Читать книгу Im Zeichen des Rosenmonds - Karl-Heinz Biermann - Страница 6

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Yusuf schlurfte über den langen Gefängnisflur. In den Händen trug er das graue Paket der Gefangenenkleidung und mit weit vorgestreckten Armen hielt er es von seinem Körper weg. Nur schemenhaft lief das Vergangene vor seinen Augen ab. Angestrengt wollte er an das, was hinter ihm lag, zurückdenken, sah aber ständig Blohm vor sich, immer nur Blohm, groß und bedrohlich. Widerstrebend trat er in die Gefängniszelle und ihm wurde erst bewusst, dass er für lange Jahre seine Familie nicht mehr wiedersehen würde, als hinter ihm die schwere Zellentür mit stählernem Krachen ins Schloss fiel.

Er schreckte auf. Das grelle Licht der hoch stehenden Mittagssonne traf sein Gesicht. Blohm hatte den Kofferraumdeckel zugeworfen, wovon er wach geworden war, und noch von den Ängsten seines Traumes benommen, stellte er die Rückenlehne nach vorne. Er schaute Blohm nach, wie der mit einem seiner Koffer in der Hand schräg über die Straße ging und dann bei einem Straßenschild stehen blieb, das wohl eine Bushaltestelle markierte, wie Yusuf zu erkennen glaubte.

Er sah auf die Uhr, es war fast eins. Er musste eingeschlafen sein, kurz nachdem sie hier um zwölf Uhr angekommen waren. Was für ein Albtraum, dachte er. Er stieg aus und reckte sich im grellen Licht der Sonne.

Er blickte die Straße weiter runter und sah das Ortsschild. Er konnte den Namen auf dem Schild in der flirrenden Luft nicht lesen, es interessierte ihn auch gar nicht, wie das bulgarische Dorf nicht weit von Khaskovo hieß. Blinzelnd schaute er zu Blohm hinüber, der an der Haltestelle stand, und er fand dieses Bild komisch, wie einer im Maßanzug und mit einem Koffer neben sich in der prallen Sonne an einer öden Landstraße regungslos auf den Bus wartete. Dann bemerkte er, wie Blohm zu der Kreuzung sah, die vielleicht zweihundert Meter abseits lag und den kleinen Ort mit der Fernstraße E 80 in die Türkei verband. Mit jeder Minute rechnete Yusuf, den Überlandbus kommen zu sehen, denn Blohm hatte ihn während der Fahrt von Ruse hier herunter immer wieder angetrieben, damit er den Bus nicht verpasste, der nur einmal am Tag an diesem Ort vorbeikam, wie er es ihm erklärt hatte. Offenbar war Blohm bestens informiert und jetzt begriff Yusuf auch, warum er ihn immer auf die Stunde genau hatte fahren und Pause machen lasen. Es war genauestens abgestimmt und so waren sie hier pünktlich angekommen, sogar eine Stunde früher, in der er geschlafen und schlecht geträumt hatte.

Blohm war eingestiegen und der Bus ließ eine Staubfahne hinter sich, als er das kurze Stück auf der Landstraße zurück zur Kreuzung fuhr. Yusuf ließ das Taxi an und bog wenig später genauso auf die E 80 Richtung Edirne ab, wie es der Bus zuvor gemacht hatte. Blohms Anweisung war, immer in der Nähe des Busses zu bleiben, quasi in Augenkontakt mit ihm, wie er sich ausdrückte. Über die Grenze hinaus, die jetzt noch eine knappe Stunde entfernt lag, und bis nach Istanbul. Dort war für den Abend, wenn sie angekommen waren, ein Treffpunkt ausgemacht worden, falls sie sich doch aus den Augen verlieren würden. Blohm nannte ihm ein Hotel in Fatih, im südlichen Teil von Istanbul, auf der europäischen Seite an der Einmündung des Bosporus. Yusuf glaubte, diesen Stadtteil von Istanbul nicht zu kennen, jedenfalls erinnerte er sich nicht an diesen Namen, aber er besaß für alle Fälle einen Stadtplan, den Blohm ihm dagelassen hatte.

Jetzt, da er Blohm nicht mehr neben sich spürte, wünschte er sich eine Gelegenheit, unter das Auto zu schauen. Obwohl er ihn in dem Bus einige hundert Meter weiter vor sich wusste, fühlte er sich immer noch unter seiner Kontrolle und es ärgerte ihn. Er konnte sich nicht zurückfallen lassen, er wurde von ihm beobachtet. Der Verkehr floss spärlich und die Sicht auf ihn war daher bestens. Außerdem würde der Bus noch in ein paar Orten, die an der E 80 bis Edirne lagen, anhalten, wie Blohm es ihm erklärt hatte, und es würde auffallen, wenn er nicht mit dem Taxi in der Nähe wäre.

Je länger er darüber nachdachte, umso mehr vermutete er, dass irgendetwas mit dem Auto nicht in Ordnung war und dass Blohm verhindern wollte, es herauszubekommen. Ihm blieben bei diesem Tempo noch drei oder vier Stunden bis Istanbul, aber er wollte sich noch vor der Grenze Gewissheit über den Zustand des Autos verschaffen. Eine Stunde war es bis Edirne, das würde knapp werden, dachte er, es sei denn, der Verkehr würde vor der Grenze zunehmen und er könnte so tun, als sei er aus Versehen außer Sicht geraten.

In zwei Ortschaften war der Bus zu Stopps ausgeschert und Yusuf hatte mit dem Taxi dicht hinter ihm angehalten. Im dritten Ort, einem größeren mit dem Namen Svilengrad, sah er eine Tankstelle. Diesmal fuhr er an dem Bus vorbei, als der anhielt. Er glaubte Blohm am Fenster gesehen zu haben, ganz hinten im Bus. Yusuf bog in die nächste Seitenstraße ab, stoppte das Taxi und wartete, bis er den Bus im Rückspiegel auf der Hauptstraße vorüberfahren sah.

Was sollte er Blohm nachher erklären, dachte er, als er zurück zur Tankstelle fuhr. Dass er tanken musste? Blohm hatte dafür gesorgt, dass der Diesel noch bis Istanbul reichte. Vielleicht die Wahrheit? Was sollte Blohm schon dagegen sagen können, dass er sich vergewissern wollte, was mit dem Taxi nicht in Ordnung war. Blohm könnte ihm Vertrauensbruch vorwerfen, dass er entgegen der Abmachung handelte. Was wäre dann mit den fünfzigtausend Euro? Würde Blohm ihn nicht mehr weiter für sich arbeiten lassen? Er brauchte ihn nach wie vor, beruhigte er sich und beschloss, sein Vorhaben schnell durchzuziehen. Er wies alle Zweifel von sich und fuhr vor die Werkstatthalle der Tankstelle.

Die beiden Mechaniker hievten das Taxi hoch, nachdem er einem von ihnen einen Zwanzig-Euro-Schein gegeben hatte. Sie standen dabei, als er endlich unter den Wagen schauen konnte. Sie sahen aber in den beiden Rohren, die dicht nebeneinander unter dem Fahrzeugboden angebracht waren, nichts Außergewöhnliches. Man konnte diese Rohre ohne weiteres für Tanks halten, die einfach an diese Stelle hingehörten. Yusuf aber sah sofort, dass diese Konstruktion eine Manipulation war.

Er klopfte dagegen, sie klangen nicht hohl. Zur Verstärkung des Fahrgestells dienen die nicht, meinte er zu den beiden und sprach sich dabei doch nur selbst an; die Mechaniker verstanden ihn sowieso nicht. Er wollte an den Rohren rütteln, aber sie waren starr und fest montiert. Er schätzte sie auf ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und sah, dass sie nicht genau in der Mitte unter dem Fahrzeugboden befestigt waren, sondern mehr zur Seite hin. Er vermutete daher einen ungleichmäßigen Schwerpunkt und fand darin die Erklärung für das schwammige Fahrverhalten in den bergigen Kurven. Um die Rohre anzubringen, musste der Boden angehoben worden sein. Das bedeutete, dass auch Veränderungen im Fußraum vor den hinteren Sitzen festzustellen sein mussten. Ihm war derartiges nicht aufgefallen, aber so genau hatte er dort auch noch nicht hingesehen. Er schüttelte mit dem Kopf.

Ihm kam kurz der Gedanke, die Rohre aufschweißen zu lassen, aber dies schien ihm zeitlich zu aufwendig, wenn nicht gar gefährlich. Er musste sich zunächst damit abfinden, dass Blohm ihn hinters Licht führen wollte, und das hier sah nach einer ganz bösen Sache aus. Er wies die beiden Mechaniker an, die nach wie vor neugierig, aber ahnungslos dabeistanden, das Taxi wieder herabzulassen, ging aus der Halle hinaus und lief Blohm direkt in die Arme.

„Was fällt Ihnen ein! Wie kommen Sie dazu, von unserer Route abzuweichen, wir hatten eine Abmachung getroffen.“

Yusuf hörte Blohm zum ersten Mal schnauzen und war wie vom Donner gerührt. Aber dann wehrte er sich.

„Und das hier?“ Er nickte einem der Mechaniker zu und bedeutete ihm, den Wagen noch mal hochzufahren und zeigte dann unter das Auto. „Können Sie mir sagen, was das hier ist?“

„Ich muss Ihnen gar nichts sagen.“ Blohm trat unter das Taxi und warf einen prüfenden Blick auf die Konstruktion. „Ich hatte Ihnen nicht erlaubt, an dem Wagen herumzufummeln.“

Sie haben an dem Auto herumgefummelt!“, bellte Yusuf. „Was haben Sie denn zu verbergen?“

„Machen Sie nicht noch mehr Aufsehen. Lassen Sie den Wagen wieder runter und dann verschwinden wir hier. Haben Sie den beiden etwas gegeben? Dann geben Sie ihnen noch mal etwas, aber nicht aus der Spesenkasse, das bezahlen Sie gefälligst aus Ihrer eigenen Tasche.“ Blohm wartete, bis Yusuf das Taxi aus der Halle fuhr, warf seinen Koffer auf den Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein.

Sie ließen die zwei bulgarischen Mechaniker zurück, die immer noch nicht begriffen, was hier geschehen war, und Yusuf sah, bevor er auf die Straße fuhr, wie sie auf die weiteren zwanzig Euro starrten, die der eine von ihnen in der Hand hielt.

„Jetzt aber los“, trieb Blohm ihn an, „ich habe keine Lust auf die bulgarische Polizei.“

„Erklären Sie mir bitte, was das da unter dem Wagen ist“, forderte Yusuf und versuchte, es streng zu sagen.

Blohm beantwortete die Frage nicht, stattdessen raunzte er ihn weiter an. „Einen ausländischen Mercedes aufzubocken.“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Was glauben Sie, wie viel Neugier das wohl weckt. Welcher Teufel hat Sie eigentlich geritten?“

„Ich musste wissen, was mit dem Taxi nicht stimmt. Ich habe schließlich gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.“

„Dazu mussten Sie mich hintergehen?“

„Wer hier wen hintergeht, haben wir ja gesehen. Sie führen mich an der Nase herum und spielen hier den Empörten. Ich bin derjenige, der das Recht hat, sauer zu sein.“

„Unsere Abmachung war, dass Sie in der Nähe des Busses bleiben und sich nicht heimlich aus dem Staub machen sollten.“

„Ich hab mich nicht aus dem Staub gemacht, ich sah die Tankstelle und wollte die Gelegenheit nutzen, unter den Wagen zu schauen. Sie haben es ja nie zugelassen.“

„Das sollte Sie auch gar nichts angehen, ich habe Sie fürs Fahren engagiert. Sie kriegen eine Menge Geld dafür.“

„Trotzdem. Ich sitze hier mit dem Hintern auf irgendetwas …“ Yusuf wusste nicht, wie er es nennen sollte. „Wenn ich weiterfahren soll, muss ich wissen, was da unten ist!“

Blohm brüllte. „Verflixt! Tun Sie doch einfach das, was ich Ihnen sage!“

Yusuf zuckte zusammen, blieb aber unbeirrt. „Da vorne kommt bald die türkische Grenze. Wenn Sie mir nicht sagen, was wir transportieren, halte ich an und fahre nicht mehr weiter.“

„Sind Sie wahnsinnig geworden, Mann?“

Yusuf duckte sich unter Blohms Brüllerei, aber er nahm sich vor, bei der nächsten Möglichkeit anzuhalten.

„Menschenskind, Sie bekommen von mir fünfzigtausend Euro, da sollte es Ihnen doch egal sein, was Sie transportieren.“ Blohm sagte es wieder leiser.

„Aber nicht auf diese Art und Weise, diese Geheimnistuerei. Was ist denn, wenn wir in Istanbul sind? Geht’s da wirklich um Diamanten? Ich kann Ihnen doch gar nicht mehr vertrauen.“ Jetzt war es Yusuf, der seine Stimme erhob.

„Wir haben ein Geschäft abgemacht und es bleibt so dabei. Von einer zusätzlichen Ladung wollte ich Sie nichts wissen lassen, um Sie nicht unnötig zu beunruhigen, vor allem wegen der Grenzen.“

„Was ist so brisant an der Ladung unter uns, dass Sie den Bus verließen, nur um mich nicht aus den Augen zu verlieren. Warum wollten Sie verhindern, dass ich etwas entdecke?“

Yusuf ging vom Gas. Ein Schild an der Straße wies auf einen Parkplatz in wenigen hundert Metern Entfernung.

„Sie halten jetzt nicht an! Wir haben schon genug Zeit verloren“, schnauzte Blohm.

„Sie sagen mir, was in den Rohren ist! Ich fahre sonst nicht weiter!“

Yusuf stellte ziemlich am Ende des Parkplatzes den Motor ab. Als Blohm immer noch nicht antwortete, spekulierte er. „Diamanten, es sind Diamanten, nicht wahr? Wir schmuggeln die Diamanten bereits in die Türkei hinein! Sie haben gar nicht vor, sie auf dem Rückweg herauszuschmuggeln, wie Sie mir weiszumachen versuchten.“

Blohm schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. „Sie sind ein Narr“, sagte er, „ein verrückter, alter Narr.“

Yusuf stieg aus und ging ein paar Schritte vom Wagen weg. Blohm öffnete die Tür auf seiner Seite, blieb aber sitzen.

„Sie setzen alles aufs Spiel“, rief er ihm zu, „wollen Sie allen Ernstes auf fünfzigtausend Euro verzichten?“

Yusuf blieb unschlüssig stehen.

„Kommen Sie zurück ins Auto“, forderte Blohm ihn auf, „ich sage Ihnen, was in den Rohren ist.“

*

Blohm sah geradeaus durch die Frontscheibe, als er offenbarte, um was es sich bei den Rohren handelte.

„Uran, Atom“, stammelte Yusuf, „um alles in der Welt, was sagen Sie da!“

„Das ist nicht ganz richtig. Es sind bloß Mischoxide, die erst dann eine Wirkung haben, wenn sie im Reaktor zur Kernspaltung eingesetzt werden. Haben Sie keine Angst. Oder glauben Sie, ich würde mich auf radioaktivem Material sitzend durch die Gegend fahren lassen?“

„Im Atomkraftwerk ist es durch Beton abgeschirmt, unter dem Taxi sind es nur Rohre.“

„Sie tun gerade so, als würde jeden Moment ein Atompilz hochgehen. Da passiert nichts, das liegt doch alles in einer Umhüllung aus Blei in den Rohren.“

„Also doch radioaktiv“, lamentierte Yusuf.

„Fahren Sie jetzt endlich weiter.“ Blohm sagte es so, als wollte er beruhigen, dennoch empfand Yusuf eine Bedrohung in dessen Stimme und eine unbekannte Gefahr, die er immer mehr zu spüren glaubte, je länger er mit ihm zusammen war.

„Wie haben Sie sich das eigentlich vorgestellt, mich damit über die Grenz fahren zu lassen?“

„Es kann Ihnen gar nichts passieren. Sie haben ordnungsgemäße Papiere.“

„Auch für die Rohre da unter dem Auto? Was ist, wenn sie die entdecken? Dann bin ich geliefert.“

„Wissen Sie denn nicht“, sagte Blohm bedeutungsvoll, „dass mehr als ein Drittel aller Fahrzeuge in der Türkei mit Gas betrieben wird?“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Jedenfalls werden sie denen auch so vorkommen, wenn sie überhaupt unter den Wagen schauen. Ganz normale Gastanks werden die sehen wie bei so vielen Autos in der Türkei.“

„Sie meinen, die Rohre sehen aus wie Gastanks?“ Yusuf zuckte nachdenklich mit den Schultern. „Trotzdem, ich hab kein gutes Gefühl dabei.“ Unwillig setzte er den Wagen in Bewegung. „Ich lag mit meiner Vermutung also doch richtig, dass etwas mit dem Auto nicht stimmt“, sagte er und es sollte triumphierend klingen, aber es wirkte eher trotzig, wie bei einem Kind. Er wartete, wie Blohm reagierte, aber der blätterte in einer Mappe mit Papieren. „Das Gewicht des Bleies.“ Mit einem kurzen Auflachen untermauerte Yusuf seine Erkenntnis. „Das Blei ist es, was den Wagen schwerer macht.“

„Durch Ihr unsinniges Verhalten ist jetzt ein Teil meines Planes zunichte, das ist es, was alles erschwert“, sagte Blohm, während er auf seine Papiere schaute.

Yusuf erwartete, dass er wieder Vorwürfe zu hören bekäme.

„Ich kann nicht mit Ihnen zusammen im Taxi in die Türkei einreisen, ich erklärte es Ihnen bereits“, fuhr Blohm fort.

„Warum sind Sie nicht im Bus geblieben? Sie brauchten doch nicht zurückzukommen, nur um mich zu überwachen.“

„Werden Sie nicht auch noch frech.“

„Es ist aber so“, wehrte sich Yusuf, „wären Sie im Bus geblieben, wären wir schon längst in der Türkei, ich hätte Sie bald eingeholt.“

Blohm blätterte wieder in seinen Unterlagen. „Der nächste Bus nach Istanbul geht erst morgen“, sagte er. So ungehalten, wie Blohm es auch sprach, für Yusuf schien es gespielt.

„Jetzt weiß ich, warum Sie mit dem Bus einreisen wollten. Ich allein würde in den Knast wandern, sollte an der Grenze die Ladung entdeckt werden.“

„Ich musste Sie allein einreisen lassen, Sie fallen als Türke mit dem Taxi an der Grenze nicht so auf. Aber ich habe keine Lust mehr, Ihnen das immer wieder und wieder zu erklären.“ Unwirsch klappte Blohm die Mappe zu.

Yusufs Gedanken wechselten zur bevorstehenden Grenzüberfahrt. Was wäre, wenn sie tatsächlich auffielen? Vielleicht hatte Blohm guten Grund für seine Behauptung, sich nicht mit ihm zusammen an der Grenze sehen lassen zu dürfen. Das würde sie teuer zu stehen kommen, wenn man sie mit dem Atomkram erwischte. Die türkische Justiz und ihre Gefängnisse waren nicht umsonst berüchtigt.

Er rang mit seinen Gedanken. Natürlich musste Blohm aus dem Taxi verschwinden. Oder er versagte ihm den Dienst, und zwar sofort, wie er es vor zwei Tagen schon einmal überlegt hatte. Er suchte nach anderen Möglichkeiten.

„Wenn Sie in einem Lastwagen unterschlüpfen, kommen Sie unbemerkt in die Türkei.“ Yusuf wartete darauf, wie Blohm seinen Vorschlag aufnehmen würde. Der schaute mit fragendem Blick auf.

„Sozusagen als Anhalter“, bekräftigte Yusuf seine Überlegung.

„Sie meinen, ich soll mich in einem dieser Lastwagen verkriechen?“ Blohm zeigte nach vorne durch die Scheibe auf einen Lkw, den sie gerade überholten wie einige schon vorher. „Da kann ich ebenso entdeckt werden.“

„Das Risiko müssen Sie eingehen, genau wie ich, oder glauben Sie, ich fahre nachher mit Vergnügen über die Grenze, jetzt da ich weiß, worauf ich sitze.“

Blohm sah ihn kopfschüttelnd an. „Absurde Idee“, erwiderte er und tat dann so, als schaute er gelangweilt aus dem Seitenfenster zum rechten Straßenrand hinaus. „Wir müssten erst mal einen Fahrer finden, der das mitmacht.“

„Bezahlen Sie ihn großzügig, an Geld mangelt es Ihnen doch nicht.“

Blohm schien den Unterton überhört zu haben. „So wie ich das hier auf der Karte gesehen habe, gibt’s vor der Grenze keinen größeren Rastplatz mehr, jedenfalls ist da offiziell keiner verzeichnet.“

„Wir halten einen türkischen Lkw an, ich mach das schon, ich werde einen Fahrer überreden. Sagen Sie mir nur, wie viel Ihnen das wert ist.“ Yusuf hoffte auf Blohms Zustimmung. Innerlich triumphierte er schon.

„Sehen Sie, wie gut es war, Sie zu engagieren? Jetzt machen Sie sich so langsam bezahlt“, sagte Blohm.

„Genau, und ich koste jetzt zehntausend mehr!“

*

Blohms wütende Reaktion hatte Yusuf nicht anders erwartet, nachdem er mehr Geld gefordert hatte. Aber er glaubte, ihn in der Hand zu haben. Er drohte ihm noch mal, nicht mehr weiterzufahren, wenn er nicht zehntau­send Euro zusätzlich bekäme. Blohm beschimpfte ihn, dass durch seine Schuld der Zeitplan durcheinander gekommen sei. Yusuf erwiderte, ob das überhaupt eine Rolle spiele, wenn sie zwei oder drei Stunden später in Istanbul eintreffen würden. Immerhin habe er ihn ja ohne große Pausen bis in die Nacht hinein fahren lassen, da müssten sie doch genug Vorsprung haben. Blohm bekam wieder einen Wutausbruch, lenkte aber schließlich ein und erhöhte die Summe auf sechzigtausend Euro.

Yusuf sah immer wieder zum Straßenrand nach parkenden Lastwagen. Nach Schildern, die auf einen größeren Rastplatz hinwiesen, hielt er vergeblich Ausschau. Anscheinend gab es keinen mehr bis zur Grenze, genau wie Blohm es gesagt hatte.

„Wofür wird eigentlich das Atomzeug in der Türkei gebraucht?“, wollte er wissen.

„Das weiß ich nicht, ich bin nur der Überbringer“, stieß Blohm mürrisch hervor.

Yusuf hatte das Gefühl, dass Blohm über seine Forderung nach mehr Geld noch nicht hinweg war.

„Vielleicht für Waffen? Oder Atomforschung? Auf jeden Fall für eine illegale Sache, vielleicht sogar für den Iran“, legte er nach.

„Ich weiß es nicht. Ich müsste genauso spekulieren wie Sie“, beharrte Blohm.

„Es wird weiter in den Iran geschafft, die experimentieren doch dort an so einem verbotenen Atomprojekt.“

„Was Sie nicht sagen.“ Blohm zeigte aus dem Fenster. „Beobachten Sie lieber die Straße nach einem geeigneten Lastwagen für mich.“

„Noch heute Abend suchen wir diesen Händler in Istanbul auf, egal wie spät wir ankommen“, sagte er nach einer Weile. „Er wird das Taxi entgegennehmen. Ich kümmere mich um die Rohre, die Verkaufsverhandlungen für den Wagen überlasse ich Ihnen. Da halte ich mich raus. Mal sehen, was Sie draufhaben.“

„Da bin ich aber gespannt, was wirklich in den Rohren ist“, erwiderte Yusuf.

„Das lassen wir mal, da sind Sie nicht dabei. Sie könnten doch verstrahlt werden.“ Blohm lachte kurz auf, es klang spöttisch. „Wenn wir das erledigt haben“, fuhr er fort, „kümmern Sie sich gleich morgen um unseren dritten Mann.“

„Sie wissen, dass ich in Istanbul niemanden kenne.“

„Früher sind Sie doch immer nach Izmir gefahren, rufen Sie dort jemanden an, dem wir vertrauen können.“

„Wie ich schon sagte, mein Cousin ist ein einfacher Bauer, der kann von seinem Land nicht weg.“

Sein Jugendfreund fiel ihm ein, sein Freund aus Kindertagen, den er schon vor Ewigkeiten aus den Augen verloren hatte. Als Jungen hatten sie in den Ferien, die er oft bei seinem Onkel in einem kleinen Dorf bei Izmir verbrachte, zusammen gespielt.

Tief aus seinem Innersten tauchten die Erinnerungen auf. Wie schön es damals gewesen war, und dieses Mädchen später. Und wie er sich jedes Jahr aufs Neue auf die Ferien gefreut hatte, um das Mädchen wiederzusehen, immer mehr, je älter er wurde. Gülay hieß sie. Gülay … In Gedanken sprach er den Namen und er sprach ihn langsam, als wollte er ihn sich auf der Zunge zergehen lassen. Er hatte lange nicht mehr an sie gedacht, an ihre gemeinsame Freundin in diesem kleinen Dorf. Sein Freund und er waren damals gleichermaßen in Gülay verliebt. Wenn man überhaupt von Liebe sprechen konnte, sagte er sich in seinen schwärmerischen Gedanken, sie waren doch noch Kinder damals. Wenigstens so lange, bis sein Freund und Gülay eines Tages heirateten.

„Ich wüsste jemanden, auch in der Nähe von Izmir.“

Blohm horchte auf.

„Ich hab aber nichts über ihn, keine Telefonnummer, nichts mehr. Ich weiß gar nicht, wo ich ihn erreichen kann, vielleicht lebt er inzwischen ganz woanders.“

„Wie weit ist das weg von Istanbul?“

„Fast eine Tagereise.“

Blohm überlegte eine Weile. „Und in Istanbul kennen Sie wirklich keinen Menschen?“

Yusuf schüttelte den Kopf. Er dachte an seinen Freund und an Gülay. Wie lange war das schon her? Nach ihrer Hochzeit war er nie mehr dort gewesen, auch später nicht, als er mit seiner Familie immer wieder mal von Deutschland aus zu seinen Verwandten nach Izmir in den Urlaub gefahren war. Dieses kleine Dorf hatte er jedes Mal abseits liegen lassen.

„Wer ist dieser Jemand da bei Izmir?“, wollte Blohm wissen. „Erzählen Sie mir von ihm.“

„Es ist ein Freund aus alten Zeiten, lange her.“ Yusuf wusste nicht, wo er anfangen sollte. Als sie Jungen waren? Das würde Blohm nicht interessieren. Die Geschichte mit Gülay wollte er nicht erwähnen.

„Wir heckten so manche Streiche aus, machten alles zusammen“, erzählte er dann doch, „pflückten oft fremde Früchte oder entführten schon mal einen Esel. Manchmal halfen wir den Bauern bei der Ernte.“

Weiter voraus sah er seitwärts der Straße mehrere Lastwagen nebeneinander stehen. Doch noch ein Rastplatz, dachte er, vielleicht einer, der nicht auf der Karte verzeichnet war. Er wies Blohm darauf hin und ging mit der Geschwindigkeit runter. Blohm nickte zustimmend.

„Mit achtzehn mussten wir beide zum Militär“, fuhr Yusuf mit der Geschichte um seinen Freund fort, „als wir uns danach wiedertrafen, war er verheiratet.“

Er lenkte das Taxi auf den Parkplatz, der sich tatsächlich als eine, wenn auch nur kleine Raststätte erwies; abseits standen einige Leute vor einem Imbiss-Stand, er vermutete die Fahrer der Lastwagen dort.

„Kurz darauf ging ich als Gastarbeiter nach Deutschland, das war vor dreißig Jahren.“ Er stieg aus dem Auto. In der Tür zu Blohm gebückt sagte er ihm, dass er mit den Fahrern sprechen wollte. Blohm nickte wieder.

Yusuf wollte es geschickt anstellen und so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich ziehen, die Fahrer warfen schon ihre Blicke nach dem Taxi. Er bestellte eine Dose Coca-Cola und trank sie am Tresen des Imbiss-Standes, während ihn die Fahrer musterten. Mindestens zwei von ihnen, so konnte er hören, waren Türken.

Er kaufte sich noch Falafeln, die auch die Fahrer aßen. Die Falafeln wurden ihm in einem aufgeklappten Fladenbrot gereicht und da sie ihm sehr gut schmeckten, schloss er daraus, dass die Lkw-Fahrer diesen Rastplatz des besonderen Imbisses wegen ansteuerten, eine für diese Gegend untypische Speise, die eigentlich erst im arabischen Raum vorkam und dort sehr beliebt war. Es schien ein Insider-Rastplatz zu sein, der daher auf keiner Karte verzeichnet war.

Aufmerksam sah er zu einem Mann, der gerade be­zahlte. Er schaute ihm nach, wie er zu seinem Lastwagen ging, einem langen Sattelzug mit ausgebeulter Abdeckpla­ne über seiner Ladung. An dem Nummernschild erkannte Yusuf, dass es ein Bulgare war. Er sah wieder zu den anderen. Die kauten und tranken und sie redeten türkisch. Dann blickte er zum Taxi und registrierte, wie Blohm zu ihnen herübersah. Yusuf wurde sich seiner Sache immer sicherer.

Er musste fast eine halbe Stunde warten, bis einer der Fahrer Anzeichen machte, dass er demnächst seine Pause beenden würde. Als er endlich zu seinem Lastwagen ging, hing sich Yusuf an ihn, für die anderen so unauffällig, wie es gerade ging. Es war einer der Türken.

Der Fahrer hatte den Lastwagen schon angelassen, als Yusuf zu ihm an der noch geöffneten Fahrzeugtür hochsah und auf Türkisch zurief, dass er ihm ein Geschäft vorzuschlagen hätte. Der Fahrer hielt ihm seinen Kopf entgegen, und es sah aus, als würde er angestrengt hinhören, stellte dann den Motor ab, um besser verstehen zu können, was ihm da Merkwürdiges vorgetragen wurde.

Yusuf kehrte zum Taxi zurück. Er sagte nichts, als er dem abfahrenden Lkw hinterherschaute. Blohm schien zu lauern. „Und? Wohl keinen Erfolg gehabt bei Ihren Kollegen?“

Yusuf ließ den Wagen an. Er sah zu den Fahrern am Imbiss-Stand hinüber, als er langsam über den Rastplatz steuerte. Aber die waren anscheinend immer noch mit ihrer Pause beschäftigt und schenkten dem Taxi keine Beachtung mehr. Yusuf bog auf die Hauptstraße ab.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Blohm harsch. „Die Grenze ist nicht mehr weit. So langsam muss uns etwas einfallen.“

„Halten Sie Ihr Geld bereit.“

Blohm schaute verdutzt.

„Sehen Sie den Lkw dort unter den Mandelbäumen in der Parkbucht? Der hat eine Panne.“

„Sie meinen, das ist der Lastwagen von vorhin?“

„Genau. Wir fahren jetzt dicht an ihn ran. Wenn wir ausgestiegen sind, müssen Sie dem Fahrer Ihr Geld zeigen. Ich sicherte ihm tausend Euro zu und er will das Geld vorher sehen, bevor Sie bei ihm einsteigen. Das ist doch in Ihrem Sinne?“

Blohm nickte, er schien beeindruckt, wollte Yusuf erkennen.

Auf der zur Hauptstraße abgewandten Seite des Lastwagens zeigte Blohm dem türkischen Fahrer, der so tat, als würde er nach irgendetwas unter seinem Fahrzeug schauen, einige Hundert-Euro-Scheine, die er aber in seiner Brieftasche ließ.

„Sagen Sie ihm, dass er das Geld bekommt, sobald ich sicher über die Grenze bin“, sagte er zu Yusuf.

Blohm kletterte die Stiegen zum Fahrerhaus hoch. Der Fahrer hob die schmale Liege in der Schlafkabine an und bedeutete ihm, dass er darunter kriechen sollte. Der Fahrer nahm noch eine Wolldecke und deckte ihn mit dieser völlig zu. Yusuf sah, wie der Fahrer die Liege vorsichtig runterließ, als wollte er prüfen, ob Blohm vollständig darunter passte.

„Er bekommt doch keine Luft da drinnen.“

Der Fahrer hob das kleine Bett wieder an. „Schon gut, ich mach’s erst kurz vor der Grenze zu, er wird schon nicht ersticken. Ich fahre jede Woche rüber, die kennen mich dort. Und wenn die wirklich kontrollieren wollen, muss dein Freund noch etwas mehr Geld rausrücken.“ Er rieb seinen Daumen mit dem Zeigefinger und Yusuf erwartete, dass er spöttisch grinsen würde, doch der Fahrer hantierte ernst und beflissentlich, genauso wie vorher. Der Motor des Lastwagens sprang an. Blohm schlug die Decke zurück und kam mit seinem Kopf hervor. Yusuf fand dieses Bild lächerlich.

„Bis heute Abend in Istanbul“, sagte Blohm und sah zu ihm runter, „wir treffen uns wie verabredet im Hotel in Fatih.“

„In Ordnung“, brummte Yusuf und sah zu, wie Blohm sich wieder ganz unter die Liege quetschte. Er merkte ihm an, dass ihm dieses ganze Versteckspiel offensichtlich überhaupt nicht behagte, und ein spöttisches Grinsen legte sich über sein Gesicht.

Im Zeichen des Rosenmonds

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