Читать книгу Mami Bestseller 9 – Familienroman - Karina Kaiser - Страница 3
ОглавлениеKurz nach ihrer Trennung von ihrem Ehemann hatte ihre Tochter mitunter noch gefragt: »Wann kommt Papa wieder?« und: »Warum wohnt der nicht mehr bei uns?«
Anne hatte der damals Fünfjährigen behutsam erklärt, dass der Vater jetzt bei einer anderen Frau und in einer anderen Stadt leben und arbeiten würde. Aber natürlich hätte er sie, seine kleine Nathalie, immer noch lieb und würde oft an sie denken.
Jetzt, drei Jahre später, stellte die Kleine diese Fragen nicht mehr und dachte kaum noch an ihn. Dieter Lindau ließ sich ja nur selten bei seiner ehemaligen Familie sehen. Er hatte bald wieder geheiratet und war erneut Vater geworden. Aber er zahlte seine Alimente regelmäßig und vergaß auch nie den Geburtstag seiner Tochter, Weihnachten und Ostern selbstverständlich auch nicht. Dann bekam die Kleine stets ein Paket mit durchaus brauchbaren Anziehsachen, Spielzeug und Süßigkeiten.
Ebenso wenig wie die inzwischen achtjährige Nathalie ihren Vater vermisste, sehnte sich Anne Lindau nach ihrem Ex-Mann. Er war für sie ja ohnehin nur die zweite Wahl gewesen. Sie hatte allerdings gehofft, ihn eines Tages wirklich lieben zu können. Das war ein Trugschluss gewesen! Ihre Liebe galt nach wie vor Bernulf Süderhoff, den sie während ihres Studiums an der landwirtschaftlichen Hochschule kennengelernt hatte.
Ja, kennengelernt hatte sie ihn und sah ihn auch oft – mehr aber auch nicht, denn der attraktive Sohn des Großunternehmers Robert Süderhoff und seiner Frau Martha hatte die eher unscheinbare und schüchterne Anne Schneider so gut wie gar nicht beachtet. Seine Aufmerksamkeit galt damals vor allem hübschen, temperamentvollen Mädchen, schnellen Autos, seinen Freunden und dem Freizeitsport. Sein Studium absolvierte er wie nebenbei. Danach verlor sie ihn ganz aus den Augen, was sie einerseits aufatmen, andererseits jedoch ihre Sehnsucht nicht kleiner werden ließ, auch nicht, als sie den Bauingenieur Dieter Lindau heiratete.
Und nun war sie wieder allein, nein, nicht ganz. Sie hatte Nathalie, die ihr eigentlich nur Freude machte und ihrem Leben einen Sinn gab – und ihre Arbeit in der Stadtverwaltung von Heinstedt. Ihre Eltern wohnten hier ebenfalls, sodass ihre Tochter ständig Kontakt zu den Großeltern hatte und in den Schulferien dort gut betreut wurde.
Anne war inzwischen dreißig Jahre alt und hatte nicht die Absicht, erneut zu heiraten. Wozu auch? So wie Bernulf Süderhoff war ohnehin kein anderer Mann, zumindest für sie nicht. Und es war gut, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.
Aber manchmal fragte sie sich doch, wie es ihm jetzt wohl ging, ob er inzwischen glücklich verheiratet sein und Kinder haben würde.
*
Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder, berufliche und finanzielle Sorgen allerdings auch nicht. Als Juniorchef mehrerer großer Agrarbetriebe und eines ausgedehnten Holzhandels mangelte es ihm nicht an Geld, anspruchsvollen Aufgaben und großen Herausforderungen. Natürlich gab es ab und zu mal Ärger, zurzeit sogar gewaltigen Ärger, weil Lara seinen Eltern nicht ins Konzept passte. Wozu brauchte man denn eine Unternehmensberaterin, auch wenn diese sich im ökonomischen Bereich von Land- und Forstwirtschaft gut auskannte? Und wozu brauchte der einzige Sohn eine so piekfeine Dame, die sich in alles einmischte, alles besser wusste und im Grunde genommen doch nichts auf die Reihe brachte?
So meinten seine Erzeuger, nachdem sie die 31-jährige Lara Paulsen vor mehr als vier Monaten kennengelernt hatten.
»Die tut so, als ob sie die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte«, stellte Robert Süderhoff an diesem Sonntag beim Frühstück ebenso spöttisch wie grimmig fest. »Die stelzt mit ihren hochhackigen Dingern hier herum und will uns allen klarmachen, wie wir noch schwärzere Zahlen schreiben können und dass wir uns auf unsichere Geschäfte einlassen sollen. Nee, nee, so geht das nicht! Da ist sie bei uns an der falschen Adresse.« Der Großbauer griff wie Halt suchend nach seiner Tasse Kaffee, trank den Inhalt in einem Zug aus und verkündete anschließend: »Mit der werden wir noch unser blaues Wunder erleben. Heirate die bloß nicht, Junge.«
»Wen ich einmal heirate, ist doch wohl meine Sache, Papa«, gab der Angesprochene kühl zurück. »Und warum sollte das nicht Lara sein? Wir passen gut zueinander, mögen uns, und sie wird sich ganz sicher auch in unserem Unternehmen einarbeiten. Betriebswirtschaftliche Kenntnisse sind immer von Nutzen.«
»Sicher sind sie das«, gab seine Mutter ihm recht. »Lara ist schon sehr klug, und ihr passt äußerlich sehr gut zusammen. Sie hat nur mal erwähnt, dass sie keine Kinder haben will.«
»Das wird sie sich noch reiflich überlegen.« Bernulf machte eine Handbewegung, als lohnte es sich nicht, über diese Sache noch weiterzusprechen.
Seine Eltern wechselten dann auch das Thema, hofften aber im Stillen, der Sohn würde die Beziehung zu der allzu feschen und zur Überheblichkeit neigenden Lara Paulsen wieder aufgeben.
Er dachte natürlich gar nicht daran. Schließlich kannte er sie schon seit ihrer gemeinsamen Studienzeit. Andererseits war er nicht himmelhochjauchzend in sie verliebt. Sie gefiel ihm nur, war sie doch genau der Typ, den er bevorzugte – mittelgroß, schlank, blond, gut aussehend und gebildet. Als Bäuerin im herkömmlichen Sinne konnte er sie sich allerdings nicht so recht vorstellen, aber die musste sie ja auch nicht sein. Es genügte, wenn sie ihm den Papierkram abnahm und seine Kinder bekam. Sie wollte keine haben! Damit meinte sie sicher, vorläufig nicht. Die mahnende Bemerkung seiner Mutter gab ihm aber doch zu denken sowie einigen Äußerungen von Lara, die kleine Kinder immer nur als Schreihälse und Schmutzfinken bezeichnete. Er hatte ihr Gerede bisher nicht sonderlich ernst genommen. Vielleicht war das falsch gewesen. Und als er kurz darauf, so wie jeden Sonntag, zu seiner Freundin fuhr, nahm er sich vor, sie bei passender Gelegenheit genau danach zu fragen.
Diese Gelegenheit bekam er nur wenig später. Lara empfing ihn nämlich überaus schlecht gelaunt.
»Ist was?«, erkundigte er sich und musterte sie forschend.
»Diese ungezogenen Kinder gehen mir auf die Nerven«, klagte sie und fasste sich an die Stirn. »Seit hier ein Spielplatz angelegt worden ist, kann man nicht mehr in Ruhe auf dem Balkon sitzen. Die Gören kreischen, plappern und weinen und hysterische Mütter schreien dazwischen, dass es nicht zum Aushalten ist. Ich möchte mich von meinem anstrengenden Job erholen, aber das kann ich nicht. Ich bekomme nur Kopfschmerzen.«
»So ganz leise sind die lieben Kleinen nun einmal nicht«, erwiderte er nachsichtig und nahm sie tröstend in die Arme. »Wenn wir jedoch eigene Kinder haben, dann wirst so manches ganz anders sehen.«
Sie löste sich von ihm, schaute ihn entrüstet an und zischte: »Ich will keine Kinder. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?«
Es gelang ihm, seine Empörung zu verbergen. Er wirkte sogar recht ruhig, als er nun fragte: »Du willst demnach keine feste Verbindung mit mir?«
»Doch, natürlich will ich die haben. Ich kann mir gar keinen anderen Partner vorstellen.«
»Ich möchte aber Kinder«, beharrte er nachdrücklich. »Sie gehören nun einmal dazu, und man weiß dann auch, für wen man arbeitet.«
»Welche Aussichten haben Kinder denn heute noch?«, hielt Lara aufgebracht dagegen, während sie sich in einen Sessel fallen ließ. »Plätze in einer Tagesstätte sind schwer zu bekommen und außerdem teuer, eine ordentliche Schule auch. Und später finden die Ableger keinen Job.«
»Na, na, so schlimm wird es in unserem Fall wohl nicht kommen. Wir haben mehrere Höfe, da können sie arbeiten noch und noch, wenn sie das wollen.«
»Vielleicht hätten unsere Kinder gar kein Interesse an der Landwirtschaft. Da wäre es doch viel besser, rechtzeitig …«
Sie sprach nicht weiter und überließ es ihm, sich ihre Worte richtig zu interpretieren. Bernulf schien sie jedoch nicht zu verstehen, er schaute sie nur fragend an, worauf sie vorsichtig hinzusetzte: »Deine Eltern gehen mittlerweile auf die Rente zu, sie werden bald nicht mehr arbeiten können, für dich allein ist das Arbeitspensum aber viel zu hoch, noch mehr Leute einzustellen, kostet zu viel Geld. Wäre es da nicht angebracht, etwas Neues zu wagen? Wir könnten zum Beispiel ein Immobilienbüro eröffnen. Davon haben wir beide Ahnung. Wir könnten nach Mallorca oder Teneriffa ziehen und uns dort eine schöne Villa kaufen – mit Swimmingpool und einem exotischen Garten.«
»In einem Satz: Ich soll unseren gesamten Besitz verkaufen, damit wir deine Vorstellungen in die Wirklichkeit umsetzen können«, vollendete er nach einigen Sekunden des Nachdenkens.
»Nun ja …, ich habe ja nicht viel. Aber du kannst mir glauben, dass wir dort viel bequemer leben würden. Und deine Eltern wären in einem Altersheim auch gut aufgehoben.«
Er war entsetzt, fassungslos und begriff erst nach einigen Sekunden, was seine schöne Freundin eigentlich meinte. Sie wollte nicht ihn, sondern sein Geld. Sich eisern beherrschend, nickte er scheinbar zustimmend und stellte sich vor, wie sein noch sehr mobiler Vater in einer kleinen Wohnung am Fenster saß, sich tüchtig langweilte und seinen Frust an der Mutter ausließ.
Seine Miene blieb jedoch so undurchdringlich, dass Lara sich insgeheim vorwarf, zu schnell vorgeprescht zu sein. So würde sie ihr Ziel wahrscheinlich nicht erreichen, zumindest vorläufig nicht.
Umso erstaunter war sie, als Bernulf schließlich gleichmütig antwortete: »Ich werde mit meinen Eltern reden.«
Danach wurde über diese Angelegenheit nicht mehr gesprochen. Der Jungbauer lud seine Freundin zum Essen ein und blieb auch bis zum nächsten Morgen bei ihr – so wie immer. Dass er in dieser Nacht nur wenig schlief, bemerkte sie nicht.
*
Robert Süderhoff stieß einige nicht druckreife Äußerungen hervor, nachdem sein Sohn ihm mitgeteilt hatte, wie Freundin Lara sich die gemeinsame Zukunft vorstellte. Danach forderte er seine ebenfalls anwesende Ehefrau auf, ihm einen doppelten Magenbitter zu bringen, trank diesen in einem Zug aus und fragte danach ebenso argwöhnisch wie verächtlich: »Du wirst doch hoffentlich nicht auf die – Wünsche – dieser – dieser völlig überdrehten Dame eingehen?«
»Nein, ganz gewiss nicht. Sie behauptet zwar, mich gernzuhaben, aber ich glaube, sie will mich nur manipulieren, damit ich das mache, was sie will. Sie will sogar, dass wir hier alles verkaufen. Und sie will sich ins gemachte Nest setzen.«
»Vielleicht ist ihr das alles gar nicht so recht bewusst, vielleicht ändert sie sich noch«, wandte seine Mutter beschwichtigend ein.
»Ja, vielleicht ist es so. Vielleicht hat sie noch gar nicht richtig über unsere Zukunft nachgedacht. Deshalb werde ich sie auf die Probe stellen.«
»Wie denn?«, fragten Vater und Mutter wie aus einem Mund.
Bernulf lächelte amüsiert und erklärte dann: »Ich werde ihr sagen, dass ihr mich nach einem gewaltigen Krach rausgeworfen und enterbt habt. Mir bleibt nur noch der Hof von Onkel Justus. Geht sie mit mir nach Barkenow in die Einsamkeit, arbeitet kräftig mit und steht auch in schlechten Zeiten zu mir, dann kann aus uns noch etwas werden. Tut sie es nicht, dann ist es aus zwischen uns, dann kann sie sich einen anderen Mann suchen. Und mit dem kann sie dann nach Mallorca oder sonst wohin auswandern.«
»Keine schlechte Idee. Wann willst du die Sache durchziehen?«
»Gleich nach der Rapsernte, Papa. Danach kannst du mich bestimmt für eine Weile entbehren. Ich muss ja schließlich so tun, als ob ich dort wirklich wohne, werde daher in den nächsten Tagen hinfahren und die nötigen Vorbereitungen treffen.«
»Wunderbar, fahr nur hin, aber entferne bloß nicht alle Spinnweben«, empfahl ihm seine Mutter. »Deine Zukünftige sollte das Haus im Urzustand sehen, damit sie weiß, was sie zu tun hat.«
»Natürlich, wie denn sonst? Meinst du, ich lasse vorher ein Putzkommando kommen?« Bernulf lachte leise und spöttisch.
Die Sache, die er sich in einer langen Nacht ausgedacht hatte, begann, ihm Spaß zu machen. Seinen Eltern übrigens auch. Sie waren der Ansicht, dass die zu sehr von sich eingenommene Lara Paulsen einen gehörigen Dämpfer verdient hatte.
Bereits am nächsten Tag fuhr Bernulf nach Barkenow, einem kleinen Ort an der Ostseeküste.
Und während sein schneller Wagen die zweihundert Kilometer mühelos bewältigte, waren Anne Lindau und ihre kleine Tochter wie schon oft mit den Fahrrädern unterwegs. Nathalie hatte Sommerferien und Anne Urlaub. Für eine Urlaubsreise reichten die Finanzen nicht, für einige Ausflüge in die nähere Umgebung und einem Abstecher in ein nettes Lokal oder eine Eisdiele schon eher.
»Fahren wir auch wieder zum Dornröschenhaus?«, rief Nathalie in diesem Augenblick, während sie die schmale, aber gut befestigte Straße entlangradelten, die nach Barkenow führte.
»Meinetwegen. Dort können wir eine kleine Pause machen.«
»Prima«, freute sich das Kind und fuhr dann so schnell es konnte zu dem Hof, den Justus Radke noch vor vier Jahren zusammen mit einem Ehepaar aus dem Dorf bewirtschaftet hatte. Nach seinem plötzlichen Tod wurde zwar der größte Teil der Äcker und Wiesen von der Agrargenossenschaft bewirtschaftet, das Vieh war jedoch verkauft worden, und das Haus verschlossen. Die Erben des alten Mannes hatten es offenbar so angeordnet.
Mehr wusste Anne nicht, sie kam hier nur gern vorbei, denn das Anwesen lag schließlich nur wenige Kilometer von Heinstedt entfernt und sah mittlerweile wie eine verwunschene Märchenwelt aus. Im Garten gab es nämlich neben zahlreichen Bäumen und Sträuchern Rosen in Hülle und Fülle. Sie blühten in Beeten und Rabatten und kletterten am Wohnhaus sogar bis zum Dach empor. Nathalie fand das alles wunderschön und wäre gar zu gern in das Haus hineingegangen. Vielleicht schlief dort ja wirklich das Dornröschen und wartete auf den Königssohn.
»Es ist wirklich echt schade, dass wir da nicht reingehen können«, meinte sie auch heute bedauernd, nachdem sie sich auf die alte Bank am Rande des Hofes gesetzt und die mitgebrachten Schnitten verzehrt hatten.
»Wahrscheinlich ist in dem Haus gar nichts mehr drin«, entgegnete ihre Mutter. »Die Erben werden alles verkauft haben. Und der Hof steht sicher auch zum Verkauf. Es wollte ihn wohl bloß noch keiner haben.«
»Können wir ihn nicht kaufen?«, schlug die Kleine eifrig vor. »Dann hätten wir viel mehr Platz als jetzt und könnten uns viele Tiere anschaffen – Schafe und Ziegen, Hunde und Katzen, Gänse und Enten und kleine Schweinchen. Die würden wir dann jeden Tag füttern.«
Anne lächelte nachsichtig und erwiderte: »So einfach ist das leider nicht. Für das, was du möchtest, braucht man viel Geld. Und das haben wir nicht. Und wir könnten die meisten Tiere auch nicht immer behalten, wir müssten sie verkaufen, wenn sie groß genug sind. Denk doch an die Gänse, die meist zu Weihnachten geschlachtet werden.«
»Das müsste ich mir ja nicht angucken«, gab die bereits sehr praktisch denkende Nathalie zurück. »Und im Frühjahr gibt es dann neue kleine Gänschen und kleine … Mutti, da ist jemand.«
Das Mädchen wies mit der Hand erschrocken auf den großen schlanken Mann, der eben aus dem Stallgebäude gleich nebenan trat und langsam auf sie zu schlenderte.
Anne war auch erschrocken und fühlte sich gleichzeitig wie gelähmt. Sie konnte nichts sagen und nicht aufstehen, sie konnte den Mann nur anstarren, als könnte sie nicht begreifen, dass Bernulf Süderhoff leibhaftig vor ihr stand.
»Entschuldigen Sie«, wandte er sich freundlich an Anne. »Ich glaube, ich habe Ihnen und Ihrer Tochter jetzt einen ordentlichen Schreck eingejagt.«
Er konnte sich an sie nicht mehr erinnern – Gott sei Dank! Anne erhob sich, genauso wie ihre Tochter, atmete unwillkürlich auf und erwiderte möglichst gelassen: »Ja, so ist es. Aber da Sie ganz harmlos aussehen, brauchen wir wohl keine Angst zu haben. Wir haben hier übrigens nichts zu suchen, aber meine Tochter findet das Dornröschenhaus so schön und möchte es sich immer wieder ansehen.«
»Dornröschenhaus?«, wiederholte er verdutzt, schaute zu dem behäbigen Fachwerkhaus und meinte dann lächelnd zu Nathalie: »Da hast du vollkommen recht, Kleine. Die Rosen haben hier tatsächlich gigantische Ausmaße angenommen. Ich werde sie beschneiden müssen, wenn ich hier wohnen will.«
»Sie sind wohl der Erbe?«, entfuhr es Anne, worauf er ruhig bestätigte: »Ja, der bin ich. Mein Name ist Süderhoff. Der verstorbene Herr Radke war mein Großonkel. Ich habe den größten Teil des Acker- und Weidelandes zwar verpachtet, mich aber um den Besitz nicht weiter gekümmert. Und deshalb sieht hier alles wie bei Dornröschen aus. Aber dir gefällt es hier, nicht wahr, kleines Mädchen? Das habe ich schon durch das geöffnete Stallfenster gehört.«
Bernulf strich dem Kind über die hellbraunen Locken.
»Ja, hier ist es richtig schön.« Nathalie schaute den blonden Mann mit den markanten Gesichtszügen erwartungsvoll an. »Hast du vielleicht einen Schlüssel für das Haus?«
Ehe er antworten konnte, befahl Anne energisch: »Wir müssen jetzt los, Nathie.« Und zu Bernulf sagte sie hastig: »Wir sind Anne und Nathalie Lindau, die sich jetzt entschuldigen, Ihr Anwesen unbefugt betreten zu haben. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Sie können gern wiederkommen, Frau Lindau, wenn es Ihrer Kleinen hier so gut gefällt. Wohnen Sie hier im Dorf?«
»Nein, in Heinstedt. Wir machen gerade eine Fahrradtour.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, sagte aber nichts weiter, sondern zog ihre widerstrebende Tochter energisch mit sich fort.
Bernulf sah ihnen nach, als sie abfuhren, und freute sich, dass das Kind ihm noch zuwinkte. Und er dachte unwillkürlich, dass es schön sein müsste, eine Familie zu haben.
*
»Wie siehst du denn aus? Bist du krank?« Lara musterte ihren Freund besorgt, der wie ein Bild des Jammers vor ihrer Wohnungstür stand. Er hatte sich offenbar schon lange nicht mehr rasiert, wirkte übernächtigt und schien am Ende seiner physischen und psychischen Belastbarkeit zu sein.
»Ich habe wirklich alles versucht«, begann er leise, nachdem er in ihrem Wohnzimmer in einem bequemen Sessel saß und sie ihn mit einem Glas Portwein versorgt hatte. »Ich bin auch davon ausgegangen, dass wenigstens meine Mutter zu mir halten und mich verstehen würde. Aber nichts da! Sie hat sich voll auf die Seite des Alten gestellt, ein Wort hat das andere gegeben, wir haben uns zum Schluss bloß noch angeschrien. Und schließlich haben sie mich rausgeschmissen.«
»Mein Gott, weshalb denn?«
»Na, wegen uns. Ich wollte ihnen ganz behutsam klarmachen, dass die Landwirtschaft keine Zukunft mehr hat, dass die Arbeit im Forst sehr schwer ist, auch nicht viel einbringt und sie sich allmählich auf ihr Altenteil besinnen sollten, habe ihnen auch versprochen, sie könnten bei uns auf Mallorca oder anderswo wohnen. Anderswo wohnen!! Mein Vater ist bei diesem Vorschlag vor Wut beinahe an die Decke gesprungen und hat mir an den Kopf geworfen, dass ich nicht mehr sein Sohn bin.«
Lara war sehr blass geworden. »Bist du jetzt etwa – enterbt worden?«, flüsterte sie entsetzt.
»Na, was denn sonst?« Bernulf griff nach dem Weinglas, stellte es aber gleich wieder zurück, weil seine Hände zu sehr zitterten, um es festhalten zu können.
»Aber das geht doch gar nicht. Du bist doch ihr einziges Kind.«
»O doch, das geht«, entgegnete er bitter auflachend. »Sie haben ja noch Neffen und Nichten. Einer von denen wird den Besitz und ihre Taler schon haben wollen. Ich werde jedenfalls nur mit dem Pflichtteil abgespeist, bin jetzt stellungslos und damit so gut wie ohne Geld.«
Lara war fassungslos. So hatte sie sich das nicht gedacht, so nicht. Es gelang ihr jedoch, ihren Frust gut zu verbergen und mitfühlend zu sagen: »Nun sei nicht so mutlos. Es wird sich alles wieder einrenken. Deine Eltern wissen doch, was sie an dir haben, und brauchen dich.«
Er sprang scheinbar erregt auf und schrie: »Meinst du etwa, ich gehe zu ihnen zurück, als ob überhaupt nichts gewesen wäre? Meinetwegen können sie sich ihr Geld und ihre Landwirtschaft vors Knie nageln. Ich habe ja immer noch den Hof von Onkel Justus. Auch wenn der nur klein und ziemlich heruntergekommen ist, er wird uns schon ernähren. Und ein bisschen Geld hat mir der Onkel auch hinterlassen. Ich werde Schweine und Hühner halten und diese später verkaufen.«
»Schweine??« Mehr brachte Frau Paulsen vor Schreck nicht heraus.
»Ja, Schweine«, wiederholte er nachdrücklich, während er sie genau beobachtete. »Ich habe mir schon eine Sau mit zehn Ferkeln gekauft, habe Futter besorgt und werde im nächsten Jahr Kartoffeln und Rüben anbauen. Und einen rüstigen Rentner habe ich auch schon eingestellt. Der hilft mir für ein paar Stunden in der Woche.«
»Wo liegt denn dieser Hof?«, erkundigte sich Lara mit dünner Stimme. »Ist es weit von hier?«
»Der Ort heißt Barkenow und liegt in Vorpommern, also circa 200 Kilometer von hier entfernt. Das ist gar nicht so weit. Du kannst mich jedes Wochenende besuchen, wenn du willst. Ich würde mich über deine Hilfe ohnehin sehr freuen. Es muss noch viel getan werden.«
»Soll ich etwa – Schweine füttern?«
»Nein, so etwas doch nicht.« Er setzte sich zu ihr auf die Couch, streichelte ihr verständnisvoll eine Hand und fügte dann hinzu: »Es geht vor allem um das Haus. Onkel Justus hat ja in den letzten Jahren kaum noch etwas in Ordnung halten können. Es muss demnach vor allen Dingen entrümpelt, aufgeräumt und renoviert werden. Der Garten muss auch in Schuss gebracht werden. Und da ich künftig sehr sparen muss, wollen Leo Jürgens und ich alles allein machen. Doch wenn du uns hilfst, geht es erheblich schneller.«
»Ich bin handwerklich leider eine glatte Niete«, wehrte Lara in bedauerndem Tonfall ab, was er jedoch nicht gelten ließ.
»Du musst doch keine alten Tapeten abreißen oder Wände streichen. Es genügt mir vollkommen, wenn du die Putzarbeiten übernimmst und uns etwas Gutes kochst. Oder die Hühner fütterst, die ich mir noch zulegen will.«
Mit einem Großagrarier hatte sie sich abfinden können. Der war ja schließlich reich und so etwas Ähnliches wie ein Gutsbesitzer. Einen simplen Kleinbauern ohne nennenswerte Einkünfte würde sie jedoch nie akzeptieren. Der hatte doch sowieso keine Zukunft und sie an seiner Seite erst recht nicht. Am liebsten hätte sie ihm das alles gesagt und hätte ihm zu verstehen gegeben, dass er sich samt seiner armseligen Klitsche sonst wohin scheren solle und dass sie keinesfalls gewillt war, ihn dort bei irgendwelchen Arbeiten zu unterstützen. Doch sie musste vorsichtig sein, sehr vorsichtig. Möglicherweise überlegten es sich seine Eltern doch wieder anders, und dann hatte sie alle Brücken abgebrochen, die zu einem Luxusleben oder richtiger – zu ihrem Luxusleben – führten.
»Mit meiner Kochkunst ist es auch nicht weit her«, meinte sie daher in einem Tonfall, als wäre sie trotz aller Widrigkeiten auch fortan die Frau an seiner Seite und würde auch in schweren Zeiten zu ihm stehen. »Aber ich kann es ja mal versuchen. Man wächst ja bekanntlich mit seinen Aufgaben.«
Er glaubte ihr kein Wort, tat jedoch sehr erleichtert, drückte sie fest an sich und raunte ihr dabei zu: »Ich bin ja so froh, dass du mich immer noch haben willst. Du bist wirklich ein Schatz. Was meinst du, wollen wir dieses Wochenende gleich nutzen, hinfahren und Bestandsaufnahme machen?«
Sie löste sich wie unabsichtlich von ihm und fragte erstaunt: »Hast du das denn noch nicht gemacht? Dein Onkel ist doch schon lange nicht mehr am Leben, so weit ich mich erinnern kann.«
»Nein«, gestand er zerknirscht. »Ich habe nur das Vieh verkauft und dann den Laden sozusagen dicht gemacht. Ich wollte mich später damit beschäftigen. Aber natürlich war ich neulich schon mal da. Es sieht dort inzwischen aus wie bei Dornröschen.«
»Klingt sehr romantisch.« Lara unterdrückte einen Seufzer und war dann mit unterdrücktem Missmut bereit, Bernulf am nächsten Tag zu seinem Kleinkleckersdorf zu begleiten.
*
Natürlich war die Nacht mit Lara trotz allem sehr befriedigend und leidenschaftlich gewesen. Aber Bernulf sagte sich, dass erotische Spiele allein nun einmal nicht für eine gute Partnerschaft genügten. Da hieß es, fest zu dem anderen stehen und selbst auch auf Annehmlichkeiten zu verzichten. Letzteres lag Lara nicht, das sah er ihr am nächsten Morgen an. Aber sie jammerte zumindest nicht, sondern saß meist schweigend neben ihm im Auto, bis sie Barkenow erreicht hatten.
Dort angekommen, aßen sie in der kleinen Gastwirtschaft zu Mittag und fuhren anschließend zu seinem Erbhof, wo zu dieser Stunde ein älterer Mann damit beschäftigt war, etwa zwanzig Hühner und einen Hahn mit Körnern zu füttern.
Bernulf begrüßte den Alten mit Handschlag und sagte aufgeräumt: »Schönen guten Tag, Leo. Wie ich sehe, hast du das Federvieh schon besorgt. Hat das Geld gereicht?«
»Aber sicher, alles in Ordnung«, antwortete dieser grinsend, während er Lara ungeniert musterte. »Ich hab die Hennen und ihren Gockel schon in dem Stall untergebracht, in dem der Justus auch immer sein Geflügel hatte. Und diese junge Frau ist wohl die künftige Bäuerin?«
»Frau Paulsen ist meine Partnerin«, erwiderte Bernulf gelassen. »Sie wird mir helfen, diesen Hof wieder so richtig flott zu machen.«
So sieht die auch aus, dachte Leo Jürgens spöttisch. Die macht hier gar nichts flott, höchstens sich selber. Ansonsten fällt die nur von einer Ohnmacht in die andere – und bleibt mit ihren Stöckelschuhen im Hühnermist stecken.
Der Rentner war ein guter Menschenkenner und behielt seine Meinung für sich. Der Neffe vom alten Justus würde schon selbst merken, dass diese feine Tante hier völlig fehl am Platze und zu nichts nütze war. Er nickte daher nur und verschwand dann in einem Schuppen, während Bernulf und Lara gemächlich zum Haus gingen.
Er schloss auf, und sie betraten einen schmalen und ziemlich dunklen, muffig riechenden Flur.
»Elektrisches Licht gibt es hier wohl nicht«, stellte sie säuerlich fest, nachdem sie vergeblich auf einen Schalter gedrückt hatte.
»Doch, die Glühbirne wird aber kaputt sein. Ich kümmere mich nachher darum. Also, das ist hier das Wohnzimmer. Hier haben Onkel Justus und ich oft gesessen und Apfelkorn getrunken.« Der angehende Kleinbauer hatte eine schmutzige Tür geöffnet und betrat mit langen Schritten einen mäßig großen Raum, in dem nach Laras Ansicht einige vorsintflutliche Möbel standen – ein geblümtes Sofa, zwei dazu passende Sessel, ein sogenannter Nierentisch, zwei Kommoden und ein dunkler Schrank mit Nippesfiguren. Einige von diesen Ziergegenständen hatten anscheinend schon die Bekanntschaft mit dem Fußboden, auf dem ein uralter Teppich lag, gemacht. Der Rokokotänzerin fehlte zum Beispiel ein Arm und dem röhrenden Hirsch das Geweih. Tote Insekten lagen in einer Unmenge von Staub überall herum oder hingen in zahlreichen Spinnennetzen. Na, schön war anders.
Die Unternehmensberaterin verzog demzufolge angewidert den Mund, was ihrem Freund nicht entging. Nun ja, er hatte es ja geahnt. Sie war nicht die Frau, die ihm jetzt aufmunternd zulächelte und nach Staubwedel und Wischeimer verlangte.
In den anderen Räumen sah es nicht besser aus – im Schlafzimmer fanden sie in einem Bett sogar ein verlassenes Mäusenest sowie einen Nachttopf – zum Glück ohne Inhalt.
Am besten sah noch die Küche aus. Sie war zumindest einigermaßen aufgeräumt, und vor dem Bild einer Frau in mittleren Jahren stand ein vertrockneter Blumenstrauß.
»Hier hat Onkel Justus immer gesessen, den Blick auf Tante Metas Bild gerichtet. Hier hat er seine Pfeife geraucht und mit seiner Katze geschmust.« Bernulf wies auf den großen Ohrensessel, der in der Nähe des Fensters stand. »Und hier in diesem Sessel haben die Nachbarn ihn auch gefunden. Er war tot, und seine Katze ebenfalls.«
»Wie rührend«, entfuhr es Lara ironisch, worauf er scharf erwiderte: »Ja, sehr berührend. Das finde ich auch. Er hat nach dem frühen Tod seiner Frau nie mehr geheiratet, und in seiner Erinnerung war sie immer bei ihm. Er hat ihre Rosen gehegt und gepflegt und sich lieber eine Katze gehalten, um ein bisschen Wärme zu haben.«
»Und wenn ihm doch zu kalt war, dann hat er Apfelschnaps getrunken«, ergänzte Lara, während sie ihre rot lackierten Fingernägel betrachtete.
Er überging ihre spitze Bemerkung und sagte stattdessen: »Ich denke, wir fangen mit dem Schlafzimmer an. Gutes Bettzeug habe ich im Auto …«
»Du nimmst doch nicht im Ernst an, dass ich in dieser Mäusekammer schlafe?«, rief sie schrill, beruhigte sich aber sofort wieder und sagte entschieden: »Das sieht hier wirklich katastrophal aus, viel schlimmer als ich angenommen habe. Da wirst du wohl eine Firma beauftragen müssen, die hier klar Schiff macht. Wir beide schaffen das garantiert nicht.«
»Dein Vorschlag ist natürlich ausgezeichnet, aber es geht leider nicht, ich muss mit meinem Geld haushalten«, gab er leise zurück und dachte dabei an seine Freunde, die ihn und seine bescheidenen Verhältnisse zwar wortreich beklagt, seine Bitte um Unterstützung aber vollkommen überhört hatten.
»Ach ja …« Lara, die sich seinerzeit sehr schnell daran gewöhnt hatte, dass er stets und ständig alles bezahlte, wusste vorerst nicht weiter, stand unschlüssig in der Küche und meinte schließlich: »Wir können ja hier mit dem Aufräumen beginnen und dann in Heinstedt in einem Hotel übernachten.«
»Wenn du bezahlst, dann gern.«
Da Frau Paulsen noch nicht vollständig begriffen hatte, dass ihr Freund nicht mehr zahlungskräftig war, starrte sie ihn zuerst entgeistert an und brachte dann nach reiflicher Überlegung nur noch ein schwaches: »Selbstverständlich« heraus.
»Gut, dann machen wir es so«, entschied er und unterdrückte ein amüsiertes Lächeln. »Wir werden sehen, was wir schaffen, und morgen Abend bringe ich dich wieder nach Hause.«
In den nun folgenden Stunden reinigten sie Küche und Bad, wobei Lara eigentlich nur im Weg herumstand und nörgelte. Bernulf verkniff sich sämtliche Bemerkungen, er putzte und wischte, fütterte zwischendurch die Schweine und scheuchte am Abend die Hühner in ihren Stall. Gegen neunzehn Uhr fuhren sie nach Heinstedt und übernachteten in einem zweitklassigen Hotel. Mehr konnte sich die Unternehmensberaterin nicht leisten.
Am nächsten Morgen fühlte sich seine Partnerin so krank, dass sie dringend nach Hause gebracht werden musste, was er dann auch sehr gern tat. Nur gut, dass sich Leo Jürgens unterdessen um die Tiere kümmerte.
Bernulf fuhr mit Lara sofort zum Bereitschaftsdienst, sobald sie bei ihr zu Hause angekommen waren, harrte dort aus, bis sie das Sprechzimmer verlassen hatte und von ihm gestützt zum Auto gehen konnte.
»Was hat der Arzt denn nun festgestellt?«, erkundigte er sich unterwegs, während er sie mit einem prüfenden Seitenblick bedachte.
»Noch nichts Genaues, wahrscheinlich eine allergische Reaktion, die von einem Spezialisten noch genauer untersucht werden muss«, antwortete sie weinerlich. »Auf jeden Fall soll ich morgen meinen Hausarzt aufsuchen.«
Er nickte zustimmend, wusste aber ansonsten nicht, was er sagen sollte. Möglicherweise hatte sie den Staub und den Schmutz in seinem neuen Heim nicht vertragen. Und als sie ihm jetzt riet, heimzufahren und dort unverzüglich bewohnbare Räume zu schaffen, atmete er heimlich auf. Irgendwie ging sie ihm mit ihren Gejammer und ihren Schimpftiraden auf seine total verkalkten Eltern auf die Nerven.
Gegen 20:00 Uhr kam er wieder in seinem neuen Zuhause an, telefonierte noch schnell mit Vater und Mutter und richtete sich anschließend ein Nachtlager her.
Am nächsten Morgen begann er, systematisch Haus, Hof und Garten aufzuräumen, beseitigte Staub, Unrat und jede Menge Strauchwerk. Die Rosen ließ er jedoch alle stehen. Sie hatten einem kleinen Mädchen und dessen Mutter doch zu gut gefallen. Vielleicht kamen die beiden mal wieder.
Seine schöne Freundin hatte nach drei Wochen ihre Krankheit überwunden, sah sich aber weiterhin außerstande, ihn zu besuchen. Die Fahrt wäre denn doch zu anstrengend für sie, ließ sie ihn wissen, aber sie käme natürlich so bald wie möglich.
Bernulf lächelte dazu nur und fragte sich, warum sie sich noch nicht von ihm getrennt hatte. Seine Mutter hatte dafür eine plausible Erklärung, sie meinte lachend: »Natürlich hofft Frau Paulsen, dass du uns doch noch überzeugen kannst. Sie wartet daher ab, wie sich die Sache weiterentwickelt.«
*
Anne hatte es in den letzten Wochen vermieden, mit ihrer Tochter nach Barkenow zu radeln. Es gab ja schließlich genug andere Ausflugsziele. Leider erinnerte sich das Kind viel zu oft an das Dornröschenhaus und den netten Onkel, der jetzt dort wohnte.
An diesem Wochenende Mitte September ließ Nathalie keine Ausreden mehr gelten. Noch blühten die Rosen, noch war das Wetter schön, es gab also doch einen triftigen Grund, eine längere Fahrradtour zu unternehmen.
Anne gab schließlich nach. Sie rechnete ohnehin nicht mehr damit, dass Bernulf Süderhoff immer noch dort anzutreffen war. Wahrscheinlich hatte er den Hof inzwischen verkauft. Und der neue Besitzer hatte die Rosen bestimmt schon entfernen lassen, weil sie viel zu sehr wucherten und anderen Pflanzen Platz und Licht nahmen. Diese Tatsache würde ihrer romantisch veranlagten Tochter dann sehr wehtun, aber sie würde sie akzeptieren müssen.
»Gut, fahren wir mal wieder hin, bevor die Rosen verblüht sind und es kalt und stürmisch wird«, meinte sie und drückte die Kleine kurz an sich. »Aber sei nicht traurig, wenn wir vielleicht gar nicht mehr in den Garten hineinkommen. Es kann ja sein, dass der Bauer einen großen Zaun drumherum gezogen hat.«
»Glaub ich nicht.« Nathalie winkte nonchalant ab. »Außerdem hat der Mann gesagt, wir dürfen gern wiederkommen.«
»Das hat er mit Sicherheit gar nicht ernst gemeint.«
»Doch, hat er«, beharrte die Kleine trotzig. »Du wirst schon sehen.«
Anne gab es auf, ihre naseweise Tochter belehren zu wollen, sondern einigte sich mit ihr, den kommenden Samstag wieder für eine längere Fahrradtour nutzen zu wollen. Nathalie setzte daraufhin eine sehr zufriedene Miene auf und war in den nächsten Tagen ein sehr braves Mädchen.
Zur gleichen Zeit war Lara Paulsen der Ansicht, ebenfalls ein solches zu sein. Sie musste unverzüglich handeln, musste etwas unternehmen, damit Bernulf endlich wieder nach Hause kam und in seine Rechte eingesetzt wurde. Er tat ja nichts, sondern mimte in diesem mecklenburgischen Kaff immer noch den Schweinehirten. Deshalb würde sie seine Eltern aufsuchen und diese um Verständnis für den verlorenen Sohn bitten. Überzeugt davon, das einzig Richtige für ihren zukünftigen Ehemann zu tun, überraschte sie die beiden scheinbar ganz zufällig bei einer Landwirtschaftsmesse.
Robert und Martha Süderhoff sahen sich zwar einen Moment entgeistert an, aber sie begrüßten die Freundin ihres Sohnes höflich und ließen sich auch auf ein belangloses Gespräch ein. Sie ahnten jedoch, dass es dabei nicht bleiben würde.
Und richtig. Kaum saß man bei Kaffee und Kuchen, kam Lara zum eigentlichen Zweck der ›zufälligen Begegnung‹, auf Bernulf zu sprechen, der sich jetzt wie degradiert fühlte und es in Barkenow kaum noch aushalte.
»Unser Sohn hat es so gewollt«, erklärte der Großbauer daraufhin entschieden und mit einem bissigen Unterton. »Er will sein eigener Herr sein, will mich nicht mehr anerkennen, sondern seine Mutter und mich in ein Altenheim stecken. Das müssen wir uns nicht bieten lassen.«