Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Box 1 – Familienroman - Karina Kaiser - Страница 6
ОглавлениеPrüfend warf Dominik von Wellentin-Schoenecker einen Blick auf die Einkaufsliste, die seine Mutter ihm gerade überreicht hatte.
»Es ist nett von dir, dass du nach Maibach fahren und die Einkäufe erledigen willst«, sagte Denise von Schoenecker zu ihrem Sohn. Mir fehlt heute wirklich die Zeit dafür.
In einer Stunde wird Herr Brauer vom Jugendamt hier eintreffen, und dieses Gespräch ist sehr wichtig. Schwester Regine hat einen Termin beim Zahnarzt, und Frau Rennert trägt nach ihrer Nagelbettentzündung noch einen Verband am Fuß. Damit will ich sie nicht mit dem Auto fahren lassen. Schön, dass du noch verfügbar bist, um die notwendigen Sachen einzukaufen. Das hilft mir sehr.«
»Ja, besonders wegen der Papierservietten«, meinte Nick grinsend mit einem Blick auf die Einkaufsliste. »Ohne die gäbe es beim Abendessen ganz sicher eine gewaltige Kleckerei und Flecken an den Rändern der Tischdecke. Irgendwo müssen sich die Kinder die Finger ja abwischen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich besorge alles und bin schnell wieder da, übrigens helfe ich gern. Schließlich gehört das ganz offiziell zu meinen Aufgaben. Seit ich achtzehn Jahre alt bin, habe ich ja eine Mitverantwortung für Sophienlust.«
Denise lächelte ihrem Sohn zu und ließ ihn ziehen. Aus dem Fenster schaute sie ihm nach, wie er draußen vor dem Herrenhaus in sein kleines Auto stieg, das er zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte, und in gemäßigtem Tempo auf das schmiedeeiserne Zufahrtstor zurollte.
Das Auto hatte das Gelände längst verlassen, als Denise noch immer am Fenster stand und ihren Gedanken nachhing.
Nick hatte vorhin betont, dass er eine Mitverantwortung für das Kinderheim hatte. So ganz stimmte das nicht. Rein juristisch gesehen trug er seit seiner Volljährigkeit die gesamte Verantwortung allein. Er hatte das schlossähnliche Herrenhaus als kleiner Junge geerbt. Testamentarisch war von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin verfügt worden, dass ihr Anwesen in ein Heim für in Not geratene Kinder umgewandelt werden sollte. Denise, als Nicks Mutter, sollte dieses Heim bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes verwalten. Nun war Nick erwachsen und hätte sein Erbe komplett allein antreten können. Doch er war froh, auch weiterhin auf die Erfahrung und den Einsatz seiner Mutter zurückgreifen zu können. Nach seiner eigenen Ansicht musste er noch eine Menge lernen. Dazu gehörte auch das Studium, das er in einigen Monaten antreten wollte. Dem Studium und der Leitung von Sophienlust konnte er unmöglich gleichzeitig gerecht werden. Natürlich wollte Nick gerne mitreden und Arbeitseifer beweisen, aber ohne die Unterstützung seiner Mutter wäre er wohl verloren gewesen.
Es ging Denise durch den Sinn, dass Nick sich schon immer für Sophienlust verantwortlich gefühlt hatte und von Anfang an bestrebt war, hilflosen Kindern eine glückliche Zukunft zu ermöglichen. Er war noch im Grundschulalter gewesen, als er auf der Straße ein kleines Mädchen aufgelesen hatte, dessen Eltern gerade bei einem Zirkusbrand ums Leben gekommen waren. Angelina Dommin, die wegen ihrer zahlreichen Sommersprossen nur Pünktchen genannt wurde, war inzwischen fünfzehn Jahre alt, lebte noch immer in Sophienlust und fühlte sich mit Nick innig verbunden. Aus den beiden jungen Leuten würde eines Tages ganz sicher ein Paar werden. Daran zweifelte niemand, auch nicht die Schützlinge des Kinderheims. Angelika und Vicky Langenbach, die zwölf und vierzehn Jahre alten Schwester, die ihre Eltern bei einem Lawinenunglück verloren hatten, zogen Nick und Pünktchen hin und wieder gerne wegen ihrer Verliebtheit auf, meinten es aber nicht böse. Die sieben Jahre alte Heidi und der sechsjährige vietnamesische Waisenjunge Kim konnten es kaum erwarten, dass endlich die Hochzeit gefeiert wurde. Sie liebten große Feste, bei denen es meist ganz besondere Naschereien gab. Der zwölf Jahre alte Martin Felder und das älteste Dauerkind, die fast siebzehn Jahre alte Irmela Groote zeigten sich in Hinblick auf die Hochzeit wesentlich gelassener. Sie wussten, dass bis dahin noch einige Zeit ins Land ziehen würde.
Denise selbst hatte nicht dagegen, dass ihr Sohn eines Tages mit Pünktchen vor dem Traualtar stehen würde. Sie war davon überzeugt, dass die beiden miteinander glücklich sein würden, und familiäres Glück war für sie die Hauptsache. Schließlich war sie selbst vom Schicksal stark gebeutelt worden. Nicks Vater war schon vor der Geburt seines Sohnes gestorben, und sie hatte danach harte Zeiten erlebt. Ihr Glück hatte sie erst gefunden, als der Witwer Alexander von Schoenecker in ihr Leben getreten war. Der Gutsbesitzer brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Das war Sascha, der heute in Heidelberg studierte, und Andrea, die inzwischen mit dem Tierarzt Hans-Joachim von Lehn verheiratet und nun Mutter eines kleines Sohnes war. Die Familie lebte im benachbarten Bachenau. Dort führte Hans-Joachim seine Praxis und unterhielt mit seiner Frau ein privates Tierheim für verstoßene Tiere aller Art. Das Familienglück war vollkommen geworden, als Denise und Alexander vor elf Jahren noch einen gemeinsamen Sohn bekommen hatte, den kleinen Henrik.
Denises Gedanken wanderten von der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Ja, sie konnte sich wirklich glücklich schätzen. In ihrem Leben gab es nichts, um das sie sich ernsthafte Sorgen machen musste. Ausgenommen waren natürlich die Sorgen, die sie sich immer wieder um ein Kind machte, das in Not geraten war und dringend Hilfe benötigte. Aber in all den vergangenen Jahren war es stets gelungen, all diesen bedauernswerten jungen Geschöpfen eine gute Zukunft zu ermöglichen. Die meisten hatten Aufnahme in einer intakte Familie gefunden, und die anderen wuchsen in Sophienlust auf wie in einer großen, fröhlichen Familie. Sophie von Wellentins Plan, ihr Anwesen nach ihrem Tod zu einer Heimat für notleidende Kinder zu machen, war aufgegangen.
Denise betrachtete das Portrait der alten Dame, das an der Wand hing. Schade, dass sie nicht mehr erleben durfte, was für ein gutes Werk sie mit ihrem Testament getan hat, ging es Denise durch den Kopf, bevor sie sich abwandte und sich auf das Gespräch mit dem Mitarbeiter des Jugendamtes vorbereitete.
*
Nick kannte sich in Maibach gut aus und wusste genau, wo er welche Dinge auf seiner Einkaufsliste bekommen konnte. Die Einkäufe waren rasch erledigt. Trotzdem erschien ihm an diesem Tag alles etwas anders zu sein als gewöhnlich. Es waren ungewöhnlich viele Feuerwehrfahrzeuge und Polizeiwagen unterwegs. Der Achtzehnjährige blickte sich suchend um, konnte aber nirgends eine Rauchfahne entdecken. In einem Geschäft hörte er zufällig, wie sich mehrere Kunden und Angestellte unterhielten, und erfuhr, was sich ereignet hatte. Auf dem nah gelegenen Kirmesplatz war in den frühen Morgenstunden einer der Wohnwagen, in denen die Schausteller lebten, in Brand geraten. Dabei sollten auch Menschen ums Leben gekommen sein, ein Ehepaar und ein kleines Mädchen. Es wurde darüber diskutiert, ob sie alle im Schlaf am Rauch erstickt waren oder keine Chance mehr hatten, den Flammen zu entkommen und ins Freie zu flüchten.
In den Gesichtern der Leute, die sich über das tragische Ereignis unterhielten, war das blanke Entsetzen deutlich zu erkennen. Auch Nick hatte Probleme, das Geschehnis zu begreifen, und spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Ebenso wie all die anderen Anwesenden kannte er die Schausteller nicht, und doch war er von dem traurigen Ereignis zutiefst betroffen. Besonders der Gedanke an das kleine Mädchen belastete ihn sehr.
Nick hatte gelernt, ein besonderes Mitgefühl mit Kindern zu entwickeln. Solange er denken konnte, hatten Kinder in seinem Leben durch Sophienlust immer eine Hauptrolle gespielt. Für ihn waren sie besonders schützenswert, weil sie sich oft nicht allein helfen konnten. Für dieses kleine Mädchen, das dem Brand zum Opfer gefallen war, war niemand zur Stelle gewesen, als es dringend Hilfe benötigte. Wahrscheinlich hatten die Kollegen der Schaustellerfamilie das Feuer erst viel zu spät bemerkt und konnten nicht mehr rechtzeitig eingreifen.
Nick fragte sich, wie alt dieses Kind wohl gewesen sein mochte, wie es ausgesehen und welche Vorlieben und Hobbys es gehabt hatte. Gleichzeitig wollte er aber auch gar nicht darüber nachdenken. Hier waren zwei Menschen und ein unschuldiges, chancenloses Kind gestorben, ein junger Mensch, dessen Leben gerade erst begonnen hatte. Diese Erkenntnis erschien Nick einfach unerträglich. Er hatte schon eine Menge Kinderleid erlebt. Aber bis jetzt war es eigentlich immer gelungen, die Dinge zum Guten zu wenden. Einen Todesfall hatte es noch nicht gegeben. Jedenfalls konnte Nick sich daran nicht erinnern. Er fühlte sich so schlecht wie kaum jemals zuvor, als er das große Geschäft verließ und zu dem nah gelegenen Parkplatz wanderte, auf dem er sein Auto abgestellt hatte. Alle Einkäufe hatte er erledigt und sich vor ein paar Minuten noch gefreut, nun nach Sophienlust fahren und dort verkünden zu können, dass er alle Dinge, die auf der Liste gestanden hatten, bekommen hatte. Das erschien ihm jetzt auf einmal überhaupt nicht mehr so wichtig. Er wünschte sich sogar, gar nicht erst nach Maibach gefahren zu sein. Das hätte zwar nichts an den Tatsachen geändert, aber er hätte von dem Unglück nicht alles so hautnah und direkt erfahren. Es wäre ein bisschen einfacher gewesen, am nächsten Tag davon in der Zeitung zu lesen. Das wäre zwar auch bedrückend gewesen, aber doch vielleicht nicht ganz so schlimm, wie er die Sache jetzt erlebt hatte.
Auf dem Weg zum Parkplatz tauchte vor seinen Augen immer wieder das Bild eines in Flammen stehenden Wohnwagens auf. Energisch wehrte sich der Achtzehnjährige dagegen, konnte diese Vision aber einfach nicht abschütteln.
*
Zur frühen Morgenstunde war die sieben Jahre alte Romina Castello aus dem Schlaf gerissen worden. Lärm und laute Stimmen hatten sie geweckt. Dazu bellte auch noch Fabio, ihr Colliemischling, unablässig. Verschlafen rieb sich das Mädchen die Augen.
»Was ist denn los, Fabio? Warum bellst du so furchtbar, und warum schreien da draußen die Leute? Es ist doch noch ganz früh? Wieso schlafen nicht alle noch?«
Kaum hatte Romina diese Fragen gestellt, als die Tür geöffnet wurde und ihre um ein Jahr ältere Freundin Vanessa erschien.
»Romina, es brennt«, erklärte die Achtjährige aufgeregt. »Ich weiß noch nicht wo, aber alle sind hingelaufen und wollen löschen. Die Feuerwehr ist auch schon unterwegs. Mein Vater hat sie gerufen.«
Romina erinnerte sich daran, dass es vor ein paar Wochen auf dem Autoscooter einen kleinen Brand gegeben hatte, der durch einen Kurzschluss entstanden war. Niemandem war dabei etwas passiert, und das Feuer konnte rasch gelöscht werden.
»Das ist bestimmt wieder so ein komisches Ding, so ein kurzer Schluss«, meinte die Siebenjährige. »Das ist nicht so schlimm. Du brauchst keine Angst zu haben. Uns kann nichts passieren. Aber ich gehe einmal nachsehen.«
Im Gegensatz zu Romina galt Vanessa als sehr zurückhaltend und manchmal auch etwas ängstlich. Sie blieb auch jetzt lieber im geschützten Wohnwagen, während ihre Freundin mit Fabio nach draußen ging, um sich näher über die Ereignisse zu informieren.
Romina eilte in die Richtung, aus der die aufgeregten Stimmen zu hören waren. Sie spürte keine Angst und war sogar relativ neugierig. Dann aber blieb sie plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte auf das Bild, das sich ihr bot. Es war nicht der Autoscooter, der Probleme bereitete. Aus einem Wohnwagen schlugen lodernde Flammen, und das Mädchen hörte eine Frau entsetzt rufen: »Mein Gott, die Löschversuche helfen nicht! Da kommt niemand mehr lebend heraus. Wir haben überhaupt keine Chance.«
In der Aufregung und auf die anstrengenden Löschversuche konzentriert, achtete niemand auf das kleine Mädchen und seinen Hund.
Romina starrte in die Flammen. Der Satz, den die Frau eben gesagt hatte, hämmerte in ihrem Kopf. Sie konnte und wollte die Situation nicht begreifen. In der Ferne waren schon die Martinshörner der herbeieilenden Feuerwehr zu hören, als sich die Siebenjährige abwandte und in Panik davonlief. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie wollte. Ziellos rannte sie einfach geradeaus. Der treue Fabio hielt sich dabei immer an ihrer Seite auf.
Romina konnte nicht sagen, wie lange sie gelaufen war und wo sie sich jetzt befand. Sie kannte sich in Maibach nicht aus. Fast alle Städte waren ihr fremd, weil sie sich mit ihren Eltern stets nur für kurze Zeit dort aufhielt und anschließend an einen anderen Ort reiste. Völlig außer Atem erreichte das kleine Mädchen eine Grünanlage und ließ sich auf der schmalen Begrenzungsmauer nieder. Fabio setzte sich neben das Kind und stieß es mit seiner feuchten Nase tröstend an. Rominas Hände griffen in das weiche Fell des Hundes.
»Fabio, ich verstehe das alles nicht. Ist das alles nur ein schlimmer Traum? Dann will ich endlich aufwachen und sehen, dass ich nur geträumt habe. Es kann doch nicht einfach so alles verbrennen. Nein, das muss ein Traum sein, ein ganz furchtbarer Traum. Kannst du mich mal ein bisschen beißen, damit ich aufwache?«
Der Colliemischling dachte gar nicht daran, Romina zu beißen, auch nicht ein kleines bisschen. Die Siebenjährige schaute sich um. Sie entdeckte Autos, die auf der Straße fuhren, und sah in der Ferne Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren oder Einkäufe erledigen wollten. In diesem Moment wurde Romina klar, dass sie keineswegs träumte. Was sie erlebt hatte, war tatsächlich geschehen. Wieder wurde das kleine Mädchen von hilfloser Panik ergriffen. Sie kroch zwischen zwei große Gehölze der Grünanlage, vergrub Gesicht in Fabios Fell und begann hemmungslos zu weinen.
*
Nick hatte sein Fahrzeug erreicht und war eingestiegen. Im Augenblick fühlte er sich jedoch noch nicht in der Lage, den Motor zu starten. Noch immer war er viel zu ergriffen von dem Unglück, das sich an diesem Tag auf dem Maibacher Kirmesplatz ereignet hatte. Kirmes, das war für ihn stets ein Begriff von Heiterkeit und vergnügten Stunden gewesen und kein Ort, den man mit einer Katastrophe in Verbindung brachte. Doch genau so eine Katastrophe war jetzt eingetreten, und keine Macht der Welt konnte sie ungeschehen machen.
Der Blick des Achtzehnjährigen fiel auf die Grünanlage, die den Parkplatz begrenzte. Was war denn das? Hatte sich da nicht gerade etwas zwischen den Sträuchern bewegt? Ein Kaninchen konnte es nicht sein. Dazu war die Bewegung zu heftig gewesen. Nick schaute genauer hin und erkannte, dass er sich nicht getäuscht hatte.
Da war tatsächlich etwas, und dieses Etwas sah aus wie ein Kind. Außerdem schien auch noch ein Hund dort im Gebüsch zu stecken. Das war absolut nicht normal. Nick stieg aus, um sich die Sache genauer anzusehen und entdeckte auch schon bald ein weinendes kleines Mädchen und einen Hund, der stark an einen Collie erinnerte.
Ein wenig misstrauisch beobachtete der Hund den jungen Mann, als dieser sich auf der Mauer niederließ. Dieses Misstrauen verlor sich allerdings sofort, als Nick dem Hund sanft mit der Hand durch das Fell fuhr.
»Keine Angst, ich tue deiner Freundin nichts Böses«, beruhigte er das Tier und wandte sich an das kleine Mädchen: »Was ist denn passiert? Hast du dich verlaufen und findest jetzt nicht mehr nach Hause? Wenn das so ist, brauchst du nicht zu weinen. Das bekommen wir zusammen schon hin, und dann bist du ganz bald wieder zu Hause.«
»Zu Hause?« Romina starrte Nick mit einem Blick an, der alles Leid der Welt ausdrückte. »Ich habe kein Zuhause mehr. Es ist weg, einfach weg. Alles ist weg. Gestern war es noch da, aber heute nicht mehr.«
Der Achtzehnjährige wusste nicht, was er mit dieser Aussage anfangen sollte. Aber er war längst daran gewöhnt, dass Kinder sich oft recht unverständlich ausdrückten. Das war besonders dann häufig der Fall, wenn sie sich in einer Notlage befanden, die sie selbst noch nicht begreifen konnten.
»Ich glaube, dir ist etwas ganz Schlimmes passiert. Aber ich werde dir helfen, und es wird alles wieder gut. Das verspreche ich dir. Ich lasse dich nicht allein. Darauf kannst du dich verlassen, übrigens heiße ich Dominik von Wellentin-Schoenecker. Aber alle sagen einfach Nick zu mir. Das kannst du auch tun. Verrätst du mir auch deinen Namen und den deines Hundes?«
Das Mädchen griff dankbar nach dem Taschentuch, das Nick ihm reichte, wischte ein paar Tränen fort und putzte sich die Nase.
»Ich bin Romina, Romina Castello, und das ist mein Hund Fabio. Er ist drei Jahre alt, und ich bin sieben.«
»Gut, Romina, dann weiß ich schon einmal das Wichtigste über euch beide. Kannst du mir jetzt noch erzählen, wieso dein Zuhause plötzlich weg ist? Was hast du damit gemeint? Wenn du mir das ein bisschen genauer erklärst, kann ich dir bestimmt helfen. Eigentlich verschwindet ein Zuhause nicht einfach so.«
»Ist es aber. Gestern war es noch da. Ich habe abends mit meinen Eltern gegessen und gefragt, ob ich bei meiner Freundin Vanessa übernachten darf. Das wollten meine Eltern aber nicht. Vanessas Eltern hatten Besuch und wollten feiern. Da sollte ich nicht stören. Ganz spät, als meine Eltern schon geschlafen haben, bin ich dann aber doch zu Vanessa gegangen. Der Besuch war schon weg. Ich habe an ihr Fenster geklopft. Sie hat die Tür aufgemacht und mich hereingelassen. Keiner hat davon etwas bemerkt, ihre Eltern nicht und meine auch nicht.«
»Na gut, dann werden deine Eltern jetzt vielleicht böse sein, weil du heimlich ausgerückt bist. Aber dein Zuhause verlierst du deshalb nicht. Mag sein, dass sie ein bisschen mit dir schimpfen. Aber damit ist die Sache wahrscheinlich erledigt.«
»Sie können nicht mit mir schimpfen.« Wieder kullerten Tränen über Rominas Wangen. »Das können sie nie wieder tun. Als ich heute früh aufgewacht bin, hat es gebrannt. Der Wohnwagen meiner Eltern hat gebrannt. Alle haben versucht, das Feuer zu löschen, und die Feuerwehr ist auch irgendwann gekommen. Ich habe die Sirenen gehört. Aber von dem Wohnwagen war schon nicht mehr viel da, und die Frau, der die kleine Achterbahn gehört, hat gesagt, dass aus diesem Wohnwagen keiner mehr lebend herauskommt. Sie hat zwar nicht mit mir geredet, aber ich habe genau gehört, wie sie das zu anderen Leuten gesagt hat. Unser Wohnwagen ist weg, und meine Eltern sind verbrannt. Fabio und ich sind ganz allein.«
Spontan nahm Nick das weinende Kind in den Arm. Jetzt wurde ihm alles klar. Romina war das Kind von Kirmesplatz, wo das schreckliche Unglück passiert war! Ihre Eltern waren ums Leben gekommen, und alle hielten auch das kleine Mädchen für tot. Nur durch ihren Ungehorsam, von dem niemand etwas wusste, hatte Romina überlebt.
Nick hatte das Gefühl, genau diese Situation schon einmal erlebt zu haben, auch wenn dieses Ereignis schon viele Jahre zurücklag. Damals war er selbst noch ein kleiner Junge gewesen, als er Pünktchen verzweifelt und weinend auf der Straße aufgelesen hatte. Sie hatte ihre Eltern gerade bei einem Zirkusbrand verloren und war ziellos umhergeirrt. Trotz seines geringen Alters war es Nick damals gelungen, Pünktchens Welt wieder in Ordnung zu bringen. Dasselbe würde er jetzt auch für Romina tun. Den Eltern konnte er nicht mehr helfen. Sie lebten nicht mehr. Aber dieses kleine Mädchen war den Flammen entkommen.
Trotz des tragischen Hintergrundes fühlte Nick sich erleichtert. Romina hatte überlebt und mit ihr Fabio. So hatte das Schreckliche wenigstens eine wunderbare und gute Seite.
»Ich kann den Brand nicht ungeschehen machen«, erklärte Nick. »Leider kann ich auch nichts daran ändern, dass du alles verloren hast. Das ist sehr schlimm. Aber ich werde dir trotzdem helfen. Das kann ich nämlich. Ich sorge dafür, dass du noch heute ein neues Zuhause bekommst. Das gilt natürlich auch für Fabio. Ihr beide bleibt zusammen und kommt an einen schönen Ort, an dem es noch viele andere Kinder gibt, die keine Eltern mehr haben. Ich verspreche dir, dass du wieder glücklich wirst. Du kannst mir vertrauen und dich auf mich verlassen. Da drüben steht mein Auto.« Er wies auf den kleinen Wagen. »Da steigen wir jetzt ein und fahren los. Zuerst müssen wir uns bei der Polizei melden. Die Polizei muss mir nämlich erlauben, dich nach Sophienlust zu bringen. Aber das wird kein Problem sein.«
»Sophienlust? Ist das dieser schöne Ort, von dem du gesprochen hast?« Fragend schaute Romina den Achtzehnjährigen an.
»Ja, Sophienlust ist ein schönes großes Haus, das wie ein Schloss aussieht. Es liegt mitten in einem riesigen Park. Lauter glückliche Kinder wohnen dort. Außerdem gibt es auch Tiere. Zwei Hunde sind dort, ein Papagei und sogar ein paar Pferde und Ponys.«
Rominas Gesicht wurde nachdenklich. »Bist du sicher, dass ich mit Fabio dort wohnen darf. Vielleicht will man uns da gar nicht haben und schickt uns gleich wieder weg. Die Leute, denen das Haus gehört, erlauben vielleicht nicht, dass ich dort wohne.«
»Doch, ganz sicher. Dieses Haus ist für Kinder da, die in Not geraten sind, und so ein Kind bist du jetzt auch! Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass die Besitzer dich nicht haben wollen. Dieses Haus gehört nämlich mir.« Nick lächelte. »Aber das ist eine lange Geschichte, von der dir die Kinder noch erzählen werden.«
Romina schien getröstet zu sein. Ihre Tränen versiegten, und sie setzte ihr ganzes Vertrauen in Nick. Der wusste genau, dass das kleine Mädchen den Tod seiner Eltern noch gar nicht realisiert hatte. Die Tragweite des schrecklichen Geschehens war ihr im Moment noch nicht bewusst. Romina, die in Panik fortgelaufen war, war jetzt nur froh, dass es einen Menschen gab, der sich ihrer annahm und für sie und Fabio sorgen wollte. Deshalb zögerte sie auch nicht, zu Nick in den Wagen zu steigen und sich ganz auf ihn zu verlassen.
*
Auf dem Kirmesplatz war die Polizei mit Sicherheit noch immer anwesend. Wahrscheinlich würden auch noch Einsatzkräfte der Feuerwehr vor Ort sein. Es wäre also einfach gewesen, sich dort mit Romina zu melden und zu erklären, dass das vermeintlich umgekommene kleine Mädchen noch lebte und unverletzt war. Aber Nick wollte der Siebenjährigen den Anblick des ausgebrannten Wohnwagens ersparen. Sie sollte den Schrecken aus den frühen Morgenstunden nicht noch einmal neu durchleben müssen.
Unweit des Parkplatzes gab es einen Polizeiposten. Es war davon auszugehen, dass alle Dienststellen, die sich in Maibach befanden, über den Brand informiert waren. Es reichte also völlig, wenn Nick dort erschien.
Die meisten Beamten waren unterwegs, als Nick den Polizeiposten erreichte. Nur einer war anwesend und hörte sich mit ungläubigem Staunen an, was Nick ihm zu berichten hatte.
»So ein Glück ist kaum fassbar«, meinte der Polizist schließlich. »Natürlich ist es ungeheuer tragisch, dass zwei Menschen ums Leben gekommen sind. Sie sind inzwischen geborgen worden und definitiv tot. Aber es wird noch nach der kleinen Tochter gesucht. Ich werde die Einsatzkräfte umgehend darüber informieren, das sie diese Suche einstellen können. Was für ein Glück. Manchmal hat eben auch das härteste Schicksal ein gnädiges Einsehen. Es ist seltsam, dass man angesichts einer solchen Katastrophe trotzdem ein Glücksgefühl verspüren kann.«
Der Polizist betrachtete Romina, und es war ihm deutlich anzumerken, wie bewegt er war. Nick konnte den Beamten gut verstehen, weil er dasselbe empfand.
»Ich bin auch glücklich darüber, dass Romina und Fabio überlebt haben und unversehrt sind. Aber jetzt muss für die beiden gesorgt werden. Ich möchte sie gerne mit nach Sophienlust nehmen. Es handelt sich dabei um das Kinderheim in Wildmoos, dessen Eigentümer ich bin. Ich glaube, das ist für Romina und Fabio der beste Platz.«
»Sophienlust? Ja, das ist mir bekannt. Deshalb erschien mir Ihr Name vorhin auch nicht so fremd. Sie sind also jener Dominik von Wellentin-Schoenecker, der das Heim zusammen mit seiner Mutter betreibt.«
»Nicht nur wir beide. Es gibt noch einige Angestellte, die uns unterstützen. Allein könnten wir die Arbeit nicht bewältigen.«
»Ich weiß. Vor etwa zwei Jahren bin ich selbst in Sophienlust gewesen. Mein bester Freund hatte seinen kleinen Sohn für ein paar Wochen dort unterbringen müssen, weil sich seine Frau einer Operation unterziehen musste und er selbst in dieser Zeit keinen Urlaub bekommen konnte. Wir haben Leon zusammen dort abgeholt. Es ist ein wunderschönes Anwesen.« Der Beamte legte eine Hand auf Nicks Schulter. »Da wird für die Kinder wirklich alles getan, was möglich ist. Von meiner Seite aus bestehen keine Bedenken, dass Sie Romina mitnehmen. Vorläufig könnte sie nicht besser untergebracht sein. Ich bin froh, dass Sie die Kleine zufällig gefunden haben. Natürlich muss das Jugendamt noch entscheiden, ob Romina in Sophienlust bleiben kann. Möglicherweise gibt es irgendwo Verwandte, die sich um sie kümmern wollen. Aber das wird sich von ganz allein zeigen.«
Der Polizist schaute sich kurz suchend um, griff in einen Schrank und holte einen Teddy hervor, der eine Polizeiuniform trug. Diesen Plüschbären drückte er der Siebenjährigen in die Hand, lächelte ihr aufmunternd zu und fuhr ihr mit der Hand liebevoll über den Haarschopf. Er wollte das kleine Mädchen, das noch gar nicht so recht begriff, was ihm passiert war, wenigstens ein bisschen trösten. Artig bedankte Romina sich für das Geschenk, drückte den Teddy an sich und verließ an Nicks Hand die Wache. Fabio folgte den beiden. Er brauchte keine Leine. Wo seine kleine Freundin war, da war auch sein Platz.
*
Schwester Regine war längst von ihrem Zahnarztbesuch nach Sophienlust zurückgekehrt und bemerkte, dass Denise von Schoenecker einen nervösen Eindruck machte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sie sich besorgt. Sie scheinen beunruhigt zu sein.«
»Das ist richtig. Nick wollte in Maibach ein paar Einkäufe erledigen. Er müsste aber eigentlich schon längst wieder hier angekommen sein. Wenn er Probleme hätte, hätte er sicher angerufen. Aber ich habe nichts von ihm gehört. Nun mache ich mir natürlich Gedanken.«
»Dann rufen Sie ihn doch an und fragen Sie ihn, wodurch er aufgehalten wurde. Er hat sein Handy doch ganz sicher bei sich.«
»Das schon, aber ich will nicht den Eindruck erwecken, ihn drängen zu wollen. Ein bisschen warte ich noch ab bevor ich mich melde.«
Denise hatte kaum ausgesprochen, als die Heimleiterin Frau Rennert aufgeregt angelaufen kam. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Haben Sie schon von dem Unglück gehört, das sich in Maibach ereignet hat? Eben hat das Radio in den Nachrichten gemeldet, dass auf der Kirmes ein Wohnwagen ausgebrannt ist. Ein junges Elternpaar und dessen kleine Tochter sind in den Flammen umgekommen. Ist das nicht furchtbar?«
Denise war ebenso entsetzt wie Schwester Regine, als sie von dieser Katastrophe hörte. »Mein Gott, wie furchtbar!«, entfuhr es ihr. »Warum müssen so schreckliche Dinge immer wieder passieren? Die armen Eltern, und das arme Kind. Möglicherweise verspätet Nick sich deshalb. Wie ich meinen Sohn kenne, wird er versuchen, irgendwie zu helfen. Aber da wird er wohl leider nichts mehr ausrichten können.«
»Wahrscheinlich nicht«, bestätigte Schwester Regine. »Vermutlich müssen wir ihn sogar trösten und ihn wieder aufbauen. Da kommt er nämlich gerade.«
Die Kinderschwester hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen und Nicks Wagen vorfahren sehen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, als sie zusammen mit Nick ein kleines Mädchen und einen Hund aussteigen sah. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass Nick es geschafft hat, doch noch irgendwie zu helfen. Sehen Sie mal.«
Denise und Frau Rennert entdeckten nun auch das fremde Kind, das einen Teddybären an sich gedrückt hielt und sich ein wenig unsicher umschaute.
»Ich weiß noch nicht, was sich zugetragen hat«, bemerkte Denise. »Aber offensichtlich bekommen wir einen neuen Gast.«
Die drei Frauen eilten Nick und Romina entgegen und hatten nach wenigen Minuten erfahren, was sich ereignet hatte. Romina wurde liebevoll begrüßt, und alle versuchten, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Das kleine Mädchen sollte nicht noch weiter verunsichert werden.
»Kommst du mit mir?«, fragte Schwester Regine betont fröhlich. »Unsere größeren Kinder sind in der Schule. Aber Kim ist im Haus und wird sich freuen, wenn er dich sieht. Er malt gerade ein Bild für unsere Köchin. Die hat nämlich nächste Woche Geburtstag, und das Bild soll eine Überraschung für sie sein. Dein Fabio kann auch mitkommen. Über den freut Kim sich bestimmt auch. Kim ist ein bisschen jünger als du. Aber er ist ein netter und kluger Junge.«
Während Nick sich mit seiner Mutter unterhielt und ihr genau berichtete, was er an diesem Tag erlebt hatte, ging die Kinderschwester mit Romina in den Aufenthaltsraum. Für Kim war es nicht ungewöhnlich, dass plötzlich ein fremdes Kind auftauchte. An solche Situationen war er inzwischen gewöhnt. Er reichte Romina sofort die Hand.
»Guten Tag. Ich bin Kim, und wie heißt du? Willst du jetzt bleiben bei uns lange? Ist immer schön, wenn kommen neue Kinder, und du bist nettes Kind. Wir können sein Freunde.«
»Ich heiße Romina, und mein Hund heißt Fabio«, gab das Mädchen Auskunft. »Du bist auch nett, aber warum sprichst du so komisch?«
Kim zog die Schultern hob. »Deutsch ist noch schwer. Ich nicht kann es so gut, weil ich komme aus Vietnam. Aber ich habe schon gelernt viel und kann verstehen alles.«
»Vietnam? Das muss ganz weit weg sein. Davon habe ich noch nie etwas gehört.« Romina setzte sich neben Kim und schaute ihn fragend an. Schwester Regine hielt sich im Hintergrund. Der erste Kontakt zu einem Kind aus Sophienlust war für Romina jetzt sehr wichtig, und zu Kim schien sie auf Anhieb eine gute Verbindung aufzubauen.
»In Vietnam spricht man bestimmt eine ganz andere Sprache, die hier niemand versteht«, mutmaßte die Siebenjährige. »In Italien ist das auch so. Das sprechen alle Leute italienisch. Ich kann das auch ganz gut. Mein Papa ist nämlich Italiener. Das heißt, er …, er war … Italiener. Jetzt ist er gestorben, und meine Mama auch. Sie sind …, sie sind beide …, tot. Unser Wohnwagen hat gebrannt, und dann …«
Obwohl Kim noch sehr klein war, verstand er genau, was jetzt in Romina vorging. Tröstend nahm er ihre Hände in die seinen.
»Dann deine Eltern sind jetzt bei meinen Eltern. Sie alle sind zusammen im Himmel, und da es ist sehr schön für sie. Du nicht musst sein traurig. Meine Eltern es geht gut und deinen Eltern auch. Sie können nur nicht wieder kommen auf die Welt. Aber sie sich freuen, dass wir sind in Sophienlust und haben es gut hier.«
»Hat es bei euch auch ein Feuer gegeben?«, wollte Romina wissen. »Sind deine Eltern dabei auch gestorben?«
»Nein, sie sind mit Boot geflüchtet vor bösen Leuten. Dann ist Boot umgekippt und alle sind ertrunken, nur ich nicht. Zuerst alles war ganz schlimm. Aber dann ich bin gekommen nach Sophienlust, und hier alle waren meine Freunde. Ist hier wie eine richtige Familie, und jetzt ist auch deine Familie. Du schon bald bist wieder fröhlich. Ist nirgendwo schöner als in Sophienlust. Du kannst glauben mir. Alle Eltern die sind gestorben, wohnen zusammen auf ganz hellem Stern und gucken zu, was wir machen. Deine Eltern sind ganz bestimmt glücklich, weil du jetzt bist hier bei uns.«
»Auf welchem Stern wohnen unsere Eltern denn nun? Kann man den abends am Himmel sehen?«
»Ja, ich ihn zeige dir – wenn es ist dunkel. Es ist schöner heller Stern. Manchmal ich winke meine Eltern zu. Schwester Regine hat gesagt, dass sie das sehen können und dann sie freuen sich.«
»Ich werde meinen Eltern auch zuwinken«, entschied Romina. »Schließlich möchte ich, dass sie sich auch freuen. Vielleicht haben sie deine Eltern schon getroffen und sich mit ihnen unterhalten.«
Schwester Regine hatte schweigend zugehört und war tief gerührt. Immer wieder war es erstaunlich, wie gut Kinder einander trösten konnten. Was der kleine Kim innerhalb weniger Minuten geschafft hatte, wäre ihr in mehreren Wochen nicht gelungen. Es konnte eben kein Erwachsener den Trost spenden wie ein ebenfalls betroffenes Kind.
Die Kinderschwester zweifelte nicht daran, dass Romina sich schnell einleben würde. Natürlich würde sie noch um den Verlust ihrer Eltern trauern. Aber die Kinder würden ihr helfen und es ihr so leicht wie möglich machen. Wie es für das kleine Mädchen weitergehen würde, konnte Schwester Regine nicht sagen. Vielleicht gab es irgendwo Verwandte, die sich jetzt um das Kind kümmern und es zu sich nehmen wollten. Sollte sich jedoch herausstellen, dass Romina mit ihrem Fabio ganz allein auf der Welt war, würde sie ein neues Dauerkind von Sophienlust sein, und selbstverständlich war auch Fabio willkommen.
*
Im Grunde genommen war es eine fröhliche kleine Gesellschaft, die sich am Kaffeetisch versammelt hatte. Thorsten Ellinger feierte seinen sechzigsten Geburtstag. Seine um zwei Jahre jüngere Frau Barbara saß neben ihm. Gegenüber hatten Linda, die gemeinsame Tochter der beiden, und deren Mann Daniel Marbach Platz genommen.
»Wie läuft es denn in eurem Hotel?«, erkundigte sich die dreiunddreißig Jahre alte Linda. »Ist die Renovierung des Schwimmbades inzwischen abgeschlossen?«
»Ist sie, und es ist wunderschön geworden«, antwortete Barbara. »Unsere Gäste sind jedenfalls begeistert und haben uns viel Lob gespendet. Wenn abends kein Betrieb mehr herrscht, schwimme ich oft auch noch eine Runde. Das macht jetzt richtig Spaß. Nur dein Vater erweist sich trotz des herrlichen Bades als Sportmuffel.«
»Das stimmt überhaupt nicht«, protestierte Thorsten Ellinger. »Schwimmen zählt nun einmal nicht zu meinen Hobbys. Dafür gehe ich gerne wandern. Das ist auch Sport, und ich nutze jede freie Stunde dazu. Aber wie sieht es bei euch aus? Laufen die Geschäfte gut?«
Daniel Marbach nickte. »Ausgezeichnet sogar. Gute Juweliergeschäfte sind so gefragt wie nie zuvor. Es war kein Fehler, dass wir im letzten Jahr einen zweiten Laden eröffnet haben. Über Mangel an solventen Kunden können wir uns jedenfalls nicht beklagen.«
»Dann könnt ihr wirklich zufrieden sein«, stellte Barbara fest. »Ihr habt keine finanziellen Sorgen und lebt hier in einem wunderschönen großen Haus, auf dem nicht einmal eine Hypothek liegt. Mehr kann man sich wohl kaum wünschen.«
Linda seufzte hörbar auf. »Doch, es gibt immer Wünsche. Bei uns ist es eigentlich nur einer, dafür ein unerfüllbarer. Dieses Haus ist riesig und der Garten auch. Wir haben mehr Platz, als wir brauchen. Es wäre so schön, wenn wir ein Kind hätten. Daniel ist fünfunddreißig Jahre alt. Ich bin auch nicht viel jünger. Es würde höchste Zeit für ein Kind. Aber seit dem Autounfall mit den schweren Bauchverletzungen vor fünf Jahren wissen wir, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann. Das ist so ungerecht. Viele Leute, die gar keine Kinder wollen, setzen ungewollt Nachwuchs in die Welt. Wir hingegen, die wir uns nach einem Kind sehen, können keins haben.«
»Das Schicksal fragt nicht nach Gerechtigkeit«, meinte Thorsten tröstend. »Aber ihr müsst trotzdem nicht kinderlos bleiben. Habt ihr schon einmal an eine Adoption gedacht? Es gibt doch immer wieder Kinder, die ihre Eltern verloren haben und eine intakte Familie brauchen.«
»Genau darüber wollten wir mit euch heute sprechen«, gestand Daniel. »In der letzten Zeit haben wir oft an eine Adoption gedacht. Jetzt sind wir so gut wie entschlossen, demnächst einen Adoptionsantrag zu stellen. Aber wir würden gerne wissen, wie ihr dazu steht. Würde es euch wirklich nichts ausmachen, wenn ein nicht blutsverwandtes Kind zu unserer Familie gehören wird? Es wäre schlimm für uns, wenn ihr ein Adoptivkind ablehnen würdet.«
Barbara schüttelte energisch den Kopf. »Darüber braucht ihr euch keine Gedanken zu machen. Das würden wir niemals tun. Auch ein Adoptivkind würde unser Enkelkind sein. So ein kleines Wesen kann doch nichts dafür, dass es seine Eltern verloren hat, und wird euch als seine neuen Eltern anerkennen. Wir werden immer gute Großeltern sein. Darauf könnt ihr euch verlassen.«
Thorsten stimmte seiner Frau nickend zu. »Ihr solltet wirklich möglichst bald einen Adoptionsantrag stellen. Wir freuen uns auf ein Enkelkind, und es ist uns auch egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein wird. Bei einem leiblichen Kind kann man sich schließlich auch nicht aussuchen, was man haben möchte. Aber ihr solltet schon darauf achten, dass euer Kind aus vernünftigen Verhältnissen stammt. Die Erbanlagen sind nicht zu unterschätzen. Bei einem Kind, dessen Eltern aus der Drogenszene oder einem kriminellen Umfeld stammen, hätte ich doch gewisse Bedenken. Wer weiß, welche Eigenschaften so ein Kind geerbt hat, die ihr auch mit der besten Erziehung nicht auslöschen könnt.«
»Ich weiß gar nicht, ob man etwas über die Verhältnisse erfährt, aus der ein Adoptivkind stammt«, murmelte Linda nachdenklich. »Damit habe ich mich bisher noch nicht beschäftigt.«
»Ein paar Informationen werdet ihr sicher bekommen können«, meinte Thorsten. »Man muss euch ja nicht unbedingt Namen und die persönlichen Werdegänge der Eltern mitteilen. Aber ein paar grundlegende Dinge werdet ihr sicher erfahren können.
Manchmal muss man nur im richtigen Moment Fragen stellen, um Auskunft zu bekommen. Wir freuen uns jedenfalls über euren Entschluss. Vielleicht halten wir schon bald ein Baby in den Armen, das unser Enkelkind sein wird.«
Linda strahlte ihren Mann an. Auch sie wünschte sich nichts sehnlicher, als bald ein Kind zu haben. Es musste nicht unbedingt ein neugeborenes Baby sein. Ein Kind von ein oder zwei Jahren war ihr genauso willkommen. Endlich würde sie Mutter sein können und einem kleinen elternlosen Wesen ein Leben in einer intakten Familie bieten. Das ganze Haus würde von Kinderlachen und dem Trippeln kleiner Füße erfüllt sein. Etwas Schöneres konnte Linda sich nicht vorstellen. Ihr Mann dachte offensichtlich ebenso. Er griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. Die Vorfreude auf ein Kind war seinem Gesicht deutlich abzulesen.
*
Von allen Kindern war Romina freundlich aufgenommen worden. Jeder tröstete auf seine Weise das kleine Mädchen, das gerade erst seine Eltern verloren hatte. Fabio benötigte weniger Trost. Er hatte sich mit dem Bernhardiner Barri und der Dogge Anglos längst angefreundet und genoss das gemeinsame Spielen im Park. Die zahlreichen Kinderhände, die ihn zwischendurch immer wieder streichelten, machten sein Leben ebenfalls äußerst angenehm.
Heidi fand es wunderbar, dass nun ein Mädchen in Sophienlust wohnte, das nur zwei Monate älter war als sie. Ihr kam es fast so vor, als hätte sie eine Zwillingsschwester bekommen. Allein schon deshalb wich sie Romina nicht von der Seite und machte ihr die Eingewöhnung dadurch besonders leicht.
Wenn es abends dunkel wurde, versammelten sich Heidi, Kim und Romina regelmäßig im Wintergarten und schauten in den klaren Himmel. Kim hatte Romina den Stern gezeigt, auf dem nach seiner kindlichen Vorstellung seine Eltern jetzt wohnten. Es war ein besonders heller Stern, der auch für kleine Kinder leicht auszumachen war.
An diesem Abend hatten sich Pünktchen und Martin Felder zu den kleineren Kindern gesellt und betrachteten gemeinsam mit ihnen den Sternenhimmel.
»Wohnen eigentlich alle Eltern die gestorben sind, auf demselben Stern?«, wollte Romina wissen.
»Das weiß ich nicht so genau«, erwiderte Heidi und zog die Schultern hoch. »Aber die Eltern aller Kinder von Sophienlust wohnen dort. Das ist sicher.«
»Haben die denn dort genug Platz? So sehr groß sieht dieser Stern nicht aus. Das heißt, alle Sterne sehen nur aus wie kleine Punkte. Ein paar sind wirklich schön und sehr hell, aber eben nicht groß.«
»Das scheint nur so, weil die Sterne so furchtbar weit weg sind«, erklärte Pünktchen. »Jeder dieser Sterne ist mindestens so groß wie unsere Erde. Die meisten sind noch viel größer. Ihr habt das doch bestimmt auch schon oft festgestellt. Je weiter etwas entfernt ist, umso kleiner erscheint es. Erst wenn man näher herankommt sieht man, dass diese Dinge gar nicht so klein sind, wie sie vorher ausgesehen haben. Und diese Sterne sind alle unvorstellbar weit weg.«
»Ich weiß, wie ist das«, meldete Kim sich zu Wort. »Ich mal war mit Tante Isi auf Flughafen. Wir haben abgeholt Onkel Alexander. Wenn wir hier sehen Flugzeuge am Himmel, sie sehen aus ganz klein. Sind wie kleines Spielzeug. Aber auf Flughafen ich dann habe gesehen Flugzeuge auf Boden, direkt draußen vor Fenster. Waren ganz riesig. Ich ja auch bin gekommen mit Flugzeug nach Deutschland. Aber ich nicht mehr weiß, wie war das. Ich vergessen habe, wie groß sind Flugzeuge. Erst mit Tante Isi auf Flughafen ich habe richtig gemerkt, dass die sind riesig.«
Kim versuchte, mit seinen Armen eine gewaltige Spanne anzudeuten, und Martin bestätigte ihn. »Das ist richtig. In der Luft kann man die Größe von Flugzeugen nicht einschätzen. Erst wenn sie am Boden sind, kann man das richtig erkennen. So ist es mit den Sternen auch. Das heißt, sie bleiben immer weit weg. Auf der Erde hätten sie gar keinen Platz.«
Romina machte sich große Gedanken um ihre Eltern. »Wie können sich unsere Eltern denn miteinander unterhalten? Kims Eltern kommen aus Vietnam und sprechen eine andere Sprache. Sie können doch gar nicht verstehen, wenn meine oder Heidis Eltern ihnen etwas sagen wollen.«
»Doch, das können sie«, widersprach Pünktchen. »Weißt du, auf diesem Stern ist alles anders als auf der Erde. Sprachprobleme gibt es dort nicht. Jeder versteht die Sprache des anderen automatisch. Das braucht er gar nicht erst zu lernen.«
»Ist schön auf Stern«, meinte Kim seufzend. »Als ich bin gekommen nach Deutschland, ich musste ganz viel lernen. Zuerst ich habe verstanden gar nichts und sprechen ich konnte die komische Sprache auch nicht. Schade, dass auf Erde nicht ist so einfach wie auf Stern.«
»Da sagst du ein wahres Wort«, erklärte Martin im Brustton der Überzeugung. »Wenn das hier so einfach wäre, hätten wir keine Probleme mehr mit englischen Vokabeln. Wir könnten automatisch jede Sprache und würden nur noch Einser in der Schule schreiben. Das wäre eine tolle Sache, die uns das Leben viel leichter machen würde. Wir bräuchten nie wieder Vokabeln zu büffeln und Grammatik auch nicht.«
»Dann können Kims Eltern meinen Papa sogar verstehen, wenn er Italienisch spricht«, resümierte Romina. »Deutsch kann er auch sehr gut, aber manchmal spricht er gerne Italienisch, besonders, wenn er gerade einmal aufgeregt ist oder ganz schnell etwas erklären möchte.«
»Ja, alle verstehen ihn auch, wenn er Italienisch spricht«, bestätigte Pünktchen und blickte in den Nachthimmel. Gemeinsam betrachteten die Kinder schweigend den ausgewählten Stern.
Martin und Pünktchen wussten natürlich längst, dass verstorbene Eltern nicht auf einem Stern lebten. Aber sie hüteten sich, den jüngeren Kindern diese zauberhafte Vorstellung zu nehmen, die ihnen Trost bereitete und eine Menge Kraft geben konnte.
Es schadete nicht, wenn es da ein Märchen gab, an dem sie sich festhalten konnten. Wie wichtig dieser Halt für die Kinder war, stellten Martin und Pünktchen in diesem Augenblick ganz deutlich fest. Es lag ein Lächeln auf Rominas Gesicht, als sie zaghaft die Hand hob und ihren auf dem Stern wohnenden Eltern zuwinkte.
»Hallo, Mama und Papa. Ihr könnt mich bestimmt sehen, auch wenn ich euch nicht sehen kann. Ich bin jetzt in Sophienlust. Die Eltern der anderen Kinder haben euch bestimmt schon von dem Kinderheim erzählt. Es ist schön hier. Fabio und ich dürfen für immer bleiben. Das hat Tante Isi mir versprochen. Ihr braucht euch also keine Sorgen um mich zu machen, und hoffentlich seid ihr mir nicht böse, weil ich aus dem Fenster geklettert bin und doch bei Vanessa übernachtet habe. Ich weiß, dass ich das nicht tun durfte. Aber ich weiß auch, wie lieb ihr mich habt. Ich habe ja schon oft etwas angestellt, und ihr seid mir eigentlich nie richtig böse gewesen, wenn ich mich entschuldigt habe. Also, es tut mir leid, dass ich ausgerissen und zu Vanessa gegangen bin. Damit ist alles wieder in Ordnung, nicht wahr?«
Pünktchen und Martin wechselten einen vielsagenden Blick, der von den kleineren Kindern unbemerkt blieb. Rominas Entschuldigung rührte sie ebenso wie der feste Glaube des kleinen Mädchens, dass die Eltern nun nicht mehr böse waren. Gleichzeitig mussten die beiden auch daran denken, was passiert wäre, wenn Romina sich nicht ungehorsam gezeigt hätte. Dann wäre sie jetzt wahrscheinlich nicht in Sophienlust. Dann wäre alles anders und noch weitaus schlimmer gekommen.
*
Mit der Unterstützung der Behörden war es für Denise kein Problem gewesen, Rominas Angehörige ausfindig zu machen.
Etwa zweihundert Kilometer entfernt lebten ihre Großeltern. Barbara und Thorsten Ellinger besaßen dort ein recht bekanntes Hotel. Denise erfuhr, dass die beiden Leute über den Tod ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes bereits informiert waren. Allerdings war vorläufig versäumt worden, sie davon zu unterrichten, dass Romina den Brand überlebt hatte. Diese gute Botschaft wollte Denise den Großeltern nun selbst überbringen.
Bevor sie sich auf den doch recht weiten Weg machen, entschied sie, die Ellingers zunächst telefonisch zu unterrichten. Zwar wunderte sie sich ein wenig darüber, dass Romina bisher nie von Oma und Opa gesprochen hatte, doch das führte sie auf die Schocksituation zurück, unter der das Kind noch immer stand.
Nick war anwesend, als seine Mutter die Nummer der Ellingers wählte. Er wollte gerne Zeuge des Gespräches sein und freute sich schon darauf, dass ihnen eine freudige Nachricht überbracht werden konnte.
Thorsten Ellinger, der mit seiner Frau gerade über die Neugestaltung der Hotelhalle sprach, meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln. Verwirrt schüttelte er den Kopf, als Denise sich vorstellte und erklärte, dass sie vom Kinderheim Sophienlust aus anriefe.
»Zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, wie leid mir der Tod Ihrer Tochter und Ihres Schwiegersohnes tut«, erklärte sie. »Es ist ein schreckliches Unglück gewesen, das Sie sehr belasten muss. Aber ich habe auch eine gute Nachricht. Sie wissen es noch nicht, aber Ihre Enkeltochter Romina hat überlebt. Sie ist unverletzt und befindet sich mit ihrem Hund Fabio hier bei uns.«
Thorsten hatte den Lautsprecher des Telefons eingeschaltet, damit seine Frau mithören konnte. Barbaras Gesicht war nun ebenso erstaunt wie das ihres Mannes. Sie zog die Schultern hoch und schüttelte ratlos den Kopf.
»Entschuldigen Sie, Frau von Schoenecker, aber das muss ein Irrtum sein«, bemerkte Thorsten. »Die Sache mit dem Brand stimmt. Die Polizei hat uns darüber informiert. Aber es gibt keine Enkeltochter. Jedenfalls haben wir keine Ahnung von der Existenz eines Kindes.«
Jetzt war das Erstaunen auf Denises Seite, und auch Nick blickte verblüfft drein. »Das kann ich nicht ganz verstehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Romina Castello die Tochter von Jenny und Alessandro Castello ist. Jenny Castello war doch Ihre Tochter, nicht wahr?«
»Ja, sie ist unsere Tochter gewesen. Aber das ist lange her. Jenny hat sich gegen unsere Familie entschieden, und seit dieser Zeit war sie nicht mehr unsere Tochter.«
»Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, gestand Denise.
»Das glaube ich Ihnen. Es ist eine lange und traurige Geschichte, die sich allerdings in wenigen Sätzen zusammenfassen lässt. Wir haben zwei Töchter, Linda und ihre um vier Jahre jüngere Schwester Jenny. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir beide Kinder gleichermaßen geliebt haben. Während Linda sich sehr gut entwickelte, hat Jenny uns hingegen viele Sorgen bereitet. Sie war eigenwillig und stur. Trotzdem hat sie ihr Abitur geschafft und ein Studium begonnen. Aber sie hielt nur zwei Semester durch. Dann lernte sie bei einem Kirmesbesuch eine italienischen Schausteller kennen und hat sich in diesen Mann verliebt. Als wir ihr diese Verbindung untersagten, ist sie mit ihm praktisch durchgebrannt und von einem Kirmesplatz zum nächsten gereist. Ein halbes Jahr lang haben wir noch versucht, Jenny zur Vernunft zu bringen. Sie sollte nach Hause kommen und ihr Studium wiederaufnehmen. Das hat sie abgelehnt, und wir hatten keine andere Möglichkeit, als unsere Tochter aufzugeben. Seit mehr als acht Jahren haben wir nichts mehr von ihr gehört und auch keinen Wert mehr darauf gelegt.«
Denise fühlte Zorn in sich aufsteigen. Wie konnten Eltern ihr eigenes Kind verstoßen, nur weil sie mit der Wahl des Schwiegersohnes und der Weltanschauung nicht einverstanden waren? Doch hier ging es nicht um das Verhältnis, das die Ellingers zu ihrer Tochter Jenny gehabt hatten, und auch nicht darum, ihnen vorzuhalten, wie egoistisch und engstirnig ihre Einstellung war. Allein Romina und deren Zukunft standen im Vordergrund.
»Das Zerwürfnis zwischen Ihnen und Ihrer Tochter tut mir aufrichtig leid. Es ist immer schade, wenn eine Familie zerfällt. Aber hier gibt es ein kleines Mädchen, das seine Eltern verloren hat und trotz der ungünstigen familiären Verhältnisse Ihre Enkeltochter ist. Romina ist sieben Jahre alt und hat keinerlei Schuld auf sich geladen. Offensichtlich weiß sie bis jetzt nicht, dass sie Großeltern hat. Vielleicht wären Sie zumindest bereit …!«
»Nein, ich bin zu gar nichts bereit«, unterbrach Thorsten. »Wenn dieses Kind nicht weiß, dass es Großeltern hat, sollte das auch so bleiben. Unsere Tochter Jenny existiert für uns schon lange nicht mehr. Erst durch die Polizei haben wir jetzt erfahren, dass sie diesen Alessandro Castello wohl tatsächlich geheiratet und seinen Namen getragen hat. Mehr brauchen wir über Jenny nicht zu erfahren, und dieses Kind, dass sie mit einem italienischen Kirmesbudenbesitzer in die Welt gesetzt hat, geht uns nichts an. Mit einem Kind aus solchen Verhältnissen wollen wir nichts zu tun haben. Ich nehme an, dass sich das Jugendamt um das Waisenkind kümmern und für seine Unterbringung sorgen wird.«
»Selbstverständlich ist für Romina gesorgt«, bestätigte Denise. »Sie kann hier bei uns in Sophienlust bleiben und behütet aufwachsen. Aber der Kontakt zu Verwandten ist für Kinder, die ein so schweres Schicksal erlebt haben, trotzdem sehr wichtig. Wollen Sie ein unschuldiges kleines Mädchen wirklich für das büßen lassen, was Ihnen Ihre Tochter angetan hat? Ich kann mich gerne in ein paar Tagen noch einmal bei Ihnen melden, wenn Sie in Ruhe über die Situation nachgedacht und vielleicht auch mit Ihrer Frau darüber gesprochen haben.«
»Meine Frau und ich sind einer Meinung, daran wird sich auch nichts ändern«, erwiderte Thorsten frostig. »Ein erneuter Anruf würde zu nichts führen. Wir haben kein Enkelkind, jedenfalls keins, das wir in irgendeiner Form akzeptieren könnten. Ich bin mit den gesetzlichen Regelungen auf diesem Gebiet nicht vertraut. Möglicherweise kann man uns für den Unterhalt dieses Mädchens zur Verantwortung ziehen. Wenn das der Fall ist, können wir uns leider nicht dagegen wehren. Falls man Unterhaltszahlungen von uns verlangt, werden wir wahrscheinlich automatisch informiert. Ich denke nicht, dass wir dann einen Rechtsstreit führen werden. Das tun wir aber nur deshalb nicht, weil es uns zu lästig ist und weil wir durch Unterhaltsleistungen nicht spürbar ärmer werden. Kontakte zu dieser Tochter eines italienischen Taugenichts lehnen wir jedoch kategorisch ab. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und ich möchte diesbezüglich auch nicht noch einmal behelligt werden.«
Denise sah ein, dass sie auf verlorenem Posten stand. Sie hätte mit Engelszungen auf Thorsten Ellinger einreden können, und doch wäre es unmöglich gewesen, etwas zu erreichen. Die Ellingers verabscheuten ihre Tochter und alles, was mit ihr zu tun hatte, abgrundtief. Das schwere Schicksal eines kleinen Mädchens berührte sie in keiner Weise. Mitgefühl war für diese Menschen ein Fremdwort. Deshalb verabschiedete Denise sich und legte auf.
»Was sind das nur für Menschen?«, fragte Nick erschüttert und schüttelte verständnislos den Kopf. »Niemand hat erwartet, dass die Ellingers Romina mit offenen Armen empfangen und augenblicklich in ihre Herzen schließen würden. Aber dieses Verhalten ist unglaublich. Derartiges habe ich noch nie erlebt.«
»Ich schon«, entgegnete Denise lächelnd. »Allerdings muss ich gestehen, dass es höchst selten vorgekommen ist, und das ist auch gut so. Wenn alle Menschen so wären, würden wir in einer Welt leben, deren Härte und Kälte niemand ertragen könnte. Zum Glück scheint Romina nichts von der Existenz ihrer Großeltern zu wissen. Deshalb kann sie unter deren Abneigung nicht noch zusätzlich leiden.«
»Das wäre wirklich schlimm. Ich glaube, wir sollten ihr gar nicht erzählen, dass es da noch Verwandte gibt. Es ist für sie besser, wenn sie es nicht erfährt. Oder sind wir etwa gesetzlich verpflichtet, sie darüber in Kenntnis zu setzen? Das kann nicht hilfreich für sie sein.«
»Die verwandtschaftlichen Verhältnisse müssen dokumentiert werden. Das ist allein schon deshalb nötig, weil Romina gegenüber ihren Großeltern einen Erbanspruch hat. Aber bis dieser Erbfall eintritt, wird noch eine Menge Zeit verstreichen.« Denise seufzte. »Vermutlich ist sie bis dahin erwachsen. Vorläufig braucht Romina nichts zu erfahren. Du hast ganz recht. Das ist besser für sie. Die Kleine hat es schwer genug, auch wenn sie sich inzwischen bei uns schon prima eingelebt hat. Sie soll nicht unnötig belastet werden. Also erwähne das Gespräch mit den Großeltern auch den anderen Kindern gegenüber nicht. Sie könnten sich unbeabsichtigt verplappern.«
»Kein Wort kommt über meine Lippen«, versprach Nick. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Noch immer war Nick völlig fassungslos. Thorsten Ellingers harte Worte klangen noch in ihm nach. Dieser Mann hatte es nicht einmal für nötig befunden, auch nur einmal den Namen seiner Enkeltochter zu erwähnen. Durch die Abneigung gegenüber seiner Tochter schien er auch die Enkelin regelrecht zu hassen, obwohl er sie überhaupt nicht kannte.
Nick fragte sich, wie seine Eltern wohl reagieren würden, wenn er eine Beziehung mit einer italienischen Schaustellerin eingehen würde. Natürlich plante er nichts dergleichen. Es war nur diese interessante Frage, die ihm durch den Kopf ging. Vermutlich würden sie nicht sofort begeistert sein, aber doch eingehend prüfen, ob er mit dieser Frau glücklich werden könnte. Wenn ihnen dann klar wurde, dass aufrichtige Liebe von beiden Seiten im Spiel war, würden sie seine Entscheidung akzeptieren. Statt ihn aus der Familie zu verbannen, würden sie ihm und seiner großen Liebe alles Glück dieser Welt wünschen, und ein Enkelkind wäre ihnen jederzeit willkommen.
Arme kleine Romina, dachte Nick. Das Schicksal hatte ihr die Eltern genommen. Trotzdem hatte sie noch Familienangehörige.
Doch von denen durfte sie nicht erfahren. Vielleicht war das in jeder Hinsicht besser so. In Nick kochte der Zorn. Eine so nette Enkeltochter wie Romina hatten die Ellingers überhaupt nicht verdient!
*
Thorsten und Barbara Ellinger hatten ihre Tochter Linda und ihren Schwiegersohn über den Tod von Jenny und Alessandro Castello informiert. Die beiden jungen Leute waren erschüttert und machten sich gleich auf den Weg zu den Ellingers. Sie wohnten etwa sechzig Kilometer weit entfernt. Nach ihrer Meinung war der Tod zweier Menschen Anlass genug, noch einmal in Ruhe über alles zu sprechen. Linda und Daniel machten sich Vorwürfe, weil sie in den vergangenen Jahren nie versucht hatten, Kontakt zu Jenny aufzunehmen. Das schlechte Verhältnis zu den Eltern hätten sie zwar nicht in Ordnung bringen können. Aber möglicherweise wäre es ihnen gelungen, wenigstens eine lockere Verbindung zu halten. Stattdessen hatten sie beiden ihr Leben gelebt und nicht weiter über die familiären Verhältnisse nachgedacht. Jetzt fühlten sie sich schuldig und wollten in Erfahrung bringen, ob es den Eltern vielleicht ähnlich erging.
Thorsten und Barbara freuten sich, als Tochter und Schwiegersohn unerwartet erschienen. Sie baten die beiden sofort in ihre Wohnung, die im Seitenflügel des Hotels lag, und ließen sich aus der Küche Kaffee und Torte bringen. Linda liebte die geräumige Wohnung ihrer Eltern. Besonders das riesig anmutende Wohnzimmer, dessen bodentiefe Fenster den Blick in den Hotelpark freigaben, gefiel ihr. Einen Moment lang genoss sie diesen herrlichen Blick, bevor sie zum Thema kam: »Wir finden es schrecklich, dass Jenny und ihr Mann ums Leben gekommen sind. Obwohl ich seit Jahren keine Verbindung mehr zu ihr hatte, kann ich es noch immer nicht so recht begreifen, dass Jenny nicht mehr da ist.«
Barbara nickte. »Ich kann dich gut verstehen. Für uns Eltern ist das auch schwer zu begreifen. Aber wir haben von Anfang an gespürt, dass die Verbindung mit Alessandro Castello unter keinem guten Stern stand. So eine Katastrophe war eigentlich abzusehen. Wer sein Leben lang in einem billigen Wohnwagen unter unwürdigen Verhältnissen haust, muss damit rechnen, dass irgendwann einmal alles in Flammen aufgeht.«
»Das sind Vorstellungen aus längst vergangenen Zeiten«, bemerkte Daniel. »Die Wohnmobile der Schausteller sind heute nicht mehr billig und bieten allen nur denkbaren Komfort. Oft sind es bewegliche Einfamilienhäuser, die keine Wünsche offen lassen. Unwürdig sind die Verhältnisse jedenfalls nicht.«
»Mag schon sein«, gab Thorsten zu. »Aber das ganze Milieu ist indiskutabel. Wer will schon ständig mit seinem Haus herumreisen und es irgendwo auf schlammigen Plätzen und versumpften Wiesen stehen haben? Das ist doch kein Leben. Und in diese Verhältnisse werden dann auch noch Kinder hineingeboren, deren Heimat ungepflegte Kirmesplätze sind. Was soll aus so einem Kind denn werden? Sie können noch nicht einmal eine vernünftige Schule besuchen und lernen nichts. Am Ende gehen sie denselben Weg wie ihre Eltern und werden verkrachte Existenzen, die sich mit einem Fahrgeschäft gerade so über Wasser halten können. Vielleicht hat die Tochter von Jenny und diesem Italiener jetzt mehr Glück. Im Kinderheim wird man schon dafür sorgen, dass sie etwas lernt und vernünftig erzogen wird.«
Linda und Daniel saßen da wie vom Donner gerührt. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiederfanden.
»Jenny und Alessandro hatten ein Kind?«, fragte Linda fassungslos. »Und dieses kleine Mädchen ist bei dem Feuer nicht ums Leben gekommen? Davon habt ihr uns noch gar nichts erzählt! Warum habt ihr uns das bisher verschwiegen? Das verstehe ich nicht.«
»Wir haben es selbst gestern erst erfahren. Die Leiterin eines Kinderheims aus Wildmoos hat uns angerufen und uns mitgeteilt, dass sich das Mädchen in ihrer Obhut befindet. Ich glaube, das Kinderheim heißt Sophienlust oder so ähnlich. Aber das spielt keine Rolle. Es ist auch völlig egal, ob Jenny und ihr Partner ein Kind miteinander hatten. Warum sollten wir euch unwichtige Dinge mitteilen?«
»Also, ich finde das überhaupt nicht unwichtig«, ließ Daniel sich vernehmen. »Dieses kleine Mädchen tut mir unendlich leid. Ich darf gar nicht daran denken, was es durchmachen musste und wie traurig und verzweifelt es jetzt sein muss. Wie heißt die Kleine denn, und wie alt ist sie?«
»Ich glaube, Frau von Schoenecker hat erwähnt, dass das Kind sieben Jahre alt ist. Es heißt Ramona, Rabea oder so ähnlich.«
»Romina«, berichtigte Barbara ihren Mann. »Das ist der Name des Mädchens. Ich war bei dem Telefonat anwesend und habe es verfolgen können.«
»Und was wird jetzt aus der armen kleinen Romina?«, wollte Linda wissen. »Wollen wir nicht in dieses Kinderheim fahren und sie besuchen?«
»Auf keinen Fall!«, erwiderte Thorsten barsch. »Ich glaube, das ist auch das Ansinnen der Heimleiterin gewesen. Deshalb hat sie mich angerufen. Aber ich habe ihr sofort deutlich erklärt, dass wir mit diesem Kind nichts zu tun haben wollen. Im Kinderheim ist es bestens aufgehoben, und dort soll es auch bleiben. Der Nachwuchs von Jenny und diesem Alessandro interessiert uns in keiner Weise. Vermutlich spricht das Mädchen ohnehin nur italienisch und würde uns gar nicht verstehen. Bisher haben wir nichts von diesem Kind gewusst.« Er hob die Stimme. »Wir verlieren also nichts, wenn es auch in Zukunft keinen Platz in unserem Leben hat. Es gibt für uns kein Enkelkind und damit basta. Wenn ihr euren Adoptionsantrag gestellt und ein Kind bekommen habt, dann werden wir ein richtiges Enkelkind haben. Das soll uns genügen.«
»Papa, das kannst du doch nicht machen, und du auch nicht, Mama«, meinte Linda entsetzt. »Was kann dieses bedauernswerte kleine Geschöpf denn dafür, dass ihr mit Jenny gebrochen habt? Romina ist ein Kind, ein hilfloses und unschuldiges kleines Kind. Es braucht Menschen, die ihm zur Seite stehen. Das Leben in einem Kinderheim ist bestimmt kein Zuckerschlecken. Wir müssen etwas für Romina tun. Das ist unsere Pflicht.«
Barbara seufzte hörbar auf. »Pflicht hin oder her. Wir müssen auch an uns denken. Romina ist sieben Jahre alt. Bis jetzt ist sie zwischen Wohnwagen und Kirmesbuden aufgewachsen. Positiv kann sie sich dabei wohl kaum entwickelt haben. Wir wollen uns aber nicht um ein Problemkind kümmern müssen. Kinderheime und Waisenhäuser sind nicht so schlimm, wie man es immer wieder in Märchenbüchern liest. Den Kindern geht es dort gut. Sie benötigen keine Hilfe von außen.«
»So ist es«, bestätigte Thorsten. »Nichts auf der Welt kann mich dazu bringen, Kontakt zu diesem Kind aufzunehmen. Ihr solltet das auch auf jeden Fall bleiben lassen. Euer Mitgefühl in Ehren, aber ihr tätet euch damit nichts Gutes. Vergesst einfach, dass Jenny ein Kind hatte. So halten wir es auch. Denkt lieber an das kleine Wesen, das ihr demnächst in die Familie aufnehmen werdet.«
Im Augenblick waren weder Daniel noch Linda in der Lage, an die geplante Adoption zu denken. Dazu waren sie über die Nachricht, dass Jenny und Alessandro ein Kind hinterlassen hatten, viel zu berührt. Gleichzeitig konnten sie nicht begreifen, dass Thorsten und Barbara jeglichen Kontakt zu dem kleinen Mädchen ablehnten. Es interessierte sie nicht einmal, ob Romina gut untergebracht war. Nicht einmal das wollten sie nachprüfen. Das Enkelkind existierte für sie einfach nicht! Ein solches Maß an Kälte und Hartherzigkeit konnten Linda und Daniel nicht begreifen.
Was sie selbst unternehmen wollten, konnten sie beide noch nicht sagen. Was sie eben erfahren hatten, mussten sie erst einmal verarbeiten. Auf jeden Fall versprachen sie aber nicht, keinen Kontakt zu Romina aufzunehmen.
*
Die meisten Kinder, die nach dem Tod ihrer Eltern nach Sophienlust kamen, litten viele Wochen oder Monate sehr stark unter dem erlittenen Verlust. Auch Romina trauerte um ihre Eltern. Aber es gab zwei Dinge, die sie unglaublich aufbauten: Da war Fabio, den Romina aus ihrem alten Leben mitgebracht hatte und der sich als treuer Freund erwies. Wenn das kleine Mädchen traurig wurde, wich er nicht von ihrer Seite, schleppte Spielzeug herbei und versuchte, Frohsinn zu verbreiten. Fast immer gelang ihm das auch. Außerdem war da dieser helle Stern, auf dem Romina ihre und auch die verstorbenen Eltern der anderen Kinder vermutete. Sie konnte ihre Eltern zwar nicht mehr sehen und ihre Nähe nicht erleben. Aber sie musste auch nicht endgültig Abschied nehmen. Es verging kein Tag, an dem Romina nicht nach draußen oder in den Wintergarten ging, den Stern betrachtete und ihren Eltern erzählte, was sie an diesem Tag in Sophienlust so alles erlebt hatte. Diese Monologe halfen ihr ungeheuer, ihr schweres Schicksal zu verarbeiten.
Kein Psychologe hätte mehr erreichen können.
Pünktchen hatte Romina an diesem Tag mit zu den Pferden genommen. Die großen Pferde waren noch etwas zu mächtig für die kleine Romina. Auch wenn sie fast alle schon etwas älter und ohnehin sehr gutmütig waren, reichte die Kraft einer Siebenjährigen noch nicht aus, diese Tiere zu beherrschen.
Pünktchen hatte ein Pony ausgewählt. Der zwölfjährige kleine Schimmelwallach Sancho gefiel Romina ausnehmend gut. Winzig war er zwar auch nicht, aber doch so klein, dass allein schon das Aufsteigen mit relativ wenig Mühe gelang. Auf dem Reitplatz drehte Sancho mit Romina auf seinem Rücken brav seine Runden. Pünktchen zeigte dem Mädchen, wie man richtig in einem Sattel saß und wie man die Zügel halten musste. Sogar im Trab hielt Romina sich erstaunlich gut und war nach ihrer ersten Reitstunde richtig stolz. Unter Pünktchens Anleitung sattelte sie Sancho ab und reichte ihm eine dicke Möhre als Belohnung.
»Auf der Kirmes durfte ich auch manchmal reiten«, berichtete das kleine Mädchen. »Aber das war viel langweiliger als hier. Es geht immer nur in einem kleinen Kreis herum, und man lernt nicht viel dabei. Hier ist viel mehr Platz, und mit Sancho macht es großen Spaß. Er ist ein liebes Pony. Ich mag ihn sehr.«
»Ich glaube er mag dich auch«, meinte Pünktchen. »Weißt du, Sancho ist zwar nett und freundlich, aber manchmal kann er auch ziemlich stur sein. Dann bleibt er einfach stehen und bewegt sich keinen Schritt mehr. Damit hat er schon mehrere Kinder zur Verzweiflung gebracht. Bei dir hat er sich nicht stur gezeigt. Das beweist, dass er dich mag und dir keinen Ärger machen will. Wenn du Lust hast, darfst du ihn morgen wieder reiten. In ein paar Tagen, wenn du ein bisschen sicherer geworden bist, kannst du mit ihm vielleicht sogar schon galoppieren.
»Au ja, das wäre schön. Darauf freue ich mich schon.«
Glücklich wanderte Romina neben Pünktchen den Weg entlang, der von der Weide zum Herrenhaus führte. Plötzlich blieb sie stehen und blickte zum Himmel.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte Pünktchen sich und folgte Rominas Blick. »Was ist denn da oben? Ich kann nichts entdecken.«
»Ich auch nicht. Das ist ja das Blöde. Weißt du, ich würde meinen Eltern gerne sofort erzählen, dass ich auf Sancho reiten durfte. Aber es ist noch viel zu hell. Der Stern ist noch nicht da. Nun muss ich noch lange warten, bis ich mit ihnen reden kann.«
Pünktchen legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens.
»Nein, das musst du nicht. Der Stern ist immer da. Du kannst ihn nur nicht sehen, weil es viel zu hell ist. Trotzdem kannst du deinen Eltern alles erzählen. Außerdem kann es sein, dass sie sowieso schon alles wissen. Vielleicht hatten sie gerade Zeit und haben dir zugeschaut. Das weiß man aber nie so genau. Möglicherweise waren sie auch gerade beschäftigt. Der Stern ist jedenfalls da, auch wenn du ihn nicht siehst. Du kannst jederzeit mit deinen Eltern sprechen.«
Romina dachte einen Moment lang nach. »Stimmt, der Stern muss ja immer da sein. Wenn er tagsüber verschwinden würde, wäre das schrecklich. Dann würden meine Eltern und all die anderen Eltern einfach herunterfallen. Das wäre bestimmt nicht gut.«
»Stimmt, das gäbe ein heilloses Durcheinander und eine Purzelei durch das Weltall«, erwiderte Pünktchen lachend. Romina stimmte in das Lachen ein und lief voraus. Sie stieg die Freitreppe zum Hauptportal hinauf, nahm auf der obersten Stufe Platz und schaute zum Himmel. Ihr Blick richtete sich dorthin, wo sie den Stern vermutete. Dann begann sie zu erzählen, berichtete von ihrer ersten Reitstunde und von Sancho, den sie auf Anhieb in ihr Herz geschlossen hatte. Pünktchen ging an dem Mädchen vorbei und verschwand im Haus. Ihre Anwesenheit hätte jetzt nur gestört. Romina sollte ihren Eltern in aller Ruhe ihr vor Glück volles kleines Herz ausschütten können.
*
Nach dem Besuch bei Thorsten und Barbara Ellinger waren Linda und Daniel sehr nachdenklich nach Hause zurückgekehrt. Der Gedanke an Romina beschäftigte sie, und sie waren beide der Ansicht, dass das kleine Mädchen nicht einfach seinem Schicksal überlassen werden durfte. Auch wenn Linda zu ihrer Schwester jahrelang keine Verbindung mehr gehabt hatte, war Romina doch ein blutsverwandtes Kind.
»Ich möchte Romina gerne besuchen und mich davon überzeugen, dass sie in guten Händen ist«, meinte Linda. »Eigentlich möchte ich noch viel mehr für die Kleine tun. Aber zunächst will ich sie einmal sehen.«
»Das ist auch mein Wunsch«, gestand Daniel. »Allerdings wird deinen Eltern das überhaupt nicht gefallen. Offen gestanden war ich über ihre Haltung entsetzt. Ich hätte nie gedacht, dass Menschen so eiskalt sein können. Wenn wir Romina jetzt besuchen und deine Eltern davon etwas erfahren, werden wir es uns möglicherweise mit ihnen verderben. Aber können wir es uns leisten, darauf Rücksicht zu nehmen? Dieses kleine Mädchen würde uns doch niemals aus dem Kopf gehen. Wahrscheinlich würden wir uns unser Leben lang Vorwürfe machen, wenn wir jetzt keinen Kontakt aufnehmen.«
»Das stimmt, und deshalb werden wir etwas unternehmen. Meine Eltern brauchen davon ja nichts zu erfahren. Ich war übrigens auch schockiert. Wie sehr müssen sie Jenny gehasst haben, dass sie nun auch noch ein unschuldiges Kind leiden lassen wollen. Eigentlich hat Jenny gar nichts Böses getan. Sie hat sich nur nicht so entwickelt, wie meine Eltern es von ihr erwartet haben. Sie hat nicht so funktioniert, wie sie es wollten. Schade, dass ich mich mit diesem Gedanken nicht schon vor Jahren intensiver beschäftigt habe. Dann hätte ich Verbindung zu meiner Schwester halten können.« Sie seufzte. »Das hätte ich auch heimlich, ohne das Wissen meiner Eltern tun können. Nun ist es zu spät. Aber für Jennys und Alessandros Tochter können wir wenigstens etwas tun.«
»Ich habe mir gemerkt, was dein Vater gesagt hat«, bemerkte Daniel. Das Kinderheim heißt Sophienlust und liegt in einem Ort mit dem Namen Wildmoos. Die Heimleiterin heißt von Schoenecker. Diese Informationen müssten ausreichen, um das Kinderheim ausfindig zu machen. Ich denke, wir werden uns gleich in den nächsten Tagen mit diesem Kinderheim in Verbindung setzen und um einen Besuchstermin bitten.«
Lindas Augen strahlten. »Genau das machen wir. Vorhin kam mir ein ganz verwegener Gedanke: Es wäre doch möglich, dass wir Jennys Tochter zu uns nehmen und für sie sorgen.
Sie ist zwar nicht unbedingt das Baby, von dem wir immer geträumt haben, aber sie ist noch klein. Vor allen Dingen braucht sie Hilfe.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, gestand Daniel. »Aber da gibt es eine Menge Probleme. Wir wollen ein Kind adoptieren, also ein Kind haben, das uns niemand mehr nehmen kann. Ich weiß nicht, ob das bei Romina möglich ist. Ich kenne die gesetzlichen Bestimmungen nicht. Außerdem wissen wir nicht, ob die Kleine zu uns passt. Vielleicht mag sie uns überhaupt nicht. Möglicherweise stellen wir auch fest, dass wir keine gute Verbindung zu ihr finden. Dann sind da noch deine Eltern. Sie würden uns lynchen, wenn wir Jennys Tochter adoptieren würden. Mit ihnen möchte ich es mir auch nicht unbedingt verderben. Es gibt unendlich viele Fragezeichen bei diesem Vorhaben.«
»Dann müssen wir eben eins nach dem anderen aus dem Weg räumen. Die schwierigste Hürde stellen meine Eltern dar. Aber wir können Romina nicht ihrem Hass opfern. Irgendwann müssen sie einfach begreifen, dass Romina ein ganz normales Waisenkind ist, wie alle anderen auch, und dass sie keine Schuld auf sich geladen hat. Ich weiß noch nicht, wie wir meine Eltern zur Vernunft bringen können. Aber irgendwie werden wir das schaffen. Wir müssen es schaffen. Ich möchte nicht auch noch von meinen Eltern verstoßen werden, so wie es Jenny passiert ist.«
Daniel stützte seinen Kopf in die Hände. »Einen Eisberg zum Schmelzen zu bringen wird wahrscheinlich einfacher sein, als deine Eltern zur Vernunft zu bringen. Trotzdem werden wir etwas unternehmen und die kleine Romina zumindest erst einmal besuchen. Sie muss ja nicht unbedingt sofort erfahren, wer wir sind und welche Pläne uns durch die Köpfe gehen. Ich rufe diese Frau von Schoenecker gleich morgen an und bitte sie um einen Besuchstermin.«
»Vielleicht will sie gar nicht, dass wir Kontakt zu Romina aufnehmen«, meinte Linda entmutigt. »Immerhin hat sie sich schon mit meinen Eltern unterhalten und muss einen denkbar schlechten Eindruck von ihnen bekommen haben. Möglicherweise hält sie es nun für besser, dass Romina nicht weiter mit Teilen ihrer Familie konfrontiert wird. Verdenken könnte ich Frau von Schoenecker eine solche Reaktion nicht.«
»Mach dir keine Gedanken um Dinge, die möglicherweise geschehen könnten«, meinte Daniel. »Du weißt doch, dass man sich nicht um ungelegte Eier kümmern sollte. Nach dem Telefongespräch morgen wissen wir mehr, und vielleicht können wir die Kleine schon übermorgen sehen.«
Als Linda sich vorstellte, dass sie demnächst das Kind ihrer Schwester, von dem sie bis jetzt nichts gewusst hatte, bald zu Gesicht bekommen würde, beschlich sie ein seltsames Gefühl. Vielleicht sah die Kleine ihrer Mutter sehr ähnlich oder hatte dieselben Eigenschaften und Neigungen, die Jenny als Kind gehabt hatte. Kein Mensch konnte das im Augenblick sagen.
Linda freute sich darauf, Romina zu sehen und hoffte, dass Frau von Schoenecker mit einem Besuchstermin einverstanden war, auch wenn die Großeltern des Mädchens sich nicht sonderlich sympathisch gezeigt hatten.
*
Linda und Daniel ahnten nicht, dass sie großes Glück hatten, als sie am nächsten Tag in Sophienlust anriefen. Sie taten dies unmittelbar nach dem Frühstück. Um diese Zeit war Denise meistens noch nicht im Kinderheim. Normalerweise frühstückte sie in Ruhe mit ihrer Familie in Gut Schoeneich, bevor sie über die schmale Privatstraße nach Sophienlust fuhr. An diesem Tag jedoch war sie früher dort angekommen. Sebastian, ein kleiner Junge, der eine Woche in Sophienlust verbracht hatte, weil seine Eltern eine Geschäftsreise unternehmen mussten, sollte heute abgeholt werden. Es gehörte zu Denises Gewohnheiten, sich in solchen Fällen persönlich von diesen Kindern zu verabschieden und auch ein paar Worte mit deren Eltern zu wechseln.
Mit dieser Tradition wollte Denise auch bei dem vierjährigen Sebastian nicht brechen. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass sie am Telefon verlangt wurde. Frau Rennert teilte ihr mit, dass sie jemand persönlich sprechen wolle.
»Verwandte von Romina sind am Telefon«, erklärte Frau Rennert. »Aber es handelt sich nicht um die Großeltern, sondern um Onkel und Tante. Sie scheinen weitaus zugänglicher zu sein als Oma und Opa der Kleinen. Was für ein Anliegen sie haben, wollten sie mir aber nicht mitteilen.«
Denise zog die Augenbrauen hoch. Von der Existenz einer Tante und eines Onkels hatte sie bisher noch keine Kenntnis. Trotzdem war sie sofort bereit, sich mit den beiden zu unterhalten. Schon als Daniel sich vorstellte, bemerkte Denise, dass ein Gespräch mit diesen Leuten offensichtlich wesentlich einfacher und angenehmer zu führen war als mit Rominas Großeltern.
»Es tut mir leid, dass Sie von meinen Schwiegereltern einen schlechten Eindruck bekommen haben müssen«, entschuldigte Daniel sich sofort. »Wir beide verstehen deren Haltung nicht, übrigens hört meine Frau mit und kann sich auch an dem Gespräch beteiligen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinn.«
»Dagegen habe ich nichts. Romina ist ebenso die Nichte Ihrer Frau wie Ihre. Was kann ich denn für Sie tun?«
»Nun ja, wir haben uns über das kleine Mädchen unterhalten und würden es gerne besuchen. Diese Idee entspringt nicht reiner Neugier. Eigentlich möchten wir noch viel mehr für Romina tun, als sie nur zu besuchen. Doch das würden wir gerne vor Ort mit Ihnen besprechen. Ich hoffe, dass Sie einen Besuch zulassen.«
»Das hoffen wir beide«, fügte Linda hinzu. »Frau von Schoenecker, das Verhalten meiner Eltern ist uns wirklich überaus peinlich. Ich möchte mich ganz herzlich für die beiden entschuldigen.«
»Das ist nicht nötig«, erwiderte Denise. »Ihre Eltern sind erwachsene Menschen. Was sie tun oder nicht tun, haben sie selbst zu verantworten. Sie brauchen sich wirklich für nichts zu entschuldigen. Selbstverständlich können Sie Ihre Nichte besuchen. Allerdings hat die Kleine keine Ahnung von Ihrer Existenz. Ich selbst habe bis vor wenigen Minuten noch nicht gewusst, dass es Sie gibt. Es wäre vielleicht nicht günstig, wenn ich Romina nun darauf vorbereite, dass Onkel und Tante herkommen werden. Das könnte sie im Augenblick etwas überfordern. Wenn Sie damit einverstanden sind, kommen Sie einfach als ganz normale Besucher, die sich Sophienlust ansehen wollen. Das ist erst einmal unverfänglich, und bei dieser Gelegenheit können Sie Romina sehen, Kontakt aufnehmen und sich ganz zwanglos mit ihr unterhalten. Natürlich stehe ich Ihnen für Gespräche auch jederzeit zur Verfügung.«
»Das ist schön«, bemerkte Daniel. »Am liebsten würden wir schon morgen nach Sophienlust kommen. Wäre das möglich?«
»Selbstverständlich. Allerdings schlage ich den Nachmittag vor. Vormittags sind die Kinder in der Schule. Auch Romina besucht seit einigen Tagen hier in Wildmoos die Grundschule. Mittags ist sie aber wieder hier.«
»Wir geht es der Kleinen eigentlich?«, wollte Linda wissen. »Leidet sie sehr unter dem Tod ihrer Eltern? Das muss doch eine ganz schreckliche Erfahrung für sie sein, die sie noch gar nicht verarbeiten kann.«
»Fast alle Kinder, die in Sophienlust leben, haben ihre Eltern verloren«, erklärte Denise. »Dieses gemeinsame Schicksal hilft Romina sehr. Kim und Heidi, unsere beiden Jüngsten, haben Romina sogar einen Weg gezeigt, wie sich alles leichter ertragen lässt. Natürlich leistet sie noch Trauerarbeit. Das wird auch noch eine ganze Weile so sein. Aber Romina ist nicht tief verzweifelt. Sie lacht sogar gern und viel. Davon werden Sie sich morgen persönlich überzeugen können. Ich freue mich auf Ihren Besuch.«
Als Denise auflegte, betrat Nick das Büro. »Nanu, so früh am Tag führst du schon Telefongespräche und das auch noch mit Rominas Onkel und Tante?«
»Woher weißt du denn, mit wem ich telefoniert habe? Du wirst doch nicht gelauscht haben, mein Sohn. Oder habe ich bei deiner Erziehung doch ein paar Fehler gemacht?«
»Nö, hast du nicht.« Nick grinste vergnügt. »Ich habe eben Frau Rennert getroffen, und die hat gepetzt. Aber jetzt bin ich wirklich neugierig. Was wollten diese Leute denn von dir? Haben sie dir ebenfalls erklärt, dass sie mit Romina nichts zu tun haben wollen? Bei diesen Großeltern würde es mich nicht wundern, wenn Onkel und Tante aus demselben Holz geschnitzt wären.«
Denise lächelte ihren Sohn verständnisvoll an. »In dieser Hinsicht fehlt dir noch etwas Lebenserfahrung. Jeder Mensch ist ein individuelles Wesen. Auch bei Menschen, die eng miteinander verwandt sind, darf man nicht von einer Person auf eine andere schließen. Oft sind Familienmitglieder sich einig. Aber das ist nicht immer der Fall. Man muss sich stets vor Vorurteilen hüten.«
»Ich glaube, das ist ein guter Ratschlag. Menschen sind wirklich oft recht verschieden. Willst du damit sagen, dass Onkel und Tante nicht unbedingt negativ reagiert haben?«
Denise nickte. »Ja, so ist es. Sie möchten ihre Nichte sogar besuchen und haben sogar davon gesprochen, dass sie noch mehr für das kleine Mädchen tun wollen. Was sie damit meinten, weiß ich im Augenblick noch nicht. Aber sie sind zumindest an Romina und deren Wohlergehen interessiert. Ich habe ihnen vorgeschlagen, dass der erste Besuch zwanglos und anonym verlaufen soll. Damit waren beide sofort einverstanden. Morgen werden die Marbachs nach Sophienlust kommen.«
»Morgen schon? Dann scheinen sie es wirklich eilig zu haben. Also, ich bin schon richtig gespannt auf diese beiden Leute. Wenigstens sie scheinen ein bisschen menschlicher zu sein als Rominas Großeltern. Vielleicht bleibt sie dann ja doch nicht für immer in Sophienlust. Onkel und Tante wären möglicherweise gute Ersatzeltern.«
»Möglicherweise«, bestätigte Denise. »Aber darüber sollten wir uns im Moment noch nicht die Köpfe zerbrechen. Du weißt selbst, dass der Entschluss, ein Kind bei sich aufzunehmen, das gesamte Leben verändert. Eine solche Entscheidung will gut überlegt sein. Ob die Marbachs sich überhaupt mit diesem Gedanken beschäftigt haben, weiß ich nicht. Vielleicht wollen sie nur eine lockere Verbindung zu ihrer Nichte halten und ihr ab und zu eine kleine Freude bereiten. Allein das wäre für Romina schon ein großes Glück. Sie wäre dann zwar eins unserer Dauerkinder, hätte aber außerdem noch eine Verbindung zu ihren Verwandten.«
»Schlecht wäre auch das nicht«, gab Nick zu. »Aber warten wir ab. Morgen werden wir erfahren, wie die Marbachs sich die Sache vorstellen. Einen Schaden wird Romina jedenfalls nicht erleiden. Selbst wenn Onkel und Tante keinen Gefallen an ihr finden und sich nach ihrem ersten Besuch nicht mehr melden, wird Romina nicht darunter leiden. Sie weiß ja nicht, dass die beiden ihre Verwandten sind, und knüpft keine Hoffnungen an diesen Besuch.«
»So ist es. Deshalb wollte ich ja auch nicht, dass sie sofort etwas über die verwandtschaftlichen Verhältnisse erfährt.«
Denise betrachtete ihren Sohn und musste unwillkürlich schmunzeln. Sie erkannte genau, dass es hinter seiner Stirn arbeitete. Zwar hatte er soeben selbst bemerkt, dass man bis zum nächsten Tag abwarten musste. Trotzdem machte er sich offensichtlich Gedanken, und das waren Gedanken, die Rominas Zukunft betrafen. Insgeheim hoffte er mit Sicherheit darauf, dass das kleine Mädchen bei Onkel und Tante ein liebevolles Zuhause finden würde. So war Nick eben. Er wünschte jedem Kind die allerbesten Aussichten und das Glück, eine richtige Familie zu finden. Andererseits trauerte er aber insgeheim um jedes Kind, das Sophienlust verließ. Er hätte sie alle zu gern in dieser geschützten Umgebung aufwachsen sehen und sie auf dem Weg zum Erwachsensein begleitet. Trotzdem stellte er seine eigenen Interessen zurück und dachte nur an das Glück der Kinder. Allein schon wegen dieser selbstlosen Eigenschaft war Denise stolz auf ihren Sohn.
*
Als Linda und Daniel sich Sophienlust näherten, konnten sie kaum glauben, an der richtigen Adresse zu sein. Langsam und ein wenig unsicher ließ Daniel seinen Wagen die breite Zufahrt entlangrollen.
»Das kann unmöglich ein Kinderheim sein«, stellte Linda fest. »Sieh dir das an. Dieses wundervolle Herrenhaus sieht beinahe aus wie ein Schloss. Wir müssen uns verfahren haben. Vielleicht ist hier nur die Verwaltung untergebracht, und die Kinder leben ganz woanders.«
»Ich bin genauso beeindruckt wie du«, gestand Daniel. »Aber wir sind hier richtig. Am Zufahrtstor stand ein entsprechendes Schild. Außerdem spielen dort drüben Kinder auf der Wiese. Wenn es sich nur um das Verwaltungsgebäude handeln würde, wären sie nicht hier. Es ist unglaublich, aber das hier ist das Kinderheim Sophienlust.«
Dass Daniel sich nicht getäuscht hatte, bewies ein kleines Mädchen, das angelaufen kam und die beiden Leute aufmerksam anschaute, nachdem diese ausgestiegen waren.
»Guten Tag«, grüßte die Kleine freundlich. »Ich bin Heidi und wohne hier. Wollen Sie zu Tante Isi, weil sie uns ein Kind bringen wollen?«
»Nein, Heidi, ein Kind wollen wir eigentlich nicht bringen«, erwiderte Linda amüsiert. »Wir heißen Linda und Daniel Marbach und sind mit Frau von Schoenecker verabredet. Eine Tante Isi kennen wir leider nicht.«
Heidi kicherte vergnügt. »Wenn Sie Frau von Schoenecker kennen, dann kennen Sie auch Tante Isi. Das ist nämlich dieselbe Frau. Wir nennen sie Tante Isi. Frau von Schoenecker sagt keiner von uns zu ihr. Ich habe gerade gesehen, dass sie in ihr Büro gegangen ist. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie hin. Sie kennen sich hier ja nicht aus und wissen gar nicht, wo das Büro ist.«
»Es wäre sehr freundlich von dir, uns den Weg zu zeigen«, erwiderte Daniel. »Ohne deine Hilfe würden wir uns sicher verlaufen. Wie gut, dass wir dich zufällig getroffen haben.«
Vor Stolz über diese Bemerkung wurde Heidi gleich ein paar Zentimeter größer. Sie reckte sich in die Höhe und setzte ein ernstes Gesicht auf.
»Dann kommen Sie bitte mit. Ich werde Sie zu Tante Isi, ich meine natürlich, zu Frau von Schoenecker führen und Sie anmelden.«
Diesen Satz, der aus dem Mund einer Siebenjährigen recht altklug klang, hatte Heidi schon oft von Frau Rennert gehört und übernahm ihn nun einfach.
Linda konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dieses kleine Mädchen gefiel ihr. Es war einfach köstlich.
Während sie Heidi folgten fragte Linda sich insgeheim, ob wohl alle Kinder, die in Sophienlust wohnten, so unkompliziert und freundlich waren wie Heidi.
Denise erhob sich und kam ihren Gästen freundlich entgegen, als Heidi sie ins Büro führte. Vorher hatte die Siebenjährige höflich angeklopft.
Nachdem Linda und Daniel Platz genommen hatten, blieb das Mädchen an der Tür stehen. Denise wusste genau, wie neugierig ihr kleiner Schützling war und wie groß die Hoffnung, jetzt ein paar Neuigkeiten erfahren zu können.
»Ich danke dir, dass du Frau und Herrn Marbach den Weg gezeigt hast, Heidi«, bemerkte Denise. »Das hast du wirklich gut gemacht. Aber jetzt kannst du ruhig wieder zu den anderen Kindern gehen. Ich werde mich schon um unsere Gäste kümmern.«
Der Schmollmund, den Heidi zog, war nicht zu übersehen. Sie hätte zu gern erfahren, was diese Leute von Tante Isi wollten. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass sie keine Chance hatte. Deshalb zog sie sich zurück, tat das aber nicht, ohne zuvor noch einmal abgrundtief zu seufzen.
»Die kleine Heidi ist bezaubernd«, meinte Linda lächelnd.
»Ja, das ist sie«, bestätigte Denise und lächelte ebenfalls. »Allerdings ist sie nicht nur bezaubernd, sondern auch extrem neugierig. Vor ihren spitzen Öhrchen ist nichts sicher. Aber Sie sind ja wegen eines nicht weniger bezaubernden Kindes hergekommen, wegen Ihrer Nichte Romina, nicht wahr?«
Daniel nickte. »Ja, das ist richtig. Bis vor ein paar Tagen haben wir noch gar nichts von der Existenz dieses Kindes gewusst. Ein bisschen ist das auch unsere Schuld. Das müssen wir zugeben. Als meine Schwiegereltern ihre Tochter aus der Familie ausschlossen, haben auch wir keinen weiteren Kontakte gesucht. Das war ein Fehler, der uns niemals so recht bewusst geworden ist. Erst nach den schrecklichen Ereignissen sind wir plötzlich aus unserem Dornröschenschlaf aufgewacht. Es mag unglaublich klingen, aber genauso ist es gewesen. Für Jenny können wir nichts mehr tun und für ihren Mann auch nicht. Aber jetzt ist da dieses kleine Mädchen, unsere Nichte Romina. Sie hat ein Anrecht auf unsere Hilfe und Unterstützung. Ein Kind, das seine Eltern verloren hat, muss doch jemanden haben, an dem es sich festhalten kann.«
»Das haben Rominas Großeltern leider ganz anders gesehen«, erklärte Denise. »Es freut mich, dass Sie beide diese ablehnende Einstellung nicht teilen. Am Telefon hatten Sie erwähnt, dass Sie gerne mehr für Ihre Nichte tun würden, als sie nur einmal zwanglos zu besuchen. Darf ich fragen, welche Pläne Sie haben?«
»Es sind noch keine festen Pläne«, bemerkte Linda. »Vorerst haben wir nur die Möglichkeit in Erwägung gezogen, Romina vielleicht als unser Kind in die Familie aufzunehmen.« Sie machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Ob das gesetzlich überhaupt möglich ist, wissen wir beide nicht. Diesbezüglich wären wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Aber es ist ja auch ein wichtiger Schritt, der länger als zwei Tage überlegt sein will. Wenn die Entscheidung einmal gefallen ist, soll sie Bestand für immer haben. Eine Aufnahme auf Probe ist nicht möglich. Wenn das Zusammenleben nicht funktioniert, kann man ein Kind nicht einfach wieder abgeben. Dergleichen darf man keinem Kind antun.«
»Sie verfügen über sehr viel Einfühlungsvermögen«, stellte Denise fest. »Das findet man nicht so häufig. Haben Sie bereits Kinder? Sie scheinen nicht ganz unerfahren zu sein.«
Linda schüttelte den Kopf und sah plötzlich traurig aus. »Nein, wir haben keine Kinder und werden auch keine bekommen. Vor einigen Jahren, wir waren gerade sieben Monate verheiratet, hatte ich unverschuldet einen schweren Autounfall. Eigentlich hatte ich Glück und habe den Unfall überlebt. Aber ich war eingeklemmt und hatte mir schwere Bauchverletzungen zugezogen. Die Feuerwehr hat mich befreit, und zwei große Operationen retteten mein Leben. Doch leider mussten dabei wichtige Organe entfernt werden. Deshalb kann ich niemals Kinder bekommen.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, bekundete Denise und griff spontan nach Lindas Händen. »Dieser Unfall muss ein harter Schlag für Sie beide gewesen sein. Aber Sie haben überlebt. Das ist das Wichtigste.«
Linda nickte. »So sehen wir das inzwischen auch. Aber die Sehnsucht nach einem Kind ist trotzdem groß. Wir leben in einem wunderschönen geräumigen Haus, das von einem riesigen Garten umgeben ist. Unsere beiden Juweliergeschäfte florieren prächtig. Ein Kind könnte bei uns sorglos glücklich sein. Wir können ihm alles bieten, einschließlich unserer Zuwendung und Liebe. Deshalb haben wir uns kürzlich entschlossen, einen Adoptionsantrag zu stellen. Eigentlich war das für die nächste Woche geplant. Nun ist da plötzlich Romina, unsere Nichte, die eine Familie braucht.«
Denise lächelte verständnisvoll. »Und da dachten Sie, dass ein Adoptionsantrag vielleicht gar nicht mehr nötig sein wird, weil Sie nun natürlich ein ganz bestimmtes Kind im Auge haben.«
»So ähnlich ist es«, bestätigte Daniel. »Allerdings bewegen wir uns mit diesem Gedanken auf sehr dünnem Eis. Es kann ja sein, dass Romina nichts von uns wissen will. Vielleicht findet sie uns unsympathisch und würde nie bei uns leben wollen. Unter Umständen finden wir auch keine Verbindung zu ihr, oder es tun sich irgendwelche anderen Hinderungsgründe auf, an die wir im Augenblick noch gar nicht denken.«
Es gefiel Denise, dass da zwei Menschen vor ihr saßen, die sich Gedanken machten.
Das zeigte ihr, dass Linda und Daniel Marbach nicht leichtfertig aus einer Laune heraus handelten, die sich später womöglich zu Rominas Nachteil hätte auswirken können.
»Ich schlage vor, dass ich Ihnen Ihre Nichte erst einmal vorstelle. Für sie und die anderen Kinder werden Sie zunächst Leute sein, die sich Sophienlust ansehen und bei dieser Gelegenheit auch einige Kinder kennen lernen wollen. Das ist absolut unverfänglich. Für Sie ist das eine gute Chance, Ihre Nichte etwas genauer zu beobachten.«
Linda und Daniel waren einverstanden und folgten Denise.
Die wusste nämlich genau, wo Romina sich im Moment befand.
Es war kurz vor drei Uhr, und um drei Uhr sollte die nächste Reitstunde stattfinden. Romina war daher bestimmt gerade damit beschäftigt, Sancho unter Pünktchens Anleitung zu satteln und aufzutrensen.
*
Es war gar nicht so einfach, ein Pony richtig aufzutrensen.
Inzwischen hatte Romina sich aber schon gemerkt, welche Riemen der Trense man miteinander verbinden musste, und wie fest sie geschnallt werden durften.
»Das hast du prima gemacht«, lobte Pünktchen, nachdem sie den Sitz von Sattel und Trense kontrolliert hatte. »Jetzt kannst du Sancho auf den Reitplatz führen. Oder soll ich das für dich tun?«
»Nein«, protestierte Romina und griff nach dem Zügel.
»Das mache ich selbst. Du hast gesagt, dass ein guter Reiter sich immer um sein Pferd kümmert und nicht einfach nur darauf wartet, dass es ihm auf den Reitplatz gebracht wird, damit er aufsitzen kann. Was für Pferde gilt, gilt auch für Ponys, und ich möchte für Sancho ein guter Reiter sein.«
Auf dem kurzen Weg zum Reitplatz trafen Pünktchen und Romina Denise mit deren Besuchern. Romina freute sich darüber.
»Willst du mir bei der Reitstunde zusehen, Tante Isi?«, erkundigte sie sich sofort. »Dann kann ich dir zeigen, was ich schon alles gelernt habe.«
»Natürlich schaue ich dir gern zu, Romina. Aber vorher möchte ich dir und Pünktchen meinen Besuch vorstellen. Das sind Linda und Daniel Marbach. Sie wollen sich in Sophienlust ein bisschen umsehen.«
Das Mädchen schaute die beiden Besucher aufmerksam an.
»Sie können auch zugucken, wenn Sie wollen. Sind Sie auch schon einmal geritten?«
»Ja, als ich noch ein Schuljunge war, hatte ich Reitunterricht«, gab Daniel Auskunft. »Das ist aber lange her. Ich glaube, heute könnte ich gar nicht mehr reiten und bekäme höchstens einen tüchtigen Muskelkater, wenn ich es versuchen würde. Wahrscheinlich würde ich sogar aus dem Sattel rutschen und mit einem lautem Plumps auf dem Boden landen.«
»Das ist mir auch schon passiert«, meinte Romina und kicherte vergnügt. Die Vorstellung, wie dieser erwachsene Besucher auf dem Boden des Reitplatzes landen und sich anschließend womöglich das schmerzende Hinterteil reiben würde, erheiterte sie. Romina wünschte Daniel nichts Böses. Es waren nur die Bilder, die ihr durch den Kopf gingen und die sie komisch fand.
»Sind Sie auch früher geritten, als Sie noch in der Schule waren?«, wollte Romina von Linda wissen.
Durch diese Frage wurde Linda aus ihren Gedanken gerissen. Während der letzten Minuten hatte sie ihren Blick nicht von dem kleinen Mädchen wenden können. Romina sah ihrer Mutter tatsächlich sehr ähnlich. Sie hatte dieselben Grübchen in den Wangen und denselben verschmitzten Augenaufschlag. Sogar die Gewohnheit, den Kopf leicht nach links zu neigen, wenn sie Fragen stellte, hatte Romina von ihrer Mutter übernommen. Nur ihre Augen waren wesentlich dunkler. Hier kamen wohl die Erbanlagen des italienischen Vaters zum Tragen.
»Als ich ungefähr in deinem Alter war, habe ich angefangen, reiten zu lernen«, gab Linda Auskunft. »Ein Jahr später habe ich dann ein eigenes Pferd bekommen. Es war ein Haflinger mit einer langen und fast weißen Mähne. Er hieß ein bisschen ähnlich wie du. Romeo war sein Name. Wir zwei sind richtig gute Freunde gewesen und haben eine Menge miteinander erlebt. Manchmal war Romeo auch etwas frech und hat mir Streiche gespielt. Einmal hat er meine Jacke gestohlen, die an der Tür zur Sattelkammer hing, sie in seine Box getragen und dort unter dem Stroh vergraben. Nachdem er eine Nacht darauf geschlafen hatte, war die Jacke natürlich nicht mehr zu gebrauchen. Aber böse bin ich Romeo eigentlich nie gewesen.«
»Das muss ein lustiges Pferd gewesen sein«, meinte Romina. »Romeo ist auch ein sehr schöner Name für ein Pferd. Lebt Romeo heute noch?«
»Nein, dann wäre er fast vierzig Jahre alt. Als ich ihn bekommen habe, war er kein ganz junges Pferd mehr. Aber mein Romeo ist mit seinen sechsundzwanzig Jahren ziemlich alt geworden. Natürlich war ich traurig, als er starb. Aber er hat ein wundervolles und langes Leben gehabt. Dieser Gedanke hat mich immer getröstet.«
»Es ist immer gut, wenn man einen Trost hat«, stellte Romina nachdenklich fest. »Meine Eltern sind neulich bei einem Feuer gestorben. Das ist sehr schlimm. Aber es tröstet mich, dass ich mit ihnen reden und ihnen jeden Tag alles erzählen kann. Wenn man so einen Trost hat, ist man nicht mehr ganz so schrecklich traurig. Jeden Tag, wenn es dunkel wird, schaue ich mir diesen schönen hellen Stern an, auf dem meine Eltern jetzt wohnen, und dann rede ich mit ihnen.« Sie sah zum Himmel hinauf. »Wenn Wolken da sind, kann ich den Stern natürlich nicht sehen und tagsüber auch nicht. Aber ich weiß genau, wo er ist, und kann meinen Eltern alles erzählen.«
Linda spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
Bei alldem Schmerz, den dieses kleine Mädchen erleben musste, hatte es einen Weg gefunden, sich selbst Trost zu spenden. Diese innere Kraft des Kindes beeindruckte sie sehr.
»Sind Sie jetzt traurig?«, wollte Romina wissen, die den verdächtig feuchten Schimmer in Lindas Augen bemerkt hatte. »Habe ich vielleicht etwas Falsches gesagt? Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.«
Linda legte ihre Hände auf Rominas Schultern und lächelte sie an. Das Gefühl, das sie dabei durchströmte, hätte sie nicht in Worte fassen können. Sie berührte gerade das Kind, das vielleicht bald zu ihr und Daniel gehören würde …
»Du hast überhaupt nichts Falsches gesagt, Romina. Manchmal werde ich nur heute noch ein kleines bisschen traurig, wenn ich von Romeo spreche. Aber das ist immer gleich wieder vorbei. Jetzt wollen wir gerne sehen, wie gut du schon reiten kannst. Willst du es uns zeigen?«
Romina ließ sich nicht lange bitten, und an diesem Tag gab sie sich besonders große Mühe. Sogar Pünktchen war erstaunt über den gewaltigen Unterschied zur letzten Reitstunde. Sie vermutete allerdings, dass Romina den beiden Besuchern unbedingt imponieren wollte. Das gelang ihr auch. Linda und Daniel sparten nicht an Lob.
Nachdem Sancho nach dem Reitunterricht versorgt war, wanderte Romina mit Denise, Linda und Daniel zurück zum Haus. Dabei hakte sie sich bei Linda und Daniel unter, als sei das die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
»Sie sind beide sehr nett«, gestand die Siebenjährige. »Ich kenne Sie erst seit heute, aber ich habe Sie richtig gern. Es ist schön, dass Sie nach Sophienlust gekommen sind.«
»Das finden wir auch«, erwiderte Linda. »Wir finden dich nämlich auch ausgesprochen nett. Ich meine, alle Kinder, die wir hier getroffen haben, waren freundlich und nett. Aber dich haben wir besonders gern.«
»Dann können wir ja ab heute gute Freunde sein«, schlug Romina vor. »Kommen Sie öfter nach Sophienlust? Das wäre schön. Es ist immer schön, wenn Freunde zu Besuch kommen.«
»Ja, in der nächsten Zeit sind wir ganz bestimmt häufiger hier«, erklärte Daniel. »Und wir freuen uns, dass wir dich dann jedes Mal sehen.«
Die Angst, dass sie vielleicht keinen Draht zu Romina finden würden, oder dass das kleine Mädchen ihnen ablehnend gegenüberstehen könnte, war vergessen. Wie von selbst hatte sich sofort eine gute Verbindung ergeben. Linda fragte sich insgeheim, ob es sie nicht doch gab, die geheimnisvolle Stimme des Blutes. Schließlich war Romina eng mit ihr verwandt. Aber sie war auch mit ihren Großeltern verwandt, und da hatte es mit der Stimme des Blutes absolut nicht geklappt.
Daniel und Linda wussten noch nicht, was ihnen die Zukunft bringen und ob ihre Träume in Erfüllung gehen würden. Zumindest aber der erste wichtige Schritt war geschafft. Sie waren beide von Romina begeistert, und das kleine Mädchen hatte sie in sein Herz geschlossen. Mehr konnte im Augenblick niemand erwarten.
*
Mit einem Lächeln und den Gedanken an Daniel und Linda im Kopf war Romina an diesem Abend eingeschlafen. Doch der erholsame Schlummer hielt nicht bis zum nächsten Morgen an. Romina wurde von einem seltsamen Geräusch aus ihren Träumen gerissen.
Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es erst kurz vor fünf Uhr früh war. Was war das nur für ein Geräusch gewesen, das sie geweckt hatte? Romina stellte sich diese Frage noch, als sie schon wieder einen seltsam klingenden Ton vernahm. Ihr Blick fiel auf Fabio, der nicht weit entfernt auf seinem Kissen lag. In regelmäßigen Abständen röchelte er und schien kaum Luft zu bekommen.
Voller Angst um ihren Freund kletterte Romina aus dem Bett und ließ sich neben dem Hund auf dem Boden nieder.
»Was ist denn los mit dir? Du hörst dich ja ganz furchtbar an. Was soll ich denn jetzt nur machen?«
Heidi, die das Zimmer mit Romina teilte, war durch die Unruhe nun ebenfalls geweckt worden und wollte wissen, was sich ereignet hatte. Bevor Romina etwas erklären konnte, begann Fabio wieder laut zu röcheln.
»Ui, das hört sich aber schlimm an«, stellte Heidi fest. »Ich glaube, Fabio ist sehr krank. Wir müssen ihm helfen. Ich wecke Schwester Regine, und dann bringen wir den armen Fabio zu Onkel Hans-Joachim in die Praxis.«
»Das geht doch nicht«, bemerkte Romina trotz ihrer Sorge um den Hund. »Du kannst zwar Schwester Regine wecken, aber in die Praxis können wir nicht fahren. Es ist mitten in der Nacht, und da ist alles noch geschlossen.«
»Ach was, guck mal auf den Wecker. Es ist genau fünf Uhr. Bis wir bei Onkel Hans-Joachim in Bachenau sind, ist es noch viel später. Bis dahin ist er sicher sowieso schon wach. Außerdem ist er daran gewöhnt, dass er oft auch mitten in der Nacht gestört wird. Um diese Zeit werden nämlich manchmal Fohlen oder Kälber geboren, und wenn das nicht von allein geht, muss Onkel Hans-Joachim sofort hinfahren.«
Heidi machte sich auf den Weg zu Schwester Regines Zimmer. Romina blieb zurück und streichelte liebevoll Fabios Kopf. Auch jetzt röchelte der Hund anfallsweise in kurzen Abständen, und Romina machte sich große Sorgen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, was Fabio fehlte.
Schwester Regine, die wenig später einen Blick auf das Tier warf, hatte ebenfalls keine Erklärung für dessen Beschwerden, und beschloss, augenblicklich nach Bachenau zu fahren.
»Darf ich auch mitkommen?«, erkundigte Heidi sich. »Ich weiß, dass ich eigentlich pünktlich in der Schule sein muss, und wenn es bei Onkel Hans-Joachim länger dauert, schaffe ich das nicht. Aber ich will doch wissen, ob der arme Fabio sehr krank ist. In der Schule müsste ich sowieso dauernd an ihn denken und könnte nicht richtig aufpassen.«
»Dann komm ruhig mit«, entschied die Kinderschwester, während sie Fabio samt Kissen vorsichtig auf den Arm nahm, um ihn zum Auto zu bringen. »Die Schule ist heute ausnahmsweise einmal nicht so wichtig.«
*
Schwester Regine hinterließ eine kurze Nachricht für die anderen Bewohner von Sophienlust, die alle noch schliefen.
Anschließend machte sie sich mit den beiden Mädchen und Fabio auf den kurzen Weg nach Bachenau.
Hans-Joachim war gerade aufgestanden und wollte duschen gehen, als ein Wagen draußen auf das Gelände fuhr und dort anhielt. Auch Andrea, die ebenfalls erst vor wenigen Minuten das Bett verlassen hatte, war dieser Wagen aufgefallen.
»Das ist Schwester Regines Auto«, stellte Andrea verschlafen und doch besorgt fest. »Wenn die zu dieser nächtlichen Stunde hier erscheint, muss etwas passiert sein.«
Statt duschen zu gehen, schlüpfte Hans-Joachim rasch in einen Hausanzug. Die Dusche konnte ebenso warten wie das Frühstück. Der Tierarzt zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass Schwester Regine ihm einen Notfallpatienten bringen wollte, der sofortige Hilfe benötigte.
Nur ein paar Minuten später stellte Hans-Joachim fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Fabios Atemgeräusche hörten sich dramatisch an und wurden immer wieder von kurzen Erstickungsanfällen unterbrochen. Heidi stand mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen da, und über Rominas Wangen rollten dicke Tränen.
»Was ist mit Fabio?«, wollte sie wissen. »Ist er sehr krank? Muss er jetzt sterben? Ich will nicht, dass er zu Mama und Papa auf den Stern geht. Fabio soll bei mir bleiben. Ich habe ihn doch so lieb.«
Hans-Joachims Gesicht drückte große Besorgnis aus, als er den Hals des Hundes intensiv abtastete. Dann hellte sich sein Gesicht plötzlich auf.
»Ich glaube, dass ich deinem Fabio helfen kann. Er wird ganz bestimmt noch sehr lange bei dir bleiben. Trotzdem ist es gut, dass du gleich mit ihm hergekommen bist. An dieser Sache hätte er nämlich ziemlich bald tatsächlich sterben können. Jetzt muss ich ihm erst einmal eine Spritze geben, damit er sich ein bisschen beruhigt. Ohne die Beruhigungsspritze lässt er sich das nämlich nicht gefallen, was ich gleich tun muss.«
»Musst du den armen Fabio etwa operieren?«, erkundigte Heidi sich. »Also, wenn du ihn aufschneiden willst, um ihm zu helfen, will ich das aber nicht sehen. Da gehe ich lieber weg.«
»Keine Sorge, ich brauche Fabio nicht aufzuschneiden«, versicherte Hans-Joachim, während er Fabios Reflexe testete.
Das Beruhigungsmittel tat seine Wirkung bereits. »Ich brauche nur ein spezielles Instrument, das ungefähr so aussieht wie eine lange biegsame Pinzette.«
Bevor die Kinder sich versahen, hatte der Tierarzt das Instrument, von dem er gesprochen hatte, auch schon in Fabios Maul geschoben und zog es nach einer Weile vorsichtig wieder heraus. Heidi und Romina staunten nicht schlecht, als sie dort plötzlich den Schraubverschluss einer Wasserflasche auf dem Tisch liegen sahen.
»Wie kommt das Ding denn in Fabios Hals?«, wollte Romina wissen, die erleichtert feststellte, dass der Atem ihres Hundes wieder ganz normal und ruhig ging.
Hans-Joachim zog die Schultern hoch. »Hunde sind neugierig. Fabio wird den Verschluss irgendwo gefunden und genauer untersucht haben. Vielleicht hat er sogar damit gespielt. Nun ja, und dabei ist das Ding dann verschluckt worden.« Er lächelte. »In diesem Fall ist der Verschluss nicht weit gekommen. Er hat sich vor die Luft- und Speiseröhre gesetzt und dort alles blockiert. Fabio konnte das dumme Ding in keine Richtung bewegen, es also auch nicht einfach ausspucken. Aber jetzt ist er seine Beschwerden wieder los.«
Romina nahm den Verschluss in die Hand und betrachtete ihn nachdenklich. »Den werde ich aufbewahren. Er soll mich immer daran erinnern, wie gefährlich diese Dinger sind. Ab jetzt werde ich gut aufpassen, dass Fabio nicht wieder so einen Verschluss findet und ihn dann auch noch verschluckt.«
Andrea und Schwester Regine betraten den Behandlungsraum und erfuhren nun ebenfalls, dass Fabio außer Gefahr war.
Sie hatten sich bereits große Sorgen gemacht. Fabios Erstickungsanfälle hatten wirklich dramatisch geklungen. Dass dafür nur ein Fremdkörper verantwortlich gewesen war, der leicht entfernt werden konnte, erleichterte die beiden Frauen sehr.
»Der Tag hat für uns alle ziemlich aufregend begonnen«, stellte Andrea fest. »Und bis jetzt hat noch niemand von uns gefrühstückt. Ich schlage vor, dass wir das jetzt in Ruhe nachholen. Unser kleiner Peter wird bestimmt auch gleich aufwachen und energisch nach seinem Frühstück verlangen.«
Während Andrea den Tisch deckte, rief Schwester Regine in Sophienlust an und berichtete, was sich ereignet hatte.
Die meisten Bewohner des Kinderheims waren inzwischen wach und erleichtert darüber, dass Fabio außer Gefahr war.
»In zehn Minuten kommt der Schulbus«, stellte Heidi mit einem Blick auf die große Wanduhr fest. »Bis dahin können wir aber nicht in Sophienlust sein. Das schaffen wir nie.«
Die Kinderschwester nickte. »Das weiß ich. Für euch beide fällt die Schule heute aus. Tante Isi schreibt euch morgen eine Entschuldigung. Ganz sicher werdet ihr heute von allen anderen Kindern beneidet, die ganz normal in die Schule müssen. Das dürft ihr gerne genießen. Aber eins muss klar sein: So ein geschwänzter Schultag ist die absolute Ausnahme.«
Romina saß am Tisch neben dem kleinen Peter und schnitt dessen Toastbrot in mundgerechte Stücke. Für jedes Stück wählte der kleine Junge einen anderen Belag. Mal wollte er Honig, mal Marmelade und dann wieder Käse. Obwohl Romina kaum dazu kam, selbst vernünftig zu frühstücken, machte es ihr Spaß, für Peterle zu sorgen. Zwischendurch schaute sie regelmäßig zu Fabio hinüber.
Andrea hatte dem Hund vorhin ein besonders weiches Spezialfutter in den Napf gegeben. Fabio hatte sich augenblicklich darüber hergemacht und den Napf bis zum letzten Rest geleert. Nun lag er auf einer Decke am Fenster. Sein Kopf ruhte auf seinen ausgestreckten Vorderpfoten und er blinzelte zufrieden vor sich hin. Die Nachwirkungen des Beruhigungsmittels waren noch nicht ganz abgeklungen. Fabio fühlte sich ein bisschen müde. Aber er hatte keine Schmerzen oder sonstige Beschwerden mehr. Nichts hinderte ihn daran, ungestört ein wenig zu dösen.
Romina war überglücklich. Noch vor ein paar Stunden hatte sie um Fabios Leben gefürchtet und panische Angst gehabt, ihn zu verlieren. Aber Hans-Joachim von Lehn hatte ihr alle Ängste genommen und Fabio geholfen. In Rominas Augen war er der beste Tierarzt der Welt. Trotzdem nahm sie sich vor, in Zukunft noch besser auf Fabio zu achten, damit er nicht so schnell wieder in Gefahr geraten konnte.
*
Ohne ihre Eltern darüber zu informieren, fanden sich Daniel und Linda Marbach in der nächsten Zeit häufig in Sophienlust ein. Romina hatte keine Ahnung, dass die beiden nur ihretwegen kamen, freute sich aber jedes Mal über den Besuch.
Irgendwann zogen die drei mit Fabio los, um auf einer Waldlichtung ein Picknick zu veranstalten. Alle hatten ihren Spaß an dem Unternehmen. Besonders begeistert war Fabio, nachdem es ihm gelungen war, ein Putenschnitzel aus einer Tüte zu stibitzen, die neben dem Picknickkorb lag. Rasch zog er mit seiner Beute davon und verspeiste sie einige Meter entfernt in aller Ruhe.
»Manchmal benimmt Fabio sich unmöglich«, meinte Romina entschuldigend. »Es tut mir leid, dass er nicht besser erzogen ist.«
Daniel winkte ab. »Dein Fabio ist ganz in Ordnung. Er ist ein treuer Freund, und das allein ist wichtig.«
»Stimmt«, bestätigte Linda. »Und gute Freunde dürfen sich ruhig ab und zu auch mal einen Scherz erlauben. Das ist nicht schlimm. Außerdem hat Fabio uns keinen Schaden zugefügt. Wir haben noch reichlich Schnitzel. Als ich sie gebraten habe, habe ich sowieso schon daran gedacht, dass Fabio auch mindestens eins davon braucht.«
Romina schaute Linda aufmerksam an. »Meine Mama hat auch immer an Fabio gedacht. Wenn sie gekocht oder gebraten hat, hat er immer seinen Teil abbekommen. Sie denken genauso wie meine Mama. Das finde ich schön.« Romina hielt nachdenklich den Kopf schief und blickte Linda so intensiv ins Gesicht, dass diese fast verlegen wurde.
»Wissen Sie was?«, fragte die Siebenjährige, »Sie denken nicht nur so wie meine Mama. Sie sehen sogar ein bisschen so aus wie sie. Sie haben dieselbe Haarfarbe und dieselbe Augenfarbe. Sogar die Nase sieht so aus wie die von meiner Mama. Sie könnten fast Zwillinge sein. Nun ja, vielleicht nicht gerade Zwillinge, aber zumindest Schwestern.«
Romina hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie die Wahrheit instinktiv erkannt hatte. Linda hielt einen Moment lang den Atem an. Dann aber erkannte sie, dass Romina die Verwandtschaft nicht ernsthaft in Erwägung zog. Noch sollte sie davon nämlich nichts erfahren.
»Wenn ich deiner Mama so ähnlich sehe, dann bin ich eigentlich keine fremde Frau. Willst du nicht einfach Tante Linda zu mir sagen? Das finde ich sowieso viel schöner, wenn man gut miteinander befreundet ist.«
»Und mich darfst du ruhig Onkel Daniel nennen«, fügte Daniel rasch hinzu.
Romina erstarrte für einen kurzen Moment. Anschließend fiel sie Linda und Daniel abwechselnd in die Arme. »Zia Linda, Zio Daniel!«, rief sie begeistert, bemerkte aber sofort, dass sie vor lauter Aufregung in die Sprache ihres Vaters gefallen war. »Ich meine natürlich Tante Linda und Onkel Daniel! Ich bin so froh, dass ich euch so nennen darf. Ich habe zwar keine Eltern mehr, aber eine Ersatzfamilie in Sophienlust, und jetzt habe ich sogar noch einen Onkel und eine Tante. Das ist einfach toll. Es ist auch nicht schlimm, dass wir eigentlich gar nicht miteinander verwandt sind. Ihr werdet für mich immer meine richtige Tante und mein richtiger Onkel sein.«
Linda schloss das kleine Mädchen liebevoll in die Arme. Über den Kopf des Kindes hinweg traf sich ihr Blick mit dem von Daniel. Romina hatte keine Ahnung, dass sie sich irrte und dass sie ihre leiblichen Verwandten um sich hatte. Irgendwann in der nächsten Zeit sollte sie das erfahren. Vorher wollten Linda und Daniel aber noch herausfinden, ob sich Barbaras und Thorstens Einstellung zu ihrer Enkelin noch immer nicht geändert hatte. Vielleicht hatten sie inzwischen nachgedacht und festgestellt, dass es überhaupt keinen Grund gabt, das Kind abzulehnen. Natürlich würden sie niemals nach Sophienlust fahren, sich als Großeltern vorstellen und Romina fragen, ob sie mitkommen und in Zukunft bei ihnen leben wollte. Dazu waren die beiden dann doch viel zu verbohrt.
Möglicherweise würden sie jedoch damit einverstanden sein, dass Romina über Onkel und Tante in den Schoß der Familie zurückkehrte. Ob Linda es wagen konnte, offen mit ihren Eltern über das kleine Mädchen zu sprechen, würde sich in den nächsten Tagen zeigen.
Daniel und Linda planten einen Besuch bei Thorsten und Barbara. Bei dieser Gelegenheit konnten sie deren Einstellung ganz vorsichtig und diskret prüfen. Mit der Möglichkeit, dass Romina sich weigern könnte, zu Onkel und Tante zu ziehen, rechneten Linda und Daniel nicht. Die Kleine lebte zwar gerne in Sophienlust und war dort auch bestens aufgehoben. Aber man merkte ihr deutlich an, dass sie eine richtige Familie doch sehr vermisste.
*
Als sie zwei Tage später mit Linda und Daniel Ellinger am Kaffeetisch saßen, zeigte Barbara sich doch ein wenig neugierig. Mit einem verlegenen Lächeln schaute sie Tochter und Schwiegersohn abwechselnd an.
»Wie weit seid ihr denn mit eurem Adoptionsgedanken?«, wollte sie wissen. »Habt ihr den Antrag schon gestellt?«
»Es geht alles seinen Gang«, antwortete Linda ausweichend. »Eigentlich haben wir sogar schon ein bestimmtes Kind im Auge. Dieses Kind ist allerdings kein Baby mehr. Es kann schon laufen und sprechen, malt wundervolle Bilder und geht sogar schon zur Schule, allerdings noch nicht sehr lange. Das Mädchen besucht die erste Klasse.«
»Sechsjährige sind noch lange nicht erwachsen«, meinte Thorsten mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Die kann man noch gut formen. Mich interessiert mehr, warum das Kind zur Adoption freisteht. Was ist mit den Eltern passiert?«
»Das können wir euch leider nicht sagen«, bemerkte Linda rasch und hatte damit nicht einmal gelogen. Sie hätte unmöglich erklären können, dass die Eltern dieses Kindes bei einem Wohnwagenbrand auf einer Kirmes umgekommen waren. Dann hätten ihre Eltern sofort gewusst, was gespielt wurde. »Uns wurde versichert, dass die Eltern definitiv nicht mehr existieren«, erklärte Linda.
»Na gut.« Thorsten zog die Schultern hoch. »Ob die Eltern nun verstorben sind oder auf ihr Kind ganz offiziell verzichtet haben, spielt eigentlich keine Rolle. Für euch ist nur wichtig, dass man euch euer Kind niemals streitig machen kann, und das scheint hier ja der Fall zu sein.«
»Nein, es wird für immer unser Kind sein, wenn alles klappt«, versicherte Daniel. »Aber es wird noch ein Weilchen dauern.«
»Jedenfalls freue ich mich, dass ihr das Kind nicht ablehnt, weil es schon ein bisschen größer ist«, bemerkte Linda. »Von Jennys Tochter wolltet ihr überhaupt nichts wissen, und die ist ungefähr im selben Alter.«
»Das kannst du doch nicht vergleichen«, fuhr Thorsten auf. »Das Kind deiner Schwester stammt von einem Windhund, einem italienischen Schausteller, der es zu nichts weiter gebracht hat als zu irgendeinem Tingeltangel auf einem Kirmesplatz. Sein Kind hat seine Erbanlagen.«
»Es ist auch Jennys Kind«, gab Daniel zu bedenken. »Sie hat ihrer Tochter bestimmt auch eine Menge vererbt.«
»Ja, wahrscheinlich ihre Unzuverlässigkeit.« Thorsten verzog unwillig das Gesicht. »Jenny hatte so gute Chancen. Ihr Abitur ist absolute Spitzenklasse gewesen. Damit hätte sie jeden Studiengang wählen und ihren Abschluss mit Bravour meistern können. Nachdem sie immer recht vernünftig gewesen war, ist plötzlich ihr wahrer Charakter durchgebrochen, und sie ist mit diesem windigen Schausteller durchgebrannt. Jenny ist eine große Enttäuschung für uns gewesen. Sie hatte in Wirklichkeit keine guten Eigenschaften. Wie soll sie ihrer Tochter dann welche vererbt haben?«
Linda glaubte, für ihre Schwester eine Lanze brechen zu müssen! »Jenny hat sich verliebt, Papa. Das musst du doch verstehen. Sie hat plötzlich den Mann gefunden, mit dem sie ihr ganzes Leben teilen wollte. Wer und was er war, spielte dabei keine Rolle. Und irgendwie hat es dann ja auch funktioniert. Die beiden haben sich nicht wieder getrennt. Sie hatten sogar ein Kind miteinander, ein Kind, das sie aufrichtig geliebt haben und das wahrscheinlich gut erzogen worden ist.«
»Du hast keine Ahnung, Linda. Im Gegensatz zu dir habe ich Erfahrungen mit diesen Leuten gemacht, die von einem Jahrmarkt zum anderen reisen. Ich war selbst noch ein Schuljunge, als eine Grünfläche neben dem Haus meiner Eltern für solche Jahrmärkte freigegeben wurde. Die Schausteller, die dort ihre Geschäfte aufgebaut haben, sind keine idealen Nachbarin gewesen. Sie waren laut, ungebildet und rücksichtslos«, echauffierte sich Thorsten. »Ihre Kinder rannten überall schreiend und grölend umher, kannten kein Benehmen und zeigten sich sogar ihren eigenen Eltern gegenüber ausgesprochen unverschämt.«
»Vielleicht habt ihr damals einen unglücklichen Einzelfall erlebt«, mutmaßte Daniel. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Schausteller rücksichtslos und ihre Kinder unverschämt sind. Schausteller reisen zwar viel, sind aber ausgezeichnete Geschäftsleute und gehen einem völlig normalen Beruf nach. Sie achten sicher auch auf die Erziehung und Bildung ihrer Kinder.«
Thorsten winkte ab. »Ihr habt beide total falsche Vorstellungen. Ich weiß, welche Erfahrungen ich gemacht habe, und dass sich ein ganz bestimmter Menschenschlag niemals ändern wird. Außerdem haben wir es nicht nötig, gegenseitige Überzeugungsarbeit leisten zu wollen. Das Kind, das Jenny und dieser italienische Taugenichts in die Welt gesetzt haben, geht uns nichts an. Wir wollen es nicht sehen und nichts von ihm hören. Unser Haus bleibt ihm für immer verschlossen. Diese … diese … Ramona existiert für uns überhaupt nicht.«
»Romina«, verbesserte Barbara ihren Mann, der die Korrektur jedoch nicht zur Kenntnis nahm. Er wollte dieses Thema unbedingt beenden.
Linda war natürlich aufgefallen, dass sich ihre Mutter im Gegensatz zum Vater sehr gut an den richtigen Namen des Kindes erinnern konnte. Mit einem Hauch von Hoffnung startete sie deshalb noch einen Versuch: »Bist du auch Papas Meinung? Macht es dir ebenfalls gar nichts aus, euer einziges leibliches Enkelkind für alle Zeit aus eurem Leben und aus euren Gedanken zu verbannen?«
Barbara vermied es, ihrer Tochter direkt in die Augen zu blicken. Sie schaute aus dem Fenster auf den kleinen Wasserfall, der in einen geschmackvoll angelegten Goldfischteich mündete.
»Jenny hat uns sehr enttäuscht, über ihren tragischen Tod sind wir trotzdem zutiefst bestürzt. So hätte das alles nicht enden dürfen. Aber es ist eben sowie es ist. Dabei wollen wir es belassen und das Kapitel abschließen. Es ist vermutlich wirklich besser, wenn Jennys Kind nicht zu unserem Leben gehört.«
»Es gibt kein Kind und damit Ende der Debatte«, ließ Thorsten sich vernehmen und machte damit deutlich klar, dass er nie wieder auf Romina angesprochen werden wollte.
»Ihr beide werdet demnächst ein Kind haben, wahrscheinlich eine reizende kleine Tochter. Sie wird uns als Enkelkind willkommen sein. Ich möchte kein Wort mehr über diese Ramona hören.«
Barbara öffnete den Mund und holte Luft. Dann aber schlossen sich ihre Lippen sofort wieder. Sie wagte nicht einmal mehr, ihren Mann zu berichtigen und den korrekten Namen der Enkelin zu nennen.
Daniel und Linda sahen ein, dass sie auf verlorenem Posten standen. Bei Barbara hätten sie möglicherweise noch etwas erreichen können. Sie wäre vielleicht bereit gewesen, sich einsichtig zu zeigen und ihrer Enkelin ihr Herz zu öffnen. Aber sie stand im Schatten ihres Mannes, und bei ihm war jede Hoffnung vergeblich.
Was sie nun unternehmen sollten, wussten Lina und Daniel nicht. Sie liebten Romina inzwischen heiß und innig und hätten ihr nur zu gern eine Familie geschenkt. Das kleine Mädchen hätte sie sofort als neue Eltern anerkannt, und die Eröffnung, dass es sich bei der neuen Familie um echte Verwandte handelte, hätte Rominas Glück vollkommen gemacht.
Aber diese Entscheidung hätte für Linda bedeutet, dass sie ihre Eltern, zumindest ihren Vater, verlieren würde.
Nicht eine Sekunde würde er zögern, auch seine zweite Tochter zu verstoßen. Und Barbara würde keine andere Chance haben, als zu ihrem Mann zu halten, selbst wenn ihre Gefühle ihr sagten, dass das nicht richtig war. Das geplante Familienglück würde zwangsläufig ein familiäres Unglück nach sich ziehen.
Die Situation schien ausweglos zu sein. Eine ideale Lösung gab es nicht. Daniel und Linda wechselten einen ratlosen Blick. Sie wussten beide nicht, welchen Weg sie nun gehen sollten.
*
Selbstverständlich ließen Linda und Daniel sich nicht davon abhalten, Romina weiterhin regelmäßig zu besuchen. Die Verbindung zwischen ihnen und dem kleinen Mädchen wurde immer enger und herzlicher. Romina kannte nun auch das Haus, in dem Linda und Daniel wohnten. Die beiden hatten ein Fotoalbum mitgebracht und es zusammen mit der Siebenjährigen angeschaut. Auch Kim hatte einige der Bilder gesehen.
»Ihr habt großes schönes Haus«, stellte der kleine Junge fest. »Da ist viel Platz. Auch Garten ist groß. Ganzes Haus und Garten ist viel zu groß für nur zwei Leute. Warum ihr nicht holt Romina zu euch? Ihr doch könnt sein neue Mutter und neuer Vater. Romina gerne will haben neue Eltern. Sie hat gesagt mir das. Und ihr habt noch nicht Kinder. Wenn Romina ist bei euch, ihr habt Kind.«
»Kim, sowas fragt man nicht«, wies Romina den kleinen Jungen zurecht. »Was du da sagst, stimmt schon. Ich habe schon davon geträumt, dass Tante Linda und Onkel Daniel mich fragen, ob ich ihr Kind sein will. Aber das ist nur ein schöner Traum gewesen. Vielleicht wird er einmal wahr.« Sie seufzte.
»Ich habe mit Pünktchen und Angelika darüber gesprochen. Sie meinten, dass Tante Linda und Onkel Daniel gut darüber nachdenken müssen. Wenn sie mich wirklich für immer haben wollen, würden sie mir das schon sagen. Aber einfach fragen darf man danach nicht.«
»Warum nicht?« Kim war sich keiner Schuld bewusst. »Tante Isi immer sagt uns, man kann reden über alles.«
»Da hat Kim recht«, bestätigte Daniel. »Man kann jede Frage stellen, und wenn man noch so klein ist wie Kim, darf man sogar ganz offen fragen. Romina, wir haben dich sehr lieb. Deshalb haben wir auch schon darüber nachgedacht, ob aus uns eine richtige kleine Familie werden kann. Ich glaube, für Tante Linda und mich wäre das ein ganz großes Glück. Aber es gibt da noch ein großes Problem, das sich nicht so leicht beseitigen lässt. Wir können dir das im Augenblick noch nicht erklären.«
Romina horchte auf. »Wenn ich das Problem bin, dann müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ich werde immer ganz lieb sein und euch keinen Ärger machen. Das verspreche ich euch. Ich habe euch doch lieb.«
Die Siebenjährige war aufgesprungen und wollte sich in die Arme der von ihr so sehr geliebten Menschen stürzen. Dabei stieß sie an das Fotoalbum, das noch vor ihr lag und über die Tischkante ragte. Das dicke Album fiel auf den Boden, und ein Bild, das sich lose auf der letzten Seite befunden hatte, glitt heraus. Sofort hob Romina das Foto auf, entschuldigte sich für das Missgeschick und warf einen kurzen Blick auf das Bild.
»Mama? Das ist doch meine Mama!«, rief sie überrascht. »Sie ist da noch ziemlich jung, aber ich erkenne sie genau. Wir hatten zu Hause auch ein paar alte Bilder von ihr. Die haben wir uns manchmal zusammen angesehen. Ja, das ist meine Mama, und die andere Frau auf dem Bild kenne ich auch.« Romina schaute abwechselnd von dem Foto zu Linda. »Die andere Frau bist doch du. Das verstehe ich nicht. Du hast meine Mama gekannt. Warum hast du mir das nie gesagt?«
Linda zog das kleine Mädchen an sich. »Wir haben dir nichts erzählt, weil es eine sehr lange und sehr traurige Geschichte ist. Weißt du, wir wollten nicht, dass du auch noch darüber traurig sein musst. Aber einen Teil dieser Geschichte musst du jetzt wohl erfahren. Ja, ich habe deine Mama gekannt. Ich habe sie nicht nur gekannt. Zwischen uns beiden war noch viel mehr. Romina, deine Mama ist meine Schwester gewesen. Wir beide haben dieselben Eltern.«
»Ihr seid Geschwister? Aber dann bist du … ja, dann bist du meine richtige Tante und nicht nur irgendeine Frau, die ich Tante Linda nennen darf. Ich habe eine richtige, echte und lebendige Tante und einen richtigen Onkel! Das ist doch überhaupt nicht traurig. Das ist … das ist … ich kann gar nicht beschreiben, wie das ist. Wieso sollte ich traurig sein müssen?«
»Dass ich deine Tante bin, ist der schöne Teil der Geschichte«, erklärte Linda. »Darüber freue ich mich auch, und ich bin glücklich, eine so liebe Nichte zu haben. Den traurigen Teil sollten wir heute noch nicht klären. Darüber können wir demnächst reden.«
Romina nickte mit noch immer strahlenden Augen. »Ja, schöne Sachen sind wichtig. Traurige erfährt man immer noch früh genug. Ich kann noch gar nicht richtig glauben, dass ich eine Tante habe. Jetzt weiß ich aber auch, warum du solche Ähnlichkeit mit meiner Mama hast. Du bist ihre Schwester, und Geschwister sehen sich nun einmal ähnlich.«
Niemand hatte auf Kim geachtet, der die Zusammenhänge inzwischen auch begriffen hatte, aufgesprungen war und aus dem Raum lief, bevor ihn jemand daran hindern konnte. Draußen auf dem Flur war seine laute, aufgeregte Stimme zu hören: »Hallo, alle mal hören! Romina hat Tante! Tante Linda ist echte Tante von Romina! Ist Schwester von ihre Mutter!«
Daniel verdrehte gequält die Augen. »Dieser kleine Nachrichtensender funktioniert fabelhaft. Ich wette, dass es in diesem Haus in spätestens drei Minuten niemanden mehr geben wird, der unsere familiären Verhältnisse noch nicht kennt.«
Daniels Vermutungen bestätigten sich. Binnen kürzester Zeit hatten sich alle Kinder und Mitarbeiter von Sophienlust eingefunden und wollten wissen, ob Kim die Wahrheit gesagt oder womöglich etwas falsch verstanden hatte. Das zufällig aus dem Album gefallene Foto machte die Runde. Jeder wollte einen Blick darauf werfen. Auch Denise nahm es zur Hand.
»Es tut mir leid«, meinte Linda entschuldigend. »So war das nicht beabsichtigt.«
»Der Zufall entscheidet manchmal nach eigenem Gutdünken«, erwiderte Denise lächelnd. »Vielleicht ist es auch kein Fehler, dass Romina die Wahrheit jetzt kennt. Möglicherweise wird dadurch alles etwas einfacher.«
Daniel wiegte nachdenklich den Kopf. Er hatte nichts dagegen, dass Romina nun eingeweiht war. Einfacher würde es dadurch jedoch nicht werden. Von den weiterhin strikt ablehnenden Äußerungen seines Schwiegervaters hatte Denise noch keine Ahnung. Vielleicht dachte sie im Augenblick auch gar nicht an dieses Problem. Gemeinsam mit Linda würde er Denise in Kürze darüber informieren. Denise von Schoenecker war ein Frau, der kritische Familiensituationen jeder Art nicht fremd waren. Auf diesem Gebiet verfügte sie über eine Menge Erfahrung. Unter Umständen hatte sie schon einmal einen ähnlich gelagerten Fall erlebt und konnte deshalb einen guten Rat erteilen. Mit viel Glück würde es womöglich doch eine Lösung für das bestehende Problem geben …
*
An diesem Tag hatten Linda und Daniel die gemeinsamen Stunden mit Romina genossen und auch die nun allgemein bekannte Tatsache, dass sie miteinander verwandt waren. Doch schon am nächsten Tag fanden sie sich bei Denise ein und berichteten ihr von dem Gespräch mit Thorsten und Barbara Ellinger.
»Es könnte sein, dass wir bei meiner Mutter eine gewisse Chance hätten«, erklärte Linda. »Sie erschien mir ein wenig nachdenklich und nicht ganz so ablehnend. Im Gegensatz zu meinem Vater hatte sie sich sogar den richtigen Namen ihrer Enkelin gemerkt. Mein Vater spricht immer von einer Ramona. Ihn interessiert es nicht einmal, wie das Kind seiner jüngsten Tochter heißt. Wenn wir Romina zu uns holten, würde mein Vater sofort mit mir brechen. Er würde mich ebenso verstoßen wie er Jenny verstoßen hat. Ich will ihn aber nicht verlieren. Auf der anderen Seite will ich Romina nicht verlieren. Wir befinden uns in einer Zwickmühle.«
Nick, der bei dieser Unterredung anwesend war, suchte verzweifelt nach einem Ausweg, kam aber zu dem Schluss, dass es in diesem Fall wohl keinen gab. Egal wie die Entscheidung auch ausfiel, es würde auf jeden Fall Verlierer geben. Das ließ sich nicht abwenden.
»Sie sagten eben, dass Ihr Vater nicht generell etwas gegen ein schon größeres Enkelkind hat«, bemerkte Denise. »Immerhin freut er sich schon auf das fremde Kind, das Sie adoptieren wollen. Er weiß ja nicht, dass es sich um Romina handelt. Das heißt, noch weiß er es nicht. Seine Abneigung bezieht sich also ganz speziell auf seine leibliche Enkeltochter. Für mich sieht das so aus, als wolle er Romina für das büßen lassen, was seine Tochter ihm nach seiner Meinung angetan hat. Ich glaube, unter diesen Umständen kann niemand Ihren Vater dazu überreden, sich seine Enkelin auch nur einmal anzuschauen.«
»Nein, dazu wäre er niemals bereit«, bestätigte Linda. »Ich kenne meinen Vater gut. Vielleicht habe ich deshalb auch das seltsame Gefühl, dass er überhaupt nicht an das kleine Mädchen denken will, weil er Angst vor sich selbst hat. Ich glaube, er fürchtet sich davor, positive Gefühle für Romina zu entwickeln, wenn es zu einem Kontakt kommt. Das will er nicht. Er will nichts für ein Kind empfinden, das von seiner verstoßenen Tochter und einem ihm verhassten jungen Schausteller stammt. Romina ist wahrscheinlich das einzige Kind auf dieser Welt, mit dem mein Vater sich auf gar keinen Fall befassen will. Wir haben keine Chance, in dieser Angelegenheit etwas zu bewegen.«
»Haben Sie sich denn schon Gedanken gemacht, wie Sie sich entscheiden wollen?«, fragte Denise. »Ich weiß, dass jede der möglichen Entscheidungen ein Schritt sein wird, der nicht nur Freude und Erleichterung, sondern auch großen Schmerz bereiten wird.«
Linda warf ihrem Mann einen Blick zu und griff nach seiner Hand. »Bisher sind wir so ratlos gewesen, dass wir noch keine konkrete Entscheidung getroffen haben. Aber Romina weiß jetzt, dass ich ihre Tante bin. Allein schon deshalb dürfen wir das Kind nicht enttäuschen. Wie könnte das kleine Mädchen mit dem Gedanken leben, dass die eigene Tante sie nicht haben will? Mein Vater ist ein erwachsener Mann. Er kann seine Entschlüsse selbst fällen und muss dann mit den Folgen leben. Niemand zwingt ihn dazu, mit seiner Familie zu brechen. Das tut er aus freien Stücken. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er nun den Rest seiner Familie ausgrenzen wird. Das tut uns ungeheuer weh. Doch dafür dürfen wir Romina nicht opfern. Sie selbst wird ihre Großeltern nicht vermissen. Schließlich hat sie bis jetzt auch keine gehabt und verliert nichts.«
Nick hatte während der letzten Minuten beiläufig in Rominas Akte geschaut, das Gespräch aber dennoch verfolgt.
Ihm schoss plötzlich eine abenteuerliche Idee in den Kopf, eine Idee die beinahe absolut abwegig war, aber vielleicht funktionieren konnte.
»Sie haben vorhin gesagt, dass Ihr Vater jedes Kind akzeptieren würde, nur Romina nicht. Außerdem erwähnten Sie, dass er vermutlich Angst hat, positive Gefühle für seine Enkelin zu entwickeln wenn er sie trifft. Das können wir doch ausprobieren. Wir führen Ihre Eltern und Romina einfach zusammen und warten ab, ob sich da etwas zwischen Opa und Enkelin entwickelt.«
»Die Idee ist nicht schlecht«, meinte Daniel. »Aber das wird nicht möglich sein. Mein Schwiegervater wird mit allen Mitteln verhindern, Romina zu treffen.«
»Romina? Wer ist Romina?«, fragte Nick grinsend. »Ich spreche von der kleinen Christine, die Sie adoptieren wollen und die derzeit bei Pflegeeltern untergebracht ist. Ihre Schwiegereltern haben doch sicher nichts dagegen, Christine ganz unverbindlich einen Besuch abzustatten. Sie sind sicher ein bisschen neugierig auf das Kind, das ihr Enkelkind werden soll.«
»Wieso Christine, und wieso Pflegeeltern?« Linda schaute ratlos in die Runde und bemerkte, dass auch ihr Mann verständnislos den Kopf schüttelte. »Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Ich auch nicht«, gestand Denise. »Aber dein verschmitztes Grinsen sagt mir, dass du einen bestimmten Plan verfolgst. Kannst du uns Genaueres erklären?«
»Kann ich. In Ordnung, ich gebe zu, dass es ein bisschen unfair ist. Aber es könnte klappen. Hier in den Unterlagen steht, dass Romina zwei Vornamen hat. Sie heißt Romina Christine Castello. Den Nachnamen vergessen wir vorerst. Das kleine Mädchen, das Sie bei sich aufnehmen wollen, trägt den Namen Christine. Den kennen Ihre Eltern nicht und werden deshalb keine Verbindung zu Romina herstellen. Dass Romina in Sophienlust wohnt, haben Ihre Eltern bereits erfahren. Sie könnten einen Verdacht schöpfen, wenn Ihr künftiges Adoptivkind nun ebenfalls in Sophienlust wohnt. Also sollte es sich lieber in einem anderen Ort bei vorläufigen Pflegeeltern aufhalten. Dabei habe ich an Bachenau gedacht und an Andrea und Hans-Joachim. Wenn wir den beiden erklären, wie wichtig die Sache ist, spielen sie bestimmt mit. Sie«, er wandte sich an Linda und Daniel, »könnten dann mit Ihren Eltern, beziehungsweise Schwiegereltern nach Bachenau fahren und Christina dort besuchen. Wenn der Plan gelingt, verlieben sich die Großeltern in das bislang unbekannte Adoptivkind, und später können sie erfahren, wer Christina in Wirklichkeit ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es dann noch übers Herz bringen, das kleine Mädchen, das sie lieb gewonnen haben, wieder von sich zu stoßen.«
Denise stützte seufzend den Kopf in die Hände. »Du hast gesagt, dass der Plan ein bisschen unfair sei. Das ist eine gewaltige Untertreibung gewesen. Es handelt sich um ein ganzes Netzwerk von Schwindeleien. Du weißt, dass ich immer für Offenheit und Ehrlichkeit bin. Wenn es um das Glück eines Kindes geht, kann man natürlich auch schon einmal gewisse Kompromisse schließen. Aber wie ich über diesen abenteuerlichen Plan denken soll, weiß ich noch nicht.«
Linda und Daniel hatten flüsternd ein paar Worte gewechselt.
»Also wir wären mit diesem Versuch einverstanden«, erklärte Daniel. »Bisher haben wir keinen Ausweg und keine Lösung für unser Problem gefunden. Nicks Vorschlag wäre eine Möglichkeit. Vielleicht geht alles schief, aber wir haben sowieso nichts zu verlieren. Warum sollten wir dieses Theaterstück nicht spielen?«
»Ja, es handelt sich tatsächlich um ein Theaterstück«, meinte Denise nachdenklich. »Nick hat die Darsteller bereits bestimmt, ohne dass diese etwas davon wissen. Es kann sein, dass die sich mit ihren Rollen überfordert fühlen und sie nicht spielen wollen. Ganz besondere Sorgen mache ich mir um Romina. Sie ist noch sehr jung und wird vielleicht noch gar nicht begreifen, worum es geht. Ich frage mich, ob sie in der Lage ist, die Hauptrolle zu spielen. Dieser Belastung ist sie möglicherweise nicht gewachsen. Ich möchte so gerne helfen, habe aber arge Bedenken. Allerdings möchte ich mich auch nicht als Hemmschuh erweisen. Auf seltsame Weise sitze ich zwischen zwei Stühlen und kann keine Entscheidung treffen. Wenn Sie Nicks Vorschlag aufgreifen wollen und die Durchführung für möglich halten, stehe ich Ihnen nicht im Weg.«
»Ich danke Ihnen.« Linda strahlte Denise an. »Dann werden wir es versuchen. Natürlich sind eine Menge Vorbereitungsarbeiten nötig. Ihre Stieftochter Andrea und Ihr Schwiegersohn müssen einverstanden sein. Mit ihnen müssen wir uns erst einmal unterhalten. Dann ist da noch Romina, der wir alles verständlich machen müssen. Es sind also einige Hürden zu nehmen. Aber die können wir vielleicht überwinden. Zumindest haben wir jetzt eine Hoffnung. Es ist ein so schönes Gefühl, wenn nicht mehr alles so ausweglos erscheint.«
»Dann fahren wir am besten sofort nach Bachenau und reden mit Andrea und Hans-Joachim«, schlug Nick vor. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden unsere Bitte abschlagen werden. Mit Romina können wir anschließend sprechen.«
Als Nick mit den Marbachs das Haus verließ, blieb Denise nachdenklich zurück. Sie war nicht sicher, ob es richtig gewesen war, zu diesem Unternehmen ihren Segen gegeben zu haben. Intrigen gehörten nicht zu ihrer Welt. Aber hier ging es um die möglicherweise glückliche Zukunft von vier Erwachsenen und einem kleinen Mädchen. Da konnte man vielleicht schon mal ein Auge zudrücken. Nein, dachte Denise mit einem gequälten Lächeln. Ein Auge würde in diesem Fall nicht ausreichen. Hier mussten gleich beide Augen zugedrückt werden – und zwar ganz fest.
*
Hans-Joachim hatte Nicks Vorhaben mit einer gewissen Skepsis betrachtet, dann aber seine Bereitschaft erklärt, seine Rolle zu übernehmen. Andrea, die ohnehin das Abenteuer liebte und für außergewöhnliche Aktionen immer zu haben war, hatte sich vom ersten Augenblick an begeistert gezeigt.
Sie hatte Linda und Daniel sogar Mut gemacht und ihnen versichert, dass dieser verwegene Plan ganz sicher von Erfolg gekrönt sein würde.
Nun galt es, Romina einzuweihen und ihr zu erklären, was sie zu tun hatte. Sie musste nicht alle Hintergründe so genau kennen, damit sie nicht zu stark unter Druck gesetzt wurde. Denise hatte dafür gesorgt, dass Romina sich ungestört mit Linda, Daniel und Nick unterhalten konnte. Die anderen Kinder würden noch früh genug alles erfahren und mussten jetzt nicht unbedingt Zeugen der Unterredung sein.
»Wir haben eine ganz wichtige Sache mit dir zu besprechen«, begann Linda. »Du weißt ja schon, dass wir dich gerne als Tochter haben und zusammen eine richtige Familie sein wollen.«
»Ja, das weiß ich, und ich freue mich unheimlich darüber. Aber ihr habt auch gesagt, dass da noch ein großes Problem ist, das ihr erst einmal lösen müsst.«
Linda nickte. »Genau darum geht es. Um dieses Problem zu lösen, brauchen wir deine Hilfe. Ich weiß nicht, ob wir dir das so richtig erklären können.«
»Vielleicht kann ich es versuchen«, bot Nick sich an und wandte sich an Romina. »Du hast mir neulich erzählt, dass du mit deiner Freundin Vanessa manchmal Theater gespielt hast. Dann habt ihr euch verkleidet und seid Prinzessinnen, Hexen oder Elfen gewesen.«
»Ja, das haben wir oft gemacht. Manchmal waren wir auch Schneewittchen und die böse Stiefmutter oder Frau Holle und die Goldmarie.«
»Siehst du, jetzt wird das so ähnlich sein. Du sollst ein bisschen Theater spielen. Dann bist du nicht mehr Romina, sondern Christine. Du hast nie in einem Wohnwagen gelebt, sondern in einem kleinen Haus am Stadtrand. Es gibt da zwei Leute, denen du diese Rolle vorspielen sollst. Meinst du, dass du das schaffen kannst?«
»Natürlich kann ich das. Aber warum soll ich das tun?« Romina blickte fragend in die Runde.
»Siehst du, jetzt kommt das Problem. Mit deiner Tante Linda und deinem Onkel Daniel bekommst du prima Eltern. Aber du könntest auch noch einen Opa und eine Oma bekommen. Die beiden haben aber Angst, dass sie das kleine Mädchen Romina nicht mögen.«
Die Siebenjährige war verwirrt. »Warum sollen die mich nicht mögen? Sie kennen mich doch noch gar nicht. Das geht nicht, dass man jemanden nicht leiden kann, den man gar nicht kennt.«
»Eigentlich nicht, aber Erwachsene sind manchmal etwas komisch. Die beiden Leute sind Tante Lindas Eltern, also deine richtigen Großeltern. Bis vor kurzer Zeit haben sie noch nicht gewusst, dass es dich gibt. Wahrscheinlich hätten sie jetzt nichts gegen dich, wenn dein Opa nicht ein schlimmes Erlebnis gehabt hätte. Es ist schon lange her, aber damals hat er böse Erfahrungen mit Leuten gemacht, die Schausteller waren. Seitdem glaubt er, dass alle Menschen, die auf einem Kirmesplatz in einem Wohnwagen leben, schlechte Menschen sind. Er denkt, dass deren Kinder frech, ungezogen und böse sind. Deshalb will er nichts von seiner Enkeltochter Romina wissen, und seine Frau will das auch nicht. Beide fürchten sich davor, dass diese Romina auch frech und ungezogen sein könnte.«
Die Siebenjährige hatte aufmerksam zugehört. »Ich glaube, ich habe schon begriffen. Ich soll nun Tante Lindas Eltern treffen, und die dürfen nicht wissen, wer ich bin. Deshalb heiße ich Christine und bin kein Kind von der Kirmes. Wenn die beiden dann sehen, dass ich gar nicht frech bin, finden sie mich, also Christine, ganz nett. Wenn sie mich mögen, sagen wir ihnen, dass ich gar nicht Christine, sondern Romina bin. Dann wissen sie, dass nicht alle Kinder von Schaustellern schlecht sind. Wenn alles gut klappt, habe ich dann auch noch richtige Großeltern. Das finde ich gut. Ich hatte nämlich noch nie welche. Papas Eltern sind schon gestorben, als ich noch ganz klein war.«
»Du bist ein sehr kluges Mädchen«, lobte Daniel. »Wir erzählen dir gleich noch, wo wir dieses Theaterstück aufführen wollen und wie sich alles genau abspielen soll. Wenn es nicht klappt, darfst du nicht traurig sein. Es kann nämlich passieren, dass du am Ende doch keine netten Großeltern bekommst. Aber Eltern wirst du auf jeden Fall haben. Das versprechen wir dir.«
»Das ist das Wichtigste«, betonte Romina. »Aber ich glaube, dass unser Plan klappen wird. Ich gebe mir jedenfalls große Mühe. Aber da ist noch etwas. Christine ist kein falscher Name. Ich heiße wirklich so. Meine Eltern haben mich Romina Christine getauft.«
»Das wissen wir«, erwiderte Linda. »Aber meine Eltern wissen nicht, dass du auch den Namen Christine trägst. Das haben sie bis jetzt noch nicht erfahren.«
Romina lächelte verschmitzt.
»Ich freue mich schon richtig auf dieses Theaterstück. Das macht bestimmt großen Spaß. Es ist immer lustig, wenn man ein ganz anderer Mensch sein darf. Kann ich den anderen Kindern erzählen, dass wir meinen Großeltern ein Theaterstück vorspielen?«
Linda und Daniel dachten nach. Nick hingegen sah keine Probleme. »Das kannst du ruhig allen erzählen. Die Kinder können sich nicht aus Versehen verplappern, weil sie deine Großeltern zunächst überhaupt nicht treffen werden. Ich glaube, sie werden begeistert sein, wenn sie von unserem Plan erfahren.
Schon kurze Zeit später stellte sich heraus, dass Nick richtig getippt hatte. Alle Kinder fanden das Vorhaben einfach genial und drückten die Daumen, dass es gelingen würde. Dass Romina neue Eltern bekommen würde, war schon mehr als erfreulich. Zwei nette Großeltern konnte das kleine Mädchen aber durchaus auch gebrauchen.
»Ich hoffe wirklich sehr, dass der Plan gelingt«, meinte Pünktchen. »Wenn es nicht funktioniert, wird Romina bestimmt furchtbar enttäuscht sein und denken, dass sie etwas falsch gemacht hat.«
»Die Marbachs werden ihr dann schon erklären, dass sie keinen Fehler gemacht hat«, entgegnete Martin. »Wenn diese Großeltern Romina weiterhin ablehnen, dann ist es allein ihre Schuld, und dann haben sie eine so nette Enkelin auch gar nicht verdient.« Der Junge machte eine kurze Pause. »Und einen so wunderbaren Hund wie Fabio haben sie dann auch nicht verdient«, fügte er noch hinzu. Pünktchen musste unwillkürlich schmunzeln. Das war wieder einmal typisch Martin. Wenn irgendwo ein Tier im Spiel war, wurde es von Martin niemals vergessen. Er liebte Tiere über alles. Aber er hatte ja recht. Nicht nur Romina war eine glückliche Familie zu wünschen. Auch Fabio hatte es verdient, in einer Gemeinschaft mit möglichst vielen freundlichen Menschen leben zu dürfen.
*
Der Vorschlag, ihr künftiges Enkelkind, das derzeit vorübergehend bei Pflegeeltern lebte, einmal zu besuchen, war von Thorsten und Barbara Ellinger begeistert aufgenommen worden. Sie freuten sich sehr darauf, das kleine Mädchen, das Linda und Daniel adoptieren wollten, schon im Vorfeld sehen zu dürfen.
Als Linda und Daniel mit den beiden in Bachenau eintrafen, war Romina bereits anwesend. Denise hatte sie einige Stunden zuvor nach Bachenau gebracht. Fabio war in Sophienlust geblieben. Sein italienisch klingender Name hätte bei Barbara und Thorsten möglicherweise einen Verdacht aufkommen lassen können.
Romina war ungeheuer aufgeregt. Sie wusste, dass nun alles auf sie und auf die Rolle ankam, die sie zu spielen hatte. Andrea und Hans-Joachim hatten das kleine Mädchen zwischendurch immer wieder beruhigt und ihm versichert, dass es gar keinen Fehler machen konnte. Trotzdem wurde der Siebenjährigen abwechselnd heiß und kalt, als sie die Besucher draußen vor dem Haus aus dem Wagen steigen sah.
»Ich glaube ich habe Lampenfieber«, gestand Romina und griff nach Andreas Hand.
»Ein bisschen Lampenfieber ist gut«, erklärte Andrea lächelnd. »Nur Angst darfst du keine haben. Das brauchst du auch nicht. Ich bin immer ganz nah bei dir. Es kann also gar nichts passieren. Wenn es zu schlimm wird, dann sagst du einfach, dass du schnell einmal zur Toilette musst. So hast du eine Pause und kannst dich ein bisschen erholen. Ich komme dann mit dir und kann dich wieder beruhigen. Außerdem sind deine Tante Linda und dein Onkel Daniel auch noch da. Auch sie werden dir helfen.«
Romina nickte dankbar und betrachtete ihre Großeltern, wie sie aus dem Wagen stiegen. »Eigentlich sehen die ganz nett aus. So schlimm können die nicht sein, dass man Angst vor ihnen haben muss.«
Wenige Minuten später stellte Romina fest, dass Thorsten und Barbara tatsächlich recht sympathisch waren. Nachdem sie Andrea und Hans-Joachim begrüßt hatten, kamen sie freundlich auf sie zu.
»Hallo, du bist also Christine, das nette kleine Mädchen, das bald unsere Enkeltochter sein soll. Wir heißen Thorsten und Barbara Ellinger, und wir freuen uns, dass wir dich heute besuchen dürfen.«
»Ich freue mich auch darüber, dass Sie gekommen sind«, erwiderte Romina. »Tante Linda und Onkel Thorsten haben mir schon eine Menge von Ihnen erzählt. Deshalb war ich schon richtig neugierig. Ich weiß, dass man eigentlich nicht so neugierig sein darf, aber ich war es trotzdem. Ist das schlimm?«
»Nein, das ist überhaupt nicht schlimm«, versicherte Thorsten schmunzelnd. »Ein bisschen neugierig darf jeder sein. Das ist keine schlechte Eigenschaft. Deswegen brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben.«
»Dann ist es gut.« Romina zupfte mit den Fingern an ihrem Ohrläppchen. Das tat sie immer, wenn sie ein bisschen nervös war. »Ich glaube, Sie sind liebe Großeltern, mit denen man sich gut vertragen kann.«
»Das sind wir ganz bestimmt«, bestätigte Barbara. »Und du bist ein liebes Kind, das man einfach mögen muss. Wenn wir nun bald miteinander verwandt sind, brauchst du aber nicht mehr Sie zu uns zu sagen. Wenn du willst, kannst du uns Oma und Opa nennen. Möchtest du das?«
»Ja, das wäre schön. Ich bin so froh, dass ihr mich mögt. Es hätte ja sein können, dass ihr mich überhaupt nicht leiden könnt.«
Barbara legte ihre Hände auf Rominas Schultern und schaute sie mit einem geheimnisvoll wirkenden Blick an, den das Mädchen nicht deuten konnte. »Du brauchst nicht zu fürchten, dass wir dich nicht leiden können. Als wir hier zur Tür hereingekommen sind, haben wir sofort gespürt, dass du für uns das richtige Enkelkind bist. Wir haben dich lieb, sehr lieb sogar.«
»Das stimmt«, pflichtete Thorsten seiner Frau bei. »So ein liebes, kluges und hübsches kleines Mädchen wie du passt genau in unsere Familie. Deine neuen Eltern haben eine gute Wahl getroffen, mit der wir mehr als zufrieden sind.«
Andrea bat zu Tisch. Sie hatte Kuchen gebacken und frische Waffeln zubereitet.
Schon bald saßen alle um die Kaffeetafel versammelt und unterhielten sich völlig zwanglos. Rominas Bitte, nicht nur Oma und Opa zu Barbara und Thorsten, sondern auch Mama und Papa zu Linda und Daniel sagen zu dürfen, wurde gern erfüllt.
»Es ist schön, dass Sie sich vorübergehend als Pflegeeltern zur Verfügung gestellt haben«, bemerkte Thorsten und blickte Andrea und Hans-Joachim dankbar an. »Mit Ihrer Praxis, dem Tierheim und ihrem eigenen kleinen Sohn sind Sie ja eigentlich schon voll ausgelastet. Es ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich darüber hinaus auch noch um ein elternloses Kind kümmert und ihm ein gutes Zuhause auf Zeit schenkt. Ist Christine schon lange bei Ihnen?«
»Nein, sie ist erst vor kurzer Zeit bei uns angekommen«, antwortete Hans-Joachim ausweichend. »Aber sie ist ein unkompliziertes Kind, das sich ganz schnell eingewöhnt hat.«
Thorsten wandte sich an das kleine Mädchen: »Jetzt wirst du bald ein neues Zuhause bekommen, und das wird eines für immer sein. Ich glaube, da wird es dir auch sehr gut gefallen.
Du wirst in einem wunderschönen Haus leben bei ganz lieben Eltern, und du wirst auch oft Besuch von Oma und Opa bekommen. Weißt du, bis jetzt haben wir unsere Kinder nicht so oft besucht. Das wird sich in Zukunft ändern. Schließlich wollen wir unsere Enkeltochter so häufig wie möglich sehen. Und wir bringen dir auch immer etwas mit. Das ist versprochen.«
Romina war erleichtert und glücklich. Das Theaterstück hatte funktioniert. Ihre Großeltern mochten sie von Herzen gern. Ein wenig seltsam fand Romina nur die Blicke, mit denen Barbara sie zwischendurch immer wieder bedachte. Es waren freundliche, aber doch auffallend prüfende Blicke, die sich das Mädchen nicht erklären konnte.
Andrea stand auf, um frischen Kaffee aus der Küche zu holen. Linda und Romina folgten ihr, weil sie ihr angeblich behilflich sein wollten.
»Es hat alles wundervoll geklappt«, bemerkte Linda glücklich und nahm Romina in die Arme. »Du hast deine Rolle ganz toll gespielt. Ich bin richtig stolz auf dich.« Dann wandte sie sich an Andrea: »Was meinen Sie? Wann sollten wir meinen Eltern die Wahrheit sagen?«
»Lassen Sie uns noch ein bisschen abwarten. Auf eine Stunde mehr oder weniger kommt es nicht an. Vielleicht ergibt sich schon bald eine günstige Gelegenheit, die wir nutzen können. Zumindest sind Ihre Eltern offensichtlich ganz begeistert von ihrer Enkelin. Sie werden also nicht schockiert sein, wenn sie erfahren, wer Christine tatsächlich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich jetzt noch von ihr lossagen werden.«
Die Gelegenheit, von der Andrea gesprochen hatte, ergab sich bereits wenige Minuten später von ganz allein. Barbara hatte um eine weitere Waffel gebeten. Da der Waffelteller außerhalb ihrer Reichweite stand, wollte Romina helfen.
Mit einer Gabel spießte sie eine Waffel auf und balancierte diese hinüber zu Barbaras Gedeck. Dieses Vorhaben misslang allerdings. Unterwegs stürzte die Waffel ab und landete mit einem platschenden Geräusch mitten in der Sahneschüssel.
»Scusa!«, entfuhr es dem erschrockenen Mädchen, und sofort hielt es noch erschrockener die Hand vor den Mund. Aber Thorsten hatte den Ausruf deutlich vernommen.
»Scusa? Ist das nicht italienisch und heißt Entschuldigung? Woher hast du denn dieses Wort?«
Barbara lächelte ihren Mann kopfschüttelnd an. »Manchmal bist du erstaunlich schwerfällig und kannst ziemlich dumme Fragen stellen. Unsere kleine Enkelin wird dieses Wort von ihrem Vater gelernt haben und wahrscheinlich noch viele andere mehr.« Barbaras Blick wanderte von ihrem Mann zu der Siebenjährigen. »Nicht wahr, dein Vater hat dir Italienisch beigebracht, Romina.«
Thorsten war absolut verwirrt. »Das ist doch Unsinn. Barbara, du weißt nicht was du da redest. Unsere kleine Enkeltochter heißt Christine.«
»Ja, ich heiße Christine«, bestätigte das Mädchen. »Aber ich heiße nicht nur so. Ich habe noch andere Namen. Ich bin Romina Christine Castello.«
Thorsten fuhr auf: »Das kann nicht sein. Nein, das ist nicht möglich. Das Kind eines italienischen Schaustellers kann nicht so gut erzogen und wundervoll sein. Schaustellerkinder sind ungezogen und frech. Das habe ich selbst erlebt.«
»Sie irren sich«, widersprach Hans-Joachim. »Ihre schlechten Erfahrungen, die Sie gemacht haben, lassen sich nicht verallgemeinern. Romina ist der beste Beweis dafür. Aber Sie wollten sich nichts beweisen lassen und Romina gar nicht erst sehen. Deshalb haben wir uns diese List ausgedacht und Ihnen ein bisschen Theater vorgespielt. Das nehmen Sie uns hoffentlich nicht übel.«
Thorsten konnte es noch immer nicht fassen. Kopfschüttelnd schaute er seine Frau an. »Woher weißt du, dass dieses bezaubernde Mädchen unsere Enkelin Romina ist? Als wir hier angekommen sind, hast du doch so wenig Ahnung gehabt wie ich.«
»Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber dann habe ich Romina gesehen. Mir ist die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter sofort aufgefallen. Dann waren da noch die vielen kleinen Gesten und Angewohnheiten, die Jenny ebenfalls gezeigt hat. Mein Verdacht, dass Christine in Wirklichkeit Romina ist, hat sich von Minute zu Minute immer mehr erhärtet. Der kleine Versprecher ist dann der endgültige Beweis für mich gewesen.«
Thorsten blickte in die Runde. Einen Moment lang sagte er gar nichts. Dann brach er plötzlich in schallendes Gelächter aus.
»Entschuldigung, aber das ist einfach köstlich. Ich bin ein erfahrener Geschäftsmann, der ständig aufpassen muss, nicht hinters Licht geführt zu werden. Es gibt zahlreiche unseriöse Handwerker, Konkurrenten und hin und wieder auch Gäste, vor denen man sich schützen muss. Das ist mir bisher immer gelungen. Was all diese Leute nicht vollbracht haben, hat ein kleines Mädchen mit Leichtigkeit geschafft. Das ist unglaublich. Aber ich finde es wunderbar, dass mir sturem alten Esel auf diese Weise der Kopf zurechtgerückt wurde.«
»Dann magst du mich auch jetzt noch?«, erkundigte Romina sich vorsichtig. »Hast du mich wirklich noch lieb, obwohl du jetzt weißt, dass ich ein Schaustellerkind bin?«
»Komm mal her, meine Kleine«, bat Thorsten und nahm das Mädchen in seine Arme. »Ich bin dumm gewesen und habe einen großen Fehler gemacht. Das habe ich jetzt eingesehen. Du bist unsere Enkeltochter, unsere richtige kleine Enkeltochter. Ja, wir haben dich lieb. Lieber kann man einen Menschen gar nicht haben, und daran wird sich niemals etwas ändern. Das verspreche ich dir.«
Linda stand spontan auf und umarmte ihre Eltern. Alle Sorgen waren plötzlich vorbei, und einer glücklichen Zukunft stand nichts mehr im Weg.
»Aber jetzt möchte ich gerne wissen, wer auf diese tolle Idee gekommen ist und wie dieses Husarenstück vorbereitet wurde«, forderte Thorsten.
Nur zu gern wurde ihm die ganze Geschichte erzählt. Thorsten hörte aufmerksam zu und hatte nicht im Geringsten das Gefühl, hintergangen worden zu sein. Nur seine Frau musste sich einen gespielt strafenden Blick gefallen lassen.
»Du hast von uns beiden die besseren Instinkte und von Anfang an alles durchschaut. Trotzdem hast du mich im Dunkeln tappen lassen. Hättest du mir nicht wenigstens zuflüstern können, dass Christine in Wirklichkeit Romina ist?«
Barbara schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lieber, dazu war die Zeit noch nicht reif. Du solltest dich erst richtig in dein Enkelkind verlieben. Ich habe schon lange darüber nachgedacht, ob es richtig war, Jennys Tochter abzulehnen, und war zu der Überzeugung gekommen, dass wir damit wahrscheinlich einen riesengroßen Fehler machten. Aber mit dir war darüber nicht zu reden. Jetzt wollte ich kein Risiko eingehen und zu früh mit der Wahrheit herausrücken. Rominas Chance, dein Herz im Sturm zu erobern, durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Deshalb habe ich geschwiegen. Außerdem wusste ich ja selbst nicht so genau, was hier eigentlich gespielt wird. Ich habe nur gespürt, dass Christine nicht irgendein Kind, sondern unsere Enkelin Romina ist.«
»Ich bin so froh, dass alles zu Ende ist und dass ich jetzt nicht nur liebe Eltern, sondern auch nette Großeltern habe«, bemerkte Romina glücklich. »Nun muss ich keine Angst mehr haben, dass ich mich verplappern könnte. Ich brauche nicht mehr zu schwindeln. Das ist gut. Ich lüge nämlich nicht gern. Meine Mama Jenny und mein Papa Alessandro haben nämlich immer gesagt, dass Menschen niemals lügen sollen. Sie haben mir erklärt, dass es nicht so schlimm ist, wenn ich etwas angestellt habe. Dann sollte ich ruhig die Wahrheit sagen. Nur lügen sollte ich auf keinen Fall. Sie konnten es nicht leiden, wenn jemand unehrlich war. Aber diesmal ging es nicht anders.«
Thorsten spürte einen Kloß in seinem Hals. Er fühlte sich beschämt. Wie sehr hatte er seinen Schwiegersohn verachtet und ihn für einen primitiven Taugenichts gehalten, für den es keine moralischen Werte gab. Insgeheim musste er diesem Mann jetzt Abbitte leisten. Ein italienischer Schausteller musste nicht zwangsläufig ein schlechter Mensch sein, der nicht in der Lage war, ein Kind zu erziehen.
Jenny hatte die Werte dieses Mannes damals erkannt und sich für ihn entschieden.
Jetzt war es zu spät, sich mit den beiden zu versöhnen und sie um Verzeihung zu bitten.
Aber für ihre Tochter konnte er wenigstens etwas tun und damit vielleicht einen Teil seiner Schuld ausgleichen.
»Wir sollten jetzt nach Sophienlust fahren«, schlug Thorsten vor. »Ich möchte mich gerne bei Nick, dem Urheber dieser ganzen Geschichte, bedanken. Außerdem würde ich auch gerne Fabio kennen lernen. Er ist nun ja auch ein vollwertiges Familienmitglied. Unterwegs würde ich für den kleinen Kerl gerne noch ein Leckerchen besorgen. Ohne Willkommensgeschenk möchte ich ihm nicht unter die Augen treten. Gibt es hier eine Metzgerei in der Nähe?«
»Die werden wir nicht brauchen«, meinte Andrea. »Wir haben immer genügend Hundefutter im Haus und auch viele andere Leckerbissen, die bei Hunden beliebt sind. Im Haushalt eines Tierarztes mangelt es daran nie. Ich packe rasch etwas ein.«
Es dauerte nicht lange bis alle startbereit waren. Auch Andrea und Hans-Joachim wollten mit nach Sophienlust fahren. Ihre Anwesenheit dort war zwar nicht unbedingt erforderlich, aber bei diesem ganz besonderen Ereignis wollten sie anwesend ein und an dem Glück einer jungen Familie teilhaben.
*
Niemand in Sophienlust wusste, was sich im Haus des Tierarztes in Bachenau abspielte. Es herrschte eine allgemein gespannte Stimmung. Die Kinder sprachen nicht viel miteinander. Alle waren mit ihren Gedanken beschäftigt und drückten die Daumen. Jeder hoffte, dass die Sache gut ausgehen würde, aber sicher war sich niemand. Immer wenn das Telefon läutete, liefen die Kinder herbei und hofften auf eine erlösende Nachricht. Aber keiner der Anrufe kam aus Bachenau, und jedes Mal war die Enttäuschung deutlich spürbar.
Auch Nick und Denise machten sich Sorgen. Für sie war es ein unerträglicher Zustand, dass ihnen im Moment die Hände gebunden waren. Zu gern hätten sie etwas zum Gelingen des Unternehmens beigetragen. Doch das war nicht möglich.
»Wir bekommen Besuch!«, rief Schwester Regine plötzlich aufgeregt. »Da kommen drei Autos. Eins gehört den Marbachs und eins Hans-Joachim von Lehn. Den dritten Wagen kenne ich nicht. Das könnte der von Rominas Großeltern sein. Wenn sie nicht gleich wieder nach Hause gefahren sind, sondern mit zu uns kommen, könnte das ein gutes Zeichen sein.«
Die Kinder waren nicht mehr zu halten. Geschlossen stürmten sie nach draußen und befanden sich noch auf der Freitreppe, als Romina die Wagentür aufriss und ihnen entgegenlief.
»Es hat geklappt! Alles ist gut! Ich habe tolle Großeltern, die mich mögen!«
Diese drei Sätze reichten den Kindern vollkommen. Sie waren eine klare und wundervolle Mitteilung, die ihnen alle Sorgen nahm und sie aufatmen ließ.
Während der folgenden Stunden waren alle Spannungen und Ängste vergessen. In Sophienlust herrschte eine so fröhliche Stimmung wie schon lange nicht mehr. Thorsten und Barbara bedankten sich bei Nick für dessen abenteuerliche Idee.
»Es freut mich, dass Sie mir nicht böse sind«, bemerkte Nick. »Eigentlich ist es etwas hinterhältig gewesen. Aber Sie waren ein so harter Fall, dass ich keinen anderen Ausweg gesehen habe.«
»Verbohrte alte Männer verlangen manchmal besondere Maßnahmen«, erwiderte Thorsten. »Ohne diese kleine Hinterhältigkeit wären mir die Augen nie geöffnet worden. Sie war einfach notwendig.«
Fabio hatte seine Extra-Häppchen dankbar angenommen, schien aber nicht nur wegen dieses Geschenks von Thorsten und Barbara begeistert zu sein. Immer wieder kam er zu ihnen und ließ sich das Fell kraulen. Instinktiv schien er zu spüren, dass jetzt nicht nur Daniel und Linda, sondern auch Thorsten und Barbara zu seiner Familie gehörten.
Obwohl es noch viele Formalitäten zu erledigen gab, hatte Denise nichts dagegen, dass Linda und Daniel Romina noch am selben Tag mit zu sich nach Hause nahmen. Kurz bevor sich die Familie verabschiedete, schaute Thorsten Romina nachdenklich an. »Bist du eigentlich schon einmal in Italien gewesen?«, wollte er wissen.
»Einmal, aber da war ich noch ganz klein und kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern.«
»Ein Land, dessen Sprache man spricht, sollte man aber öfter besuchen. Weißt du was, im nächsten Jahr lade ich dich und deine Eltern zu einem schönen langen Urlaub in Italien ein.«
»Wirklich?« Rominas Augen strahlten. »Das finde ich prima. Vielleicht lernt ihr dann dort auch ein bisschen Italienisch. Jedenfalls werden wir eine Menge Spaß haben. Ich freue mich schon darauf. Es muss toll sein, mit seinen Eltern und Oma und Opa Urlaub zu machen.«
Fabio baute sich vor Thorsten auf, reichte ihm die Pfote und schaute ihn fragend an. Es hatte fast den Anschein, als wolle er eine stumme Frage stellen.
»Keine Sorge, dich vergessen wir nicht. Du kommst selbstverständlich mit, du Schaustellerhund du«, versprach Thorsten lachend, griff mit einer Hand nach der dargebotenen Pfote des Hundes und fuhr ihm mit der anderen Hand liebevoll durch das Fell.