen. Es ist mir derzeit nur möglich, von den Meinungen, die sich andere gebildet haben, auszugehen. Und das ist etwas, das ich überhaupt nicht kann.
Wie lange ich schon vor der Tür der Arztpraxis stehe, vermag ich nicht zu sagen. Die Welt um mich ändert sich ständig und lässt keine Schätzung zu. Ich bin aber noch nicht so weit, den Weg frei zu geben. Ein unsichtbares Band hält mich fest, kettet mich an den Arzt. Vielleicht sollte ich an dem Band ziehen. Ihn daran herausziehen, damit er seine Diagnose revidiert und mich gesund entlässt. Da noch kein anderer Patient die Praxis betreten hat gehe ich davon aus, dass es kein besonders guter Arzt ist. Vielleicht einer, der gerne voreilige Schlüsse zieht um dann den Patienten die wundersame Heilung durch seine Hände vorführen kann.
Dennoch kann ich das unsichtbare Band noch nicht zerreißen. Ich stehe noch lange vor der Türe und sehe dem hektischen Treiben in der Fußgängerzone zu. Nicht, weil es mich interessiert sondern weil ich unfähig bin, auch nur einen einzigen Schritt in mein weiteres Leben zu machen.
Ich habe mir telefonisch die nächsten Tage frei genommen. Mein Chef meinte zwar, es wäre unmöglich, aber ich habe ihm gesagt, dass ich nicht kommen werde; ganz bestimmt nicht. Ob er mir frei gibt oder nicht. Den Grund dafür habe ich ihm nicht gesagt. Es geht ihn nichts mehr an. Jetzt nicht mehr.
Zwanzig Jahre meines Lebens habe ich in Krankenhäusern verbracht; das ist knapp mein halbes Leben. Und es waren weit mehr als vierzig Stunden pro Woche. Am enthusiastischen Anfang meiner Nichtkarriere wäre ich beinahe ins Krankenhaus übersiedelt. Nichts war wichtiger als meine PatientInnen und jene, die gesund genug waren um keine mehr sein zu müssen.
Je realer ich jedoch den Betrieb sehen konnte, desto weiter entfernte ich mich von meinen PatientInnen. Letztendlich machte ich nur noch Nachtdienste und kümmerte mich beinahe nur noch um medizinische Belange. Den menschlichen Kontakt zu all dem Leid, den Krankheiten, den Verstümmelungen und den psychischen Gräueltaten, die auf mich einschlugen, konnte ich nicht mehr aufrecht halten.
Als ich meinem Chef mitteilte, dass ich mir ein paar Tage frei nehmen würde, hatte ich bereits unzählige Maschinen zwischen mich und den Patienten geschoben.
Ich war auf einer Intensivstation tätig, auf der die meisten Patienten im (künstlichen) Tiefschlaf lagen. Sie wurden beatmet, künstlich ernährt und hochwissenschaftlich versorgt. Der zwischenmenschliche Part fiel so gut wie aus.
Erst später erkannte ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits völlig ausgebrannt war, mir aber noch immer ein lächelndes Gesicht im Spiegel entgegensah und mir sagte ‚selbst wenn du alles gibst, ist es nicht genug. Niemals genug. Nie genug.’
Ich komme nach Hause. Eine Glühbirne im Vorzimmer ist tot. Ausgebrannt. Ohne Saft. Sie kann niemandem mehr etwas zeigen. Nur noch hängen und schweigen. Ich muss sie ersetzen, denke ich so nebenbei. Was tot ist, wird ersetzt. Auch ich. Irgendwann. Bald.
Die Katze ist lästig und streift unentwegt um meine Beine. Sie freut sich nicht, dass ich nach Hause gekommen bin: sie freut sich, dass ich da bin um sie zu füttern. ‚Eigenwilliges Biest’, benenne ich sie stumm für mich und schaufle Futter in ihre Schüssel. Ohne mich anzusehen stürzt sie sich über den schlecht riechenden Inhalt der Dose, schmatzt und schüttelt heftig ihren Kopf. Kleine Reste des braunen, klebrigen Zeugs fliegen durch die Gegend und ich nehme rasch ein Stück Küchenrolle um sie wegzuwischen ehe sie eintrocknen.
Eigentlich wollte ich meine Schuhe ausziehen, doch der Hund tanzt unentwegt um mich. Mit seinen Krallen klickt er ständig am Melan und es macht mich rasend. Er wird nicht zu Klicken aufhören ehe ich mit ihm spazieren war. Also ziehe ich meine Schuhe nicht aus, wie ich es wollte sondern lasse sie an und nehme die Leine. So wie der Hund es will. Dann gehen wir. Ich leine ihn nicht an, weil mich das Gezerre am Arm nervt. Der Hund ist gut drauf und läuft weit weg. Ich rufe ihn, doch er reagiert nicht. Er hat bekommen, was er wollte und ignoriert, was ich will. Schon nach kurzer Zeit drehe ich um. Das Gehen freut mich nicht. Der Hund folgt mir, jagt dann an mir vorbei in Richtung Haus. Verärgert rufe ich nach ihm. Er soll gefälligst mit mir nach Hause gehen, denn seinetwegen bin ich überhaupt unterwegs. Doch es kümmert ihn nicht. Kraftvoll läuft er voraus und ich mache mir nicht die Mühe, noch ein Mal zu rufen oder ihm nachzuhetzen. Soll er doch unter ein Auto kommen, denke ich und schlendere dann gedankenfrei zurück.
Auf den weißen Fliesen hinterlässt der Hund schmutzige Abdrücke. Eigentlich habe ich keine Lust, sie wegzuwischen, hole aber dennoch den Mopp und feuchte ihn an. Wenn sie eintrocknen habe ich mehr Arbeit als jetzt. Also erledige es gleich.
Noch während ich wische und noch immer meine Schuhe anhabe, springt der Hund erneut. Jetzt hat er Hunger. Mit einem verzweifelten Seufzer gebe ich auch ihm etwas Futter in seine Schüssel. Auch er ignoriert mich auf der Stelle und sieht nur noch das Fleisch. Nett, denke ich und ein Mundwinkel zieht sich hoch. Fleisch ist wichtiger als ich, obwohl ich auch Fleisch bin.
Es ist nicht mein Hund, es ist nicht meine Katze und dennoch. Ja, dennoch habe ich die Verantwortung übernommen. Ohne gezwungen worden zu sein. Die Tiere geben mir nichts, verlangen aber viel. Ich komme mir benutzt vor. Ausgebeutet. Des Lebens beraubt. Witziger Weise von Tieren. Und vom Haushalt. Unendlich viele Stunden habe ich in sie gesteckt und was dafür bekommen? Ein Hamsterrad. Eine Sisyphusstelle auf Lebenszeit. Und jetzt ist die Lebenszeit bereits beschränkt. Wie viele Jahre mehr hätte ich leben können, hätte ich mich weder um die Tiere noch um den Haushalt gekümmert? Ich wäre garantiert nicht älter geworden, aber ich hätte länger gelebt.
Der Klingelton meines Handys reißt mich aus den Gedanken. Nicht schon wieder er! Ich will jetzt nicht reden. Nicht mit ihm. Vielleicht auch nicht mit jemand anderem, keine Ahnung. Schlechtes Gewissen schleicht sich ein. Gar nicht leise, sondern rotzfrech und laut. Versucht, sich einzunisten. Schnell lasse ich mir eine Ausrede einfallen und kicke es damit an den Rand meiner Wahrnehmung. Ganz vertreiben lässt es sich nicht. Noch nicht.
Immerhin habe ich eine tödliche Diagnose erhalten, also brauche ich jetzt nicht abzuheben um mich weiteren Problemen zu stellen. Das eine hat zwar mit dem anderen nicht direkt zu tun, aber als Ausrede passt es wunderbar.
Der Haushalt tippt mich an. Er wünscht, erledigt zu werden um danach ruhen zu können. An sich bräuchte ich jetzt Zeit zum Ruhen. Die Überforderung gibt dem schlechten Gewissen einen Tritt und macht sich breit. Ja, sagt sie, du brauchst jetzt Ruhe. Und gleichzeitig schrillt ein gellender Alarm. Du hast nicht unbegrenzt Zeit. Nutze sie noch. Ruhen kannst du noch lange genug – sehr bald sogar!
Okay, sage ich zum Alarm, und wie soll ich die restliche Zeit nutzen? Mein Leben war verschwendet, wenn ich es von meinem jetzigen Standpunkt aus betrachte. Zu oft habe ich nach den Gefühlen anderer getrachtet. Ich wollte so fühlen wie sie und hatte meist den Eindruck, nicht die gleiche Intensität erlebt zu haben. Und jetzt frage ich mich, ob man dessen eigentlich fähig sein kann. Die Gefühle anderer empfinden. Jeder hat doch seine eigenen Gefühle, oder nicht? Und sie haben ein gewisses Spektrum. Vielleicht habe ich sogar intensiver gefühlt und jene, die ich beobachtet hatte. Sie konnten es nur vielleicht ganz anders zeigen. Vie übertriebener, exponierter. Wieso fällt mir das eigentlich erst jetzt auf?
Der Staubsauger verperrt mir den Weg und mahnt mich, ihn zu benutzen. Der Saugarm zeigt auf all die Wollmäuse und Hundehaare, die er gerne vertilgen möchte. Aber ich habe vom Füttern genug. Erst die Katze, dann den Hund, danach mein Hirn; jetzt reicht es. Keinen vollen Magen für den Staubsauger. Jetzt nicht. Vielleicht später. Oder morgen. Oder irgendwann. Oder auch gar nicht mehr. Ist das wirklich wichtig?
Mein Buch liegt am Tisch. Ein paar Seiten habe ich noch zu lesen. Wenn ich damit fertig bin, beginne ich mit dem nächsten. Und das Alte ist rasch vergessen. Selbst wenn ich qualitativ Hochwertiges lese, drängt sich dennoch die Quantität dazwischen. Es müssen viele Bücher sein, die alle schnell durchforstet werden. Immer gierig nach dem nächsten und nächsten. Als ob ich nicht einem einzigen Buch so viel entnehmen könnte wie einer großen Anzahl, wenn ich es nur zelebrieren würde. Die Informationen, die die Buchstaben vermitteln, sind so gut wie nie brauchbar.
Sehr wohl aber die Zusammensetzung der Buchstaben an sich. Wie verkannt Buchstabenverbände doch sind!
Der Befund des Arztes liegt neben dem Buch am Tisch und ich frage mich, weshalb ich hier über alles Mögliche nachdenke, nur nicht über ihn.
Eine große, weiße Röntgentasche, die doch viel mehr um Aufmerksamkeit buhlt als mein kleines, dunkelgraues Taschenbuch. Das weiße Kamel und die graue Maus. Wir sind beide im Schatten des weißen Kamels; mein Taschenbuch und ich. Beide grau und unbeholfen. Abgelegt und dominiert. Wie gerne würde ich den Befund ablegen und dominieren. Aber ich weiß, dass er der Mächtigere ist. Illusionslos durchsuche ich den Kühlschrank nach Essbarem. Nur aus Gewohnheit, so, wie ich es beinahe mein ganzes Leben lang gemacht habe. Ich habe das Essen benutzt, so wie ich benutzt werde. Ein fairer Deal? Ich weiß es nicht.
Mit Nichts in der Hand und einem Bissen sehr kaltem Streuselkuchen schließe ich den Kühlschrank. Er hat nichts Neues zu bieten. Er surrt in vorgegebener Monotonie dahin und lässt alles in sich hinein. Egal, was kommt, er kühlt es runter. Und er kühlt es so lange runter, bis es ihm wieder entrissen wird. Jahrein, jahraus. Bis zu seinem Ende.
Der Streuselkuchen erwärmt sich rasch in meinem Mund. Heimelige Süße breitet sich in der Zwischenstation aus. Viel zu kurz ist die Verweildauer in dieser Zwischenstation. Wir essen doch des Genusses wegen und meist nicht, um unseren Magen zu füllen. Weshalb verweilt dann das Stück Kuchen im Mund, im für uns wichtigsten Teil des Verdauungstraktes, nur so kurz? Im Magen bleibt es schon länger, aber davon haben wir keinen Genuss mehr. Und wird es erst im Darm langsam und gemächlich weitergeschoben, können es ebenfalls nicht mehr genießen.
Aber die Entledigung des Kuchenstücks ist für so manchen ein Genuss – wenn die Entledigung erfolgreich und unbeschwerlich und unblutig endet. Über diesen Part freuen sich viele. Und er ist ebenso kurz wie der erste Part. So gesehen, genießen wir lediglich zwei kurze Momente und während der langen Zwischenlagerung im Magen und Darm belasten wir uns damit. Weil wir es mit uns herumschleppen müssen.
Ich sehe dem Hund zu, wie er Wasser schlabbert und dabei den Küchenboden nass macht. Dann trottet er davon. Es stört ihn nicht, dass jetzt Wasser am Boden ist und die Melanpanelen kaputt machen könnte. Oder dass jemand hinein steigt und dann graue Fußabdrücke am weißen Boden hinterlässt. Er nimmt kein Tuch und wischt es auf. Er hat keine materiellen Wertigkeiten. Er liebt, er fürchtet sich, er ist anleh-nungsbedürftig. Aber er besitzt nichts. Es sind ihm weder sein Körbchen noch seine Decke wichtig. Sind sie weg, sucht er sich einen neuen Platz im Haus zum Schlafen. Ist das Haus weg, nimmt er auch mit dem Grasboden im Garten vorlieb. Es wäre für ihn wohl keine Tragödie. Er benützt, was vorhanden ist und ist dabei sehr flexibel. Er besitzt nichts und somit hat er keine Lasten zu tragen. Keine Verantwortung.
Zum ersten Mal sehe ich mich wirklich um. Und bin von Dingen umgeben, die ich im Moment noch besitze. Aber schon bald werde ich gehen und alles zurücklassen. Besitze ich sie somit wirklich? Oder bediene ich mich nur ihrer, so lange ich hier bin? Die meisten Dinge werden mich überleben, denn sie haben keinen Krebs. Sie sind tote Materie. Ich werde auch bald tote Materie sein.
Ich nehme ein Glas in die Hand und halte es vor meine Augen. Die Welt scheint verzerrt und leicht bläulich. Hat sich die Welt soeben geändert? Ändert sie sich, wenn ich sie verzerrt und leicht bläulich sehe oder bleibt sie gleich? Wer kann mir sagen, ob sie sich nicht wirklich verändert hat. Für jene kurzen Augenblick, während ich durch das Glas sehe. Lebe ich in einer eigenen Dimension? Und jeder andere auch?
Mein Kopf fühlt sich wie Watte an und ich stelle das Glas zurück. Es hat gute Chancen, noch im Regal zu stehen, wenn ich nicht mehr durchsehen kann. Bei uns geht nur selten ein Glas zu Bruch.
Rastlos wandere ich umher. Im Moment bin ich mir selbst zu viel. Ich trete mir auf die Füße und habe keinen Platz im Haus; ich überfülle es und fühle mich dadurch eingeengt. Eine wirklich liebevolle Beziehung zu mir hatte ich nie. Auch jetzt fühle ich Unangenehmes auf mich wirken und doch bin es nur ich selbst. Vor mir davonlaufen möchte ich. Nicht erst jetzt, schon seit vielen Jahren. Stets war ich zu langsam. Immer konnte ich mich nur auf den Arm nehmen und niemals in den Arm.
Mit einem letzten Blick auf den Hund und die Katze, die beide zufrieden in den wärmenden Strahlen der Sonne, die durch das Fenster fallen, dahindösen verlasse ich das Haus. Gerade schien es mein enges Grab zu werden aber noch war ich körperlich nicht tot.
Im Garten wusste ich auch nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Es schien keinen Platz auf dieser Welt zu geben, an den ich hätte flüchte können. Jedes Versteck schien mit Dornen gespickt und viel zu eng. Atemberaubend.
Martha! Martha war die Lösung. Martha ist ein einfacher Geist, der in einer schillernden Seifenblase lebt. Ihre Kurzsichtigkeit spiegelt sich nicht in ihren Augen wider und auch ihre Blusen sind nicht kleinkariert. Aber sie bringt mich stets in bessere Stimmung, wenn ich unrund laufe.
Rasch habe ich ihre Stimme via Handy im Ohr. Doch nun weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ohne dies zu bemerken quatscht sie los. Belangloses und eben gerade deshalb in diesem Moment für mich doch so wichtig. Schilderungen über ihre dreizehnminütige U-Bahnfahrt, während der sie auf Grund ihrer sehr geringen Körpergröße mit der Nase in der Achsel eines Passagiers gesteckt ist, der sich an einem der Decken-haltegriffe festgehalten hat. Ein Rückzug war wegen des Gedränges während der Stoßzeit nicht möglich. Tragisch, wer’s erleben muss. Aufheiternd für jenen, der Krebs hat.
Noch dazu wurde ihre Geldbörse im Ge-dränge gestohlen. Ein türkischer Bauarbeiter hatte sie tagsdarauf gefunden und im Fundbüro abgegeben. Ohne Geld, denn das war weg. Aber die Ausweise und Kreditkarten waren noch da. Und das Liebesgedicht ihres Mannes, das sie in durchsichtige Folie einschweißen musste, damit die schmalzigen Worte nicht vom Papier tropften.
Ein braver Mann, dieser Türke. Es gibt gute Türken in unserem Land; vor allem jene, die wir kennen und die uns Gutes tun. Aber die anderen…..
Kurz denke ich über die Türken nach. Fremde in unserem Land. Ich weiß, wie sie sich fühlen. Ich bin gerade in diesem Mo-ment ebenfalls eine Fremde. Eine Fremde in meinem Körper. In gewisser Weise ist er auch ein Land. Man sollte sich in diesem Land wohl fühlen und es mögen. Ihm Gutes tun, damit wir die Staatsbürgerschaft nicht verlieren. Im Grunde genommen bin ich staatenlos.
Martha bemerkt das bedrückende Schweigen und fragt nach dem Grund. Noch bin ich nicht so weit, es ihr erklären zu können, denn dafür gibt es in meinem Gehirn noch kein Vokabular, dessen ich mich bedienen könnte. Die Erklärung, dass mir mein Haus zu eng ist, reicht aus. Sie versteht es, auch wenn sie dieses Gefühl nicht kennt. Und sie hat Taktgefühl genug um nicht weiter zu fragen. Gar so, als ob sie die Order bekom-men hätte, mich zu unterhalten, erzählt sie von einer Begegnung mit einem jüngeren Mann, die ihre Naivität widerspiegelt. Auf den Höhenflug folgte der Fall. Aber sie wird sich weiterhin mit jungen Männern einlassen. Ich frage mich, ob sie den Höhenflug oder doch eher den Fall braucht. Mein Gefühl sagt mir, dass Letzteres wohl der Wahrheit am nächsten sein wird.
Nach dieser Geschichte verabschiede ich mich ohne Vorwand und habe den Kopf ein wenig frei. Gerne würde ich realisieren, dass ich todkrank bin, aber irgendwie gelingt es mir nicht. Es ist, als ob ich meinen Körper nicht mehr besitze. Er ist taub und scheint nicht real zu sein. Ein Körper, den ich sehe, aber nicht bewohne. Ich frage mich inmitten meines Gartens, ob das schon immer so war. Um mich an mein ganzes Leben erinnern zu können, fehlt es mir an Konzentrationsfähigkeit. Eigentlich ist es auch egal. Dieser Körper hier ist krank. Todkrank. Und wenn er stirbt, sterbe ich mit ihm. Vielleicht. Oder auch nicht. Keine Ahnung. Jedenfalls hängen die meisten mehr an ihrem Körper als an ihren Seelen; denn diese verkaufen sie mitunter zu Schleuderpreisen. Der Körper aber, der Repräsentant der Persönlichkeit, wird gepflegt und operiert, damit er nach außen hin strahlt. Mir würde es im Moment schon reichen, den Krebs operiert zu bekommen. Er lässt krumme Nasen, Fettpolster und Hängebrüste in der unendlichen Dunkelheit der Oberflächlichkeit verschwinden. Herausschneiden und das war’s dann. Nach der Operation ist alles wieder in Ordnung; oder noch besser als vorher. Der ehemals schlaffe, unansehnliche Busen steht doch nach einer Schönheitsoperation auch wieder frech und trotzig wie in Jugendzeiten. Aber so einfach ist das nicht, ich weiß.
Während meiner Tätigkeit im Krankenhaus habe ich viele Krebspatienten gesehen. Die unterschiedlichsten Typen von Menschen und die unterschiedlichsten Typen von Krebs in den unterschiedlichsten Stadien. Es war nicht immer leicht, mit ihnen zu arbeiten, auch wenn so mancher noch viel mehr Humor bewies als so manch gesunder Dauernörgler. Dennoch war auch deren Polster am Morgen noch leicht tränenfeucht.
Im Operationssaal habe ich viele Tumore in der Hand gehabt, sie in Formalin gelegt und kalt gestellt. Oder sie in die Pathologie geschickt, um sie schockgefrieren und in dünne Scheibchen schneiden zu lassen. Chirurgen und Pathologen schenken dem Krebs nichts; er dem Patienten wiederum auch nichts.
Wahrscheinlich fällt es mir die Vorstellung, dass in mir auch so ein feindseliger Tumor wächst jetzt auch deshalb so schwer. Bis jetzt hat es immer nur andere betroffen. Jetzt soll ich dran sein? Kaum vorstellbar und doch medizinisch bestätigt.
Und eben weil es nicht vorstellbar ist, kann ich mich damit nicht auseinander setzen.
Ich hätte gerne Sushi. Einen ganzen Eimer voll. Besser noch eine Lastwagenladung. Gespickt mit Maki und gebratenen Nudeln. Indisch wäre auch gut. Linsensuppe und Naan, danach Tikka Marsala. Ein chinesisches All-you-can-eat-Buffet könnte ich im Moment auch leeren. Mein Verlan-gen, mir den Bauch vollzustopfen wird unbändigbar und ich rufe Maria an. Maria lässt sich meist nicht lange bitten; zumindest wenn es ums Essen geht.
Wir einigen uns darauf, einander in einer halben Stunde – so lange dauert das Umziehen sowie ihre Autofahrt zum Restaurant – bei Makato’s Running Sushi zu treffen. Vorab bereits ein wenig befriedigt und somit ruhiger, runder und gelassener steige ich sofort ins Auto und fahre im Schneckentempo in Richtung Makato’s. Hin und wieder halte ich in einer Parkbucht um Autos an mir vorbei fahren zu lassen. Sie müssen schließlich nicht zehn Minuten ihres Lebens tot schlagen. Die meisten haben es eilig, obwohl ihr Leben noch unendlich lange ist – glauben sie zumindest. Meines ist nun schon begrenzt und doch schlage ich Zeit im Auto tot. Und es ist im Moment gut so. Es birgt die Illusion in sich, ebenso noch über unendliche Lebenszeit zu verfügen.
Bei Makato’s herrscht ein gedämpfter Lautpegel. Dennoch erscheint er mir in Verbindung mit dem hohlen Geräusch der Metallpfannen als zu laut. Ein Koch verspritzt (unabsichtlich?) Öl oder anderes leicht Entflammbares und eine Stichflamme schießt unter der Pfanne hervor. Der Koch nimmt es gelassen und seinen Kopf um keinen Zentimeter nach hinten. Die Flammen erschreckten mich, obwohl sie nicht an meinem Körper geleckt hatten.
Mit klopfendem Herzen setze ich mich und widmete meine Aufmerksamkeit den vorbeiziehenden Köstlichkeiten. „Nein danke,“ sage ich zum immer freundlichen Kellner, den ich seit Jahren kenne, „ich erwarte noch jemanden.“ Im Rückwärtsschritt entfernte er sich mit einer diskreten Verbeugung. Gespielt oder anerzogen? Naturdevot veranlagt? Was denkt er wirklich? In welchen Bahnen denkt ein Japaner, der seit Ewigkeiten im Lügen- und Scheingeflecht der Mitteleuropäer lebt?
Ich gebe mir ebenso wenig Antwort darauf wie er, denn Sonja kommt und strahlt. Sie freut sich über die Einladung sowie über die Abwechslung von ihrem bereits dreiundzwanzigjährigen Hausfrauenundmutter-dasein. Immer wieder frustriert weil ohne Ziel und doch handlungsunfähig hofft sie auf eine automatische Erfüllung von außen. Derzeit führt sie sich eine Ersatzerfüllung viel zu häufig selbst zu, indem sie ihren Magen füllt. Und füllig geworden ist. Wenn sie richtige Erfüllung erfahren hat, so behauptet sie zubindet, braucht sie diese Nahrungsfüllung nicht mehr. Dann wird sie schlank sein. Für immer und ewig. Amen.
Die Schuld an ihrem Übergewicht gibt sie ihrem Mann. Den Kindern. Dem Haushalt. Sie alle haben ihre Entwicklung verhindert. Das würde sie frustrieren. Und den Frust kann sie am besten mit Essen bekämpfen. Sie füllt ihr Defizit, ihre innere Leere mit Essen auf. Und doch ist sie niemals satt. Denn sie weiß auch nicht, was anstatt der Leere oder dem übermäßigen Essen in ihr sein sollte. Sie hat keine Ahnung, was sie entwickeln hätte können. Ihr Talent, das sie niemals gefunden hat, ihre ganz persönlichen Interessen, die sie niemals kennen gelernt hat, ihre Neigungen und Begierden. Sie alle blieben unentdeckt; bedeckt von zwei Kindern, einem Ehe-mann, einem Hund und einem Haushalt.
Ich kenne diese Geschichte seit langem und deshalb reden wir nicht darüber. Sie fällt mir nur immer wieder ein, wenn ich sie sehe. Eigentlich reden wir gar nicht, sondern stürzen und über Sushi, Maki und Co. Die Köstlichkeiten ziehen in zwei Etagen an uns vorbei und vieles davon wandert auf unseren Tisch. Nach dem ersten leichten Anflug eines Völlegefühls verlangsamen wir das Tempo und beginnen zu reden. Die Gesprächsthemen sind so banal wie das Essen und somit vollkommen passend.
Aber als das erste gebratene Stück Lachs mit Mayonnaisesauce anrollt, frage ich sie, was sie tun würde, wenn sie nur noch ein Jahr zu leben hätte. Ohne sie dabei anzusehen natürlich, denn ich musste schließlich den ersten Lachs des Tages angeln.
„Hmmm“, meinte sie gedankenverloren. „Wahrscheinlich das Leben genießen.“ Sie starrte weiterhin auf das kleine Förderband, denn sie war bereits satt genug um schon wählen zu können.
„So wie wir das jetzt machen?“, frage ich und beeile mich diese Worte auszusprechen, denn der heiße Duft des rosafarbenen Lachses lässt meine Speichelproduktion aufflammen.
„Nein, nicht so. Oder ja, auch. Aber nicht nur“, raunte sie. „Vielleicht reisen und auf Parties gehen. Freunde treffen und gut essen. Viel Sex haben, weil ich mir dann um AIDS keine Gedanken machen müsste. Arbeiten würde ich jedenfalls nicht mehr gehen.“
Ich nehme den intensiven Lachsgeschmack auf meiner Zunge wahr und hatte gleichzeitig die Bitterkeit ihrer Worte im Mund. Langsam rekapitulierte ich: sie würde essen gehen, sich mit Freunden treffen, nicht arbeiten und viel Sex haben. Genau das machte sie jetzt auch. Nur das Reisen fällt weg, weil sie ein Wochenendhaus in Tschechien hat. Aber eigentlich zählt das auch in gewisser Weise als Reise. Sie lebt, als hätte sie nur noch ein Jahr zu leben und doch beschwert sie sich ständig über ihr tristes Dasein. Wird es erst dann wertvoll, wenn wir im Begriff sind, es zu verlieren? Wenn wir wissen, dass es zu Ende geht?
Schwermut haftet am nächsten Bissen Lachs und ich holte ihn wieder aus dem Mund. „Eine Gräte,“ lüge ich und stellte den kleinen Teller mit dem mit Schwermut beladenen Fisch zum Abräumen an den Tischrand.
Die nächste Stunde essen wir weiterhin viel mehr als wir reden und sitzen letztendlich vollgefüllt bis an den Rand auf unseren Sesseln und können nicht mehr atmen. Wie fühlen uns mies und wünschten beide, wir hätten nicht so viel von den Köstlichkeiten in uns hinein gestopft. Und der Besitzer des Restaurants denkt sich wohl genau in diesem Augenblick das gleiche. „Ich würde mich nicht wundern, wenn nächstens auf der Eingangstüre ein Plakat mit unseren Fotos ‚Wir müssen draußen bleiben’ hängen würde.“ Selbst das Lachen fiel uns schwer.
Wir unterhielten uns noch eine Weile über unsere Ehen und Liebschaften und gingen dann wieder auseinander. Die Unterhaltung hatte gut getan; und das Essen auch. Es war Freundschaft, gutes Essen. Ein Genuss, den man sich bewusst gönnt, wenn man nicht mehr lange zu leben hat. Hat man noch die stundengezählte Unendlichkeit vor sich, ist es eine Routineangelegenheit; Einstein hatte eindeutig relativ Recht.
Als ich heim komme, habe ich noch immer jene Zufriedenheit in mir, die die Blutleere in meinem Kopf durch das übermäßige Essen mit sich führt. Müde lege ich mich auf das Sofa und kippe recht bald ins Land der Träume, obwohl ich ein Buch lesen wollte. Mein Mann fand uns drei, den Hund und die Katze und mich, am späten Nachmittag im Wohnzimmer vor.
Gleichzeitig mit dem Aufwecken legte er mir eine große Bürde auf. Die Bürde, ihm von meiner Diagnose zu erzählen.
Während er mir von den Ereignissen seines Tagesablaufes erzählt, überlege ich, wie ich beginnen sollte.
An sich war mir das Reden noch nie schwer gefallen, doch im Moment scheint mir jeder Anfang nicht passend zu sein. Hubert ist ein äußerst sensibler Mann, der blitzschnell Gefühle sowie falsche Wahrheiten in sich einschließen kann.
Die anfängliche Wortwahl entscheidet, ob er seinem Gesprächspartner auf dem richtigen Weg folgt oder ob er einen völlig anderen einschlägt. Und in diesem Falle war es mir natürlich überaus wichtig, dass wir den gleichen Weg einschlagen. Meinetwegen, nicht seinetwegen.
Während er die Kaffeemaschine in Gang setzt rufe ich ihm mein Anliegen in die Küche nach. Wahrscheinlich hatte ich vor seinem entsetzten Blick an, wenn er in meiner Nähe gewesen wäre. Durch den Lärm der arbeitenden Kaffeemaschine hat er nur Bruchstücke davon verstanden, weiß aber im Prinzip, worum es geht. Durch die klein räumliche Distanz haben wir beide Zeit um uns auf das weiterführende Gespräch vorzubereiten; wenn auch nur wenige Sekundenbruchteile.
Fahl im Gesicht und mit offenem Mund kommt er leicht gebückt ins Wohnzimmer zurück. „Was ist mit dem Befund?“
„Ja,“ sage ich, „es ist so.“
Er setzt sich und fährt sich mit beiden Händen durch sein volles Haar. Dann über die Augen und versucht anschließend, Leben in sein Gesicht zu massieren. „Wie schlimm ist es?“
„Pankreaskarzinom. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das Stadium ist hierbei unwichtig. Nur fünf Prozent aller Betroffenen überleben. Und ich war noch nie ein Kind des Glücks.“
Ich wundere mich, dass Tränen über meine Wangen kullern, denn ich weine gerade nicht. Ich spreche nach wie vor von einem fremden Körper, der Krebs hat. Und doch war da jetzt so etwas wie Schmerz in meinem Inneren, den ich bis jetzt nicht verspürt hatte. Es war wohl der Schmerz, meinem Liebsten wehtun zu müssen.
Aus meiner langjährigen Tätigkeit am Krankenhaus wusste er über Bauchspeicheldrüsenkrebs schon recht viel. Und das reicht auch für den Moment. Noch mehr Wahrheit kann er nicht ertragen, weil es dieses Mal mich betrifft.
„Wie geht’s jetzt weiter?“ fragt er tonlos und ich schwenke mit starrem Blick den Kopf langsam von links nach rechts und wieder zurück. „Ich habe keine Ahnung“, sage ich und meine es gar nicht so.
Denn irgendwie spüre ich, dass in meinem Innersten das Wort ‚Kapitulation’ in dicken Lettern geschrieben steht.
Die Antwort ‚ich warte auf das Ende’ pocht wie der Herzschlag in meinem Gehirn und fühlt sich gut an. Sie ist so präsent, als wäre es die einzig richtige Antwort. Und doch belüge ich ihn, weil ich ihm diese vielleicht bereits vor Stunden gefällte Antwort nicht zumuten kann.
„Wie sieht es mit einer Operation aus? Eine Chemotherapie? Bestrahlungen? Du könntest so einen Schreibkurs für Krebskranke machen, das soll auch ganz gut helfen. Gesunde Ernährung natürlich und viel Bewegung, wann immer es geht. Vielleicht helfen auch eine Psychotherapie oder gar chinesische Heilkräuter. Du solltest in eine Selbsthilfegruppe gehen und dich….“ Plötzlich verstummte sein Redeschwall und er sah mich entmutig an. „Du willst gar nichts tun, habe ich Recht?“
Mit völlig schlechtem Gewissen nickte ich stumm.
Er setzt sich ganz dicht neben mich, hält mich fest und weint heiße Tränen auf meine Schulter. Es tut mir weh, ihn so leiden sehen zu müssen und kralle mich in seinen Pullover, als könnte ich ihm damit mehr Trost geben als er jemals brauchen würde.
Am Abend sitzen wir vor dem Fernseher und reden über meine, seine und unsere Zukunft. Ohne diese Ablenkung aus dem medialen Kasten wäre das Thema einfach viel zu schwer ertragbar gewesen. Den Film sehen wir nicht, aber er mischt sich ein wenig wie Eischnee unter unsere Konversation und macht sie flaumiger und leichter, wenn auch nicht süßer. Wir können ohnehin nur spekulieren, denn niemand weiß, was wirklich kommt.
Jedenfalls wird mir immer mehr bewusst, dass ich mein Leben genießen und es nicht mit Krankenhausluft, Kotze und Intrigen verschwenden sollte. Nicht bei fünf Prozent Überlebenschance. Hätte ich Darmkrebs, läge ich längst unter dem Messer und hätte dem Chirurgen vorab einen Fünfziger zugesteckt, damit er mir eine möglichst kleine, schöne Narbe hinterlässt. Bei Bauchspeicheldrüsenkrebs liegt alles völlig anders. Er liegt auf der anderen Seite der Skala. Nämlich dort, wo man mit dem Leben beginnt, weil man weiß, dass es ein knappes Ablaufdatum hat. Ich fühle mich zwar nicht wie ein Becher Joghurt, der im verbilligten Extrakorb liegt, weil er am nächsten Tag das Ablaufdatum überschrit-ten hat, aber der Gedanke kommt mir doch in den Sinn. Ich spreche ihn aus und er zaubert Hubert ein kurzes Lächeln aufs Gesicht. Danke!
Wir diskutieren ausführlich über die verschiedensten Möglichkeiten, wie wir vorgehen können. Natürlich spricht er die klassischen Wege wie Operation und Chemotherapie als erstes an. Ich erzähle ihm von meinen ehemaligen Patienten und lege mein komplettes medizinisches Wissen dar. Und natürlich lasse ich die Lebensqualität sowie die Hoffnung all der Patienten auf Heilung nicht aus. Lebhaft erinnere ich mich an all die vielen Männer und Frauen, die schmerzgeplagt nach einer Whippleoperation mit einem künstlichen Darmausgang wochenlang im Krankenhaus lagen. Menschen, die innerhalb von nur fünf Wochen zwanzig Kilo verloren und sich auf Grund von Schwäche nicht mehr auf den Beinen halten konnten. Patienten, die sich die Seele nach der Chemo aus dem Leib kotzten und zwischendurch nur noch erschöpft schliefen.
Sie alle waren geliebte Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Ehefrauen, Ehemänner, Tanten, Onkeln, Freunde, Geliebte, Arbeitskollegen. Und jedes einzelne Umfeld hatte Hoffnung und den Kranken nahe gelegt, sich der Therapien zu unterziehen. In bester Absicht natürlich. Aber erleiden musste es der Betroffene und nur der Betroffene.
Ich möchte keine dieser Betroffenen sein. Im Moment glaube ich das zumindest. Aber ich weiß nicht, ob ich derzeit zurechnungsfähig bin. Ob ich mir der Tragweite meiner Gedanken überhaupt bewusst bin. Oder ob ich schon längst entschieden hatte, nichts gegen den Krebs, sehr wohl aber etwas für meine Lebensqualität zu tun.
Wir reden noch lange bis in die Nacht und je mehr wir reden desto mehr verliert der Krebs an Schrecken. Dennoch ist mir bewusst, dass er weder für mich noch für Hubert an diesem Abend real ist. Der Schrecken wir kommen, darauf wette ich.
Vorsorglich nehme ich eine Schlaftablette und biete Hubert auch eine an. Sie ist zwar seit einem Jahr abgelaufen, aber der Wirkstoff ist sicher noch aktiv. Ich fürchte, mich in einer Gedankenspirale zu verfangen und nicht mehr aussteigen zu können. Obwohl ich todmüde und von unserem Gespräch ziemlich ausgelaugt bin, liege ich noch eine Zeitlang wach. Nicht an meine Erkrankung zu denken ist unmöglich, sosehr ich mich auch bemühe. Aber noch bevor ich Angst bekomme, nimmt mich die Schlaftablette mit in ihr dunkles Reich.