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Am Ende der Nacht

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Er starrte lange auf das blinkende „Open“ Schild der Kneipe, obwohl es mittlerweile in Strömen regnete. Es war ihm egal. Die Nacht hatte so begonnen, wie sein Tag geendet hatte: beschissen. Er fragte sich, ob es so etwas wie Schicksal gab, denn wenn ja, dann spielte es ein böses Spiel mit ihm. Sein Vater hatte ihm früher immer erzählt, dass jeder, der etwas erreichen wollte, das auch schaffen konnte, wenn er nur hart genug dafür arbeitete.

Der heutige Tag hatte das als Lüge entlarvt. Und nebenbei war auch noch all das zerstört worden, was er sich aufgebaut hatte.

"Deine Impulsivität wird dir dein ganzes Leben lang im Weg stehen!", hatte seine Frau ihm hinterher gerufen, als er das Haus verlassen hatte, um ziellos durch die Nacht zu taumeln, ohne eine Ahnung, wohin ihn seine Füße trugen. Er war durch Viertel seiner Stadt gelaufen, die er normalerweise sogar am Tag gemieden hätte, aber heute war es ihm seltsam egal. Und irgendwann hatte er aufgeblickt und das Neonschild mit dem blinkenden "OPEN" gesehen. Und während sich das grelle Leuchten in seine Netzhaut brannte, zog der vergangene Tag noch einmal an seinem inneren Auge vorüber.

Daniel Zeus war an diesem Morgen besonders aufgeregt gewesen. Heute sollte sich seine harte Arbeit der letzten Jahre auszahlen. Er war immer ein vorbildlicher Angestellter in seiner Bank gewesen und heute sollte die vakante Stelle des Abteilungsleiters der Kundenbetreuung neu besetzt werden. Es war seiner Meinung nach ein notwendiger Schritt, da er in vielen Kundenbefragungen als einer der freundlichsten und daher auch beliebtesten Berater angegeben worden war.

"Na, mein Schatz, bist du schon aufgeregt?", fragte Becki, beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Er war so froh, eine Frau wie Becki an seiner Seite zu haben, die ihn ergeben liebte, der er alles erzählen konnte und der er bedingungslos vertrauen konnte. Er war mit Becki seit dem Schulabschluss zusammen und ihre Beziehung war so innig wie eh und je.

"Ja", erwiderte er nur, weil er sie stattdessen fest an sich drückte und küsste.

"Du packst das schon", meinte sie und sah ihm fest in die Augen. "Es gibt keinen, der es mehr verdient hätte als du."

Dankend küsste er sie. Becki war das Beste, was ihm in seinem Leben passiert war. Diese Frau zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen, das hatte Daniel nie bereut und er hoffte, dass sie noch lange so glücklich bleiben würden – er hatte aber auch nicht den geringsten Zweifel daran. Viele hatten ihn davor gewarnt, sich so früh an nur eine Frau zu binden, aber er hatte das ignoriert, da er spürte, dass es für ihn keine Andere geben würde. Und seine beiden Kinder, Jakob und Lisa, waren der bester Beweis dafür, dass er bisher alles richtig gemacht hatte.

Er lächelte, als er ins Bad ging und sich zurechtmachte. Er hatte schon immer viel Wert auf sein Aussehen gelegt, weil er der Meinung war, dass einem ein gepflegtes Äußeres viele Türen öffnen konnte. Mit der Zahnbürste im Mund untersuchte er sein Gesicht nach Pickeln, doch er hatte Glück: Seine Haut war so rein wie selten zuvor. Das musste ein gutes Zeichen sein, beschloss er und schlüpfte in seinen Anzug, den er, wie jeden Tag, schon am Abend zuvor sorgfältig bereitgelegt hatte. Es ging doch nichts über ein geordnetes Leben.

Daniel schmunzelte in sich hinein. Ja, er war ein Spießer, aber ihm machte das nichts aus. Was nützte einem Individualität, wenn man dadurch nichts anderes erreichen konnte, als ein chaotisches Leben? Da blieb er lieber ein Mensch, der auf Ordnung Wert legte und nach festen Regeln lebte. Er machte das auch, um seinen Kindern ein gutes Vorbild zu sein, denn er fand, dass die Jugend immer mehr verrohte, und wollte das zumindest bei seinen eigenen Kindern verhindern. Oder es wenigstens versuchen.

Das Einzige, was hin und wieder seine Ordnung durcheinanderbrachte, war sein impulsives Verhalten, wenn er aufgebracht war. Dann traf er irrationale Entscheidungen, die er hinterher meistens bereute, vor allem weil ihm Becki immer wieder ins Gewissen redete. Sie war in der Hinsicht so etwas wie eine Aufpasserin, die darüber wachte, dass er nicht allzu viel Dummes anstellte.

Er fuhr sich noch einmal mit der Hand durchs Haar, prüfte den Sitz seiner Krawatte und dann verließ er das Bad und gleich darauf das Haus, da er allgemein wenig frühstückte, aber heute ohnehin keinen Bissen herunterbekommen hätte vor lauter Aufregung. Er stieg in seinen Wagen und fuhr los. Sein Weg führte ihn jeden Tag an denselben Häuserblocks entlang, aus denen – wie jeden Tag – dieselben Menschen kamen. Daniel kannte sie mittlerweile fast alle:

Da war die ältere Dame aus der Herrmannstraße, die jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit ihren Mopps auf das kleine Karree Wiese vor dem grauen Hochhaus ausführte.

Oder der Hundertkilo-Mann aus dem Langustenweg, der sich in einen Smart zu quetschen versuchte und dabei der Transe zuwinkte, die aus der Doppelhaushälfte neben ihm gestöckelt kam, sich auf einen pinken Vespa-Roller setzte und auf dem Fahrradweg davonbrauste.

Dann gab es noch den Hobby-Türken, der in Jogginganzug und Feinripp-Unterhemd wirklich jeden Tag zur gleichen Zeit seine Morgengymnastik vor der verglasten Wintergartenfront seines Hauses in der Färbergasse machte, sowie die Oma und der Opa, die mit ihren Gehwägelchen vor besagtem Wintergarten standen, spöttelnd den Kopf schüttelten und dann Hand in Hand weiterliefen.

"So will ich mit Becki auch einmal enden", dachte Daniel, wobei er natürlich meinte, dass er auch noch in so hohem Alter mit seiner Frau glücklich sein wollte. Darum liebte er die Ordnung in seinem Leben, da sie ihm jeden Tag zeigte, dass er nicht der Einzige mit festen Ritualen war, und außerdem hatte er seine Leute, wie er sie nannte, inzwischen schon wirklich liebgewonnen.

Seine allmorgendliche Reise sah einen kurzen Stopp bei Starbucks vor, wo er sich einen Frappuccino zum Mitnehmen kaufte und ihn dann auf dem restlichen Weg zur Arbeit langsam trank. Denn da es an seiner Bank wenig Parkmöglichkeiten gab, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, die letzte Strecke zwischen Starbucks und Bank zu laufen. So war er immer nochmal kurz an der frischen Luft und bekam die Bewegung, die ihm im Job manchmal fehlte. Daniel war ein Sportmensch. Er spielte Squash, Tennis und Badminton, joggte in jeder freien Minute und versuchte, zumindest einmal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen.

Er trank seinen Kaffeebecher mit einem letzten Zug aus und beförderte ihn in hohen Bogen in den Mülleimer an der Laterne neben dem Haupteingang der Bank. Meistens traf er auch und nahm das dann immer als ein gutes Omen auf. So auch heute, der Becher schlug zwar erst am Rand des Eimers auf, kippte dann aber schlussendlich doch hinein und nicht heraus. Daniel atmete tief durch, straffte seine Schultern und ging durch die Drehtür in die Empfangshalle.

Eigentlich hätte er den Angestellteneingang benutzen sollen, aber er hatte es gerne, wenn er schon beim Betreten der Bank mit den Kunden in Kontakt trat. Zwar bemerkten die meisten von denen, die gerade dann in der Bank waren, wenn er kam, das gar nicht, aber er hatte auch schon den einen oder anderen freundlichen Blick deswegen geerntet. Es gefiel den Kunden, dass er sich nicht als jemand aufspielte, der sich um jeden Preis von ihnen abgrenzen musste. Von so einem ließ man sich ja auch nicht gerne beraten. Lieber von jemandem, der gemütlich mit dem Starbucks-Becher durch die Straßen schlenderte und durch den normalen Eingang die Bank betrat, als von einem, der mit einer dicken Karre ins Parkhaus der Bank bretterte und dann durch einen privaten Eingang ins Gebäude kam, um ja nicht zu früh mit Kunden in Kontakt treten zu müssen.

So war es auch kein Wunder, dass Daniel bei alle seinen Kunden beliebt war und auch von Kollegen nur Freundlichkeit entgegengebracht bekam – bis auf eine Ausnahme: Es gab noch einen weiteren Kundenberater, mit dem er einfach nicht auf einen grünen Zweig kam. Andreas Abelt war so ziemlich das größte Charakterschwein, das es gab. Dummerweise war er auch der Sohn des Bankfilialleiters und damit so etwas wie unantastbar. Andreas hatte nach seinem verpatzten Abitur vor drei Jahren in der Bank angefangen und zwar ganz offensichtlich nur, weil sein Vater es so gewollt hatte. Die Arbeit machte ihm nicht im geringsten Spaß, meistens sah man ihn nur mit griesgrämiger Miene durch die Bank stapfen und viele Kunden lästerten hinter vorgehaltener Hand über ihn. Ja, so was bekam man in einer Bank auch mit. Erst neulich hatte eine ältere Dame Daniel angesprochen.

"Also, dieser junge Herr Abelt", hatte sie gesagt. "Dem möchte ich mein Geld nicht anvertrauen. Der sieht doch aus, als wäre er kriminell." Er hatte daraufhin nur höflich gelächelt und behauptet, dass es ihm nicht zustände, hinter dem Rücken eines Kollegen über ihn zu lästern. Die Dame hatte ihn nur wissend angelächelt und genickt. Ihr war klar, dass Andreas auch unter den Kollegen nicht sonderlich beliebt war.

Umso überraschter war Daniel, Andreas nun im Personalbereich von anderen Beratern umringt zu sehen, die ihm alle freundlich die Hand schüttelten.

"Hey, Andreas!", rief er. "Hast du heute Geburtstag oder ein gutes Geschäft abgeschlossen, oder warum wirst du hier so von allen abgedrückt?"

"Oh, Daniel, schön, dass du da bist." Schlagartig war es ruhig geworden. Erst jetzt bemerkte Daniel den seltsamen Ausdruck in den Gesichtern seiner Kollegen. Sie wirkten irgendwie unglücklich. Daniel sah sich um und fand erst in der hintersten Reihe, die Person, die er gesucht hatte. Anette, seine beste Freundin hier auf der Arbeit, stand dort mit gesenktem Kopf und vermied es tunlichst, ihn anzusehen. Was war hier los?

"Also, was wird hier gefeiert?"

"Ich wurde zum Abteilungsleiter befördert", meinte Andreas und grinste dabei übers ganze Gesicht – und Daniel war sich sicher, dass es eindeutig hämisch war. Doch anstatt irgendetwas zu erwidern, griff er nur hinter sich, bis er die Lehne eines Stuhls fand, diesen an sich zog und sich darauf fallen ließ. Seine Beine hätten sonst unter ihm nachgegeben und das Letzte, das er wollte, war, sich vor diesem Aufschneider Schwäche zu zeigen.

"Glückwunsch", presste er dann doch noch heraus, obwohl es ihn furchtbar viel Beherrschung kostete.

"Dankeschön. Falls du Lust hast, ich gebe heute Abend eine kleine Feier im La Oste, du kannst ja gerne kommen. So, dann werde ich mal mein Büro beziehen. Man sieht sich." Damit verschwand Andreas federnden Schrittes aus dem Personalraum und nach und nach folgten ihm die anderen, wobei sie aber alle einen mitleidigen Blick auf Daniel warfen, der inzwischen wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl zusammengesunken war. Als letztes war noch Anette da, die sich zu ihm herunterbeugte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

"Alles okay bei dir?"

"Ja", meinte er, doch natürlich wussten sie beide, dass das nicht stimmte.

"Das ist doch eine Frechheit", begann sich Anette dann zu ereifern. "Wie kann der Chef nur so einen Idioten befördern? Niemand kann ihn leiden und er kann nichts!"

"Er ist sein Sohn."

"Na und? Er ist eine absolute Katastrophe, sowohl menschlich als auch im Beruf. Wir sollten dem Chef mal die Meinung sagen!"

"Nein."

"Aber …"

"Ich sollte das tun." Daniel sprang auf. Der Schock über die Beförderung von Andreas hatte seine Enttäuschung darüber gedämpft, doch jetzt schlug sie in Wut um. Er hätte befördert werden sollen. Er arbeitete seit fast acht Jahren bei dieser Bank und hätte es verdient gehabt.

"Vielleicht solltest du dich dazu erst einmal sammeln und …"

"Nein, Anette." Daniel stürmte zur Tür. "Ich werde diesem Abelt jetzt mal ordentlich die Meinung geigen."

"Sei nicht zu ausfallend, hörst du?"

Aber Daniel hörte es nicht mehr. Wütend, sogar fast rasend vor Zorn, stürmte er zum Aufzug, denn das Treppenhaus war gerade gesperrt. Ansonsten hätte ihn die Bewegung vielleicht wieder zur Vernunft gebracht, so aber kam er immer mehr in Fahrt. In der dritten Etage angekommen stürmte er zum Büro des Direktors. Dessen Sekretärin war noch nicht anwesend; Daniel wusste das, denn sie kam immer erst eine Stunde nach ihm zur Bank und ebenfalls durch die Empfangshalle. So konnte er ungebremst die Tür zum Büro aufreißen und seinen Chef, der gerade mit dem Rücken zu ihm ein Telefonat führte, anbrüllen.

"Was soll der Scheiß?!"

Der Bankdirektor drehte sich erstaunt und missbilligend zu ihm herum, sprach ein hastiges "Ich rufe gleich zurück" in das Telefon und sagte dann mit ruhiger Stimme zu Daniel, so als ob er dessen rüde Ausdrucksweise überhört hätte: "Herr Zeus, was kann ich für Sie tun?"

"Das fragen Sie noch? Wollen Sie mich jetzt völlig verarschen?"

"Also ich weiß …"

"Seit verfickten acht Jahren arbeite ich in dieser verfickten Bank, bin jeden Tag pünktlich, war fast nie krank und mache einen verflucht guten Job. Und dann so eine Scheiße!"

"Herr Zeus, mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise!", wies ihn der Chef zurecht. Über seiner Stirn hatte sich schon eine tiefe Zornesfalte gebildet.

"Nein, das werde ich nicht! Ich hatte Sie immer für kompetent und loyal gehalten, aber ich sehe, dass Sie genauso charakterlos wie Ihr nichtsnutziger Sohn sind."

"Machen Sie mal halblang, Mann!", rief der Abelt nun. "Ich kann ja verstehen, dass Ihnen meine Entscheidung vielleicht missfällt, aber sie geschieht zum Wohle der Bank."

"Sind Sie noch ganz bei Trost?! Ihr Sohn ist eine Katastrophe für diese Bank. Er hält sich schon immer für was Besseres, behandelt uns alle wie den letzten Dreck und verkauft den Kunden Aktienpakete von Firmen, die ihm dafür Geld gezahlt haben."

"Unterlassen Sie solche haltlosen Anschuldigungen!"

"Ich werde es höchstens unterlassen, noch weiter darüber zu schweigen. Diese Vetternwirtschaft ist ja zum Kotzen. Ihr Sohn ist so gut wie ganz alleine dafür verantwortlich, dass unsere Bank seit drei Jahren eine immer niedrigere Kundenzufriedenheit aufweist, weil Sie ihm ständig neue Aufgaben zuweisen. Lassen Sie diese Experimente."

"Zeus, noch ein Wort und Sie können Ihre Sachen packen."

"Na schön. In einem solchen Umfeld kann ich sowieso nicht mehr arbeiten. Aber glauben Sie mir ja nicht, dass Sie so leicht damit davonkommen. Ich werde einen Anwalt einschalten."

"Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber fürs Erste: Verschwinden Sie aus meinem Büro, Sie Irrer!"

"Nichts lieber als das!" Wütend stürmte Daniel wieder zum Aufzug zurück. Als der lange auf sich warten ließ, hämmerte er lange mit den Fäusten gegen die Tür, bis sein Chef hinter ihm stand.

"Kriegen Sie sich mal wieder ein, Mann! Vielleicht sollten Sie erst einmal eine Nacht über Ihr Verhalten schlafen. Reden wir morgen weiter darüber."

"Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen."

"Wenn Sie meinen. Aber falls Ihnen doch noch was einfällt, können Sie jederzeit wieder vorbeikommen. Ich verliere Sie ungern als Angestellten."

Daniel trat in den Aufzug, der endlich in seiner Etage angekommen war. "Das haben Sie schon längst." Als sich die Türen schlossen, atmete er tief durch und drückte den untersten Knopf. Tiefgarage. Er hatte momentan keine Lust, irgendeinem seiner Kollegen und schon gar nicht Anette über den Weg zu laufen. Eigentlich wusste er überhaupt nicht, was er gerade wollte. So schnell, wie seine Wut gekommen war, war sie nun auch schon wieder verraucht. Genau in solchen Momenten brauchte er normalerweise Becki an seiner Seite, die ihn wieder auf den Boden zurückholte. Doch diesmal war sie nicht da gewesen und so langsam befürchtete Daniel, dass er großen Mist gebaut hatte.

Aber beim Gedanken daran, dass dieses Arschloch von Abelt (also Andreas) von nun an sein Vorgesetzter sein würde, wurde ihm übel. Er hatte diesen verwöhnten Schnösel von Anfang an nicht leiden können und sich schon immer gefragt, warum sein Vater ihn jeden Fehler verzieh. Und jetzt wurde der sogar noch befördert! Es war zum Verzweifeln. Daniel lehnte sich an die Wand des Fahrstuhls und atmete tief durch. Das half ihm meistens, die Wutausbrüche zu unterdrücken, und es zeigte auch jetzt Wirkung. Er wurde merklich ruhiger. Aber es blieb immer noch der fade Beigeschmack, dass er wahrscheinlich seinen Job verloren hatte, oder zumindest die Aussicht darauf, es in der nächsten Zeit weiterzubringen.

Kein Chef beförderte gerne jemanden, der einen beschimpft und den Sohn als kompletten Idioten hingestellt hatte. Auch wenn es nun einmal die Wahrheit war. Doch natürlich war Daniels Reaktion nicht gerade professionell gewesen und daher sah er ein, dass er sich seinen Weg wohl selbst verbaut hatte. Mann, was würde Becki wohl dazu sagen? Sie hatte an ihn geglaubt, hatte ihm vertraut und er hatte sie bitter enttäuscht. Er wollte sich das Gespräch, das er mit ihr führen musste, gar nicht vorstellen. Glücklicherweise hatte sie mit Lisa einen Termin beim Kinderarzt und wollte anschließend mit ihr und Jakob zu ihrer Mutter fahren, um ihr einen Besuch im Krankenhaus abzustatten, wo die sich von einer Hüft-OP erholte.

Also hatte Daniel bis zum Abend Zeit, um sich auf das Gespräch und die Standpauke, die ihn erwartete, einzustellen. Langsam trottete er durch die Tiefgarage, von der aus er mitten in der Fußgängerzone landete. Er setzte sich in ein Café und bestellte sich einen Kaffee. Er starrte lange vor sich hin und beobachtete die Leute, die so durch die Stadt liefen. Er kannte seine Leute und mochte ihre Macken, aber jetzt, da er so viele andere Menschen sah, die ihnen auf den ersten Blick ähnelten oder zumindest den Stereotypen, die sie verkörperten, fragte er sich, ob das Ganze nicht irgendwie Selbstblendung gewesen war.

All die Jahre war er jeden Tag pünktlich zur Arbeit erschienen, nachdem er immer dieselbe Strecke abgefahren war und dieselben Leute gesehen hatte. Es war Bestandteil seines geordneten Lebens gewesen, eines Lebens, das nun zu zerbrechen drohte. Wenn er den Menschen dort keine Beachtung geschenkt hätte, würde er sie auch nicht vermissen, wenn er nicht mehr jeden Tag dort vorbeifahren würde. Aber er hatte sie zum Teil seiner Lebensordnung gemacht und damit, ohne dass sie es wussten, zu seinen Freunden. Denn jetzt, da er all ihre Abbilder sah, die hier durch die Straßen marschierten, wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm fehlen würden. Sie waren nicht irgendwelche x-beliebigen Menschen, die zufällig seinen Weg zur Arbeit begleitet hatten, sondern vielmehr war jeder von ihnen ein kleines Zwischenziel gewesen, etwas, auf dass Daniel sich gefreut hatte, wenn er es erreicht hatte.

Ihr Leben war zumindest am Morgen genauso geregelt gewesen wie sein eigenes und das hatte ihn mit ihnen verbunden. Und jetzt konnte es sein, dass er das alles verlor.

Draußen dämmerte es bereits (es war Ende Oktober), als der Kegel der Scheinwerfer durch das große Esszimmerfenster flutete. Daniel saß in seinem Lieblingssessel vor dem Fernseher und nahm das Licht nur aus den Augenwinkeln wahr. Er atmete tief durch und versuchte, sich trotz dessen, was gleich kommen würde, zu entspannen.

"Hallo, mein Schatz!", rief Becki, sobald sie die Haustür geöffnet hatte und mit den Kindern hereingekommen war. "Du bist ja schon zu Hause. Hast du zur Feier des Tages eher Schluss gemacht?"

Daniel ballte seine Hände zu Fäusten; er ertrug es nicht, ihre unbeschwerten Hoffnungen zunichtemachen zu müssen.

"Warum sitzt du denn hier im Dunkeln? Mach doch das …"

"Nein, bitte lass!" Er hatte ihr noch nicht ins Gesicht gesehen, spürte jedoch, dass sie ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war.

"Ich bring' schnell die Kinder hoch, dann bin ich für dich da."

Daniel hörte, wie sie mit Jakob und Lisa die Treppe in die obere Etage hochging. Da fasste er einen Entschluss: Er sprang auf, packte seine Jacke und wollte gerade verschwinden, als Becki ihn am Arm zurückhielt.

"Was wird das jetzt?" Sie sah ihn herausfordernd an, doch er wich ihrem Blick aus.

"Ich muss nochmal raus."

"Nicht, bevor du mir gesagt hast, was los ist!"

"Es ist nichts."

"Daniel, wir kennen uns jetzt schon lang genug, dass ich weiß, wenn du was hast. Also spuck's aus!"

Und da sprudelte es aus ihm heraus: Die Ungerechtigkeit seines Chefs, der Blödarsch von Andreas Abelt, seine Kündigung. Becki sah ihn einfach nur kopfschüttelnd an.

"Deine Impulsivität wird dir ewig im Weg sein, Daniel! Wieso kannst du dich nicht EINMAL beherrschen?!"

"Was kann ich denn dafür, dass der so ein Arsch ist? Da sind mir halt die Sicherungen durchgebrannt."

"Ja, wieder einmal. Verdammt, Daniel, wir sind nicht mehr in der Schule! Du kannst dir so was jetzt nicht mehr leisten, du hast eine Familie, die sich auf die verlässt!"

"Super, red mir wieder Schuldgefühle ein. Tolle Hilfe!"

"Daniel, du weißt, dass ich immer für dich da sein werde. Aber du bringst dich andauernd in neue Schwierigkeiten. Morgen gehst du zu dem Abelt und bittest um Entschuldigung!"

"Den Teufel werd' ich tun!"

"Wenn du es nicht machst, dann mach ICH es. Darauf kannst du dich verlassen!"

"Ich muss hier raus!" Damit riss Daniel die Haustür auf und stürzte in die beginnende Dunkelheit.

"Daniel! DANIEL!", schrie Becki ihm hinterher, aber er hörte nicht darauf, sondern stapfte, so schnell er konnte, die Straße hinunter.

Er wusste genau, dass Becki recht hatte. Denn das hatte sie immer. Dennoch hätte er es für den Moment nicht länger zu Hause ausgehalten, mit all diesen Schuldzuweisungen. Es reichte ihm schon, dass er sich selbst schlimme Vorwürfe machte, dass er seinen Job so leichtfertig hingeworfen hatte. Während er also ziellos durch die Straßen wanderte, begann es zu nieseln.

Na toll, dachte Daniel, warf seine Kapuze über den Kopf, presste seine Arme seitlich gegen den Körper und versuchte schneller zu gehen, damit ihm nicht kalt wurde. Er war so verzweifelt wie schon lange nicht mehr. Er wollte eigentlich nichts mehr, als zu Becki zurück und sich mit ihr versöhnen. Aber da stand ihm sein Stolz im Weg. Den würde er schon morgen früh wegwerfen, wenn er dem Abelt in den Arsch kriechen musste, um seinen Job wiederzubekommen. Denn dass es dazu kam, stand außer Frage. Daniel zweifelte nicht daran, dass Becki sich sogar so lange von ihm trennen würde, bis er das getan hatte; nur um ihn zur Vernunft zu bringen.

Es regnete nun immer stärker und Daniel war mittlerweile bis auf die Knochen durchnässt. Vielleicht hatte er ja Glück und starb an einer Lungenentzündung, dann musste er sich doch nicht überwinden, bei seinem Boss zu Kreuze zu kriechen. Daniel lächelte lakonisch. Natürlich würde das nicht passieren; er wollte es auch gar nicht. Sein Leben war bisher ja auch ganz gut verlaufen, warum sollte er sich wünschen, dass es vorbei war? Plötzlich sah er sich erstaunt um. Bei all den Gedanken hatte er gar nicht darauf geachtet, wohin ihn seine Beine getragen hatten. Aber weder kannte er diese Gegend, noch hatte er je vorgehab,t sie kennenzulernen. Da er aber mittlerweile erbärmlich fror, versuchte er, eine Kneipe oder ähnliches zu finden.

Und da war er nun. Diese Bar war das Beste, das er gefunden hatte; aber etwas Gutes konnte er an ihr nicht finden. Er hatte einfach bloß keine Lust mehr, noch weiter durch den Regen zu marschieren, denn mittlerweile war es so spät, dass es auch noch relativ kalt geworden war, und Daniel hasste es eigentlich über die Maßen, krank zu sein. Daher wollte er das Risiko doch lieber minimieren. Und so betrat er die Bar. Und ohne es zu wissen, ein neues Leben.

Am Ende der Nacht

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