Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman - Karina Kaiser - Страница 9

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»Hast du auch nicht vergessen, die Knabberstangen für Rosi und Robbi einzupacken?«, fragte Liane Eichhöfer und schaute ihre Tochter Kira lächelnd an.

»Mutti! Natürlich habe ich das nicht vergessen. Hier, der Beutel ist ganz voll mit all den Sachen, die Rosi und Robbi brauchen.«

Kira hielt demonstrativ einen Leinenbeutel hoch, der prall gefüllt war. Liane nickte zufrieden. Im Grunde genommen wusste sie genau, dass sie ihre Frage gar nicht hätte stellen müssen. Die beiden Kanarienvögel Rosi und Robbi waren ihrer neunjährigen Tochter sehr wichtig.

Vor vier Jahren war bei Lianes Mann Robert ein Gehirntumor festgestellt worden, der nicht operabel gewesen war und an dem er schon zwei Monate später gestorben war. Kira, die seinerzeit gerade fünf Jahre alt gewesen war, konnte die Endgültigkeit des Todes zwar noch nicht so recht begreifen, litt aber doch sehr darunter, dass ihr Vati plötzlich nicht mehr da war. Um das kleine Mädchen ein wenig abzulenken, hatte Liane ein Pärchen Kanarienvögel gekauft. Kira hatte ihr Herz sofort an die beiden Vögel gehängt und sich für die Tierchen verantwortlich gefühlt. Daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Jetzt hatte sich ein kleines Problem ergeben: Liane arbeitete als selbständige Fotografin und hatte ein höchst interessantes Angebot bekommen. Sie sollte für einen Reiseveranstalter in Kärnten in Österreich Luftaufnahmen von einer gerade erst erbauten Ferienanlage erstellen. Dieser Auftrag gefiel Liane und wurde außerdem auch noch gut honoriert. Aber sie konnte Kira nicht mitnehmen, weil die Kleine in die Schule gehen musste und dem Unterricht nicht einfach eine Woche lang fernbleiben konnte. Aber Liane hatte Glück. Schon seit vielen Jahren war sie mit der Gartenbauarchitektin Ellen Lennard befreundet, die ebenfalls, kaum dreißig Meter weit entfernt, in derselben Reihenhaussiedlung wohnte. Ellen war schon seit vielen Jahren geschieden und Mutter einer jetzt zwanzig Jahre alten Tochter. Diese Tochter, Bianca, war vor etwas mehr als einem Jahr nach Köln umgezogen, um dort zu studieren. Ellen hatte schon häufiger auf Kira aufgepasst, wenn ihre Mutter einen Auftrag angenommen hatte und sie nicht mitnehmen konnte. Meistens hatte es sich dabei allerdings um einen Zeitraum von wenigen Stunden gehandelt und nicht, so wie jetzt, um eine ganze Woche.

Aber Ellen sah kein Problem darin, Kira und ihre Kanarienvögel nun für eine Woche aufzunehmen.

Sie arbeitete meistens zu Hause am Zeichentisch und entwarf dort für ihre Kunden neue Garten- oder Parkanlagen. Ellen mochte das kleine Mädchen sehr, und die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

»Bringst du mir aus Österreich etwas Schönes mit?«, wollte Kira wissen und schaute ihre Mutter mit ihren großen braunen Augen bittend an.

»Selbstverständlich bringe ich dir etwas mit. Ich werde bestimmt etwas finden, das dir gefallen könnte. Oder hast du einen speziellen Wunsch?«

Kira nickte. »Ein Edelweiß wäre schön. Du kennst doch Marie, die in meiner Klasse ist. Die hat so ein Edelweiß. Das hat ihre Oma auf einer Bergwanderung in Österreich selbst gepflückt und ihr mitgebracht.«

»Dann hat Maries Oma wahrscheinlich nicht gewusst, dass sie etwas getan hat, das man nicht tun darf. Es ist nämlich streng verboten, ein Edelweiß zu pflücken. Die sind selten und stehen unter Schutz. Außerdem gibt es diese Pflanzen nur ziemlich weit oben im Gebirge, und da werde ich wahrscheinlich nicht sein. Aber man kann speziell gezüchtete Edelweiße kaufen, die in Lesezeichen oder Briefbeschwerer eingearbeitet sind. Ich werde mich umsehen und bestimmt das Richtige finden. Jetzt sollten wir uns aber auf den Weg zu Tante Ellen machen. Die wartet wahrscheinlich schon auf uns.«

Liane griff nach dem großen Vogelkäfig, den Kira bereits fürsorglich mit einem Tuch abgedeckt hatte, der aber für ihre kleinen Kinderarme zu ausladend war. Kira selbst zog den Rollkoffer in die Diele, und kaum eine Minute später verließen Mutter und Tochter das Haus.

*

Ellen Lennard hatte einen Kirschkuchen gebacken und den Tisch bereits gedeckt, als Liane und Kira eintrafen. Zuerst wurden allerdings die Vögel versorgt. Sie bekamen einen Platz an dem großen Panoramafenster des Wohnzimmers. Hier konnten die Tiere in den Garten blicken, die einfallende Sonne genießen, oder sich auf der anderen Seite des Käfigs in den Schatten setzen, der durch eine große, üppige Topfpflanze geboten wurde.

Kira betrachtete die zahlreichen Pflanzen. »Sind da auch giftige dabei?«, fragte sie besorgt. »Rosi und Robbi möchten jeden Tag ein paar Stunden frei herumfliegen. Wenn sie dann einmal an den Pflanzen picken, und die sind giftig, werden meine Vögel krank oder sterben vielleicht sogar.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, beruhigte Ellen sie. »Alle Pflanzen, die hier stehen, sind für Rosi und Robbi unschädlich. Ich besitze nur eine, bei der ich mir nicht ganz sicher bin. Die habe ich schon nach oben in mein Atelier gestellt. Da kommen deine Vögelchen ja nicht hin.«

Kira lächelte Ellen dankbar an und nickte zufrieden. Es gefiel ihr sehr, dass Ellen schon im Vorfeld an das Wohl ihrer Vögel gedacht hatte, und sie freute sich auf die Woche, die sie hier in diesem Haus verbringen würde.

»Morgen Nachmittag muss ich mir einen Garten ansehen, der neu gestaltet werden soll«, berichtete Ellen, als alle drei wenig später am Kaffeetisch saßen.

Liane reagierte auf diese Eröffnung erschrocken. »Oh! Morgen bin ich schon unterwegs nach Österreich. Wenn du aber einen Außentermin hast, wird Kira dir im Weg sein. Ausgerechnet morgen hat sie einen kurzen Schultag, der schon kurz nach zwölf Uhr zu Ende ist. Was machen wir denn jetzt?«

»Gar nichts.« Ellen grinste ihre Freundin an wie ein übermütiger Lausbub. »Das Kinderheim Sophienlust hat mich um Hilfe gebeten. Ich habe dort vor ein paar Monaten schon einmal gearbeitet. Diesmal geht es um einen recht großen Kräuter- und Gemüsegarten, dem Heiligtum der Köchin Magda. Durch einige Hecken und Sträucher, die sehr hoch geworden sind, liegt ein großer Teil dieses Nutzgartens nun im Schatten. Das tut den Kräutern und den meisten Gemüsesorten aber nicht gut. Ich soll Abhilfe schaffen, Hecken und Sträucher dabei aber möglichst schonen. Also sehe ich mir die Sache morgen erst einmal in Ruhe an. Kira kann mich begleiten. Sie ist in Sophienlust herzlich willkommen. Schließlich handelt es sich um ein Kinderheim und noch dazu um ein ganz besonderes.«

»Stimmt, ich habe schon von Sophienlust gehört und bin sogar auch bereits mehrmals daran vorbeigefahren«, erwiderte Liane. »Allerdings habe ich nicht viel mehr als die Begrenzungshecke, das große schmiedeeiserne Tor und das Dach des Gebäudes gesehen, das über die Hecke lugte. Irgendwie sah es aus wie das Dach eines kleinen Schlosses. Persönlich bin ich aber noch nie auf dem Gelände gewesen. Vor einer Weile gab es einmal einen Artikel über Sophienlust in der Tageszeitung. Darin hieß es, dass es sich um ein privates Kinderheim handelt, in dem zumeist Waisenkinder wohnen. Pferde und Ponys für die Kinder soll es dort auch geben, und alles soll einem erst achtzehn Jahre alten jungen Mann gehören, der alles organisiert. Das kann ich mir aber gar nicht vorstellen. Ein Achtzehnjähriger ist doch noch gar nicht reif genug für so eine wichtige und schwierige Aufgabe.«

»Du sprichst von Dominik von Wellentin-Schoenecker«, entgegnete Ellen. »Er wird von allen einfach Nick genannt und ist tatsächlich erst achtzehn Jahre alt. Das Anwesen hat er aber geerbt, als er noch ein ganz kleiner Junge war. Deshalb gehört es ihm schon lange. Bisher hat aber seine Mutter, Denise von Schoenecker, das Kinderheim geführt. Jetzt ist Nick volljährig und hat sein Erbe angetreten. Rein rechtlich kann er allein über alles entscheiden. Ich habe aber gehört, dass er sich noch sehr gerne von seiner Mutter unterstützen lässt und sie oft um ihren Rat bittet. Soweit ich weiß, will Nick erst einmal ein Studium absolvieren, damit er eine abgeschlossene Ausbildung hat. Das finde ich auch vernünftig. Jedenfalls wird Kira keine Langeweile haben, während ich mir den Garten ansehe.«

»Gibt es da wirklich Pferde und Ponys?«, fragte Kira mit leuchtenden Augen. »Ich meine damit, ob es welche gibt, die ich mir auch ansehen darf.«

»Ich bin ganz sicher, dass du dir die Pferde ansehen darfst. Du wirst sie auch streicheln und vielleicht sogar füttern dürfen. In Sophienlust sind alle sehr nett zu Gästen. Es gibt übrigens nicht nur Pferde, sondern auch zwei große Hunde. Da ist der Bernhardiner Barri und die Dogge Anglos. Beide sind ganz lieb und freundlich.«

»Das muss wirklich ein ganz tolles Kinderheim sein«, murmelte Kira. »Ich freue mich schon darauf, mir alles anzusehen, und mit den Kindern werde ich mich bestimmt schnell anfreunden.«

»Aber du musst dich ordentlich benehmen«, ermahnte Liane ihre Tochter. »Ich möchte nicht, dass mich jemand aus Sophienlust nach meiner Rückkehr aus Österreich anruft und sich bei mir darüber beschwert, dass ich ein ungezogenes Kind habe.«

»Mutti, wo denkst du denn hin?«, erwiderte Kira empört. »Über mich wird sich niemand beschweren können.«

Ellen nickte zustimmend. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Kira ist ein sehr verständiges kleines Mädchen, das keine Dummheiten macht. Wenn sie eine unerzogene Göre wäre, hätte ich nicht zugestimmt, als du mich gefragt hast, ob sie eine Woche lang bei mir bleiben kann.«

Nun ja, ich habe mir bei der Erziehung ja auch alle Mühe gegeben«, erklärte Liane lächelnd. »Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Mein Koffer muss nämlich noch gepackt werden, und ich will mich morgen schon um sechs Uhr früh auf den Weg machen und stehe gegen fünf Uhr auf. Um diese Zeit werdet ihr vermutlich noch in den Federn liegen.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte Ellen und begleitete ihre Freundin zur Haustür. Dort verabschiedete sich auch Kira von ihrer Mutter.

»Viel Spaß in Kärnten, und vergiss bitte das Edelweiß nicht. Darauf freue ich mich schon.«

Liane nahm ihre Tochter in die Arme.

»Das weiß ich doch, und ich verspreche dir, dass ich ein besonders schönes Edelweiß für dich aussuchen werde.«

Mit diesen Worten wandte Liane sich ab und machte sich auf den kurzen Rückweg zu ihrem Haus. Unterwegs drehte sie sich noch einmal um und winkte ihrer Tochter und Ellen zu, die am Gartentor standen und herzlich zurückwinkten.

*

An diesem Tag war die Köchin Magda schon mehrmals in ihren Kräuter- und Gemüsegarten gegangen, der direkt von der Küche aus erreichbar war. Als sie wieder einmal nachdenklich die Beete betrachtete, gesellten sich die beiden jüngsten Kinder von Sophienlust zu ihr, der sechs Jahre alte Kim und die siebenjährige Heidi. Kim stammte aus Vietnam und war als Waisenjunge nach Sophienlust gekommen. Mitunter hatte er noch ein paar kleine Probleme mit der deutschen Sprache.

Heidi, die die erste Klasse besuchte und heute schon relativ früh aus der Schule gekommen war, konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, jemals woanders als in Sophienlust gelebt zu haben. Sie war noch ein Baby gewesen, als ihr Vater, ein drogenabhängiger junger Mann, ums Leben gekommen war und Heidis Mutter mit in den Tod gerissen hatte.

»Warum guckst du denn so traurig deine Kräuter an, Magda?«, erkundigte Heidi sich. Wollen die etwa nicht richtig wachsen?«

Kim schüttelte den Kopf. »Das nicht kann sein. Du irrst dich, Heidi. Guck doch, alle Pflanzen grün, und wenn sie grün, sind auch richtig gewachsen.«

»Nun ja, gewachsen ist schon alles, aber nicht so richtig«, erklärte Magda. »Die Möhren sind ziemlich klein geraten, Dill und Schnittlauch sehen nicht gerade schön saftig aus, und auch alle anderen Pflanzen sind ein bisschen kümmerlich. Das liegt daran, dass nicht mehr genug Sonne in meinen Gemüsegarten scheint. Aber nachher kommt eine Gärtnerin, die das ändern möchte.«

Kim blickte nachdenklich zum strahlend blauen Himmel hinauf. »Aber Sonne ist groß, stark und weit weg von Erde. Kein Mensch kann schieben Sonne, damit sie scheint hier in Garten und auf Gemüse. Auch die Gärtnerin ist nicht stark genug und kann nicht reichen an Sonne zum Schieben. Sonne ist zu weit weg.«

Magda schmunzelte vergnügt. »Nein, an der Sonne kann die Gärtnerin nichts verändern. Da hast du vollkommen recht. Aber sie kann mir helfen, etwas an dem Garten zu verändern. Seht ihr da drüben die große Hecke? Die wirft auch bei Sonnenschein Schatten auf die Beete. Das ist nicht gut für mein Gemüse und die Kräuter. Aber ich will die Hecke auch nicht einfach herausreißen lassen. Das täte mir leid. Auch die Sträucher hier auf der Seite sind sehr groß geworden und nehmen den kleinen Pflanzen das Licht. Der Gärtnerin wird vielleicht etwas einfallen, um Sträucher und Hecke zu erhalten und trotzdem Sonnenschein in den Garten fallen zu lassen.«

»Ja, wäre gut, wenn das ginge«, ließ Kim sich vernehmen. Möhren und Kohlrabi müssen haben Sonne und Petersilie auch. Aber ist nicht schlimm, wenn Radieschen bleiben im Schatten von Hecke.«

»Das sagst du jetzt doch nur, weil du Radieschen nicht magst«, stellte Heidi fest. »Wenn hier keine mehr wachsen, weil sie keine Sonne bekommen, ist dir das ganz recht. Dabei wollen auch Radieschen leben und groß werden. Pünktchen hat neulich gesagt, dass man niemandem den Tod wünschen darf. Das gilt bestimmt auch für Radieschen.«

»Ihr sollt nicht streiten«, ermahnte Magda die Kinder. »Die Gärtnerin wird schon dafür sorgen, dass die Radieschen genug Sonne bekommen, und ich sorge dafür, dass du, Kim, keine Radieschen auf deinem Teller finden wirst. Was meint ihr? Ist das ein fairer Handel zwischen uns?«

Die Köchin hielt den beiden Kindern ihre Hand hin und lächelte ihnen aufmunternd zu. Kim und Heidi erwiderten das Lächeln und schlugen ein.

»Jetzt musst du noch mit Pünktchen verhandeln«, bemerkte Heidi. »Ich glaube, die mag auch keine Radieschen. Oder war es vielleicht doch Blumenkohl?«

Magda kannte die fünfzehn Jahre alte Angelina Dommin, die wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen nur Pünktchen gerufen wurde, sehr gut. Das Mädchen war als Dreijährige nach Sophienlust gekommen, nachdem die Eltern bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren. Alle Vorlieben und Abneigungen von Pünktchen waren der Köchin bekannt.

»Nein, du irrst dich, Heidi. Radieschen und Blumenkohl mag Pünktchen. Blumenkohl isst sie sogar besonders gern, wenn er mit Käse überbacken ist. Was sie aber überhaupt nicht leiden kann, ist Möhreneintopf. Wenn der auf den Tisch kommt, bereite ich für Pünktchen immer Pfannkuchen zu.«

Heidi schlug sich mit einer Hand gegen die Stirn. »Ja stimmt, es sind gekochte Möhren, die Pünktchen furchtbar findet. Jetzt weiß ich es wieder. Sie hat mir sogar einmal einen von ihren kleinen Pfannkuchen angeboten. Aber ich mochte die Möhren lieber, weil da so leckere Wurststückchen drin waren.«

Magda freute sich darüber, dass Heidi mit ihren Kochkünsten offenbar zufrieden war. »Wie wäre es denn mit einer kleinen Scheibe Fleischwurst so ganz einfach zwischendurch?«, fragte sie, und als die Kinder von dieser Idee begeistert waren, nahm Magda sie mit in die Küche.

*

Ellen war mit ihrem Wagen auf das Gelände von Sophienlust gefahren und hielt unmittelbar neben der Freitreppe, die zum Haupteingang führte, an. Sofort kamen zwei große Hunde angelaufen, wedelten freundlich und schienen sich über die Besucher zu freuen.

»Sind das Barri und Anglos?«, erkundigte sich Kira bei Ellen. In ihrer Stimme lag keine Spur von Angst, sondern freudige Erwartung. Als Ellen nickte, stieg die Neunjährige aus und begann gleich damit, die beiden Hunde zu streicheln. Es dauerte auch nicht lange, bis einige Kinder erschienen, die das fremde Auto entdeckt hatten.

»Hallo, ich bin Angelika Langenbach und wohne hier in Sophienlust«, stellte sich ein Mädchen vor und wies dann auf ihre Begleiterin: »Und das ist meine Schwester Vicky. Eigentlich heißt sie Viktoria, aber so nennt sie niemand. Wer bist du denn - und bleibst du für längere Zeit hier bei uns?«

Kira schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur heute hier. Ich heiße Kira, und ich bin mit Tante Ellen hergekommen. Sie ist nicht meine richtige Tante, aber ich darf sie so nennen, weil sie eine gute Freundin von meiner Mutti ist. Tante Ellen ist Gartenbauarchitektin und soll sich hier einen Gemüsegarten ansehen, an dem etwas verändert werden soll.«

»Dann kann es sich nur um Magdas Gemüsegarten handeln«, meinte Vicky. »Hier gibt es nur einen Gemüsegarten, und der gehört ihr. Ich kann euch beide zu Magda bringen.«

Während Ellen sich gerne zu der Köchin führen ließ, zog Kira es vor, bei den Hunden zu bleiben und sich mit Angelika zu unterhalten.

»Bist du mit deiner Schwester schon lange in Sophienlust?«, fragte Kira. »Ich habe gehört, dass die meisten Kinder, die hier wohnen, keine Eltern mehr haben. Stimmt das?«

Angelika nickte. »Ja, das ist richtig. Vicky und ich sind schon seit einigen Jahren hier. Unsere Eltern sind bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Das war damals sehr schlimm für uns. Aber inzwischen fühlen wir uns in Sophienlust sehr wohl. Es ist das beste Kinderheim, das es auf dieser Welt gibt. Wir leben hier alle zusammen wie in einer großen und fröhlichen Familie.«

»Es ist wirklich schön hier«, bestätigte Kira und ließ ihren Blick durch den weitläufigen Park streifen. »Wenn ich keine Mutter mehr hätte, wäre ich bestimmt auch lieber hier als in irgendeinem anderen Kinderheim.«

»Ah, du hast noch eine Mutter? Ich dachte, du würdest bei der Frau leben, die die beste Freundin deiner Mutter ist und die du Tante Ellen nennst.«

Kira schüttelte heftig den Kopf. »Nein, ich bin nur für eine Woche bei Tante Ellen, weil meine Mutter nach Österreich fahren musste. Sie ist Fotografin und hat dort einen Auftrag bekommen. Sie soll von einem Flugzeug aus ein Ferienzentrum fotografieren. Weil im Moment keine Ferien sind, konnte sie mich nicht mitnehmen. Einen Vater, der auf mich aufpassen könnte, habe ich leider nicht mehr. Er ist vor vier Jahren gestorben. Aber ich habe noch meine Mutti, und die habe ich sehr lieb.«

Angelika nickte verstehend. Als Kira sie wenig später nach den Pferden fragte, war Angelika sofort bereit, ihr die Vierbeiner zu zeigen, und wanderte mit Kira zu den Ställen und der großen Weide. Dort stießen sie auf den zwölfjährigen Martin Felder, der gerade damit beschäftigt war, sein Lieblingspferd zu putzen. Der Junge, der Tiere über alles liebte, mit Feuereifer alles über sie lernte und später unbedingt einmal Tierarzt werden wollte, begrüßte Kira freundlich, nachdem Angelika ihm das Mädchen vorgestellt hatte.

»Das ist aber ein schönes Pferd«, stellte Kira anerkennend fest. »Gehört es dir?«

»Nein«, erwiderte Martin lachend. »Keiner von uns hat ein eigenes Pferd. Alle Pferde gehören uns allen zusammen. Das heißt, jedem gehört von jedem Pferd ein kleines Stück. Aber natürlich hat auch jeder sein Lieblingspferd. Ich mag diese Stute ganz besonders. Sie heißt Mirana und ist neun Jahre alt.«

Sanft strich Kira der Stute mit einer Hand über das weiche Maul. »Neun Jahre bist du alt? Dann bist du genauso alt wie ich.«

Martin wunderte sich darüber, wie viel Vertrauen Kira zu dem Pferd hatte. Viele andere Kinder hätten respektvoll erst einmal Abstand zu der Stute gehalten. Das aber tat Kira nicht. Ruhig, aber ohne jede Scheu ging sie mit dem Pferd um, und das gefiel Martin.

Hast du zu Hause selbst ein Pferd oder andere große Tiere?«, erkundigte der Junge sich.

Kira kicherte vergnügt. »Tiere habe ich schon, aber groß kann man sie eigentlich nicht nennen. Rosi und Robbi sind zwei Kanarienvögel. Robbi ist gelb und Rosi ein bisschen orange und grau. Aber auch wenn es nur kleine Tiere sind, habe ich sie trotzdem sehr lieb.«

»Das ist auch richtig so«, erwiderte Martin. »Kleine Tiere haben dieselben Rechte wie große, und man muss sie genauso gut versorgen und mögen. Ich dachte nur, dass du vielleicht große Tiere hast, weil du richtig gut mit Pferden umgehen kannst.«

«Ach, das ist doch nicht weiter schwer. Pferde sind zwar groß, aber meistens ganz lieb. Sie erschrecken oft nur sehr leicht. Das hat mir meine Mutti erzählt. Deshalb solle man sich nicht hektisch bewegen, wenn man nahe bei einem Pferd ist.«

Martin war von Kira richtig begeistert. Kinder, die ein besonderes Verständnis für Tiere hatten, gefielen ihm immer, und dieses Mädchen war so ganz nach seinem Geschmack. Aber auch Vicky und Angelika und all die anderen Kinder, die an diesem Tag noch auf Kira stießen, fanden die Neunjährige richtig nett.

Nick, der in Sophienlust ein eigenes Zimmer hatte und von dort aus in den letzten Tagen damit beschäftigt war, nach einer passenden Universität für sein geplantes Studium zu suchen, begegnete Kira und Vicky zufällig auf dem Flur, als er gerade auf dem Weg in die Küche war, um sich eine Tasse Kakao zu holen.

»Nanu, ein neues Gesicht in Sophienlust«, stellte der Achtzehnjährige fest und reichte Kira die Hand. »Herzlich willkommen. Ich bin Nick, und wie heißt du?«

Das Mädchen ergriff Nicks Hand. »Ich bin Kira Eichhöfer. Aber ich bleibe nicht für immer in Sophienlust, sondern bin nur heute mit Tante Ellen hier. Die kennt sich mit Gärten aus und soll eure Köchin wegen des Gemüsegartens beraten. Aber wenn du Nick bist, dann bist du doch der, dem Sophienlust gehört, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt, und seitdem ich volljährig bin, darf ich auch ganz offiziell bei allen Dingen, die Sophienlust betreffen, mitreden.«

»Wieso mitreden?« Kira zog die Stirn in Falten. »Wenn du jetzt erwachsen bist, kannst du doch ganz allein über alles bestimmen.«

Nick lächelte. »Ja, das dürfte ich schon. Aber es sind meistens recht schwere Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und da lasse ich mich doch noch lieber von meiner Mutter beraten. Die hat schließlich viel mehr Erfahrung als ich, weil sie Sophienlust schon seit vielen Jahren für mich verwaltet. Entscheiden muss ich aber am Ende selbst. Darauf besteht meine Mutter. Trotzdem berät sie mich gern, und darüber bin ich sehr froh.«

Kira nickte verstehend. »Stimmt, es ist immer gut, wenn man eine Mutter hat, die man um Rat fragen kann. Das mache ich auch oft so. Mir gehört zwar kein Kinderheim, aber es kommt trotzdem oft vor, dass ich allein nicht so richtig weiß, was ich am besten tun sollte.«

In Sophienlust gab es so viel zu sehen und zu erleben, dass Kira überhaupt nicht merkte, wie schnell die Zeit verging. Als Ellen plötzlich vor ihr stand und ihr sagte, dass sie beide nun wieder nach Hause fahren würden, war das Mädchen sichtlich erstaunt.

»Bist du mit deiner Arbeit denn schon fertig? Das ging aber unheimlich schnell. Wir sind doch noch gar nicht so lange hier.«

»Ich finde, dass man drei Stunden durchaus eine lange Zeit nennen kann«, entgegnete Ellen mit einem Blick auf die Uhr. »Aber ich freue mich, dass du offensichtlich keine Langeweile hattest. Sonst wäre dir die Zeit nicht so kurz vorgekommen. Außerdem freue ich mich darüber, dass ich für Magda die ideale Lösung für ihren Gemüsegarten gefunden habe. Ihre Pflanzen werden in Zukunft genug Sonne bekommen, und die Hecke kann trotzdem erhalten werden, wenn auch teilweise an einem anderen Standort. Jetzt musst du dich leider von deinen neuen Freunden verabschieden. Aber wir sind übermorgen wieder hier. Dann sollen nämlich die Arbeiten im Gemüsegarten beginnen, und dabei wäre ich gerne vor Ort.«

Über die Aussicht, am übernächsten Tag wieder in Sophienlust sein zu können, freute sich Kira. Der Abschied fiel ihr deshalb nicht ganz so schwer.

Ellen und Kira wurden von einigen Kindern zum Auto begleitet, die dem davonfahrenden Wagen wenig später nachwinkten.

»Kira ist wirklich ein richtig nettes Mädchen«, stellte die kleine Heidi fest. »Schade, dass sie nicht für immer bei uns bleiben kann.«

»Ich finde Kira auch nett«, gestand Pünktchen. »Aber es ist gut, dass sie nicht für immer in Sophienlust bleibt. Das würde schließlich bedeuten, dass sie keine Mutter mehr hätte, und darüber wäre Kira mit Sicherheit sehr traurig.«

»Aber sie nicht lange wäre traurig«, bemerkte Kim. »Ich auch gehabt habe Mutter. Aber dann kam ich nach Sophienlust. War erst alles fremd hier. Aber ich ganz schnell habe gemerkt, dass Sophienlust so gut ist wie zu haben eine Mutter. Vielleicht ist sogar noch besser als Mutter.«

Die Kinder, die mit Kim vor dem Haus standen, widersprachen dem kleinen Jungen nicht, obwohl sie noch einiges dazu zu sagen gehabt hätten. Kim war noch sehr klein gewesen, als seine Eltern ums Leben kamen. Deshalb war es für ihn nicht ganz so schwer gewesen, diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Aber es hätte keinen Sinn gehabt, ihm diesen Unterschied zu erklären. Er hatte sich wunderbar in Sophienlust eingelebt, und das war schließlich die Hauptsache.

*

Für ihre Fahrt nach Kärnten hatte Liane sich Zeit genommen. Weil sie nicht abgehetzt ankommen wollte, hatte sie unterwegs in einem kleinen Waldhotel übernachtet. Das Zimmer war nicht übermäßig luxuriös, aber gemütlich und sauber gewesen. Auch mit dem Frühstück war Liane mehr als zufrieden gewesen. An einem hübsch dekorierten Buffet hatte sie alles gefunden, was ihr Herz begehrte. Gut ausgeruht war sie dann in ihr Auto gestiegen und hatte ihren Weg fortgesetzt.

In einem beschaulichen kleinen Ort in Kärnten wurde Liane von ihrem Auftraggeber bereits erwartet. Alex Landhuber zeigte ihr das Hotel, in dem sie während ihres Aufenthaltes wohnen sollte. Mit dem kleinen Waldhotel war dieses Haus allerdings nicht vergleichbar. Hier war jeder nur erdenkliche Luxus zu finden. Liane konnte sich in ihren geräumigen Zimmern in aller Ruhe einrichten und hatte auch noch Zeit, um sich etwas zu entspannen, bevor Landhuber sie abholte.

»Ich schlage vor, dass wir zunächst zur Ferienanlage fahren, damit Sie wissen, was Sie eigentlich fotografieren sollen«, sagte er. »Anschließend zeige ich Ihnen den Flugplatz, von dem aus Sie starten werden.«

»Ich hoffe, dass Sie das nicht wörtlich meinen und davon ausgehen, dass ich persönlich starten werde«, erwiderte Liane mit gespieltem Entsetzen. »Ich besitze keinen Flugschein und kann mit so einer Maschine überhaupt nicht umgehen.«

»Das müssen Sie auch nicht. Dafür ist der Pilot da. Sie können sich ganz auf Ihre Aufnahmen konzentrieren und bringen sicher sehr schöne Bilder von der Ferienanlage mit. Das Flugzeug hat übrigens Platz für drei Passagiere, aber abgesehen von Ihnen fliegt nur noch ein älterer Herr mit. Er besitzt in der Nähe der Ferienanlage eine Jagdhütte und möchte davon höchstpersönlich Fotos machen.«

Die Ferienanlage gefiel Liane, und sie wusste auch sehr schnell, wie sie ausdrucksvolle Fotos davon bekommen würde. Auf dem Flugplatz schaute sie sich später überrascht um.

»Ich hätte nie vermutet, dass es auf einem so kleinen Flugplatz so viele Flugzeuge gibt. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass hier zwei, vielleicht auch drei kleine Maschinen stehen, aber das sind ja mindestens zwanzig.«

»Ja, das stimmt ungefähr«, bestätigte Alex Landhuber. Viele Leute, die einen Flugschein besitzen haben ihre Maschinen hier abgestellt. Sie stammen nicht nur aus Österreich, sondern auch aus den benachbarten Ländern. Manche vermieten die Flugzeuge mitunter auch. Sie fliegen übrigens mit der Papa Tango, die dort drüben steht.«

Herr Landhuber wies auf ein kleines weißes Flugzeug mit mehreren dunkelblauen Streifen.

»Papa Tango?«, fragte Liane verwirrt. Ich weiß, dass manche Leute ihren Autos Namen geben, und könnte mir vorstellen, dass das bei Flugzeugbesitzern nicht anders ist. Aber Papa Tango ist ein ziemlich ungewöhnlicher Name.«

Alex Landhuber schüttelte lächelnd den Kopf. »Es handelt sich nicht um einen Namen, sondern um die Kennung. Können Sie die Buchstaben auf dem Flugzeug erkennen? Hinter der Landeskennung steht ein P und ein T. In dem Alphabet, das in der Luftfahrt benutzt wird, heißt das Papa und Tango.«

»Aha, jetzt versteh ich«, entgegnete Liane. »Als Name für so ein nettes kleines Flugzeug wäre diese Bezeichnung auch recht seltsam gewesen. Ich freue mich darauf, morgen damit fliegen zu dürfen.«

»Und ich freue mich auf die Fotos, die Sie von der Ferienanlage machen werden. Leider ist es nicht meine Anlage. Ich bin nur der Manager. Aber ich weiß, dass die Besitzer, es handelt sich dabei um zwei Brüder, großen Wert darauf legen, dass man auch bei den Luftaufnahmen einzelne Details gut erkennen kann. Besonders wichtig ist ihnen der wirklich wunderschön gestaltete kleine Badesee, der sich im Zentrum der Bungalowbebauung befindet. Diesem See sollten Sie besondere Aufmerksamkeit widmen.«

»Das werde ich beherzigen«, versprach Liane. »Aber ich werde nach der Landung viele schöne Aufnahmen präsentieren können. Da wird es für die Besitzer der Ferienanlage bestimmt nicht ganz leicht sein, die besten auszuwählen.«

Alex Landhuber lächelte Liane an.

»Ich bin davon überzeugt, dass Sie Ihr Handwerk verstehen. Sonst hätte man Sie bestimmt nicht aus Deutschland geholt, um hier in Österreich Fotos zu machen.«

Danach fuhren sie zurück, und Herr Landhuber brachte Liane zum Hotel und verabschiedete sich von ihr. Er bestand darauf, sie am nächsten Morgen abzuholen und zum Flugplatz zu fahren, obwohl sie selbst ein Auto hatte, das auf dem Parkplatz des Hotels stand. Liane verzichtete auf Einwände und erklärte sich einverstanden. Sie freute sich auf den kommenden Tag und auf ihre Arbeit. Damit sie frisch und ausgeruht ans Werk gehen konnte, ging sie an diesem Abend relativ früh schlafen.

*

»Na, Alfi, wohin geht es denn heute?«, wurde Alfred Luckner gefragt, als er sein Flugzeug betanken ließ. Niemand, der auf diesem Flugplatz beschäftigt war, nannte ihn bei seinem vollen Namen. Alle sagten nur Alfi zu ihm.

»Rüber zu der neuen Ferienanlage, mehrmals drum herum und dann noch einmal über die Jagdhütte, die ganz in der Nähe liegt. Ich nehme nachher zwei Passagiere auf, einen älteren Herrn und ein junge Frau. Beide wollen Luftaufnahmen machen. Ein langer Flug wird das nicht. Ich werde voraussichtlich etwa zwanzig Minuten unterwegs sein.«

Der Tank der kleinen Maschine war gerade gefüllt, als Liane auf dem Flugplatz erschien. Auch der ältere Mann, der seine Jagdhütte fotografieren wollte, fand sich ein paar Minuten später ein. Alfred Luckner gesellte sich zu ihnen und stellte sich vor. Gerade wollte er mit ihnen zum Flugzeug hinübergehen, als eine junge Frau von ungefähr zwanzig Jahren auf die kleine Gruppe zugelaufen kam.

»Entschuldigen Sie bitte, fliegen Sie jetzt los? Wenn es so ist, könnten Sie mich dann bitte mitnehmen? Mein Bruder verbringt mit seiner Frau regelmäßig seinen Urlaub in dieser Gegend und schwärmt immer wieder davon. Ich möchte ihm gerne ein selbst aufgenommenes Luftbild von der Landschaft, die er so liebt, zum Geburtstag schenken. In drei Wochen wird er sechsundzwanzig Jahre alt.«

»Da haben Sie aber Glück«, erklärte Alfred Luckner. »Es ist genau noch ein Platz frei. Haben Sie sich schon angemeldet? Alle Fluggäste melden sich dort drüben bei der netten Mitarbeiterin an.«

Die junge Frau blickte in die angegebene Richtung und sah die Mitarbeiterin hinter einem Tresen. »Nein, ich habe mich noch nicht angemeldet«, gestand sie. »Aber Sie können sich darauf verlassen, dass ich den Flugpreis bezahle.«

»Sie sehen auch nicht wie eine Betrügerin aus«, stellte Alfred Luckner lachend fest. »Nun gut, dann kommen Sie jetzt, wir wollen keine Zeit vergeuden. Wir können später alle geschäftlichen Dinge regeln, wenn wir wieder hier gelandet sind.«

Obwohl es sich um ein ziemlich kleines Flugzeug handelte, fanden die drei Passagiere wenig später gute Plätze, die ihnen freie Aussicht nach draußen ermöglichten. So würden alle ihre Fotos machen können.

Der Pilot gab sich Mühe, die begehrten Objekte möglichst tief zu überfliegen, damit die Qualität der Bilder optimal werden konnte. Liane hatte bereits zahlreiche Bilder gemacht, als ihr ein Vogelschwarm auffiel, der sich seitlich auf das kleine Flugzeug zubewegte. Sie dachte sich nichts weiter dabei, warf nur einen kurzen Blick auf die Vögel, die sie für Enten oder Gänse hielt, und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Dann aber hörte sie, wie der Pilot fluchte und nahm unangenehm laute Geräusche wahr. Das Flugzeug wurde geschüttelt und geriet offensichtlich außer Kontrolle. Liane blickte für den Bruchteil einer Sekunde in die angstvoll geweiteten Augen der beiden anderen Passagiere und geriet selbst in stumme Panik, als der Pilot hektisch etwas von »Vogelschlag« und »Notlandung« rief. Der Vogelschwarm hatte die Propeller des Flugzeuges getroffen. Für die Tiere war das tödlich gewesen, aber dieser Zusammenstoß bedeutete auch für das Flugzeug eine Katastrophe.

Alles ging so schnell, dass Liane es kaum begreifen konnte. Der Pilot versuchte, auf einem Rübenfeld zu landen, was ihm jedoch nicht gelang, da das Flugzeug sich als nahezu manövrierunfähig erwies. In ihrer Panik war Liane überhaupt nicht fähig, irgendwo nach festem Halt zu suchen, so wie es die anderen beiden Fluggäste taten. Nachdem die Maschine mehr aufgeschlagen als gelandet war, zerbrach hinter Liane ein Fenster, und sie wurde nach draußen geschleudert, mitten in eine grüne Hecke, die das Rübenfeld begrenzte. So, als würde sie sich einen Film ansehen, schaute Liane dem Flugzeug nach, wie es sich durch die Pflanzen wühlte, sich schließlich überschlug und sofort in Flammen aufging. Bei diesem Anblick empfand Liane rein gar nichts. Sie begriff nicht, was dort vor sich ging und wusste auch nicht, wie sie in diese Hecke gekommen war. Dass sie sich noch wenige Sekunden zuvor in dem Flugzeug befunden hatte, war aus ihrem Erinnerungsvermögen gestrichen. Sie spürte nichts, nicht den geringsten Schmerz, sondern sank einfach bewusstlos in sich zusammen.

*

Eigentlich wollte Pünktchen nur rasch zur Weide gehen, um den Pferden ein paar Leckerbissen zu bringen. Magda war ein Versehen unterlaufen, über das sie sich zunächst sehr geärgert hatte, weil ihr solche Fehler normalerweise nie passierten. Ein großes Bauernbrot war hinter andere Backwaren geraten und hatte dort mehrere Tage lang unentdeckt gelegen. Nun war es zu hart und zu trocken, um es auf den Tisch zu bringen. Pünktchen hatte die verärgerte Köchin getröstet und ihr gesagt, das sich die Pferde bestimmt über das trockene Brot freuen würden. Frisches Brot dürfe man ihnen wegen ihrer empfindlichen Mägen nicht geben, aber trockenes Brot wäre eine Delikatesse für die Tiere.

Der Gedanke, dass sie wenigstens den Pferden eine Freude machen konnte, tröstete Magda. Sie griff zum Elektromesser und schnitt das große runde Bauernbrot damit in dicke Scheiben. Die wollte Pünktchen jetzt verfüttern. Doch dazu kam sie nicht mehr. Von Heidi liebevoll gestützt, kam Kim aus dem Park und humpelte auf die Freitreppe zu. Dicke Tränen kullerten über seine Wangen, und mit einer Hand schützte er sein rechtes Knie, das offensichtlich blutete.

»Ich mir gebrochen Bein«, jammerte der kleine Junge, als er Pünktchen entdeckte. »Ich bin gefallen von Schaukel. Bein tut ganz doll weh. Bestimmt ist gebrochen.«

»Nein, das Bein ist sicher nicht gebrochen«, bemerkte Heidi. »Ich weiß, wie weh es tut, wenn ein Knie blutet. Das ist mir auch schon oft passiert. Aber deswegen ist das Bein nicht gebrochen. Das täte nämlich noch viel mehr weh.«

»Tut ja mehr weh«, erklärte Kim weinend. »Tut ganz furchtbar weh. Knie ist gebrochen. Das weiß ich.«

»Heidi hat recht«, sagte Pünktchen. »So schnell brechen Knochen nicht. Aber ich glaube dir schon, dass du Schmerzen hast. Wir gehen jetzt zu Schwester Regine. Die kann dir helfen und klebt ein schönes buntes und ganz großes Pflaster auf dein Knie.«

Kims Tränen versiegten augenblicklich, und er schaute Pünktchen interessiert an. »Martin hat gehabt ein Pflaster mit Elefant, als er sich auf Hand verletzt hat beim Fahrrad-Reparieren. Das war ein schönes Pflaster. Hat Schwester Regine für mich auch Pflaster mit Elefant?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Pünktchen. »Aber sie hat auch Pflaster mit vielen anderen Tieren. Du darfst dir davon eins aussuchen.«

Als Kim mit Heidi und Pünktchen ins Haus ging, humpelte er schon erheblich weniger. Offensichtlich hatte er es jetzt sehr eilig, zu Schwester Regine und ihren Pflastern zu gelangen.

Nachdem Pünktchen den kleinen Jungen der Obhut der Kinderschwester übergeben hatte, wollte sie sich nun endlich auf den Weg zu den Pferden machen. Aber auch diesmal wurde sie daran gehindert:

Nick kam aus einem Zimmer und erklärte, dass er eine Neuigkeit zu verkünden hätte. Dazu sollten sich bitte alle in der Halle versammeln.

Es dauerte nicht lange, bis alle Kinder informiert waren und sich in der Halle eingefunden hatten. Auch Denise, Frau Rennert und alle anderen Angestellten von Sophienlust hatten es sich nicht nehmen lassen, Nicks Botschaft zu lauschen.

»Ihr wisst ja alle, dass ich mich um einen Studienplatz beworben habe«, begann Nick. »Dazu habe ich Kontakt zu vielen Universitäten aufgenommen. Die meisten boten aber gar kein Fernstudium im Fachbereich Kinderpsychologie an. Aber genau das möchte ich studieren und trotzdem nicht dauerhaft in einer anderen, vielleicht sogar sehr weit entfernten Stadt wohnen müssen. Ich will doch trotz meines Studiums hier in Sophienlust sein. Schließlich bin ich jetzt für alles verantwortlich, auch wenn meine Mutter mir hilft und mich in allen Dingen gut berät. Es bleibt also nur ein Fernstudium übrig. Heute habe ich eine Zusage von einer Universität bekommen. Ich werde ganz in der Nähe von Frankfurt mein Studium in ein paar Wochen beginnen.«

Alle, die Nick aufmerksam zugehört hatten, freuten sich mit ihm und gratulierten ihm. Denise ging lächelnd auf ihren Sohn zu.

»Ich freue mich mit dir über deinen Erfolg, und ich bin stolz auf dich. Allerdings lastet nun eine ganze Menge auf deinen Schultern, dein Studium und Sophienlust. Das wird manchmal vielleicht ein bisschen zu viel. Deshalb sollst du wissen, dass ich immer für dich da bin, dich unterstützen werde und dir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehe, wenn du das möchtest. Das bezieht sich allerdings nur auf alle Dinge, die Sophienlust betreffen. Dein Studium musst du selbstverständlich allein schaffen.«

»Das weiß ich, und das will ich auch«, lächelte Nick. »Aber es ist wirklich beruhigend für mich zu wissen, dass du da bist und mir den Rücken freihalten kannst. Du darfst nicht denken, dass ich zu faul und zu träge bin, um mich um Sophienlust zu kümmern, aber....«

Denise hob die Hände und gebot Nick damit Einhalt. »Ich bin deine Mutter, und ich weiß genau, dass du alles andere als faul oder träge bist. Ich habe genau verstanden, wie du es gemeint hast. Außerdem bin ich froh, dass ich hier in Sophienlust nicht ganz überflüssig werde. Ich fühle mich nämlich noch viel zu jung, um aufs Altenteil abgeschoben zu werden.«

»Altenteil?«, fragte Nick irritiert. »Mensch, Mutti, wo denkst du denn hin? Wir alle brauchen dich und deine Einsatzbereitschaft, und ich brauche dich ganz besonders.«

Spontan nahm Nick seine Mutter in die Arme.

Die umstehenden Kinder beobachteten gerührt die Szene, und als die kleine Heidi applaudierte, nahmen sich alle ein Beispiel an ihr.

*

Als Liane aufwachte, wusste sich nicht, wo sie sich befand. Das interessierte sie allerdings auch wenig. Sie ärgerte sich über die grünen kleinen Blätter, die vom lauen Wind durch ihr Gesicht geweht wurden und störten. Am Ende des Rübenfeldes, das vor ihr lag, sah sie Rauch aufsteigen. Mehrere große Fahrzeuge mit blinkenden blauen Lichtern standen in der Nähe der Rauchfahne. Liane hatte keine Ahnung, was dort passiert sein könnte, wollte es auch gar nicht wissen. Rückwärts kroch sie langsam aus der Hecke heraus und blickte an sich herab. Ihre hellblaue Hose war mit Blut verschmiert, das wohl von ihren Beinen stammte, in ihrem linken Unterarm steckte ein dreieckiges Glasstück, und ihr linker Zeigefinger sah seltsam verdreht aus. Erst jetzt fühlte sie, dass ihr Kopf schmerzte und dass sie auch beim Atmen Schmerzen in den Rippen hatte. Aber sie dachte gar nicht daran, nach Hilfe Ausschau zu halten, als sie die Wiese überquerte, die an einer Reihe von Einfamilienhäusern endete. Niemand sah die verletzte junge Frau, die den schmalen Weg zwischen zwei Häusern passierte und die Straße erreichte. Liane erblickte einen Umzugswagen, der mit geöffneten Hecktüren vor einem Haus stand.

»Ich muss nach Hause fahren«, murmelte sie vor sich hin. »Ja, ich will nach Hause. Ich muss für jemanden kochen.«

Es gelang Liane, unbemerkt in den Umzugswagen zu steigen. Darin standen zahlreiche Möbelstücke. Sie tastete sich zwischen einigen Schränken hindurch vorwärts, bis sie auf einen großen bequemen Sessel stieß. Mit einem Stöhnen ließ sie sich darauf nieder. Jeglichen Sinn für die Realität hatte sie verloren. Sie wusste nur, dass sie sich in einem Auto befand, und mit diesem Auto wollte sie jetzt nach Hause fahren.

Es dauerte nicht lange, bis der Fahrer des Wagens zusammen mit zwei Möbelpackern aus dem Haus kam. Sie hatten noch ein paar Kleinmöbel bei sich, die verladen werden mussten.

»Passen Sie bitte gut auf die Kommode auf«, wurden die Packer von den Besitzern dieses Teils gebeten. »Es ist eine ganz besondere Kostbarkeit aus den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts. Es wäre eine Katastrophe, wenn dieses wertvolle Stück Schaden nehmen würde.«

Die Möbelpacker hüllten die Kommode sorgfältig in eine Decke und schoben sie anschließend mit äußerster Vorsicht in den Wagen. Dann schlossen sie die Türen, ohne Liane hinter den Schränken in ihrem Sessel zu entdecken. Wie hätten sie auch mit einem blinden Passagier rechnen sollen?

»So, das hätten wir geschafft«, bemerkte einer der Männer. »Es ging alles eigentlich schneller als erwartet. Dann machen wir uns jetzt auf den Weg nach Graz. Da dürfen wir all die Sachen, die wir mühsam eingeladen haben, wieder ausladen.«

Nachdem alle eingestiegen waren, setzte sich der Wagen in Bewegung. Das nahm Liane in ihrem Sessel deutlich wahr. Aber sie wusste nicht, dass sie sich in einem Umzugswagen befand, und auch nicht, dass dieser Wagen auf der Fahrt nach Graz war. In ihrem Gehirn war nahezu alles ausgelöscht, und sie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste nach Hause, um dort eine wichtige Sache zu erledigen. Um was für eine Sache es sich handelte, konnte sie im Moment nicht mehr sagen. Es hatte aber damit zu tun, dass sie für jemanden kochen musste. Für wen sie das Essen auf den Tisch bringen musste, wusste Liane nicht mehr. Es wollte ihr einfach nicht einfallen, sosehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach. Das würde ihr jedoch bestimmt wieder einfallen, wenn sie zu Hause angekommen war.

Unterwegs betrachtete Liane immer wieder ihre Beine und fragte sich, wieso ihre Hose so große Blutflecke aufwies. Diese Tatsache fand sie seltsam, aber keineswegs beunruhigend. Deshalb lehnte sie sich zurück und machte es sich in dem großen Sessel gemütlich.

*

Auf dem Flugplatz des kleinen Ortes in Kärnten herrschte tiefe Trauer. In der Vergangenheit war es einige Male bei kleineren Unfällen vorgekommen, dass Flugzeuge beschädigt und sogar Menschen verletzt worden waren. Meistens war es bei noch sehr unerfahrenen Piloten passiert, die den Landeanflug doch noch nicht so gut beherrscht und das Wetter oder die Windverhältnisse falsch eingeschätzt hatten. Aber ein so entsetzliches Unglück wie jetzt war noch nie geschehen. Von den Insassen des Flugzeugs hatte niemand überlebt. Alle waren Opfer der Flammen geworden, die sich unmittelbar nach der Bruchlandung überall ausgebreitet hatten.

»Ich kann noch gar nicht begreifen, dass wir Alfi nie wiedersehen werden«, sagte der junge Mann, der vor dem Abflug die Maschine betankt hatte. Wie konnte das nur passieren? Er war doch ein so erfahrener Pilot. Wieso stürzt er plötzlich grundlos ab?«

»So grundlos war das nicht«, bemerkte ein Kollege des jungen Mannes. »Es hat da einen Augenzeugen gegeben. Der hat ausgesagt, dass ein paar Enten in die Propeller geraten sind. Alfi ist sehr tief geflogen. Vermutlich wollte er den Fluggästen einen Gefallen tun. Die beiden wollten doch Fotos machen und deshalb möglichst nah an die Objekte heran. Nun ja, und in dieser niedrigen Höhe sind eben oft auch Vögel unterwegs. Du weißt selbst, dass eine Maschine bei Vogelschlag außer Kontrolle geraten kann. Alfi hat ja sogar noch einen Landeversuch unternommen, aber das konnte in dem Rübenfeld einfach nicht gelingen. Dass die Maschine Feuer fing, war dann die zweite Katastrophe. Die Feuerwehr hat drei völlig verkohlte Opfer in dem Flugzeug entdeckt. Es ist furchtbar, ganz furchtbar.«

So wie die beiden jungen Männer dachten alle, die auf diesem Flugplatz beschäftigt waren oder näher mit ihm zu tun hatten. Selbst die Bevölkerung des Ortes nahm großen Anteil. Nachdem der Brand gelöscht und die Wrackteile der Maschine weggeräumt waren, kamen mehrere Leute aus dem Ort und legten Blumen vor der noch durch rot-weiße Bänder gesperrten Absturzstelle nieder oder zündeten Kerzen an. Den Piloten kannten viele, aber die Passagiere waren den Ortsbewohnern unbekannt. Trotzdem kamen sie, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Der Flugplatz gehörte für die hier lebenden Leute zum Alltag. Manche nutzten mitunter selbst die Gelegenheit für einen Rundflug, wenn sie Gäste hatten und ihnen etwas Besonderes bieten wollten. Anderen war der Flugplatz relativ egal, aber niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, dass sich hier jemals eine solche Tragödie abspielen könnte. Von Flugzeugabstürzen hörte man manchmal in den Nachrichten, oder es wurden sogar Bilder im Fernsehen gezeigt. Doch das alles geschah weit weg, irgendwo auf dieser Welt, aber doch nicht hier vor der eigenen Haustür. Alfred Luckner wohnte seit fast vier Jahren am Rand der kleinen Ortschaft. Kurz nach seiner Scheidung war er aus Klagenfurt weggezogen und hatte sich hier angesiedelt. Nahezu jeder kannte den sympathischen Mann und mochte ihn.

Jetzt gab es ihn plötzlich nicht mehr. Er war völlig sinnlos ums Leben gekommen, und an diesen Gedanken mussten sich die Leute erst gewöhnen.

Feuerwehr und Polizei hatten drei Tote gefunden, die allerdings bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren und nicht mehr genau identifiziert werden konnten. Trotzdem gab es keine Veranlassung, nach einem weiteren Opfer zu suchen. Allen Mitarbeitern des Flugplatzes war bekannt, dass Alfred Luckner mit zwei Passagieren starten wollte, einem älteren Mann und einer jungen Frau. Die Personalien dieser Fluggäste waren in einer Liste verzeichnet. Von einer vierten Person, die möglicherweise mitgeflogen war, wusste niemand etwas.

Die Familie des älteren Mannes hielt sich in der Nähe auf und verbrachte ein paar Urlaubstage in der Jagdhütte. Diese Leute konnten recht schnell über das Unglück informiert werden. Bei der Frau, die für Liane Eichhöfer gehalten wurde, erwies sich das als weitaus schwieriger. Zwar war die Telefonnummer in ihrem Heimatort schnell ermittelt worden, aber alle Versuche, dort eine Verbindung mit Angehörigen zu bekommen, liefen ins Leere. Es wurde deshalb vermutet, dass es sich bei Liane Eichhöfer um eine alleinstehende Frau handelte. Deshalb wurde die Polizei damit beauftragt, in Lianes Hotelzimmer nach Hinweisen auf mögliche Angehörige zu suchen, mit denen man in Kontakt treten konnte.

Für die beiden Polizisten, die mit dieser Aufgabe betraut wurden, war das keine angenehme Arbeit. Sie mussten die persönlichen Sachen einer jungen Frau durchsuchen, die hergekommen war und sich bestimmt auf einige unbeschwerte Tage gefreut hatte. Nun war sie durch eine Katastrophe ums Leben gekommen.

Einer der beiden Polizisten stieß sehr schnell auf einen Zettel, der auf dem kleinen Schreibtisch lag. Auf diesem Stück Papier war die Telefonnummer einer Ellen Lennard notiert. Bei dieser Frau konnte es sich um eine Schwester, Arbeitskollegin oder Freundin handeln. Auf jeden Fall würde sie Liane Eichhöfer kennen und bei der Frage, wie es nun weitergehen sollte, helfen können. Die Polizisten nahmen den Zettel an sich und verließen das Hotelzimmer.

*

Ellen war in ihrem Arbeitszimmer, das sie gerne ihr Atelier nannte, mit der komplizierten Neugestaltung einer Parkanlage beschäftigt. Ihre Auftraggeber hatten sich ein wunderschönes großes Landhaus mit allerlei Nebengebäuden zugelegt, das von einem weitläufigen, aber wenig attraktiven Gelände umgeben war. Das gut betuchte ältere Ehepaar hatte sich endlich den Traum von einem Leben auf dem Land erfüllt. Damit die Verwirklichung dieses Traumes vollkommen sein würde, sollte das struppige Wiesengelände, das nur mit einigen wenigen und zum Teil schon abgestorbenen Sträuchern bepflanzt war, in einen schönen Park umgestaltet werden. Die beiden Besitzer hatten auch schon ein paar Sonderwünsche geäußert. Ein Teich mit Fontäne sollte angelegt und vom Haus aus gut sichtbar sein. Außerdem wünschte sich das Ehepaar einen Rosengarten, durch den ein schmaler gepflasterter Weg führte, und eine Bank, die dort zum Verweilen einlud. Ellen konnte den Geschmack der beiden Leute nachempfinden und versuchte, bei ihrem Entwurf genau deren Vorstellungen zu treffen. Da Kira noch in der Schule war, konnte sie ganz in Ruhe arbeiten.

Etwas verärgert zog sie die Stirn kraus, als das Telefon läutete. Es wäre ihr lieber gewesen, jetzt nicht gestört zu werden. Trotzdem meldete sie sich. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass sich ein Polizeiposten aus Österreich meldete, der wissen wollte, ob sie eine Liane Eichhöfer kenne.

»Ja, die kenne ich«, gab Ellen offen Auskunft. »Sie ist meine Nachbarin und Freundin. Was ist denn passiert? Ich meine, wenn die Polizei bei mir anruft, bedeutet das bestimmt nichts Gutes. Ist Liane verletzt?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Es geschah ein Unfall, aber kein Autounfall. Es fällt mir schwer, Ihnen das mitteilen zu müssen. Ihre Freundin ist mit einem Flugzeug abgestürzt und dabei ums Leben gekommen.«

Ellen spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. »Aber das ist doch nicht möglich. Nein, das kann einfach nicht sein. Liane kann Kira doch nicht allein zurücklassen! Die Kleine braucht ihre Mutter. Das Ganze muss ein Irrtum sein.«

»Nein, ich wäre glücklich, wenn es sich um einen Irrtum handeln würde, aber leider ist es Realität. Liane Eichhöfer lebt nicht mehr. Das Flugzeug, in dem sie saß, ist in einen Vogelschwarm geraten. Der Pilot hat noch eine Notlandung versucht. Die ist ihm jedoch nicht mehr gelungen. Die weiteren Einzelheiten möchte ich Ihnen gerne ersparen. Frau Eichhöfer muss nun natürlich beigesetzt werden. Wir wissen nicht, ob das hier geschehen oder ob sie nach Deutschland überführt werden soll. Wissen Sie, ob es enge Angehörige gibt, die uns helfen und Entscheidungen treffen können?«

»Nein, da ist niemand«, erwiderte Ellen und konnte noch nicht fassen, was sie gerade erfahren hatte. »Liane hat keine Angehörigen mehr. Ihre Eltern sind schon seit mehreren Jahren tot, und ihr Mann ist vor vier Jahren gestorben. Geschwister hat sie auch nicht. Ihre einzige Verwandte ist ihre Tochter Kira, und die ist mit ihren neun Jahren noch zu klein, um irgendwelche Entscheidungen dieser Art zu treffen.«

»Nein, das kann das arme Kind wirklich nicht. Was wird denn nun aus der Kleinen? Wo ist sie im Moment überhaupt, wenn es keine Verwandten gibt? Soweit ich weiß, hatte Frau Eichhöfer sie nicht hier in Österreich bei sich.« Echte Besorgnis klang aus der Stimme des Polizeibeamten.

»Kira ist hier bei mir«, erklärte Ellen. »Da ich freiberuflich tätig bin, konnte ich sie für eine Woche aufnehmen und mich um sie kümmern. Wie es jetzt allerdings für sie weitergehen soll, weiß ich im Augenblick auch noch nicht. Ich kann es überhaupt nicht fassen, dass Liane nicht mehr lebt. Der Gedanke, dass sie nie wieder nach Hause kommen wird, ist einfach furchtbar.«

Ellen wechselte noch ein paar Worte mit dem Polizisten und beendete dann das Gespräch. Noch immer völlig fassungslos saß sie da und starrte vor sich hin. Mit welcher Begeisterung war Liane nach Österreich gefahren, und wie sehr hatte sie sich auf ihre Arbeit dort gefreut! Ganz fest hatte sie Kira versprochen, ihr ein besonders schönes Edelweiß mitzubringen, und das Mädchen freute sich schon so sehr darauf. Nun würde Kira nicht nur auf das Edelweiß verzichten müssen. Sie würde auch ihre Mutter niemals wiedersehen. Ellen fragte sich, wie sie das dem Kind beibringen sollte. Sie selbst konnte das Geschehen ja noch nicht begreifen. Wie sollte dann ein erst neun Jahre altes Mädchen das verstehen und verarbeiten können?

Ellen stand schließlich auf und ging in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Mit einem Blick zur Uhr stellte sie fest, dass Kira in etwa einer halben Stunde aus der Schule kommen würde. Davor fürchtete Ellen sich. Sie wusste, dass sie dann mit Kira sprechen musste und damit vor der schwersten Aufgabe ihres Lebens stand.

*

Wie lange die Fahrt gedauert hatte, bis der Umzugswagen sein Ziel endlich erreicht hatte, konnte Liane nicht sagen. Sie hörte nur, dass der Fahrer und auch seine Mitarbeiter ausstiegen. Anschließend vergingen nur wenige Augenblicke, bis die großen Hecktüren geöffnet wurden. Instinktiv verhielt Liane sich ganz still. Erst nachdem ein schweres Sofa ausgeladen worden war und in ein Haus transportiert wurde, verließ die junge Frau ihren Platz und kletterte steifbeinig aus dem Fahrzeug. Suchend schaute sie sich um. Nein, sie war nicht an der gewünschten Stelle angekommen. Weit und breit standen hier nur unbekannte Häuser. Ihr Haus war nicht dabei. Aber sie musste es schnell finden, weil sie dort wichtige Dinge zu erledigen hatte! Liane dachte kurz darüber nach, um was für eine Art von Aufgabe es sich handelte. Doch wieder verweigerte ihr Gehirn den Dienst. Sie wusste auch nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte, um nach Hause zu kommen. Aber am Ende der Straße entdeckte sie einen Taxistand. Mit einem Taxi würde sie ganz schnell nach Hause fahren können!

So schnell ihre Beine es zuließen, lief Liane die Straße entlang in Richtung Taxistand. Dort wandte sie sich an den Fahrer des ersten Wagens.

»Bitte fahren Sie mich zum Amselweg Nummer acht«, bat sie und stieg ein. Bei dem Amselweg handelte es sich um ihre Heimatanschrift, und sie begriff nicht, dass sie sich in einer anderen Stadt und sogar in einem anderen Land befand.

Der Fahrer betrachtete Liane eingehend, weil ihm die Verletzungen sofort aufgefallen waren. Außerdem schien die junge Frau ziemlich verwirrt zu sein.

»Sind Sie sicher, dass Sie zum Amselweg wollen?«, erkundigte er sich. »Wäre es nicht besser, wenn wir zu einem Arzt oder gleich ins Spital fahren würden?«

»Was soll ich denn bei einem Arzt oder in einem Krankenhaus?«, fragte Liane verwundert. »Nein, ich muss dringend nach Hause, weil ich dort..., es ist mir gerade entfallen, aber ich muss zu Hause irgendwelche wichtigen Dinge erledigen. Fahren Sie bitte los.«

Der Taxifahrer folgte Lianes Aufforderung. Allerdings kannte er keinen Amselweg. Ihm war nur klar, dass die junge Frau, die neben ihm saß, unbedingt Hilfe benötigte. Was ihr passiert war, konnte er nicht sagen. Vermutlich hatte sie aber einen Unfall gehabt, stand jetzt unter Schock und war völlig verwirrt. Deshalb steuerte der Fahrer den nächsten Polizeiposten an und hielt unmittelbar vor dem Eingang.

»Gedulden Sie sich bitte eine Minute«, sagte er zu Liane. »Ich bin gleich wieder da, und dann kann die Fahrt weitergehen.«

Tatsächlich erschien der Taxifahrer schon bald wieder, brachte allerdings zwei Polizisten mit, die sich jetzt kurz mit Liane unterhielten. Es war sofort klar, dass diese Frau medizinische Hilfe brauchte. Es war nicht ganz einfach, ihr zu verdeutlichen, dass sie jetzt aussteigen musste.

Erst nachdem ihr versprochen worden war, dass man sie möglichst bald zum Amselweg bringen würde, war Liane bereit, das Taxi zu verlassen.

Dann ging alles so schnell, dass sie gar nicht mehr dazu kam, sich zur Wehr zu setzen. Ein Krankenwagen traf ein, zwei nette junge Leute redeten mit ihr und kümmerten sich um sie, und bevor Liane sich versah, fand sie sich in einem Krankenhaus wieder. Dort wurden ihre Verletzungen behandelt, und man fragte sie nach ihrem Namen und ihrer Adresse.

»Ich wohne im Amselweg Nummer acht und heiße..., mein Name ist... Ich weiß im Moment nicht, wie ich heiße. Ich habe..., habe meinen Namen ... vergessen.«

Der junge Arzt, der sie versorgte, blickte in ihr entsetztes Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen. Nach schweren Unfällen ist es völlig normal, dass es erhebliche Erinnerungslücken gibt. Das geht meistens nach ein paar Tagen wieder vorbei.«

»Aber ich erinnere mich auch nicht daran, dass ich einen Unfall gehabt habe. Eigentlich weiß ich überhaupt nichts mehr. Auch Ihren Namen habe ich vergessen.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben meinen Namen nicht vergessen. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Daniel Edlinger.«

»Edlinger«, murmelte Liane. »Ich werde versuchen, mir diesen Namen zu merken. Ich werde auch versuchen, mich an meinen Namen zu erinnern und an das, was mir passiert ist. Im Augenblick gelingt mir das nicht, aber ich werde mich bemühen. Schließlich ist es doch wichtig zu wissen, wer ich bin. Vielleicht hab ich eine Familie, die mich vermisst und sich Sorgen um mich macht.«

Daniel Edlinger ließ sich neben der Patientin nieder. »Wenn es so ist, wird Ihre Familie Sie schon bald als vermisst melden. Dann erfahren Sie alles über sich und erinnern sich wahrscheinlich auch ganz schnell wieder an alles.«

Liane nickte und versuchte zu lächeln. Es war ein etwas missglücktes Lächeln, aber der Blick, mit dem sie Daniel bedachte, traf ihn mitten ins Herz. Die junge Frau war erst vor gut einer Stunde eingeliefert worden. Dr. Daniel Edlinger spürte jedoch deutlich, dass sie für ihn schon jetzt weitaus mehr war als nur eine normale Patientin.

*

Es war für Ellen ungeheuer schwer gewesen, Kira beizubringen, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Die Neunjährige hatte ihr schweigend zugehört.

Sie jammerte nicht und brach auch nicht völlig verzweifelt in Tränen aus, so wie Ellen es vermutet hatte. Allerdings wirkte ihr Gesicht wie versteinert, als sie Ellen fragend anschaute.

»Was wird denn aus mir, wenn Mutti jetzt nicht mehr da ist? Bei dir kann ich wahrscheinlich nicht für immer bleiben. Komme ich jetzt in ein Waisenhaus? Da will ich nicht hin. Waisenhäuser sind furchtbar.«

Spontan nahm Ellen das kleine Mädchen in die Arme, das zwar ganz sachliche Fragen gestellt, aber offensichtlich noch gar nicht so richtig begriffen hatte, dass seine Mutter nicht mehr lebte.

»Nein, Kira, du musst nicht in ein Waisenhaus. Das würde deine Mutti auch nicht wollen. Sie ist jetzt im Himmel und schaut zu. Sie sieht, was wir hier auf der Erde machen. Wenn ich zulassen würde, dass du in ein Waisenhaus kommst, wäre sie mir sehr böse. Erst einmal bleibst du hier bei mir. In ein paar Tagen können wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Kann Mutti mich denn nicht einfach zu sich in den Himmel holen?«, wollte Kira wissen. »Dann wären wir beide wieder zusammen. Das wäre doch die bete Lösung.«

»Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, erwiderte Ellen. »Außerdem ist es doch schön auf dieser Erde. Du solltest dich nicht mit dem Gedanken beschäftigen, sie zu verlassen. Du hast doch in Sophienlust all die Kinder kennengelernt, die ihre Eltern verloren haben. Trotzdem sind sie alle wieder fröhlich geworden und wollen nicht, dass ihre Eltern sie in den Himmel nachholen.«

»Ja, das stimmt«, gab Kira zu. »Aber bei mir ist das irgendwie anders. Ich möchte unbedingt bei meiner Mutti sein. Es ist mir egal, ob wir im Himmel zusammen sind oder hier auf der Erde.«

»Kira, ich weiß, wie schlimm das im Augenblick alles für dich ist. Ich bin ja auch unendlich traurig darüber, dass ich eine gute Freundin verloren habe. Aber wir beide müssen uns an diesen Gedanken gewöhnen, dass wir einen geliebten Menschen hergeben mussten, der niemals wieder zu uns zurückkommt. Das schafft man natürlich nicht in ein paar Tagen. Dazu braucht man viel mehr Zeit. Außerdem ist es gut, wenn man Menschen hat, die einem dabei helfen, so einen schweren Schicksalsschlag zu überwinden. Ich denke da gerade an die Kinder von Sophienlust. Vielleicht wäre es gut für dich, wenn du demnächst wenigstens für eine Weile in Sophienlust wohnen würdest. Dort kannst du dich jeden Tag mit Kindern unterhalten, die dasselbe erlebt haben wie du jetzt. Was meinst du? Sollen wir Dominik von Wellentin-Schoenecker einmal fragen, ob für dich noch ein Platz frei ist?«

Trotz ihres großen Kummers musste Kira kichern. »Dominik von Wellentin-Schoenecker! Das wird er gar nicht gerne hören. Er hat es viel lieber, wenn man ihn Nick nennt. Nun ja, fragen können wir ja. Sophienlust ist zumindest viel besser als ein Waisenhaus. Kann Mutti mich vom Himmel aus denn auch sehen, wenn ich in Sophienlust bin?«

»Ja, das kann sie«, versicherte Ellen. »Egal wo du auf dieser Erde bist, sie kann dich immer und überall sehen.«

»Gut, dann können wir morgen nach Sophienlust fahren und Nick fragen, ob ich dort bleiben darf.«

Kiras Gedanken konnte Ellen nicht erraten. Die Neunjährige dachte daran, dass ihre Mutter sie auch zu sich holen könnte, wenn sie in Sophienlust war. Deshalb hatte sie sich schließlich bei Ellen erkundigt, ob ihre Mutter sie auch in Sophienlust sehen konnte. Wenn das der Fall war, dann würde sie sie auch von dort zu sich in den Himmel holen können. Kira hatte keine Ahnung, wie es im Himmel wohl aussehen würde. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. Aber es hieß doch immer, dass nur gute Menschen in den Himmel kommen könnten, und wenn das nur guten Menschen erlaubt war, dann musste es da auch schön sein. Kira wusste, wie sehr ihre Mutter sie liebte. Wenn sie nun sah, wie traurig ihr Kind war, dann würde sie es ganz bestimmt schon bald nachholen. Dessen war Kira sich sicher, sprach mit Ellen aber nicht weiter über ihre Gedanken.

*

Während der vergangenen Tage hatte Liane immer wieder versucht, sich daran zu erinnern, wer sie war und was ihr passiert war. Aber alle Versuche waren erfolglos geblieben. Da war nur die Adresse, an die sie sich erinnern konnte. In welcher Stadt dieser Amselweg allerdings lag, konnte sie nicht sagen.

Daniel Edlinger hatte herausgefunden, dass es auch in Graz einen Amselweg gab. Zwar war seine Patientin bisher noch nicht als vermisst gemeldet worden, aber vielleicht wohnten dort trotzdem irgendwelche Verwandte, die weiterhelfen konnten. Ohne vorher darüber gesprochen zu haben, machte er sich auf den Weg zum Amselweg Nummer acht.

Das Haus wirkte schon recht alt, war aber gut gepflegt. Im Vorgarten blühten zahlreiche Rosen in unterschiedlichen Farben, und an der Gartenpforte entdeckte Daniel einen aus Holz geschnitzten Dackel. Er ging den gepflasterten Weg entlang zur Haustür und warf einen Namen auf das Klingelschild. Eiberger war dort zu lesen. Vielleicht war das auch der Name seiner Patientin? Beherzt drückte der junge Arzt auf die Klingel. Sofort ertönte das Bellen eines Hundes. Dann waren Schritte zu hören, und wenige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. Der Hund, ein Kurzhaardackel, hörte augenblicklich auf zu bellen, wedelte freundlich und schnupperte interessiert an Daniels Hose.

»Ja bitte, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine schon relativ betagte Frau und blickte Daniel aufmerksam an.

»Mein Name ist Daniel Edlinger«, erklärte der Arzt. »Ich arbeite hier in Graz an einem Krankenhaus. Bei uns ist eine Patientin eingeliefert worden, die vermutlich einen Unfall erlitten hat und sich jetzt an nichts erinnern kann, nicht einmal an ihren Namen. Allerdings spricht sie immer wieder davon, dass sie im Amselweg Nummer acht wohnt. Dabei kann es sich natürlich um eine falsche Erinnerung handeln, aber ich möchte der Sache doch nachgehen. Hat bei Ihnen vielleicht bis vor wenigen Tagen eine junge Frau gewohnt, die jetzt plötzlich verschwunden ist?«

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Nein, mein Mann und ich wohnen ganz allein hier. Um unsere Tochter kann es sich bei dieser Frau auch nicht handeln. Wir haben nur zwei Söhne und drei Enkelkinder. Die sind aber erst zwischen zwölf und siebzehn Jahre alt.«

»Könnte es sich vielleicht um eine Ihrer Schwiegertöchter handeln?«, fragte Daniel. »Es wäre doch möglich, dass sie sich nicht mehr an ihre eigene Adresse erinnert, wohl aber an Ihre.«

»Nein, das kann nicht sein. Eine meiner Schwiegertöchter hat uns gestern Abend noch besucht und erfreute sich bester Gesundheit. Mit der anderen habe ich vor ungefähr einer Stunde telefoniert. Ich habe keine Ahnung, wieso diese bedauernswerte junge Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat, vom Amselweg Nummer acht spricht. Da kann es sich nur um einen Irrtum handeln. Wir vermissen keine junge Frau. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«

»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung«, erwiderte Daniel und wandte sich ab. Er war enttäuscht. Wie sehr hatte er sich gewünscht, seiner Patientin helfen zu können. Doch sie hatte in diesem Haus ganz sicher nie gewohnt. Warum sie sich an einen Amselweg erinnerte, war ein Rätsel.

Daniel fuhr noch nicht sofort los, als er wieder in seinem Wagen saß. Seine Gedanken wanderten zu der jungen Frau, von der er nichts wusste und deren Namen er nicht einmal kannte. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass er sich auf seltsame Weise zu ihr hingezogen fühlte. Seit seiner Scheidung vor drei Jahren hatte er nie daran gedacht, dass er sich noch einmal in seinem Leben verlieben könnte. Jetzt schien allerdings genau das passiert zu sein. Was für ein Irrsinn, dachte er. Ich habe mich in eine Frau verliebt, die noch nicht einmal weiß, wie sie heißt. Nein, er wusste überhaupt nichts von ihr. Vielleicht war sie seit vielen Jahren verheiratet, hatte Kinder und war für ihn unerreichbar? Wie sehr hatte er gehofft, dass er heute bei dieser Adresse etwas über sie erfahren würde! Nun hatten sich diese Hoffnungen nicht erfüllt, und er stand wieder am Anfang. Aber wieso sprach die junge Frau ständig von einem Amselweg und behauptete, dass sie dort wohnte? Das sagte sie doch nicht einfach nur so zum Spaß. Nun … Vermutlich stimmte die Behauptung. Nur lag dieser Amselweg eben nicht in Graz, sondern in einer ganz anderen Stadt, der Stadt, aus der die junge Frau stammte. Aber wie sollte er in sämtlichen Städten Österreichs nach einem Amselweg zu suchen, in dem eine Frau vermisst wurde? Auch die genaueren Umstände des Unfalls, den seine Patientin mit Sicherheit erlitten hatte, ließen sich bestimmt nicht mehr klären. Kein Mensch konnte sagen, wo sich dieser Unfall ereignet hatte. Auch er musste ja nicht unbedingt in Graz geschehen sein…

Natürlich hatte Daniel längst von dem tragischen Flugzeugabsturz gehört, der sich im fernen Kärnten zugetragen hatte, und er hatte auch einige Berichte darüber in der Zeitung gelesen. Aber es gab nicht den geringsten Grund, seine Patientin damit in Verbindung zu bringen.

In der Hoffnung, dass sich die Identität der jungen Frau möglichst bald klären würde, startete Daniel den Motor und fuhr davon.

*

Zusammen mit Kira war Ellen nach Sophienlust gefahren. Die Neunjährige war damit einverstanden, dort zu bleiben, falls ein Platz für sie frei sein sollte. Begeistert war sie von dieser Idee allerdings nicht. Ellen hatte den Eindruck, dass es überhaupt nichts mehr gab, was das Kind erfreuen konnte. Es wirkte geradezu apathisch. Kira litt auf ihre ganz persönliche Art und Weise unter dem Tod ihrer Mutter. Sie beteiligte sich zwar an Gesprächen, tat das jedoch ohne jede Emotion. Alles nahm sie gleichmütig hin. Von ihrer Fröhlichkeit, ihrer Neugier auf alles Neue und ihrer stets guten Laune war nichts geblieben. Ellen machte sich ernsthafte Sorgen um das Mädchen und teilte das auch Denise und Nick mit, als sie den beiden gegenübersaß und ihnen die traurige Nachricht vom Tod ihrer Freundin mitteilte.

»Ich kann es noch immer nicht fassen«, gestand sie. »Für Kira bedeutet Lianes Tod natürlich eine noch bedeutend größere Katastrophe. Am liebsten würde ich sie bei mir behalten und ihr die Mutter ersetzen. Aber das lässt mein Beruf nicht zu. Für eine Weile kann ich Kira natürlich bei mir aufnehmen, aber nicht für immer. Manchmal muss ich beruflich sogar für mehrere Tage verreisen und habe niemanden, der in dieser Zeit für das Mädchen sorgen könnte. Deshalb hatte ich an Sophienlust gedacht und auch schon mit Kira darüber gesprochen, dass sie möglicherweise hier bleiben kann. Ich hoffe sehr, dass ein Platz für sie frei ist.«

Denise und Nick wechselten einen Blick. »Ende des nächsten Monats bekommen wir gleich drei Kinder auf einmal. Es handelt sich um Geschwister, deren Eltern aus beruflichen Gründen für etwa sechs Wochen nach Australien reisen müssen. Ihre Kinder können sie leider nicht mitnehmen, und wir haben bereits zugesagt, die drei aufzunehmen. Diese Zusage können wir nicht mehr rückgängig machen. Es würde etwas eng, wenn wir dann noch ein weiteres Kind im Haus haben.«

»Das verstehe ich natürlich«, erwiderte Ellen, wirkte aber sichtlich enttäuscht. Nick schaute seine Mutter fragend an.

»Hast du, seit es Sophienlust gibt, jemals ein Kind abgewiesen, das sich in einer Notsituation befunden hat?«, fragte er leise.

Denise schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, mein Sohn, das ist noch nie vorgekommen. Manchmal hat es Engpässe gegeben, und es war zuweilen auch ausgesprochen schwierig. Aber es hat sich immer eine Lösung gefunden. Hier ist noch nie ein in Not geratenes Kind abgewiesen worden.«

»Dann soll das auch in Zukunft so bleiben«, entschied Nick und wandte sich an Ellen. »Kira braucht unsere Hilfe und kann bei uns jederzeit einziehen. Wahrscheinlich wird sie noch lange brauchen, um den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten, aber hier wird schon dafür gesorgt, dass aus ihr wieder ein fröhliches Kind wird.«

Ellen atmete erleichtert auf. »Danke, das ist wirklich freundlich von Ihnen. Aber da gibt es noch ein Problem: Kira besitzt zwei Kanarienvögel, an denen sie sehr hängt. Es wäre furchtbar für sie, nun auch noch ihre Tiere zu verlieren, weil sie sie nicht mit nach Sophienlust bringen darf.«

»Da können Sie unbesorgt sein. Das ist kein Problem.« Nick lächelte Ellen aufmunternd zu. »Die Vögel dürfen sogar in Kiras Zimmer wohnen. Vielleicht helfen die beiden Tiere ihr ein bisschen, den schweren Verlust besser zu überwinden. Wann möchten Sie Kira zu uns bringen? Wenn es dringend notwendig ist, kann sie schon heute einziehen.«

»Nein, heute noch nicht«, erwiderte Ellen. »Ich muss doch noch ein paar Sachen für die Kleine packen. Außerdem soll sie nicht das Gefühl haben, dass ich sie so schnell wie möglich abschieben will. Ich möchte auch noch in Ruhe mit ihr darüber sprechen, wie künftig alles ablaufen soll und dass ich sie regelmäßig besuchen möchte. Wenn ich Kira übermorgen nach Sophienlust bringen könnte, wäre das ideal.«

Mit diesem Vorschlag waren sowohl Nick als auch Denise einverstanden. Sie freuten sich über Ellens Plan, das Mädchen regelmäßig besuchen zu wollen, denn diese Besuche würden Kira bestimmt helfen.

»Du hast deine Sache hervorragend gemeistert«, raunte Denise ihrem Sohn zu, als sie Ellen wenig später nach draußen begleiteten. »Ich bin sehr stolz auf dich.«

Nick grinste ein bisschen verlegen. Zwar mochte er das nicht offen zugeben, aber das Lob seiner Mutter tat ihm richtig gut.

Draußen vor der Freitreppe stand Kira inmitten einiger Kinder, die sich mit ihr unterhielten. Heidi erspähte Ellen, Nick und Denise und lief sofort auf die drei zu.

»Kira hat uns erzählt, dass sie vielleicht für immer bei uns bleibt, weil ihre Mutter mit einem Flugzeug abgestürzt und jetzt tot ist. Stimmt das? Ich meine damit nicht, ob es stimmt, dass Kiras Mutter tot ist. Das glauben wir ihr. Sie ist nämlich wirklich sehr traurig und tut nicht nur so. Aber stimmt es, dass sie ein Dauerkind von Sophienlust wird?«

»Das könnte gut möglich sein«, antwortete Nick. »Zumindest bleibt Kira in Sophienlust, bis sich vielleicht eine andere Möglichkeit ergibt. Es kann ja sein, dass sie Pflegeeltern findet, bei denen sie leben möchte. Aber erst einmal zieht Kira übermorgen bei uns ein.«

Heidi nickte zufrieden. »Das ist schön. Wir werden auch ganz lieb zu ihr sein und sie trösten, damit sie nicht mehr so furchtbar traurig ist.«

»Ja, wir helfen Kira«, ließ Kim sich vernehmen. »Sie schon bald wird merken, dass wir alle neue Familie für sie sind. Dann ist sie wieder fröhlich und wird nicht mehr denken so viel an ihre Mutter.«

Kira hatte die Worte der Kinder gehört und wusste, dass sie alle aufrichtig mit ihr fühlten und ihr helfen wollten. Sie hatte nichts dagegen, in Sophienlust Einzug zu halten, wollte sich aber nicht damit abfinden, hier in diesem Kinderheim bleiben zu müssen, bis sie erwachsen war. Irgendwie würde ihre Mutti im Himmel es schon schaffen, sie zu sich zu holen. Ohne ihre Mutter wollte Kira nicht auf dieser Welt bleiben. Doch darüber sprach sie in diesem Moment kein Wort. Stattdessen verabschiedete sie sich freundlich von allen und fuhr mit Ellen zurück nach Hause.

*

Nicht nur Daniel Edlinger versuchte, die Identität seiner Patientin herauszufinden. Auch die Grazer Polizei bemühte sich, zur Klärung beizutragen. Inzwischen hatte man im ganzen Land und auch in Deutschland Erkundigungen eingezogen, ob irgendwo eine junge Frau als vermisst gemeldet war. Aber das war nicht der Fall, und die Polizei war inzwischen ratlos.

Während seiner Mittagspause besuchte Daniel seine Patientin an einem wundervoll sonnigen Tag in deren Zimmer und setzte sich zu ihr an den kleinen Tisch, der am Fenster stand.

»Alle Nachforschungen haben noch immer nichts ergeben«, bemerkte er. »Nirgendwo werden Sie vermisst. Das verstehe ich nicht. Sie können schließlich nicht einfach vom Himmel gefallen sein.«

Der junge Arzt hatte keine Ahnung, wie nah er damit der Wahrheit kam, und sprach weiter: »Ich hoffe natürlich, dass sich doch noch alles recht bald aufklären wird. Bis dahin sollten wir aber ein kleines Problem klären: Ich weiß nicht, wie ich Sie ansprechen soll. Die Pfleger und Krankenschwestern haben dasselbe Problem. Niemand kennt Ihren Namen. Könnten Sie mir nicht einfach einen Namen nennen, der Ihnen gefällt und den wir vorläufig benutzen können? Ein Vorname würde schon reichen.«

Die junge Frau zog die Schultern hoch. »Ich weiß nicht, mir wäre jeder Name recht. Eine Krankenschwester war so nett, mir ein Buch zu überlassen, das eine Patientin bei ihrer Entlassung nicht mit nach Hause nehmen wollte. Ich lese dieses Buch gerade. Die Hauptperson heißt Claudia. Mir wäre es recht, wenn mich alle mit diesem Namen ansprechen würden, zumindest bis zu dem Tag, an dem ich mich endlich wieder daran erinnern kann, wer ich eigentlich bin. Ständig zerbreche ich mir den Kopf darüber. Nachts liege ich oft wach im Bett und versuche krampfhaft, mich an meinen Namen und meine Vergangenheit zu erinnern. Aber alles bleibt wie in einem dichten Nebel verschwunden.«

»Mit Gewalt können Sie nichts erreichen, Claudia«, erklärte Daniel. »Es kann sein, dass von ganz allein plötzlich ein paar Erinnerungen zurückkommen, und danach setzt sich Ihre gesamte Vergangenheit schon bald wie ein Puzzle zusammen. Sie können Ihr Gehirn aber nicht zwingen, sich an alles zu erinnern, weil Sie das jetzt so wollen.«

»Ja, das habe ich auch schon gemerkt«, erwiderte sie und betrachtete nachdenklich ein Segelflugzeug, das am blauen Himmel seine Bahn zog. Warum ihr bei dem Anblick eine Gänsehaut über den Rücken lief, konnte sie sich nicht erklären. Ein Gefühl von Panik breitete sich in ihr aus, und sie hielt förmlich den Atem an.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich Daniel, der die Panik in den Augen der jungen Frau lesen konnte und nun auch zu dem Segelflugzeug hinaufblickte. »Sie brauchen sich wirklich nicht vor einem kleinen Flugzeug zu fürchten. Die sind hier bei gutem Wetter häufig unterwegs und machen noch nicht einmal Lärm, so wie Motorflugzeuge es tun.«

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich kann mir auch nicht erklären, wieso ich plötzlich diese Angst hatte. Einen Moment lang dachte ich, das Flugzeug würde abstürzen.«

Sie wirkte in diesem Moment wie ein ängstliches kleines Mädchen, das Schutz benötigte. Daniel konnte nicht anders: Er legte seinen Arm tröstend um ihre Schulter.

»Keine Angst, es passiert nichts. Hier ist noch nie ein Flugzeug abgestürzt, auch nicht so ein kleiner Segelflieger. Es ist alles in bester Ordnung.«

Ohne es wirklich bewusst wahrzunehmen, schmiegte die junge Frau sich an ihn. »Sie sind für mich wie ein großer Bruder, der mich beschützt«, gestand sie.

»Große Brüder sagen aber nicht Sie zu ihren kleinen Schwestern«, entfuhr es Daniel spontan. Er war über diese Bemerkung selbst erschrocken, konnte sie nun aber nicht mehr zurücknehmen. Gespannt wartete er darauf, wie seine Patientin darauf reagieren würde.

Sie lächelte ihn an und schien in keiner Weise peinlich berührt zu sein. »Da ich nun den Namen Claudia habe, dürfen Sie den auch ruhig benutzen und wie ein großer Bruder auf förmliche Anreden verzichten.«

»Dann bin ich aber auch Daniel für dich. Wenn wir schon beschlossen haben, auf Förmlichkeiten keinen Wert mehr zu legen, dann müssen wir das auch beide tun.«

Daniel blieb noch eine ganze Weile bei ihr. Dann sagte ihm ein Blick auf die Uhr, dass die Mittagspause bereits vorbei war, und er verabschiedete sich. Einerseits freute er sich darüber, der Frau, für die er so viel empfand, heute sehr nahe gekommen zu sein. Andererseits fragte er sich, ob das nicht ein großer Fehler war. Wenn sie wirklich verheiratet war, hatte er nicht das Recht, sich in sie zu verlieben und ihr das auch noch offen zu zeigen. Es war Daniel klar, dass er seine Grenzen womöglich überschritten hatte. Trotzdem fühlte er sich im Augenblick wohl und beschwingt und verdrängte sein schlechtes Gewissen.

*

Die Kinder von Sophienlust waren daran gewöhnt, dass sich Neuankömmlinge in der ersten Zeit recht seltsam verhielten. Da gab es die, die sich aufsässig zeigten und gegen alles erst einmal rebellierten, dann gab es Kinder, die nur verzweifelt waren und ständig weinten, oder auch jene hochnäsigen Geschöpfe, denen nichts gut genug war und die an allem, was es in Sophienlust gab, etwas auszusetzen hatten.

Bei Kira war alles ganz anders. Sie verhielt sich freundlich und höflich, machte keine abfälligen Bemerkungen und zeigte sich stets dankbar. Trotzdem hatte es den Anschein, als hätte sie eine Mauer um sich herum errichtet, die sie von der Außenwelt abschirmte. So beteiligte sich das Mädchen nicht an gemeinsamen Spielen, lachte nicht, wenn jemand einen Witz machte, und hielt sich auch völlig zurück, wenn wieder einmal über irgendein Thema heiß diskutiert wurde. Kira gab allen das Gefühl, als sei sie zwar körperlich anwesend, aber im Geiste eigentlich ganz weit fort.

»Als du uns damals besucht hast, weil deine Tante Ellen sich Magdas Gemüsegarten ansehen wollte, bist du ganz anders gewesen«, stellte Pünktchen fest, als sie zufällig einmal allein mit Kira war. »Du warst aufgeschlossen, munter und fröhlich. Jetzt scheinst du ein ganz anderes Kind zu sein, bist scheu, zurückhaltend und meistens überhaupt nicht ansprechbar. Wir wissen alle, dass man sich verändert, wenn man einen so schlimmen Verlust erlitten hat wie du. Da braucht man eine ganze Weile, bis man wieder normal denken kann. Aber du bist jetzt schon seit einer Woche bei uns und benimmst dich noch immer wie am ersten Tag. Du hast es noch nicht geschafft, dich in Sophienlust auch nur ein kleines bisschen zu Hause zu fühlen. Das macht uns Sorgen. Können wir dir bei der Eingewöhnung vielleicht noch mehr helfen?«

Kira schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass ihr euch alle viel Mühe gebt, aber ihr könnt mir nicht helfen. Das ist auch gar nicht nötig und lohnt sich nicht. Ich bin eben nur bei meiner Mutti glücklich, die jetzt im Himmel ist, möchte zu ihr und warte darauf, dass sie mich holt.«

Pünktchen hatte Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. »Kira, was redest du denn da? Deine Mutter kann dich nicht so einfach zu sich in den Himmel holen. Wer diese Erde verlässt, um nachher im Himmel zu sein, der muss erst einmal sterben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sterben möchtest. Dazu ist das Leben auf der Erde doch viel zu schön.«

»Ja, schon«, gestand Kira, zog dabei aber gleichgültig die Schulten hoch. »Aber bei meiner Mutti ist es auf jeden Fall noch viel schöner. Wenn ich sterben muss, um zu ihr zu kommen, dann ist das eben so. Meine Mutti kann mich vom Himmel aus beobachten. Sie weiß genau, was ich mir wünsche. Also wird sie sich etwas einfallen lassen, um mich zu sich zu holen.«

Pünktchen hielt Kiras Äußerungen für ziemlich bedenklich und sprach noch am selben Tag mit Nick darüber. Er war nicht weniger besorgt als Pünktchen.

»Das kann sehr gefährlich werden«, bemerkte Nick. »Ich habe schon davon gehört, dass es Menschen mit einer regelrechten Todessehnsucht gibt. Manchmal ist das bei alten Leuten so, wenn sie ihren Partner verlieren. Sie sehen keinen Sinn mehr im Leben, und es hat auch schon Selbstmordversuche gegeben, die mitunter sogar erfolgreich verlaufen sind. Aber Kira ist ein Kind. Ihr ist dasselbe passiert wie den meisten Kindern, die bei uns leben. Alle haben es geschafft, sich ihr Leben neu einzurichten. Das muss Kira auch gelingen. Wir müssen alles tun, um ihr zu helfen. Ich glaube, es wäre gut, sie nicht eine Minute aus den Augen zu lassen. Wenn immer jemand für sie da ist, hat sie keine Gelegenheit, irgendwelche Dummheiten zu machen.«

»Meinst du mit Dummheiten, das Kira versuchen könnte, ihrem Leben ein Ende zu setzen?«, fragte Pünktchen angstvoll. »Das darf einfach nicht passieren!«

»Deshalb glaube ich, dass wir sehr gut auf Kira aufpassen müssen. Was genau in ihr vorgeht, weiß ich zwar nicht, aber sie ist ganz sicher in Gefahr.«

Wenig später sprachen Nick und Pünktchen mit Denise über das Problem. Sie war ebenfalls der Ansicht, dass man Kiras Äußerungen und ihr Verhalten nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte, und griff Nicks Vorschlag, das Mädchen ständig im Auge zu behalten, sofort auf.

Schon ein paar Stunden später waren alle Kinder darüber informiert, dass Kira besondere Hilfe benötigte und niemals alleine sein sollte. Die größeren Kinder erfuhren die tatsächlichen Gründe, den kleineren wurde gesagt, dass Kira eben noch sehr unter dem Tod ihrer Mutter litt und so traurig war, dass sie ohne Hilfe nie wieder fröhlich werden konnte. Deswegen müsste immer jemand in ihrer Nähe sein und sie von ihren trüben Gedanken ablenken. Sollte keine Besserung eintreten, konnten sie noch einen Kinderpsychologen hinzuziehen.

*

Obwohl die Verletzungen recht schwer gewesen waren, hatte sich Liane, die jetzt Claudia hieß, erstaunlich schnell erholt. Die Schnittwunden waren so gut wie abgeheilt, von den Rippenbrüchen spürte sie nur noch wenig, die Gehirnerschütterung stellte jetzt keine Gefahr mehr dar, und der gebrochene linke Zeigefinger steckte in einer Schiene, die keinen Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Es sprach nichts mehr dagegen, die Patientin in der kommenden Woche zu entlassen.

Allerdings gab es da ein großes Problem: Normalerweise wurden Patienten nach Hause entlassen. Diese junge Frau aber, die von allen Claudia genannt wurde, hatte kein Zuhause, und einfach auf die Straße setzen konnte man sie selbstverständlich nicht.

»Wenn es möglich wäre, würde ich irgendwo in der Nähe ein möbliertes Zimmer mieten«, sagte sie zu Daniel, als er wieder einmal bei ihr war. »Aber dann müsste ich Miete bezahlen, und ich besitze keinen Cent. Wahrscheinlich habe ich irgendwo ein Bankkonto, aber darüber weiß ich ja nichts. Es ist für mich ohnehin ein Rätsel, dass ich keine Handtasche, keine Papiere und überhaupt keine persönlichen Dinge bei mir hatte, als ich von dem Taxifahrer zur Polizei gebracht wurde. Jeder Mensch hat doch irgendetwas in seinen Jackentaschen, das Aufschluss über ihn geben könnte. Mir wurde aber gesagt, dass man bei mir nichts gefunden hat.«

»Da war wirklich nichts«, bestätigte Daniel. »Da war nur ein Taschentuch und ein Kunststoffband mit zwei kleinen Karabinerhaken an den Enden. Ich besitze ein ähnliches Band. Daran befestige ich mein Fernglas, wenn ich es mir um den Hals hängen möchte. Ein Fernglas hattest du aber nicht bei dir.«

»Fernglas«, murmelte die junge Frau und versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Aber schon nach einer Minute gab sie auf. »Nein, zu diesem Stichwort fällt mir nichts ein. Ich weiß nicht einmal, ob ich jemals in meinem Leben ein Fernglas benutzt habe. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Ich kann natürlich nicht mehrere Monate hier im Krankenhaus bleiben und von einem Tag zum anderen hoffen, dass ich mich wieder an meinen Namen und meine Vergangenheit erinnern kann. Aber wohin ich mich wenden soll, wenn ich entlassen werde, weiß ich auch nicht.«

»Aber ich weiß das«, erwiderte Daniel und lächelte ihr aufmunternd zu. »Du kannst dich an mich wenden. Ich wohne nicht weit von diesem Krankenhaus entfernt in einem relativ geräumigen Haus. Eigentlich ist es für mich allein zu groß. Ich bin vor zehn Jahren, kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag, dort mit meiner Frau Margit eingezogen. Wir hatten gerade erst geheiratet und planten, zwei oder drei Kinder zu bekommen. Deshalb brauchten wir ein Haus, das ausreichend Platz für alle bieten sollte. Dann aber stellte sich heraus, dass nur ich es war, der sich Kinder wünschte. Margit eröffnete mir, dass sie keine Kinder haben wollte, ein großes Haus aber als durchaus angenehm empfand.« Er seufzte.

»Heute weiß ich, dass es ein Fehler war, so überstürzt zu heiraten. Wir kannten uns erst drei Monate und glaubten beide, in ewiger Liebe entbrannt zu sein. In Wirklichkeit war es wohl nicht mehr als ein Strohfeuer. Als ich dann immer öfter von Kindern sprach, die ich mir so sehr wünschte, hat Margit die Konsequenzen gezogen und mich verlassen. Die Scheidung war am Ende nur noch eine Formsache. Meine Exfrau hat wenig später erneut geheiratet, einen sehr reichen Mann, der eine riesige Villa besaß. Ich bin in meinem Haus geblieben, weil das für mich die einfachste Lösung war. Es gibt drei Gästezimmer. Eins davon stelle ich dir gern zur Verfügung, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst. Du wirst nicht obdachlos sein, Claudia. Ich nehme dich nur zu gerne bei mir auf. Du kannst bleiben, so lange du willst.«

»Dieses Angebot kann ich doch unmöglich annehmen«, entgegnete sie überwältigt. »Du weißt, dass ich völlig mittellos bin und keine Miete zahlen kann. Ich kann mir noch nicht einmal die wichtigsten Dinge kaufen, die ich zum Leben brauche.«

Daniel winkte ab. »Darüber solltest du dir keine Gedanken machen. Ich werde schon für dich sorgen. Du machst mir sogar eine Freude, wenn du mein Angebot annimmst. Wie gesagt, mein Haus ist sehr groß, und wenn ich vom Dienst komme, fühle ich mich dort oft recht einsam. Es wäre schön, wenn ich mich dann mit jemandem unterhalten könnte.«

»Aber das geht doch nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht einfach auf der Tasche liegen. Wir sind nicht einmal miteinander verwandt. Ich bin für dich doch nichts weiter als eine ganz normale Patientin.«

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Daniel. »Ich muss dir etwas gestehen: Du bist für mich viel mehr als nur eine normale Patientin. Wenn ich sicher wäre, dass du nicht verheiratet bist, dann wäre alles einfacher für mich, und ich hätte das Recht, dir offen zeigen, dass du mir sehr viel bedeutest. So aber darf ich mich nicht in dich verlieben und irgendwelche Hoffnungen hegen. Aber eine Patientin wie jede andere bist du für mich nicht. Ich helfe dir wirklich gern. Bitte schlage mein Angebot nicht aus.«

Die junge Frau schluckte. »Nach deinem Geständnis kann ich es ja zugeben«, erwiderte sie leise. »Du bist mir auch nicht gleichgültig. Aber genauso wie du habe ich mich davor gehütet, das offen zu zeigen. Denn wer weiß, ob ich einen Partner habe. Es ist eine seltsame Situation, in der ich mich befinde, aber im Moment kann ich sie nicht ändern. Gute Freunde dürfen wir ja sein. Dagegen kann niemand etwas haben.« Sie lächelte. »Deshalb nehme ich dein Angebot an. Allerdings hoffe ich, dass ich dir eines Tages alles vergelten kann.«

»Da gibt es nichts, was du vergelten müsstest. Mir ist es eine Freude, dir zu helfen. Am liebsten würde ich schon heute eines der Gästezimmer herrichten und dich zu mir nach Hause holen, aber ein paar Tage wirst du noch im Krankenhaus bleiben müssen. Noch ist alles nicht so gut abgeheilt, dass du entlassen werden kannst.«

»Ich werde Geduld haben«, versprach sie und lächelte Daniel dankbar an. Er griff nach ihrer Hand, hauchte einen Kuss darauf und erwiderte das Lächeln.

*

Ellen hatte ihr Versprechen gehalten. Alle zwei bis drei Tage besuchte sie Kira. Natürlich war ihr aufgefallen, dass die Kleine noch immer so still und in sich gekehrt wirkte wie am ersten Tag. Ellen war von Nick und Denise darüber informiert worden, dass Kira häufig davon sprach, zu ihrer Mutti in den Himmel zu wollen. Diese Tatsache erfüllte auch Ellen mit großer Sorge. Sie wollte Kiras tröstende Vorstellung, dass ihre Mutter im Himmel wohnte und sie jederzeit sehen konnte, nicht zerstören, hielt ein aufklärendes Gespräch allerdings für unbedingt notwendig.

»Wollen wir einen kleinen Spaziergang unternehmen?«, fragte Ellen, als sie Kira an diesem Tag in Sophienlust besuchte. »Ich habe gehört, dass es auf dem Weg zum Waldsee im Moment viele Eichhörnchen geben soll. Wenn wir Glück haben, können wir vielleicht einige davon beobachten.«

»Ja, das können wir machen«, antwortete das Mädchen, doch ihre Stimme klang gleichgültig. Nicht die geringste Spur von Begeisterung war darin erkennbar, und das passte eigentlich so gar nicht zu ihr. Kira liebte Tiere und war früher stets hellauf begeistert gewesen, wenn sie Gelegenheit gehabt hatte, Wildtiere zu beobachten. Von dieser Freude war nichts mehr geblieben. Wortlos ging sie neben Ellen her, als die den Weg zum Waldsee einschlug. In der Nähe einer Gruppe von Haselnusssträuchern stand eine Bank. Dort ließ Ellen sich mit Kira nieder. Im Umfeld dieser Sträucher war die Chance am größten, Eichhörnchen sehen zu können, weil diese Tiere Nüsse liebten und die Nusssträucher auch schon besuchten, wenn die Nüsse noch gar nicht reif waren.

»Kira, ich weiß, dass du noch immer sehr traurig bist«, begann Ellen, als beide auf der Bank saßen, und legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens. »Mir fehlt deine Mutti auch sehr. Aber wir beide müssen uns damit abfinden, dass wir einen geliebten Menschen verloren haben. Das Leben geht für uns weiter, und wir müssen lernen, mit diesem neuen Leben umzugehen. Das wäre auch im Sinn deiner Mutti. Sie würde sich darüber freuen, wenn du das schaffen könntest. Willst du dir nicht ein bisschen Mühe geben und wenigstens versuchen, wieder etwas Freude am Leben zu haben?«

»Worüber soll ich mich denn freuen?«, fragte Kira. »Ja, in Sophienlust sind alle nett zu mir, und ich bin ganz gerne dort. Aber für immer möchte ich da trotzdem nicht bleiben. Ohne Mutti macht mir einfach nichts Spaß. Deshalb will ich zu ihr und hoffe, dass sie mich bald holt. In Sophienlust sagen alle, dass das nicht geht, aber wenn jemand im Himmel ist, so wie meine Mutti, dann kann er alles möglich machen.«

»Nein, das stimmt leider nicht«, widersprach Ellen. »Ich will dir deine Hoffnungen wirklich nicht nehmen, aber du bist auf einem falschen Weg, Kiralein. Selbst wenn deine Mutti dich vom Himmel aus beobachten kann, wird sie dich nie zu sich holen können. Dazu fehlt ihr die Macht. Aber wenn sie sieht, wie verzweifelt du bist, wird sie sehr traurig sein. Jede Mutter möchte, dass ihr Kind glücklich ist. Nur dann ist sie selbst auch glücklich und zufrieden. Bitte, mein Mädchen, gib die Hoffnung auf, dass deine Mutti dich in den Himmel holen wird. Das kann und wird niemals passieren. Versuche stattdessen, so fröhlich zu werden, wie alle anderen Kinder in Sophienlust es auch geworden sind. Wenn dir das gelingt, wird deine Mutti glücklich sein und dich jeden Tag gerne von ihrem Platz im Himmel aus beobachten.«

»Du redest genau wie alle anderen«, stellte Kira mürrisch fest. »Keiner glaubt daran, dass Mutti mich zu sich in den Himmel holen kann. Aber ganz sicher wissen kann das eigentlich niemand. Ich will natürlich nicht, dass Mutti unglücklich ist, weil ich traurig bin. Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre ich fröhlich. Wenn ich Mutti beschwindelt habe, hat sie das immer gemerkt. Das wäre jetzt auch nicht anders.« Sie schniefte.

»Außerdem glaube ich ganz fest daran, dass Menschen, die in den Himmel gekommen sind, die Kraft haben, jemanden zu sich zu holen. Das lasse ich mir nicht ausreden. Vielleicht muss Mutti eine Menge vorbereiten, bis sie mich holen kann, aber sie wird es tun, sobald es möglich ist.«

»Meinst du denn, dass du das irgendwie beschleunigen kannst?«, wollte Ellen vorsichtig wissen. »Glaubst du, dass du etwas tun musst, damit du schneller wieder bei deiner Mutti sein kannst?«

Zu Ellens großer Erleichterung schüttelte Kira den Kopf. »Nein, ich kann da gar nichts machen. Das kann ich von der Erde aus nicht. Ich muss einfach Geduld haben und warten, bis Mutti mich holen kann.«

Diese Bemerkung zeigte Ellen deutlich, dass Kira sich nicht mit Selbstmordgedanken beschäftigte. Diese Erkenntnis war eine große Erleichterung. Trotzdem blieb da noch ein Problem: Kira sollte den erlittenen Verlust verarbeiten und wieder ein fröhliches, möglichst unbeschwertes Kind sein. Der ständige Gedanke, dass ihre Mutter sie bald zu sich in den Himmel holen würde, hinderte sie jedoch daran.

Wie sollte man daran etwas ändern? Gab es eine Lösung? Im Moment konnte Ellen nur hoffen, dass die Zeit für das kleine Mädchen arbeitete, dass es seinen unsinnigen Wunsch vergaß und sich wieder dem Leben zuwandte.

Nachdem Ellen Kira wieder in die Obhut der anderen Kinder gegeben hatte, berichtete sie Denise von ihrem Gespräch. Auch Nick war anwesend und hörte aufmerksam zu.

»Schade, dass ich mein Studium gerade erst beginne«, bemerkte er. »Als fertig ausgebildeter Kinderpsychologe hätte ich wahrscheinlich eine Idee, wie man Kira helfen kann. Im Augenblick fällt mir leider keine bessere Lösung ein, als immer wieder mit Kira über dieses Thema zu sprechen und ihr zu erklären, dass es keine Möglichkeit gibt, zu ihrer Mutter in den Himmel zu gelangen. Erst wenn sie das eingesehen hat, kann sie anfangen, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten und sich ihr Leben neu einzurichten.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Ellen Nick bei. Ich hoffe, dass Kira schon sehr bald einsehen wird, dass ihr unsinniger Wunsch nie in Erfüllung gehen wird.«

»Diese Hoffnung hegen wir alle«, gestand Denise. »Es tut uns weh, die Kleine so sinnlos leiden zu sehen. Aber in manchen Fällen benötigen Kinder viel Zeit, bis sie ihre Einstellung ändern können. Wir müssen Kira diese Zeit geben.«

Ellen nickte zustimmend. Aber sie hoffte trotzdem darauf, dass das Mädchen ganz schnell einen Weg in die Realität finden möge, damit es sich nicht mehr länger sinnlosen Hoffnungen hingeben und leiden musste.

*

Obwohl Claudia-Liane im Krankenhaus von allen Schwestern und Pflegern liebevoll versorgt wurde und sich über nichts beklagen musste, sehnte sie den Tag ihrer Entlassung herbei. Daniel hatte mit einem Kollegen seinen Dienst getauscht, damit er an diesem Tag frei hatte, um sich ganz der Frau widmen zu können, die ihm so viel bedeutete.

»Wenn du dich gut und kräftig genug fühlst, können wir zusammen etwas essen, bevor wir zu mir nach Hause fahren«, bemerkte Daniel. »Auf halbem Weg zu meinem Haus liegt ein sehr nettes Restaurant.«

»Ich fühle mich sogar sehr gut«, versicherte die junge Frau. »Aber wir müssen nicht unbedingt in einem Restaurant essen. Das ist ziemlich teuer. Hier im Krankenhaus gibt es eine Cafeteria, in der man preiswert essen kann.«

Daniel schüttelte lachend den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht in Betracht. Du bist lange genug im Krankenhaus gewesen. Das ist jetzt vorbei. Deshalb sollst du heute dein Mittagessen nicht mehr hier einnehmen müssen. Das Essen ist war ganz gut, aber die Umgebung ist nicht gerade anregend. Im Restaurant ist es weitaus gemütlicher. Da fahren wir nachher hin.«

Sie sah ein, dass es keinen Sinn hatte, Daniel zu widersprechen. Außerdem empfand sie die Vorstellung als durchaus angenehm, in einem hübschen Restaurant essen zu können.

Schon zwei Stunden später fuhr Daniel seinen Wagen auf den Parkplatz des Restaurants, das einen schicken Eindruck machte. Nachdem beide ausgestiegen waren, zog Daniel eine kleine Kamera aus seiner Jackentasche und schaltete sie ein.

»Bleibst du bitte kurz einmal vor dem Auto stehen?«, fragte er. »Ich möchte als Erinnerung an deinen Entlassungstag ein Foto von dir machen.«

Sie lachte herzhaft auf. »Dann solltest du aber deinen kleinen Finger vom Objektiv wegnehmen. Sonst wirst du an dem Bild keine Freude haben. Außerdem ist das Motiv nicht schön. Wenn ich zwei Schritte nach vorn gehe, wirkt das Auto als Hintergrund wesentlich interessanter.«

Daniel nahm sich die Hinweise zu Herzen, machte einige Fotos und steckte die Kamera wieder ein. Anschließend hakte er sich bei Liane unter.

»So, jetzt können wir essen gehen. Aber vorher habe ich noch eine Frage an dich: Du hast mir gerade sehr wertvolle Ratschläge gegeben. Offensichtlich kennst du dich mit dem Fotografieren gut aus und hast Erfahrung damit. Denke bitte einmal nach. Kannst du dich erinnern, wieso du dich so gut auf diesem Gebiet auskennst?«

Die junge Frau zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß einfach, wie man gute Fotos machen kann, aber ich weiß nicht, woher ich diese Kenntnisse habe. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.«

»Ich bin nicht enttäuscht«, widersprach Daniel entschieden. »Es hätte ja sein können, dass durch die Sache mit den Fotos ein Stückchen Erinnerung zurückgekommen wäre. Es macht aber nichts, dass das nicht passiert ist. Komm, jetzt wollen wir erst einmal gut essen gehen.«

Die junge Frau fand es wunderbar, in dem stilvollen Restaurant an einem Tisch zu sitzen und die Speisekarte studieren zu können. Es vermittelte ihr ein Gefühl von Normalität, von einem Leben, wie man es gerne führte. Andererseits wusste sie natürlich genau, dass es für sie kein normales Leben geben konnte, jedenfalls nicht, solange sie nicht einmal ihren richtigen Namen kannte.

»Was soll nur werden, wenn ich meine Erinnerung nie wiederfinden werde?«, fragte sie, als sie mit Daniel wenig später auf die bestellten Menüs wartete. »Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass mich kein Mensch auf dieser Welt vermisst und ganz offiziell nach mir sucht.«

»Ich glaube fest daran, dass nach dir gesucht wird«, erwiderte Daniel. »Und wenn nicht in Österreich, dann woanders. Die Polizei forscht derzeit im deutschsprachigen Ausland nach einer vermissten Person, deren Beschreibung auf dich passen könnte. Es wird wirklich alles getan, um deine Identität zu ermitteln. Ich bin sicher, dass das in absehbarer Zeit Erfolg haben wird.« Er griff über den Tisch nach ihrer Hand.

»Aber ich glaube auch, dass du es selbst schaffen wirst, dich wieder an deine Vergangenheit zu erinnern. Wir müssen nur Geduld haben. Ich habe in der letzten Zeit zahlreiche Studien gelesen. Fast immer haben sich Patienten in deiner Situation innerhalb weniger Monate wieder an ihren Namen und an ihr früheres Leben erinnert. Und wenn dir das gelingt, dann hoffe ich, dass du keine verheiratete Frau bist, die für mich tabu sein muss. Claudia, ich habe mich wirklich in dich verliebt und kann mich nicht dagegen wehren.«

»Mir geht es genauso«, gestand sie und streichelte über seine Hand. »Ich hoffe, dass meine Erinnerung sehr bald zurückkommt und dass ich nicht gebunden bin. Manchmal bin ich richtig neugierig darauf zu erfahren, um wen es sich bei mir handelt. Dann wieder habe ich Angst davor. Vielleicht bin ich eine Kriminelle, die von der Polizei gesucht wird und große Schuld auf sich geladen hat.«

»Claudia, wo denkst du hin?«, fragte Daniel lachend. »Du und kriminell? Das ist absolut unmöglich. Du hast dein Gedächtnis verloren, nicht aber deinen Charakter. Der ist mit Sicherheit noch derselbe wie früher. Du bist aufrichtig und sanftmütig. Kriminelle Neigungen haben bei dir keinen Platz.«

»Hoffentlich irrst du dich nicht. Man kann jedem Menschen nur vor den Kopf schauen. Wie es drinnen aussieht, kann niemand sagen.«

»Claudia, rede dich nicht selbst schlecht«, bat Daniel bestürzt, stand auf und kam zu ihr herum. Sich zu ihr herunterbeugend, nahm er sie in den Arm.

Innig schmiegte sich die junge Frau an ihn und lächelte zu ihm hinauf. Nein, sie glaubte ja selbst nicht, dass sie ein schlechter Mensch war, der etwas Böses getan hatte. Sie hatte ihrer Phantasie einfach nur mal freien Lauf gelassen.

Jetzt wurde das Essen serviert, und Daniel ging an seinen Platz zurück. Es war ein schönes Gefühl gewesen, Claudia so im Arm zu halten. Mehr denn je verspürte er den Wunsch, für immer mit ihr zusammen zu sein…

*

Kira hatte Ellen nach einer Stoffgiraffe gefragt, die sich noch im Haus ihrer Mutter befand und die sie gerne gehabt hätte. Da Ellen noch immer einen zweiten Hausschlüssel für Lianes Wohnung besaß, versprach sie Kira, die Giraffe zu holen und bei ihrem nächsten Besuch mitzubringen.

Es war ein seltsames und bedrückendes Gefühl, als Ellen das Haus ihrer Freundin betrat. Alles wirkte so, als würden die Bewohner gleich wieder nach Hause kommen. Vor Lianes Bett standen ihre Hausschuhe, an der Garderobe hing eine ihrer Jacken, und ein Armband mit einem goldenen Anhänger, das sie wohl nicht hatte mit nach Österreich nehmen wollen, lag in der Diele auf einer Kommode. Alles sah völlig normal aus, und doch würde Liane niemals in dieses Haus zurückkehren. Dieser Gedanke tat Ellen ungeheuer weh. Sie mochte ihren Blick nicht weiter durch die Räume schweifen lassen.

Sie ging in Kiras Zimmer und hielt gezielt Ausschau nach der Stoffgiraffe. Die stand deutlich sichtbar auf der Fensterbank. Ellen griff danach, wandte sich um, hastete zur Eingangstür zurück und schloss von draußen sorgfältig ab. Auf dem schnellsten Weg eilte sie zu ihrem Haus zurück.

Noch am selben Tag brachte Ellen die Giraffe zu Kira nach Sophienlust. Die Kleine bedankte sich artig und trug das Stofftier in ihr Zimmer. Ellen begleitete sie bis zur Zimmertür.

»Kiralein, ich würde mich gerne kurz mit Nick oder seiner Mutter unterhalten«, sagte sie herzlich. »Es dauert bestimmt nicht lange. Ich bin bald wieder bei dir.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, bemerkte Martin Felder, der in diesem Moment seinen Kopf aus der offenen Tür seines Zimmers streckte. »Ich bleibe so lange bei Kira. Wir können uns ja über Giraffen unterhalten. Ich meine über echte, lebendige Giraffen, nicht über Stofftiere.«

Ellen nickte Martin zu und stellte fest, dass die Kinder ihre Aufgabe, Kira nie aus den Augen zu lassen, gewissenhaft ausführten. Es bestand eigentlich keine Gefahr mehr, dass sie Dummheiten begehen könnte. Und das war gut.

Ein paar Minuten später saß Ellen Nick gegenüber. Denise hatte an diesem Tag einen Termin beim Zahnarzt und konnte nicht anwesend sein. Aber Nick war für Ellen ohnehin der richtige Ansprechpartner.

»Ich war heute im Haus meiner Freundin und habe dort ein Stofftier geholt, das Kira gerne haben wollte. Dabei sind mir natürlich einige Gedanken durch den Kopf gegangen. Was wird denn jetzt aus diesem Haus? Es muss doch gepflegt und versorgt werden. Wer wird diese Aufgabe erfüllen? Kira kann das unmöglich tun, obwohl ihr das Haus vermutlich gehört. Es war das Eigentum ihrer Mutter, und ich nehme an, dass Kira ihre Erbin sein wird.«

»Ja, das ist richtig«, bestätigte Nick. »Aber deswegen muss sie sich nicht persönlich um das Haus kümmern. Auch mit allen anderen Dingen, die die Erbschaft betreffen, muss Kira sich nicht beschäftigen. Da keine Verwandten vorhanden sind, wurde sofort das Jugendamt eingeschaltet und ein amtlicher Vormund bestellt. Der regelt alles Notwendige. Er hat auch dafür gesorgt, dass Kiras Mutter beigesetzt wurde. Weil es die einfachste und preiswerteste Lösung war, hat die Beisetzung in Österreich stattgefunden. Das Haus, in dem Kira mit ihrer Mutter gewohnt hat, soll demnächst verkauft werden. Es wird vermutlich ein paar Wochen oder sogar Monate dauern, bis sich ein Käufer gefunden hat, aber dann wird der Erlös auf ein Konto überwiesen, das der Vormund bis zu Kiras Volljährigkeit verwaltet.«

Ellen nickte verstehend. »Dann ist für Kiras finanzielle Zukunft also gesorgt, und ich werde in Kürze neue Nachbarn bekommen.«

»Richtig«, bestätigte Nick. »Und ich hoffe, dass es wieder nette Nachbarn sein werden, mit denen Sie sich schnell anfreunden werden.«

»Das wird schon klappen. Schließlich beiße ich niemanden und komme mit allen Menschen gut aus. Es bedrückt mich nur ein bisschen, dass Liane nicht hier in ihrem Heimatort beigesetzt worden ist. Ich hätte so gerne ab und zu ein paar Blumen auf ihr Grab gelegt. Jetzt müsste ich dafür nach Österreich fahren, und das werde ich allenfalls einmal im Jahr tun können.«

»Ich kann Sie gut verstehen«, erwiderte Nick. »Für Kira wäre es vielleicht auch besser gewesen, wenn sie später, nachdem sie alles gut überwunden hat, regelmäßig das Grab ihrer Mutter besuchen könnte. Aber der Vormund hat es nun einmal anders bestimmt. Er wollte seinem Mündel dadurch Kosten ersparen, so wie es seine Aufgabe ist.«

»Das ist ihm nicht zu verdenken«, murmelte Ellen nachdenklich. »Vielleicht fahre ich im nächsten oder übernächsten Jahr einmal zusammen mit Kira nach Österreich. Wenn der Vormund es nicht verbietet, bleibe ich mit ihr ein paar Tage dort, und wir besuchen das Grab ihrer Mutter.«

»Das ist eine sehr gute Idee. Der Vormund wird ganz bestimmt einverstanden sein. Leute, die dieses Amt bekleiden, sind keine Unmenschen. Sie sind nur meistens überlastet und können sich nicht so intensiv um jedes Kind kümmern, wie sie es gerne tun würden. Wer dann ein solches Angebot macht wie Sie, ist herzlich willkommen.« Nick blickte Ellen lächelnd an.

Sie stützte das Kinn in ihre Hände. »Es stimmt wirklich, dass ich etwas für Kira tun möchte. Ich kenne sie nun schon so lange und mag sie sehr. Wir haben eine Menge Spaß miteinander gehabt. Manchmal ist sie ganz allein zu mir gekommen, um mich mal eben zu besuchen. Das heißt, eigentlich hoffte sie auf ein Glas Limonade, die ich selbst zubereite. Die kann man nicht in einem Supermarkt kaufen. Kira ist auch nie enttäuscht worden. Aber lange wollte sie nie bleiben und trabte wieder nach Hause, weil sie dann doch Sehnsucht nach ihrer Mutti hatte. Dass sie jetzt ihre geliebte Mutti auf so tragische Weise verloren hat, tut mir unendlich leid.«

»Es ist immer furchtbar, wenn Kinder plötzlich ihre Eltern verlieren«, entgegnete Nick seufzend. »Das haben wir in Sophienlust leider häufig erlebt. Ich bin damit groß geworden, habe aber auch gesehen, dass all diese Kinder in der Lage gewesen sind, den Verlust zu verarbeiten. Manche haben das relativ schnell geschafft, andere brauchten sehr viel Zeit. Am Ende sind aber alle wieder glücklich geworden. Das wird bei Kira bestimmt nicht anders sein, auch wenn es im Augenblick nicht so aussieht.«

Ellen wollte Nicks Zuversicht gerne teilen. Sie war zwar nicht sicher, ob Kira den Tod ihrer Mutter wirklich jemals überwinden würde, vertraute aber auf Nicks langjährige Erfahrung in vergleichbaren Fällen.

Ellen verabschiedete sich von Nick und ging zurück zu Kira, die zusammen mit Martin in der Halle auf sie wartete. Als Martin Ellen kommen sah, zog er sich zurück. Jetzt brauchte er ja nicht mehr auf Kira aufzupassen…

»Du warst aber lange weg«, beschwerte sich das Mädchen und zog einen Schmollmund.

»Ja, ich weiß. Ich habe mich ziemlich lange mit Nick unterhalten. Es tut mir leid, dass ich dich habe warten lassen. Aber jetzt bin ich ja da. Hast du eine Idee, was wir jetzt unternehmen könnten?«

Kira schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Idee. Ich finde es immer schön, wenn du mich besuchen kommst. Aber deswegen müssen wir nicht immer etwas unternehmen. Wir können auch einfach so miteinander reden.«

Mit diesem Vorschlag war Ellen einverstanden. Allerdings fiel ihr wieder einmal auf, wie wenig begeistert Kiras Stimme klang. Seit Lianes Tod zeigte sich das Mädchen gleichgültig und konnte sich einfach für nichts erwärmen. Das tat Ellen weh. Die Kira, die sie von früher kannte, war ein ganz anderes Kind gewesen, und sie würde es hoffentlich irgendwann auch wieder sein.

Fast zwei Stunden blieb Ellen bei dem Mädchen. Dann verabschiedete sie sich.

Als sie von Kira und einigen anderen Kindern zu ihrem Auto begleitet wurden, traf Denise von Schoenecker gerade wieder ein.

Ellen begrüßte sie freundlich. »Hoffentlich war der Besuch beim Zahnarzt nicht allzu unangenehm«, bemerkte sie. Denise winkte ab.

»Nein, er war überhaupt nicht unangenehm. Es handelte sich nur um die regelmäßige Kontrolluntersuchung. Der Zahnarzt hat keinerlei Schäden gefunden.« Während sie sprach, strich Denise Kira liebevoll über das Haar. Anschließend schaute sie Ellen wieder an.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie Kira so oft besuchen, obwohl Sie gar nicht mit dem Mädchen verwandt sind und, soweit ich weiß, selbst keine Kinder und deshalb recht wenig Erfahrung damit haben.«

»Aber ich besuche Kira doch gerne. Das ist mir eine große Freude. Außerdem habe ich durchaus Erfahrung im Umgang mit Kindern, auch wenn das schon eine Weile her ist. Ich bin seit elf Jahren geschieden und habe meine Tochter Bianca praktisch allein aufgezogen. Sie ist jetzt zwanzig Jahre alt, studiert in Köln und lebt dort seit über einem Jahr mit einer sehr netten anderen jungen Frau in einer Wohngemeinschaft. Aber sie kommt mich hin und wieder besuchen, und zu Weihnachten und wenn ich Geburtstag habe, ist sie mindestens zwei Wochen bei mir.«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie eine Tochter haben«, erwiderte Denise erstaunt. »Darüber hatten wir aber auch noch nie gesprochen. Jetzt verstehe ich, wieso Sie so viel Einfühlungsvermögen für Kira entwickeln können. Ich finde es großartig von Ihnen.«

Ellen lächelte etwas verlegen, freute sich aber sehr über dieses Lob. Sie selbst wusste natürlich auch, dass manche Menschen keine Probleme damit hatten, gleichgültig über die Schicksale anderer aus ihrem näheren Umfeld hinwegzugehen. Sie gehörte nicht dazu, und darüber war sie froh.

Herzlich verabschiedete sie sich nun von Kira, Denise und den anderen Kindern, die in der Nähe standen, und machte sich auf den Heimweg.

*

Wenn die Kinder im Park spielten, beteiligte Kira sich nur selten daran. Immerhin ging sie mit in den Park und schaute den anderen zu. Dabei saß sie meistens irgendwo in der Nähe auf der Wiese oder einer Bank.

An diesem Tag hatten sich mehrere Kinder im Park eingefunden, um Boccia zu spielen. Nachdem bei dem alten Spiel mehrere Kugeln auf wundersame Weise verschwunden und nie wiederaufgetaucht waren, hatte Denise für ein neues Spiel gesorgt. Das wollten die Kinder nun unbedingt ausprobieren.

»Wenn du mit uns spielen willst und die Regeln nicht kennst, erklären wir sie dir gern«, sagte Pünktchen zu Kira. »Boccia ist ein tolles Spiel und macht eine Menge Spaß. Versuche es doch einmal.«

»Nein, ich mag nicht«, entgegnete Kira abweisend. »Aber ich schaue euch zu. Das macht auch Spaß.«

Pünktchen und auch die anderen Kinder stellten schnell fest, dass Kira nicht wirklich ihren Spaß hatte. Zumindest machte sie ein relativ gelangweiltes Gesicht und schien mit ihren Gedanken nicht bei dem Spiel sondern ganz woanders zu sein.

»Schaut mal, diese Wolke da oben sieht aber lustig aus!«, rief Vicky plötzlich und wies zum Himmel. Die Kinder blickten sofort nach oben.

»Eine runde Wolke mit richtigen Zacken außen am Rand«, stellte Martin fest. »Die sieht beinahe so aus wie ein Stern, auch wenn die Zacken nicht so spitz sind.«

»Das sind sie wirklich nicht«, pflichtete Pünktchen dem Jungen bei. »Aber sieh mal, genau in der Mitte der Wolke ist ein kreisrunder kleiner Fleck, der nicht ganz so weiß ist wie die Wolke selbst. Mich erinnert sie eigentlich nicht an einen Stern, sondern an ein riesengroßes Edelweiß.«

Bei dem Begriff ›Edelweiß‹ merkte Kira sofort auf und betrachtete die Wolke nun eingehend. Ja, sie erinnerte tatsächlich auffallend an ein Edelweiß. Ihre Mutter hatte ihr versprochen, ihr ein Edelweiß aus Österreich mitzubringen! Das konnte sie nun ja nicht mehr, seit sie gestorben und in den Himmel gekommen war. Dieses Edelweiß, das nun dort oben am Himmel zu sehen war, musste deshalb ein Zeichen ihrer Mutter sein. Daran hatte Kira nicht den geringsten Zweifel. Ihre Mutter hatte das Edelweiß mit Sicherheit höchstpersönlich an den Himmel gesetzt, weil sie ihrer Tochter etwas mitteilen wollte. Und dabei konnte es sich nur um eine einzige Mitteilung handeln: Kira sollte wissen, dass ihre Mutter sie noch am selben Tag zu sich in den Himmel holen würde.

Die Neunjährige stand auf und entfernte sich hastig.

»Was ist denn los?«, erkundigte Vicky sich. »Warum bleibst du nicht hier?«

»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen habe«, gab Kira zurück. »Es ist wichtig, und ich muss das sofort machen.«

Da Kira offensichtlich nicht darüber sprechen wollte, was sie zu erledigen hatte, gaben sich die Kinder mit dieser Auskunft zufrieden und führten ihr Spiel zu Ende, das Pünktchen zu gewinnen schien.

Kira aber ging in ihr Zimmer und setzte sich vor den Vogelkäfig von Rosi und Robbi. Was sie für die beiden jetzt geplant hatte, tat ihr ziemlich weh. Sie liebte ihre Tiere und wollte sich eigentlich nicht von ihnen trennen. Aber jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr.

»Wir müssen Abschied voneinander nehmen. Wo ich jetzt hingehe, kann ich euch leider nicht mitnehmen. Seid mir bitte nicht böse, weil ich euch verlassen muss. Ich bin nun bald nicht mehr da, aber ihr bekommt dafür eure Freiheit zurück, könnt fliegen, wohin ihr wollt, und alles tun, was euch gefällt. Das ist bestimmt auch schön für euch.«

Kira öffnete das Fenster und auch die Käfigtür, damit Rosi und Robbi in die Freiheit fliegen konnten. Sie selbst nahm auf ihrem Bett Platz und beobachtete die Vögel. Die machten von ihrer Freiheit allerdings nicht sofort Gebrauch, sondern blieben verunsichert auf ihren Stangen sitzen.

Die Kinder kehrten gerade aus dem Park zurück. Tatsächlich hatte Pünktchen das Spiel gewonnen. Unmittelbar vor dem Haus angekommen, war es Martin, der hörte, wie ein Fenster geöffnet wurde. Mechanisch blickte er nach oben. Was er sah, entsetzte ihn. Sofort begriff er die verhängnisvolle Situation.

»Was macht Kira denn da für einen fürchterlichen Unsinn?«, rief er und startete auch schon durch. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hetzte er die Freitreppe hinauf, dann weiter in den ersten Stock und stürmte zu Kiras Zimmer. Auf das Anklopfen verzichtete er und trat unaufgefordert ein.

Ohne sich um das erstaunte Mädchen zu kümmern, näherte er sich langsam dem Vogelkäfig, vermied jede hektische Bewegung und schloss vorsichtig die Klappe. Als das gelungen war, atmete Martin erleichtert auf, blickte Kira aber sofort mit zornig funkelnden Augen an.

»Sag mal, was fällt dir denn ein? Ich dachte, dass du deine Tiere magst. Wieso willst du sie dann jetzt plötzlich umbringen?«

»Ich will Rosi und Robbi doch nicht umbringen«, verteidigte Kira sich empört. »Ich will ihnen die Freiheit schenken, und das ist doch keine schlechte Idee.«

Martin konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Das ist sogar die schlechteste aller Ideen, die ein Mensch haben kann. Rosi und Robbi sind Kanarienvögel. Sie stammen von den immer warmen kanarischen Inseln. Nur dort könnten sie in Freiheit überleben. Hier gibt es in der Natur gar nicht das richtige Futter für sie. Sie würden wahrscheinlich verhungern. Aber selbst wenn sie etwas fänden, mit dem sie sich eine Weile lang ernähren könnten, würde ihnen das nichts nützen. Die kühlen Temperaturen in Deutschland, insbesondere in den Nächten, würden deine Vögel ganz schnell töten. Sie würden jämmerlich erfrieren. Willst du den Tieren das wirklich antun?«

»Nein, natürlich will ich nicht, dass Rosi und Robbi sterben müssen«, erklärte Kira entsetzt. »Aber ich dachte, dass es schön für sie wäre, dass sie in Freiheit leben können, wenn ich mich jetzt nicht mehr um sie kümmern kann. Deswegen habe ich die Tür von ihrem Käfig geöffnet. Aber sie wollten gar nicht wegfliegen. Ich dachte, dass sie sich alles erst einmal gut überlegen müssten und dann später doch noch aus dem Käfig in den Park fliegen würden.«

»Das versteh ich nicht«, gab Martin offen zu. »Wieso kannst du dich auf einmal nicht mehr um deine Vögel kümmern? Das ist dir bisher doch auch immer gut gelungen. Was hat sich denn jetzt plötzlich geändert?«

»Na ja, ich kann Rosi und Robbi doch nicht mitnehmen, wenn meine Mutti mich zu sich in den Himmel holt. Sie hat mir aber gezeigt, dass sie das noch heute tun will. Deshalb hat sie ja die große Wolke an den Himmel gesetzt, die aussah wie ein Edelweiß. Ihr habt sie doch auch alle gesehen, und für mich ist sie ein Zeichen dafür gewesen, dass ich noch heute zu meiner Mutti darf.«

»Hä?« Das war die einzige Äußerung, zu der Martin im Moment fähig war. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf. »Wie kommst du denn auf derart seltsame Gedanken? Edelweiß, Wolke, ab in den Himmel zu deiner Mutter? Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Das ist eigentlich ganz einfach«, erklärte Kira geduldig. »Meine Mutti hat mir versprochen, mir aus Österreich ein Edelweiß mitzubringen. Selbst darf sie keines pflücken, weil Edelweiße unter Schutz stehen. Aber man kann in Geschäften welche kaufen. Meine Mutti wollte ein besonders schönes für mich aussuchen. Aber dann ist sie mit dem Flugzeug abgestürzt, gestorben und in den Himmel gekommen. Weil sie mich hier auf der Erde sehen kann, weiß sie genau, dass ich unbedingt zu ihr in den Himmel möchte. Niemand wollte mir glauben, dass meine Mutti das schaffen kann. Aber heute hat sie mir mit der Wolke gezeigt, dass sie mich zu sich holen wird. Ich bin sicher, dass das noch heute passieren wird. Natürlich ist es schade, dass ich euch alle dann nicht mehr habe, aber bei meiner Mutti sein zu können, ist mir noch viel wichtiger. Nur für meine Vögel musste ich eine Lösung finden. Was mache ich denn jetzt, wenn meine Idee mit der Freiheit nicht funktionieren kann?«

»Für deine Vögel würde ich natürlich sorgen«, erwiderte Martin großzügig. »Du weißt doch, dass ich kein Tier im Stich lasse. Das würde hier in Sophienlust auch sonst keiner tun. Aber du hast wirklich irrsinnige Gedanken im Kopf. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss, aber es ist so. Deine Mutter kann dich nicht in den Himmel holen. Wie sollte das denn vor sich gehen, dass du einfach hier verschwindest und im Himmel landest? Kannst du mir das erklären?«

»Nein, ich weiß auch nicht, wie das funktionieren soll«, gab Kira zu. »Aber es wird heute noch passieren. Das werdet ihr alle erleben. Meine Mutti weiß, wie sie das machen muss. Sonst hätte sie mir die Wolke nicht geschickt. Wirst du meine Vögel wirklich immer gut versorgen, wenn ich nicht mehr da bin?«

»Um deine Vögel brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die wären bei mir in den besten Händen. Ich glaube allerdings, dass du ein bisschen spinnst. Du wirst nicht einfach in den Himmel verschwinden, sondern auch morgen noch hier bei uns sein, da bin ich mir ganz sicher.«

Martin war nicht weit davon entfernt, ernsthaft an dem Verstand des Mädchens zu zweifeln. Aber vielleicht würde Kira von ganz allein wieder normal werden, wenn sie am nächsten Tag einsehen musste, dass die Wolke, die sie für ein sicheres Zeichen gehalten hatte, nur ein Zufall gewesen war. Trotzdem war ihm Kiras Schilderung ein bisschen unheimlich. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, informierte er die anderen Kinder: In den nächsten Stunden sollte Kira nicht aus den Augen gelassen werden!

*

Seit fünf Tagen wohnte Claudia-Liane nun schon in Daniels Haus. Ihr Gästezimmer verfügte sogar über ein eigenes kleines Bad und einen Balkon. Eigentlich hätte sie sich in diesem komfortablen Zimmer wohlfühlen können. Aber sie sagte sich, dass dieses Leben kein Dauerzustand sein konnte. Egal wie sie es anstellen sollte, sie musste sich an ihre Vergangenheit und auch an ihren richtigen Namen erinnern. Immer wenn sie allein war, zermarterte sie sich das Hirn. Aber es wollten einfach keine Bilder aus ihrem früheren Leben auftauchen. Hin und wieder tauchte das Gesicht eines Kindes vor ihrem geistigen Auge auf. Es handelte sich stets um dasselbe Kind, ein hübsches kleines Mädchen von vielleicht neun oder zehn Jahren. Aber um wen es sich handeln konnte, wusste Liane nicht zu sagen, obwohl sie das unbestimmte Gefühl hatte, dieses Mädchen schon lange Zeit zu kennen.

»Am Wochenende findet hier in der Nähe eine große Veranstaltung statt«, teilte Daniel seinem Gast mit. »Jedes Jahr veranstaltet ein Verein begeisterter Sportflieger ein Grillfest auf dem Gelände des Flugplatzes. Dort bin ich im letzten Jahr gewesen, und es hat mir sehr gefallen. Zu zweit würde es sicher noch viel mehr Spaß machen. Möchtest du mich am Wochenende zu diesem Grillfest begleiten?«

»Ja, warum nicht? Ich komme gern mit. Allerdings hoffe ich, dass es nicht nur Würstchen gibt. Die sind nämlich nicht so sehr meine Leibspeise.«

»Würstchen gibt es sicher auch«, erwiderte Daniel lächelnd. »Aber die Leute, die dieses Fest veranstalten, geben sich alle erdenkliche Mühe, für alle Gäste das Richtige auf dem Grill zu haben. Im letzten Jahr gab es auch die unterschiedlichsten Steaks, Leberkäse, Rippchen und sogar mehrere Gemüsesorten. Sogar Bananen wurden gegrillt, die nachher auf den Tellern mit Honig verfeinert wurden. Salate und Weißbrote gibt es übrigens auch.«

Die junge Frau lachte vergnügt. »Du machst mir so richtig den Mund wässrig. Ich freue mich jetzt schon auf das Grillfest. Ist das eigentlich weit von hier entfernt?

»Nein, mit dem Auto sind wir in zwanzig Minuten da. Ich freue mich übrigens auch schon darauf und bin froh, dass ich nicht ausgerechnet jetzt Wochenenddienst im Krankenhaus habe. Das würde mich wirklich ärgern.«

»Vielleicht weiß ich am Wochenende ja auch schon ein bisschen mehr über mich«, meinte sie hoffnungsvoll. »Tagtäglich zerbreche ich mir den Kopf und versuche krampfhaft, mich an irgendetwas zu erinnern. Viel Erfolg habe ich damit aber leider nicht. Ich weiß nur, dass es da ein kleines Mädchen gibt, das in meinem Leben eine Rolle gespielt haben muss. Ich sehe oft dieses Gesicht des Kindes vor mir, weiß aber überhaupt nicht, wer es sein könnte.«

»Claudia.«

Daniel nahm neben der jungen Frau Platz.

»Wir wissen doch beide, dass du mit Gewalt nichts erreichen kannst, sondern nur mit Geduld. Du musst deinem Gehirn die Chance geben, sich von ganz allein erinnern zu wollen. Ein kleines bisschen hat es das jetzt doch auch schon getan. Da ist dieses Kindergesicht, das du nicht einordnen kannst, von dem du aber sicher bist, dass es irgendwie zu deinem Leben gehört. Das ist doch schon ein Erfolg, und diesem kleinen Erfolg werden weitere folgen. Wir wissen nur noch nicht, wann das passieren wird. Vielleicht ist das morgen schon der Fall oder erst in vielen Monaten. Darüber haben wir doch schon mehrfach gesprochen. Du bist hier bei mir gut aufgehoben. Es geht uns beiden gut. Wir müssen nur weiterhin Geduld aufbringen.«

»Ich weiß«, gab sie zu. »Aber manchmal ist es ungeheuer schwer, Geduld zu haben. Du weißt genau, wer du bist und wie dein Leben bisher ausgesehen hat. Ich habe von alledem keine Ahnung, würde es aber auch gerne wissen. Meine Situation ist wirklich nicht leicht zu ertragen. Das kannst du mir glauben.«

»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich. Trotzdem ändert das alles nichts an der Tatsache, dass sich nichts mit Gewalt erzwingen lässt. Jetzt sollten wir uns einfach erst einmal auf das Grillfest am Wochenende freuen und nicht an irgendwelche Probleme denken.«

Die junge Frau nickte zustimmend und lächelte Daniel zu. Er hatte ja recht. Sie wollte sich nicht ständig über ihre Misserfolge bei der Suche nach ihrer Vergangenheit grämen, sondern das Leben auch ein bisschen genießen und sich über kleine gemeinsame Unternehmungen freuen.

*

Das Wetter meinte es gut mit den Veranstaltern und den Gästen des Grillfestes. Die Sonne schien von einem nahezu wolkenlosen Himmel, und die kleinen weißen Wölkchen, die ab und zu auftauchten, wirkten eher dekorativ als bedrohlich. Eine große Wiese ganz in der Nähe des Flugplatzes war als Parkplatz für die Autos der Besucher freigegeben. Daniel stellte seinen Wagen ab und half seiner Begleiterin anschließend galant aus dem Auto. Sie hob den Kopf und schnupperte.

»Ich kann die leckeren Sachen, die da drüben gegrillt werden, bis hierhin riechen. Mir läuft direkt das Wasser im Mund zusammen. Hoffentlich hältst du mich jetzt nicht für eine verfressene Person.«

Daniel hakte sich bei ihr unter. »Ich halte dich für eine bezaubernde, charmante und attraktive junge Frau, Claudia, die einen gesunden Appetit mitgebracht hat, so wie es sich für ein Grillfest gehört.«

Sie lächelte vergnügt, als sie neben Daniel zu dem nahe gelegenen Veranstaltungsplatz schritt. Eine Musikkapelle spielte, an einem Hangar standen kleine Sportmaschinen, für Kinder war eine Hüpfburg aufgebaut worden, in einer Holzhütte konnte man es sich bei Kaffee und Kuchen gemütlich machen, ein riesiger Grill war aufgebaut und für ausreichend Sitzplätze gesorgt worden. Ein Fotograf bot an, Bilder von Besuchern vor einem kleinen historischen Flugzeug zu erstellen. Für diesen Fotografen interessierte sich die junge Frau sofort. Aus der Entfernung warf sie einen prüfenden Blick auf seine Arbeitsgeräte.

»Dieser Mann ist sicher kein Amateur«, raunte sie Daniel zu. »Bei den beiden Kameras, die auf seinen Stativen stehen, handelt es sich um extrem teure Geräte, und damit meine ich nur die Gehäuse. Die Objektive sind nahezu unbezahlbar für einen Amateurfotografen. Dieser Mann muss ein Profi sein.«

Daniel schaute seine Begleiterin fassungslos an. »Woher weißt du das alles? Ich kann an den Kameras keine Besonderheiten feststellen. Du scheinst dich allerdings bestens auszukennen.«

»Stimmt«, bestätigte sie. »Darüber bin ich jetzt selbst ziemlich erstaunt. Ich habe keine Ahnung, woher ich diese Kenntnisse habe. Sie sind einfach da. Bin ich selbst vielleicht eine Fotografin gewesen? Wenn es so ist, kann ich mich daran aber nicht erinnern.«

»Vielleicht fällt dir wieder etwas ein, wenn wir beide uns fotografieren lassen«, meinte Daniel. »Komm mit, wir versuchen es einfach. Vielleicht haben wir Glück.«

Sie war mit diesem Vorschlag einverstanden, und so ließen sie gleich drei Fotos von sich machen. Anschließend betrachteten sie die Bilder.

»Ja, genauso hätte ich es auch gemacht«, erklärte die junge Frau. Die Verteilung von Licht und Schatten ist ideal. Dadurch entsteht eine sehr schöne Stimmung. Ich weiß genau, wie man eine Kamera einstellen muss, um solche Fotos zu bekommen. Aber ich kann wirklich nicht sagen, woher ich diese Kenntnisse habe. Unser Versuch hat leider nicht funktioniert. Ich habe an nichts eine Erinnerung.«

»Sei nicht traurig, Claudia«, riet Daniel. »Es war nur ein Versuch. Der hat nicht viel gekostet, und wir haben ein paar sehr hübsche Fotos von uns beiden bekommen. Allein das ist doch auch schon schön.«

Trotz der tröstenden Worte blieb die junge Frau ein bisschen betrübt. Aber sie freute sich trotzdem auf ein leckeres Steak vom Grill. Während Daniel zum Grill hinüberging, um zwei Steaks für sich und seine Begleiterin zu besorgen, nahm sie auf einer der Bänke in der Nähe Platz und schaute sich um. Als Daniel zurückkam, fiel ihr Blick auf ein recht großes Lagerfeuer unweit der Landebahn, über dem ein großer Suppenkessel angebracht war.

Die junge Frau wusste selbst nicht, wieso sie plötzlich so angespannt in die Flammen blickte. Gleichzeitig nahm sie ein Sportflugzeug wahr, das gerade die Landebahn ansteuerte. Die Motorgeräusche dröhnten in ihren Ohren, und sie wurde urplötzlich von Panik erfasst. Dass Daniel ihr gerade den Teller mit dem Steak reichen wollte, nahm sie überhaupt nicht wahr.

»Das Flugzeug«, stöhnte sie. »Es stürzt ab! Ich kann keine Fotos mehr machen. Meine Kameras werden weggeschleudert. Ich werde aus dem Flugzeug katapultiert. Die Maschine überschlägt sich. Sie brennt!« Abwehrend streckte sie die Hände von sich. »Müssen alle sterben, nur ich nicht? Aber alles tut weh! Die Schmerzen sind entsetzlich. Doch daran darf ich nicht denken. Ich muss nach Hause zu Kira. Sie wartet doch bei Ellen auf mich! Ich muss zu ihr zurück und zwar sofort!«

Daniel entging nicht, dass die junge Frau im Augenblick nur noch körperlich anwesend war. Ihre Gedanken weilten ganz woanders, genau dort, wo sie ihr Gedächtnis verloren hatte, offensichtlich bei einem Flugzeugabsturz. Hastig stellte er die Teller mit den Steaks, die er noch immer in den Händen hielt, auf einem Bänkchen ab und wandte sich ihr zu.

»Wie heißt du, und wer ist Kira?«, fragte er eindringlich und hoffte, dass seine Begleiterin die Worte verstand.

»Ich bin Liane Eichhöfer und arbeite freiberuflich als Fotografin. Kira ist meine Tochter. Sie ist neun Jahre alt. Mein Mann ist vor einigen Jahren gestorben. Ich bin nach Kärnten geflogen und sollte dort eine Ferienanlage von einem Flugzeug aus fotografieren. Dann kam dieser Vogelschwarm auf das Flugzeug zu. Es ist abgestürzt. Wir hatten Angst und haben geschrien. Irgendein heftiger Schlag hat mich aus dem Fenster geschleudert. Es war so schrecklich. Nein, ich kann diese Bilder nicht ertragen...«

Sofort nahm Daniel die junge Frau in seine Arme und wiegte sie, wie man ein weinendes Baby wiegt. »Es ist alles vorbei, und alles ist wieder gut«, sagte er tröstend. »Du hast furchtbare Dinge erlebt, aber die zählen jetzt nicht mehr. Ich bin bei dir, und dir kann nichts passieren.«

Es dauerte eine geraume Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dann aber blickte sie auf und sah Daniel völlig verwirrt an.

»Ich kann mich wieder erinnern«, stellte sie fest. »Plötzlich sind ganz viele Sachen wieder in meinem Gedächtnis. Dieses ratternde Flugzeug, das eben gelandet ist, und das Feuer, auf dem die Suppe gekocht wird, haben mir geholfen. Ja, mein Name ist Eichhöfer, ich weiß, dass ich Fotografin bin und eine süße kleine Tochter, Kira, habe, die während meiner Abwesenheit bei meiner Freundin Ellen wohnt. Ich kenne meine Heimatstadt und weiß, dass ich ganz schnell ein Edelweiß kaufen muss.«

»Ein Edelweiß? Was willst du denn damit anfangen?«, wollte Daniel verblüfft wissen.

»Gar nichts. Es ist ja auch nicht für mich gedacht. Ich habe Kira bei meiner Abreise versprochen, dass ich ihr ein Edelweiß mitbringe, weil sie sich so sehr eines gewünscht hat. Vielleicht wird es ein Lesezeichen mit einem eingearbeiteten Edelweiß werden oder ein hübscher gläserner Briefbeschwerer, in den man ein Edelweiß eingebaut hat. Das weiß ich noch nicht, und es ist auch egal. Ich muss nur so schnell wie möglich dieses Geschenk für Kira besorgen. Und dann muss ich zu ihr!« Liane sprang auf und wollte davoneilen.

»Wir werden das Geschenk gemeinsam besorgen«, versprach Daniel. Er zog sein Handy aus der Tasche. »Wenn du Ellens Telefonnummer weißt, rufst du sie am besten gleich an.«

»Ob man Ellen wohl darüber informiert hat, dass ich an Bord der Maschine gewesen und umgekommen bin?«, überlegte Liane. »Dann hat auch Kira zwangsläufig erfahren, dass ihre Mutter gestorben ist. Ich darf gar nicht daran denken, was in meiner armen Kleinen vorgegangen sein muss.«

»Wenn dein Verdacht stimmt, muss der Anruf aber sehr schonend erfolgen. Was glaubst du, wie deine Freundin reagieren könnte, wenn sie plötzlich von einer Frau angerufen wird, die sie für tot hält? Das könnte sie möglicherweise überhaupt nicht verkraften. Vielleicht wäre es besser, wenn ich zunächst mit ihr spreche, und zwar in meiner Funktion als Arzt, der eine total verwirrte Patientin behandeln musste, die wie durch ein Wunder einen Flugzeugabsturz überlebt hat. So könnte ich deine Freundin ganz vorsichtig auf die Situation vorbereiten, bevor du mit ihr redest.«

»Ja, das ist eine gute Idee«, erwiderte Liane. »Ellen muss wissen, dass es mich noch gibt, und ich möchte natürlich auch mit Kira sprechen. Ich will so gern ihre Stimme hören und ihr erzählen, dass ich bald wieder bei ihr bin. Vielleicht kann ich ihr sogar schon sagen, dass ich einen ganz netten Mann mitbringen werde, den ich ihr vorstellen möchte. Das heißt, ich weiß eigentlich gar nicht, ob du dir ein paar Tage Urlaub nehmen kannst, um mit mir nach Deutschland zu fahren...?«

»Selbstverständlich werde ich unter den gegeben Umständen Urlaub bekommen. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Also, wenn du die Telefonnummer deiner Freundin auswendig kennst, sag sie mir jetzt.«

»Natürlich kenne ich Ellens Nummer«, entgegnete Liane. »Du, es ist unglaublich. Gestern habe ich noch nicht einmal gewusst, dass ich eine Freundin habe, und heute erinnere ich mich schon wieder an ihre Telefonnummer! Manchmal geschehen wirklich noch Wunder.«

»Dann wollen wir dieses Wunder ausnutzen. Aber ich kann sie schlecht mit ihrem Vornamen ansprechen. Kannst du mir ihren Nachnamen nennen, oder erinnerst du dich noch nicht daran?«

»Lennard«, gab Liane lächelnd Auskunft. Meine Freundin heißt Ellen Lennard. Da bin ich absolut sicher.«

Daniel nickte Liane zu. »Weißt du, was mich am meisten freut?«, sagte er noch, bevor sie beginnen konnte, ihm die Nummer anzusagen. »Die Tatsache, dass du nicht gebunden bist. Natürlich tut es mir leid, dass dein Mann gestorben ist, aber du bist eine freie Frau, und damit hat sich meine ganz große Hoffnung erfüllt. Wir müssen unsere Liebe zueinander nicht länger verstecken. Das macht mich glücklich!«

*

Ellen saß in ihrem Atelier und beschäftigte sich gerade mit einem größeren Projekt. Inmitten eines großen Geländes hatte gerade ein Hotel eröffnet. Das Haus war viele Jahre lang nicht mehr genutzt worden und hatte inzwischen einen verwahrlosten Eindruck gemacht, ebenso wie das Gelände, das es umgab. Der neue Besitzer hatte das Haus umfangreich sanieren und sehr ansprechend gestalten lassen. Auch die Außenanlagen waren in Ordnung gebracht worden, allerdings mehr schlecht als recht. Nun sollten sie fachmännisch gestaltet werden und die Gäste zum Verweilen einladen. Ellen hatte sich darüber gefreut, diesen relativ großen und lukrativen Auftrag erhalten zu haben. Sie saß konzentriert über ihren Zeichnungen und dachte sich nichts weiter dabei, als das Telefon neben ihr läutete. Gleichmütig nahm sie den Anruf an und meldete sich. Als sich der Anrufer als Doktor Edlinger vorstellte, der in einer Klinik in Graz beschäftigt war, glaubte sie an einen Irrtum.

»Es tut mir leid, aber ich denke, dass Sie sich verwählt haben. Ich bin noch nie in meinem Leben in Graz gewesen und kenne dort auch niemanden.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Aber es geht um eine junge Frau, die Sie gut gekannt haben, um Liane Eichhöfer.«

»Liane!« Ellen schrak förmlich zusammen. »Ja, die kannte ich sogar sehr gut. Sie war meine beste Freundin. Es ist furchtbar, dass sie bei diesem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist. Darunter leide nicht nur ich, sondern auch ihre kleine Tochter Kira.«

»Was ist mit Kira?“, hakte Daniel sofort nach.

»Ich habe die Kleine hier in der Nähe in einem Kinderheim unterbringen müssen. Aber es ist ein privates und ausgesprochen gutes Heim. Außerdem besuche ich Kira alle paar Tage. Ach, warum erzähle ich Ihnen das alles? Das interessiert Sie vermutlich herzlich wenig. Was wollen Sie mir denn über Liane mitteilen? Gibt da noch etwas im Zusammenhang mit ihrem Tod, um das ich mich kümmern müsste?«

»Gewissermaßen ja. Frau Lennard, bitte erschrecken Sie jetzt nicht. Ich habe vor einiger Zeit eine verwirrte und verletzte Patientin behandelt. Sie hatte ihr Gedächtnis verloren und kann sich erst seit heute wieder an ihr Vorleben erinnern. Es handelt sich um Ihre Freundin Liane Eichhöfer. Sie hat den Absturz auf wundersame Weise überlebt. Das war allerdings bisher nicht bekannt.«

»Liane lebt?!« Ellen schrie diese Worte förmlich ins Telefon. »Nein, das glaube ich nicht, jedenfalls nicht, bevor ich persönlich mit ihr gesprochen habe.«

»Diesen Wunsch erfülle ich Ihnen gern«, erwiderte Daniel lächelnd und reichte Liane das Telefon. Die junge Frau holte tief Luft, bevor sie sprechen konnte.

»Hallo, Ellen, ja, es ist wahr! Ich bin aus diesem Flugzeug geschleudert worden und habe überlebt. Aber lange Zeit wusste ich nicht, wer ich war, und konnte mich an gar nichts erinnern. Aber jetzt weiß ich alles wieder, seit eben, um genau zu sein, und ich werde schon in den nächsten Tagen nach Deutschland kommen. Ich bringe Daniel mit. Wir beide sind nämlich..., ach, das erzähle ich dir später. Aber jetzt das Wichtigste: Wie geht es meinem kleinen Schatz Kira? Kann ich mit ihr sprechen?«

»Im Augenblick leider nicht. Ich musste Kira nach Sophienlust bringen, weil ich mich nicht ausreichend um sie kümmern konnte. Aber ich besuche sie fast jeden Tag. Du liebe Güte, Liane, ich kann es noch gar nicht fassen und freue mich so sehr, dass du mit dem Leben davongekommen bist! Wann kommst du denn zurück?«

»Wahrscheinlich in drei Tagen schon. Ich freue mich auf dich und natürlich auf mein kleines Mädchen. Kannst du mir die Telefonnummer von Sophienlust geben? Ich möchte gerne dort anrufen.«

Ellen nannte ihrer Freundin nur zu gern die gewünschte Telefonnummer. Nachdem sie aufgelegt hatte, war sie nicht in der Lage, sich wieder ihrer Arbeit zuzuwenden. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass ihre Freundin lebte. Am liebsten hätte sie in ihrer Freude umgehend in Sophienlust angerufen und die frohe Botschaft verbreitet. Aber sie wollte Liane nicht vorgreifen und hatte auch nicht das Recht, ihr die Freude zu verderben. Sie sollte Kira persönlich mitteilen, dass sie lebte und bald zu ihr zurückkommen würde!

Noch lange Zeit saß Ellen in ihrem Atelier und blickte aus dem Fenster in den Garten. Ihre Gedanken weilten bei Liane. Es war beinahe unvorstellbar, was für ein gewaltiges Wunder sich hier ereignet hatte. In ihren kühnsten Träumen hätte Ellen nicht daran gedacht, dass ihre Freundin den Flugzeugabsturz überlebt haben und wiederauftauchen würde. Auch jetzt wollte sie das noch nicht so recht begreifen, wusste aber doch, dass es die Wahrheit war, die absolut wundervolle und kaum vorstellbare Wahrheit!

*

Eigentlich hatte Daniel Liane vorgeschlagen, dass er auch in Sophienlust zuerst anrufen und die Sachlage klären sollte.

Doch diesmal wollte Liane es sich nicht nehmen lassen, direkt persönlich mit dem Kinderheim zu telefonieren. Die Steaks, die immer noch neben ihnen auf der Bank standen und kalt wurden, mussten weiter warten.

»Kinderheim Sophienlust, Dominik von Wellentin-Schoenecker, guten Tag«, meldete sich eine jung klingende Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

»Guten Tag«, erwiderte Liane den Gruß. »Meine Freundin hat mir mitgeteilt, dass Sie derzeit ein kleines Mädchen bei sich aufgenommen haben. Es handelt sich um Kira Eichhöfer.«

»Was ist denn mit diesem Mädchen?«, fragte Nick ein wenig misstrauisch und vorsichtig zurück.

Es irritierte ihn, das sich die Anruferin nicht mit ihrem Namen gemeldet hatte, was normal gewesen wäre.

»Kira ist von meiner Freundin Ellen Lennard nach Sophienlust gebracht worden, weil es hieß, dass die Mutter des Mädchens in Österreich mit einem Flugzeug abgestürzt sei. Liane Eichhöfer heißt Kiras Mutter. Bitte erschrecken Sie jetzt nicht und schenken Sie mir Glauben. Ich bin Liane Eichhöfer, Kiras Mutter. Wie durch ein Wunder habe ich den Absturz überlebt, konnte mich aber nicht schon früher beim Ihnen melden.«

Aufgeregt war Nick von seinem Stuhl aufgesprungen, schaltete den Lautsprecher des Telefons ein und winkte seine Mutter heran, die gerade zufällig und nichts ahnend den Raum betreten hatte.

»Ist das wirklich wahr? Sie sind tatsächlich Kiras Mutter, Liane Eichhöfer, oder wollen Sie nur einen dummen Scherz mit uns treiben? Das fände ich allerdings überhaupt nicht komisch.«

»Es handelt sich nicht um einen Scherz«, versicherte Liane. »Hören Sie mir bitte zu. Ich werde Ihnen alles erklären, was sich ereignet hat. Es klingt in der Tat unglaublich, ist aber wahr.«

In allen Einzelheiten berichtete Liane von dem Unglück, ihrer Fahrt im Umzugswagen, ihrem Gedächtnisverlust und wie sie ihre Erinnerung zurückerlangt hatte. Sie nannte auch ein paar Details über Kira, die nur sie als Mutter wissen konnte. Und sie ließ auch Daniel nicht aus und die Tatsache, dass sie sich beide ineinander verliebt hätten.

Nick und auch seine Mutter waren einfach überwältigt. Nur als Liane darum bat, jetzt mit Kira sprechen zu dürfen, wurde Nick ein wenig unsicher.

»Ich glaube, das könnte Kira im Augenblick nicht so leicht verkraften. Ich kann gut verstehen, dass Sie endlich wieder die Stimme Ihrer Tochter hören wollen. Aber vielleicht sollten Sie sich noch eine Stunde gedulden. Wir werden das kleine Mädchen behutsam darauf vorbereiten, dass sich ein großes Wunder ereignet hat. Wenn Sie dann in einer Stunde noch einmal anrufen, ist Ihre Tochter schon informiert und kann sich ganz offen mit Ihnen freuen, ohne überlastet zu sein. Auch gute Nachrichten können manchmal schockierend sein, wenn man so überhaupt nicht damit rechnet.«

»Ja, die Idee ist wahrscheinlich sehr gut«, gab Liane zu. »Ich melde mich dann in einer Stunde wieder, und Sie haben recht. Ich freue mich unglaublich darauf, die Stimme meines Kindes zu hören.«

»Willst du mit Kira sprechen, oder soll ich das für dich übernehmen?«, erkundigte Denise sich bei ihrem Sohn, nachdem das Telefongespräch beendet war.

Nick lächelte ein wenig verlegen. »Ich glaube, das sollten wir gemeinsam tun. Du hast weitaus mehr Erfahrung in diesen Dingen als ich. Aber ich möchte natürlich auch lernen, mit solchen Situationen umgehen zu können.«

Mit diesem Vorschlag war Denise einverstanden. Bereits zehn Minuten später saß Kira vor ihr und Nick. In den Gesichtern der beiden konnte sie schon lesen, dass es eine wichtige Angelegenheit zu besprechen gab.

»Kira, du weißt ja, dass deine Mutti mit einem Flugzeug abgestürzt ist«, begann Nick. »Alle haben geglaubt, dass sie dabei ums Leben gekommen ist.«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Kira. »Dann ist sie in den Himmel gekommen, und sie wird mich zu sich holen, auch wenn das bisher noch nicht passiert ist und keiner mir glauben will.«

Nick schüttelte den Kopf. »Nein, es ist gar nicht nötig, dass deine Mutti dich in den Himmel holt. Wir haben vorhin nämlich etwas ganz Wundervolles erfahren. Nicht alle Leute, die in diesem Flugzeug saßen sind gestorben. Deine Mutti hat überlebt! Weißt du, sie war schwer verletzt und hatte sogar ihr Gedächtnis verloren. Deswegen konnte sie sich bis jetzt auch nicht bei dir melden. Sie wusste ja nicht, wie sie hieß, und sie hatte auch keine Ahnung, dass sie eine Tochter hat. Erst jetzt ist ihr alles wieder eingefallen. Eben hat sie bei uns angerufen, und sie meldet sich nachher noch einmal, weil sie so gerne auch mit dir sprechen möchte.«

»Mutti ist gar nicht im Himmel, und sie kommt zu mir zurück?!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kira Nick und Denise an. »Belügt ihr mich jetzt auch nicht?«

»Nein, ganz gewiss nicht«, versprach Denise. »Alles ist so, wie Nick es dir erklärt hat. In ein paar Tagen ist deine Mutti wieder bei dir. Allerdings bringt sie noch jemanden mit. Da gibt es einen sehr netten Mann. Er ist Arzt und hat deiner Mutti wirklich geholfen. Die beiden haben sich ineinander verliebt und möchten zusammenbleiben. Es könnte also sein, dass du einen neuen Vati bekommen wirst. Wäre es dir recht, wieder einen Vater zu haben?«

»Wenn er nett ist, ist das kein Problem. Und wenn Mutti sagt, dass sie ihn liebt, dann muss er nett sein. Ich freue mich so sehr darüber, dass Mutti nun doch nicht tot ist! Hoffentlich bringt sie mir auch das Edelweiß mit, das sie mir versprochen hat. Darf ich jetzt allen Kindern erzählen, dass meine Mutti noch lebt und mich gleich anruft?«

»Natürlich darfst du das«, antwortete Nick. »Lauf nur zu, damit du rechtzeitig alle informiert hast, bevor deine Mutti sich wieder bei uns meldet. Wenn sie anruft, musst du wieder zurück sein.«

Überglücklich stürzte Kira aus dem Zimmer. Nick schaute seine Mutter kopfschüttelnd an. »Was hat sie da eben gesagt? Sie hofft, dass ihre Mutter nicht vergisst, ihr das versprochene Edelweiß mitzubringen? Es ist schon erstaunlich, an welche Banalitäten Kinder denken, wo es doch eigentlich um ein unfassbares Ereignis geht.«

»Es ist gut, dass Kinder eine solche Gabe besitzen«, entgegnete Denise. »Das schützt sie oft vor Dingen, die sie nicht so einfach verkraften könnten, auch dann nicht, wenn es sich um sehr schöne und wunderbare Dinge handelt.«

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich die frohe Botschaft wie ein Lauffeuer in Sophienlust verbreitet hatte.

Es gab niemanden, der sich nicht aufrichtig mit Kira freute und sie beglückwünschte. Ein derartiges Wunder, da waren sich alle einig, hatte es bisher in Sophienlust noch nicht gegeben, obwohl sich schon so manches Wundersame hier ereignet hatte.

Als Liane wieder anrief, hatte Kira sich schon eingefunden. Sie selbst hatte darauf bestanden, dass Nick und Denise bei dem Gespräch anwesend waren.

Die beeiden waren zutiefst gerührt, von dem Gespräch, das zwischen Mutter und Tochter stattfand. Besonders Kiras letzte Sätze beeindruckten sie sehr: »Bring den Onkel Daniel ruhig mit. Wenn er dir gefällt, dann mag ich ihn ganz bestimmt auch. Wahrscheinlich ist es auch schön, wenn du wieder einen Mann hast und ich einen lieben Vati bekomme. Du kannst ihm schon einmal sagen, dass ich mich auf ihn freue. Ich warte hier auf euch beide.«

Der Rest dieses Tages verlief in Sophienlust äußerst fröhlich. Im Grunde genommen herrschte in diesem Haus immer ein gewisser Frohsinn, aber so heiter und beinahe ausgelassen wie heute ging es dann doch nicht ständig zu. Alle freuten sich so sehr mit Kira, als hätten sie ganz persönlich ein ganz großes Glück erlebt.

*

Unter den gegeben Umständen hatte die Leitung des Krankenhauses Daniel sogar eine ganze Woche Sonderurlaub gewährt. Er konnte also in aller Ruhe mit Liane nach Deutschland fahren und freute sich auch schon sehr darauf, Kira kennenlernen zu dürfen. Zwar kannte er das kleine Mädchen noch nicht persönlich, wusste aber jetzt schon genau, dass er es sofort in sein Herz schließen würde. Nach allem, was Liane ihm über ihre Tochter erzählt hatte, schien Kira ein außergewöhnlich liebenswertes kleines Persönchen zu sein.

Als Liane bei der Abreise neben Daniel im Auto saß, zog sie das kleine Band mit den beiden Karabinern an den Enden aus ihrer Tasche, von dem sie lange Zeit nicht gewusst hatte, wie es jemals in ihre Tasche geraten war.

»Du hast mir gesagt, dass du ein ähnliches Band besitzt, das du benutzt, wenn du dir dein Fernglas um den Hals hängst. Ich habe dieses Band für eine meiner Kameras in ähnlicher Weise verwendet, und nun ist es das einzige Teil, das mir von meiner Ausrüstung geblieben ist. Ich werde es als Andenken immer in Ehren halten.«

»Ja, das solltest du tun«, riet Daniel. »Dieses Band ist ein besonders wertvolles Erinnerungsstück, eine Verbindung zwischen deinem alten und deinem neuen Leben.«

Während Liane noch andächtig das Band betrachtete, startete Daniel den Motor und fuhr los. Sein Ziel war das Kinderheim Sophienlust, wo er das Mädchen treffen sollte, dessen Vater er werden wollte.

Um ausgeruht anzukommen, legten Liane und Daniel unterwegs eine Übernachtung ein und mieteten sich in einem romantischen kleinen Landhotel ein. Am nächsten Tag ging die Fahrt dann weiter, und das Kinderheim war schneller erreicht, als die beiden gedacht hatten. Daniel fuhr durch das große geöffnete schmiedeeiserne Zufahrtstor und hielt unmittelbar neben der Freitreppe an. Erstaunt blickte er sich um. Das wunderbare alte Herrenhaus wirkte eher wie ein kleines Schloss und nicht wie ein Kinderheim. Er konnte sich kaum vorstellen, dass in so einem Anwesen notleidende Kinder untergebracht waren.

Doch er wurde sofort eines Besseren belehrt. Das fremde Fahrzeug war den Kindern natürlich nicht entgangen.

Da sie wussten, dass Kiras Mutter heute eintreffen sollte, hatten sie sich sofort auf den Weg nach draußen gemacht. Kira befand sich selbstverständlich auch unter ihnen. Als ihre Mutter die Wagentür öffnete, stürmte sie sofort los und warf sich in Lianes Arme.

»Mutti, endlich habe ich dich wieder, und das sogar hier auf der Erde! Du musstest mich nicht zu dir in den Himmel holen, weil du ja gar nicht dort warst. Aber das alles ist jetzt egal. Ich bin so glücklich!«

»Ich auch, mein Schatz. Wie glücklich ich bin, kann ich gar nicht sagen. Dafür gibt es einfach keine Worte. Du bist das Wertvollste, was ich auf dieser Welt besitze. Es wäre so furchtbar gewesen, dich nie wiedersehen zu dürfen. Daran darf ich gar nicht denken.«

Bis jetzt hatte Daniel sich zurückgehalten. Mutter und Tochter sollten sich in aller Ruhe begrüßen können. Jetzt aber meldete er sich zu Wort.

»Darf ich dir erzählen, dass hier noch jemand glücklich ist?«, fragte er, schaute Kira freundlich an und reichte ihr die Hand. Das Mädchen griff sofort danach.

»Du bist sicher Onkel Daniel, der Mann, der meiner Mutti geholfen hat und mein neuer Vati werden will, nicht wahr?«

»Ja, genau der bin ich. Ich liebe deine Mutti, und ich finde dich auch unglaublich nett. Nur zu gerne würde ich dein Vati werden und mit dir und deiner Mutti eine richtige Familie sein. Aber wenn du jetzt sagst, dass du mich nicht als Vater haben möchtest, dann werde ich dich nicht zwingen, mich zu akzeptieren.«

»Du bist schon ganz in Ordnung«, bemerkte Kira. »Ich glaube, dass du ein guter Vater sein wirst. Ich mag dich, und wir beide werden uns bestimmt prima verstehen. Es ist für mich ungewohnt, wieder einen Vater zu haben, aber ich finde es toll, wenn ich wieder eine richtige Familie habe.«

»Das freut mich.« Daniel ging vor Kira in die Hocke und holte zwei Päckchen aus seiner Tasche. »Wir haben dir auch etwas mitgebracht. Das gelbe Päckchen ist von deiner Mutti und das blaue von mir.«

Kiras Augen strahlten, als sie die Päckchen auswickelte. Ihre Mutter hatte ihr eine Schneekugel mitgebracht, in deren Mitte sich zwei große Edelweiße befanden. In Daniels Päckchen steckte ein Lesezeichen aus durchsichtigem Kunststoff, in den mehrere kleine Edelweiße eingearbeitet waren. Kira war von den Geschenken hocherfreut. Ihre Augen leuchteten. Das lag allerdings nicht nur an den mitgebrachten Geschenken. Das allerschönste Geschenk ihres Lebens war gerade zu ihr gekommen: ihre über alles geliebte Mutti und dazu auch noch ein sehr netter Mann, der ihr Vater werden wollte. Mehr konnte Kira sich gar nicht wünschen.

Als alle noch vor dem Haus standen und voller Rührung das Wiedersehen zwischen Mutter und Tochter betrachteten, traf Ellen jubelnd ein und erklärte, dass sie es zu Hause nicht länger ausgehalten hätte. Sie wollte ihre für tot gehaltene Freundin so schnell wie möglich in die Arme schließen.

»Darf ich zu Tisch bitten?«, erklang unvermittelt Magdas Stimme vom oberen Absatz der Freitreppe. »Ich habe zur Feier des Tages mehrere Kuchen gebacken, österreichische Palatschinken mit Topfen zubereitet, und Kaiserschmarren gibt es auch.

»Das ist ja wirklich ein wundervolles Kinderheim«, stellte Daniel lachend fest. Jeweils einen Arm legte er um Liane und Kira und folgte dem Ruf der Köchin. »Hier wäre ich auch gerne Kind im Haus.«

»Sollen wir Herrn Dr. Edlinger als großes Pflegekind bei uns aufnehmen?«, flüsterte Nick seiner Mutter grinsend zu, als er neben ihr die Freitreppe hinaufschritt.

»Er ist vielleicht doch schon ein bisschen zu erwachsen«, gab Denise zurück. »Außerdem bin ich sicher, dass er mit Kira und ihrer Mutter ein wunderschönes Zuhause finden wird. Wir dürfen heute wieder einmal eine glückliche Familie in die Zukunft entlassen, so wie wir es schon oft getan haben und hoffentlich auch noch sehr oft tun werden.«

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman

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