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Vorwort zur zweiten Auflage

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Der hier in neuer Form vorgelegte Text wurde sechs Jahre vor dem Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 veröffentlicht. Ich habe den Text überarbeitet, teilweise gekürzt, an anderen Stellen auch erweitert und neuere Entwicklungen einbezogen. Gerade jene Teile aber, die sich auf das Geld und die Geldgier bezogen, konnten für diese zweite Auflage nahezu unverändert übernommen werden. Die darin formulierte Diagnose, dass die Rechnung in Geld auf einer illusionären Denkform beruht, wurde in der Finanzkrise auf eindrucksvolle und für viele Menschen schmerzhafte Weise Wirklichkeit. Ich möchte damit nicht behaupten, über besondere prognostische Fähigkeiten zu verfügen, auch wenn mir das gelegentlich unterstellt wurde.3 Prognosen sind in einer Welt der Verblendung gar nicht möglich – aus zwei Gründen: Einmal gründen in buddhistischer Diagnose die menschlichen Handlungen überwiegend in einem Irrtum über die Stellung des Menschen in der Welt. Auf der Grundlage eines Irrtums, eines Nichtwissens, werden sie durch Begierden und Aggression bewegt, und dies sind irrationale, wenngleich vielfach in einem rationalen Mäntelchen versteckte Motive. Wie sollte das Gesamtergebnis von Handlungen in der Gesellschaft, die irrationalen Leidenschaften folgen, vernünftig vorhersehbar sein? Zum anderen vollzieht sich das individuelle Handeln in gegenseitiger Abhängigkeit von den Handlungen anderer und in Abhängigkeit von der Natur, die insgesamt ein völlig undurchdringliches Geflecht bilden. Man kann also zwar allgemeine Gründe für gesellschaftliche Entwicklungen entdecken, nicht aber für bestimmte Ereignisse die vielfältigen Ursachen. Zugleich zeigt sich hier – aus anderer Perspektive –, dass die im nachfolgenden Text formulierte These, Ökonomie als Wissenschaft und als Ethik sind nicht zu trennen, eine neue Illustration durch die Finanzkrise erhalten hat. Als ich in meinen früheren Arbeiten zur Wirtschaftsethik und Ökonomie – vor etwa 15 Jahren4 – von Gier gesprochen habe, bezeichneten manche Fachkollegen dies als »unwissenschaftlich«. Inzwischen hat man weitgehend verstanden, dass Krisen durch irregeleitete Motive hervorgerufen werden, und sie nicht Ergebnis von »Naturgesetzen der Wirtschaft« sind. Auch wenn der Begriff Geldgier inzwischen häufig verwendet wird, so fehlt es doch noch gänzlich an einem Verständnis der wirklichen Grundlagen des ökonomischen Prozesses. Einen Beitrag zu diesem Verständnis und zu seiner ethischen Dimension versucht dieses Buch zu leisten.

Dessen zentrale Aussage lässt sich relativ kurz zusammenfassen: Das, was wir »Welt« – damit auch Weltwirtschaft – nennen, ist das Ergebnis menschlichen Handelns. Das menschliche Handeln wiederum ist das Ergebnis einer bestimmten Motivation. Und die zentrale Diagnose im Buddhismus lautet: Diese Motivation lässt sich durch drei Geistesgifte (Gier, Aggression, Unwissenheit) als eine irregeleitete, als eine täuschende diagnostizieren. Weil die Motivation von nahezu sieben Milliarden Menschen auf einer fundamentalen Unwissenheit beruht, nämlich auf dem Wahn oder Glauben, jeder sei für sich ein unabhängiges Ich, das einer Welt von ihrerseits mit sich identischen Dingen gegenübersteht, eben deshalb sieht dieser Planet genau so aus, wie er täglich erscheint: Ein Planet des Hungers, der Wirtschaftskrisen, der Armut neben unfassbarem Reichtum, der Kriege und Bürgerkriege, der Lüge und der Manipulation des Geistes durch Medien, ein Planet der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur, gegenüber anderen Lebewesen, aber auch gegenüber den anderen Menschen. Sie erscheinen nicht als Mit-Menschen (oder Mit-Lebewesen), sondern als Konkurrenten, als Objekte unserer Begierden und Projektionen, auch der vielfältigen Aggression.

Diese Kernaussage des Buddhismus, dass die menschliche Motivation durch Nichtwissen irregeleitet ist, bietet auch eine Antwort auf die Frage, weshalb es einerseits nun schon seit Jahrhunderten so viele Vorschläge gibt, die vielfältigen Leiden und Ungerechtigkeiten auf unserem Planeten zu beenden, während andererseits alle diese Vorschläge wiederum in Konkurrenz zueinander stehen und sich in der Verwirklichung meist als neue Enttäuschung erwiesen haben. Das dominierende Feld, auf dem die Vorschläge für Veränderungen gemacht werden, ist seit langer Zeit die Wirtschaft. Eben diese Frage ist das zentrale Thema des vorliegenden Textes.

Ich möchte auf diesen Punkt vorab ein wenig genauer eingehen, denn in den letzten Jahren wurde ich nach Vorträgen, in Interviews oder in vielen persönlichen Gesprächen immer wieder gefragt: »Welche Vorschläge machen Sie nun aus buddhistischer Perspektive? Wie sollen wir die Wirtschaft umgestalten, reformieren?« Ich muss dann zunächst leider eben diese Erwartungshaltung enttäuschen. Wenn die buddhistische Diagnose, die im vorliegenden Buch bezüglich der Wirtschaft, des Geldes, der wirtschaftenden Personen systematischer entfaltet wird, richtig ist, wenn das menschliche Handeln von knapp sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten auf einem grundlegenden Nichtwissen beruht, auf dem Glauben an ein Ego als milliardenfacher Weltmittelpunkt mit allen daraus hervorgehenden irrenden Motivationen, dann gilt: Es gibt für diesen Planeten nicht ein Zentrum, einen zentralen Ansatz, einen archimedischen Punkt, von dem aus man die Welt verändern oder aus den Angeln heben könnte. An so etwas zu glauben, das ist gerade ein nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften gepflegter Irrtum. Es handelt sich hier um eine allgemeine Projektion der Ich-Illusion.

Meine Analyse und Kritik setzt genau an dieser Illusion an. Es geht zunächst um die Kritik dieser Illusion und die Einsicht in die Wahrheit jenseits dieser Illusion: Wir Menschen leben untereinander und mit der Natur in einem unaufhörlichen Fluss gegenseitiger Abhängigkeit. Die dieser Abhängigkeit entsprechende Motivation ist das Mitgefühl mit anderen Menschen und Lebewesen, die Achtsamkeit auf die Umwelt und auf die eigenen Gedanken. Es gibt keine höhere Ordnung, die ein Gott als Gesetz der Welt auferlegt hat, auch keine höhere Ordnung, die aus einer vermeintlichen »Natur« des Menschen hervorgehen würde und die wir zu beachten hätten. Die Welt der Menschen in Relation zur Natur ist vielmehr das Ergebnis einer irregeleiteten Motivation. Und eben das kann man täglich beobachten. Ohne eine Erkenntnis und Veränderung dieser Motivation ist jeder Vorschlag zur Weltveränderung oder Weltverbesserung auf Sand gebaut und führt nur in einen neuen Irrtum.

Ich möchte das kurz an einigen Beispielen erläutern. Zunächst einmal fällt auf, dass all die vielen Vorschläge, die zur Verbesserung oder Reform der Wirtschaft gemacht werden, von einem fiktiven Ego namens »Wir« ausgehen. Auch »Wir« ist ein irrendes Ich: Wir als Deutsche gegen Ausländer, als Christen oder Moslems oder Buddhisten gegen je andere Religionen, wir als Weiße gegen Farbige, wir als Frauen gegen die Männer (oder umgekehrt), wir als Intellektuelle gegen das unwissende Volk, wir als Volk gegen »die da oben«, oder einfach nur wir als Anhänger des Fußballvereins Kick und Bolz gegen alle anderen Vereine. Ebenso lauten dann die Forderungen: Wir müssen dies oder das tun. Aber wer ist »wir«? Die in Deutschland Lebenden? Beziehen wir die übrigen europäischen Länder, die USA, China, Indien, Japan und ganz Asien, Afrika und Südamerika mit ein? Wenn man also z.B. sagt, Islamic Banking ist die Lösung für die Finanzkrise – soll das auch für die Wall Street gelten, und wenn ja, wie überzeugt man New Yorker Broker davon? Dasselbe gilt für Mikrokredite, Regiowährungen, das Grundeinkommen, ethisches Investment, Gutscheinsysteme, Tauschringe, Fairtrade, Genossenschaften oder lokale Experimente ohne Geldverwendung. All diese Vorschläge – bei denen ich immer wieder aufgefordert werde, mich ihnen anzuschließen – lassen die Frage völlig offen, wie eine durch Geldprozesse und globale Arbeitsteilung verknüpfte Weltwirtschaft von einer Idee, also von einem Zentrum aus neu gestaltet werden soll. Vor allem: Man übersieht, dass solche Veränderungsvorschläge nie einsam in einem leeren Raum gemacht werden, sondern in Wettbewerb zueinander, in einer Welt, die unaufhörlich durch neue Ideen verändert wird. Die Verbesserungsvorschläge widersprechen sich in vielen Punkten und konkurrieren mit- und gegeneinander.

Betrachten wir den wichtigsten und gewaltigsten Veränderungsvorschlag des 20. Jahrhunderts: den Kommunismus. Die Marxisten haben die teilweise schrecklichen Auswüchse des Kapitalismus durchaus zutreffend gebrandmarkt und daraus den Schluss gezogen: Der Kapitalismus und das Geld müssen abgeschafft werden. Es war – ökonomisch betrachtet – die radikalste Bewegung, seit es Geldwirtschaften gibt. Doch was zeigte sich? Man erkannte, dass »Kapitalismus« eine Abstraktion ist, dass es um konkrete Staaten und Ökonomien, mächtige Regierungen und Armeen ging, die nicht so einfach einer neuen Idee Platz machten. Also hat man durch gewaltsame Revolutionen (in Russland, China usw.) die alten Systeme beseitigt, die alte Wirtschaft zerschlagen. Was ist dann übrig geblieben? Ein Chaos, und in diesem Chaos blieb der einzig »ordnende« Faktor die Gewalt der Revolutionäre, der Armee. So wurde aus den kommunistischen Idealen das fürchterliche Schrecknis des Stalinismus, des Maoismus mit Millionen Toten. Der Gedanke, man könne die Welt durch eine Weltrevolution neu gestalten, erwies sich als tödlicher Irrtum. Doch betrachtet man andererseits die Antwort auf den Sozialismus – die neoliberale »Konterrevolution« –, die in den 1980er Jahren systematisch in nahezu allen Marktwirtschaften weltweit vorangetrieben und danach weiter verschärft wurde, dann erkennt man nun das Ergebnis: Die Freigabe der Märkte hat weltweit die Armut in Krisen immer wieder vergrößert, der Hunger hat nicht abgenommen. Die drängendsten Probleme (Verknappung der Rohstoffe, Desertifikation, Klimakatastrophe, leer gefischte und kontaminierte Weltmeere usw.) wurden durch die Freigabe der Märkte nicht nur nicht gelöst, sondern vielfach überhaupt erst hervorgebracht, wenigstens beschleunigt. Wieder ist ein Versuch, eine Idee global umzusetzen, gescheitert.

Wenn man sich nun auf kleiner Ebene um Reformen bemüht, so ist das begrüßenswert und sicher oft hilfreich und kann (allgemein gesagt) Leiden mindern. Doch gibt es für ein Weltsystem, das auf Unwissenheit beruht, eben nicht eine Lösung, eine Antwort. Die Weltwirtschaft beruht auf der Konkurrenz der selbstsüchtigen Interessen. Wenn man nun seinerseits in Konkurrenz dazu sich ein System ausdenkt, wie das Geld neu zu organisieren, das Einkommen neu zu verteilen sei usw., dann hebt man die grundlegende Voraussetzung nicht auf, sondern reproduziert sie nur auf einer weiteren Stufe. Deshalb sind ein interkultureller und interreligiöser Dialog in gegenseitiger Achtung und Toleranz die richtige Antwort auf dieses Problem. Denn zunächst ist der Gegensatz der vielfältigen Anschauungen und kulturellen Formen auf friedliche, im Diskurs ausgetragene Weise zu mildern, und es sind Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Eine Welt, die sich im Irrtum befindet, weil sie vom individuellen Interesse ausgeht und dies praktisch und alltäglich immer wieder neu begünstigt, kann nicht ohne Veränderung der grundlegenden Motivation verbessert werden. Der Buddhismus bietet hier einen doppelten Weg an: Zum einen das Geistestraining, das eine Kritik aller egoistischen, irrtümlichen Denkformen in den verschiedensten Erscheinungsformen zur alltäglichen Praxis macht. Dies ist vor allem die Methode der Schule des Mādhyamaka, des mittleren Weges. Dieser – nur auf den ersten Blick – »negativen« Methode stellt man zum anderen im Buddhismus das systematische Einüben von Mitgefühl zur Seite. Die Motive der Menschen sind nicht angeboren, sie sind nicht durch »das« Gehirn bedingt und auch nicht Produkt eines »gesellschaftlichen Seins«, das angeblich das Bewusstsein bestimmt. Motive der Menschen werden in der Erziehung, in der Schule und Hochschule, in den Medien und der Öffentlichkeit systematisch – wenn auch nicht bewusst – immer wieder neu im Geist der Menschen eingeübt. Die menschliche Motivation ist das Ergebnis eines unaufhörlichen Trainings. Nur haben wir als Trainer die verkehrten Vorbilder gewählt: den auf Erfolg getrimmten Manager, der eisern seine Ziele verfolgt (und andere niederkonkurriert); Leinwandhelden, die sich gegen andere (mit viel Gewalt) durchsetzen; Erzieher, die das Eigeninteresse fördern und eine Gemeinwohlorientierung als »Gutmenschentum« lächerlich machen oder gar Comicfiguren aus Computerspielen. Wirkliche Erziehung dagegen erfordert Menschen, die Mitgefühl kennen und systematisch eingeübt haben, die das Wissen um den Umgang mit eigenen Gedanken und Gefühlen auch als Wissenschaft vom Geist weitergeben können. Dies aber ist das Charakteristikum des buddhistischen Weges. Ohne eine systematische Erziehung zum Mitgefühl und zur durchaus kritischen Erkenntnis der eigenen und gesellschaftlichen Denkformen wird es keine wirkliche Verbesserung geben. Es werden nur immer wieder neu von einem fiktiven Zentrum aus Vorschläge zur Weltverbesserung, zur Geldreform, zur Umverteilung des Einkommens oder gar zur Abschaffung des Kapitalismus gemacht.

Im Abendland sind wir alle von der Tradition geprägt, die Platon begründete und die behauptet, dass die Wirklichkeit aus Ideen hervorgeht. Dieser Gedanke hat einen richtigen Kern; auch der Buddha sagt: »Durch das Denken wird die Welt geleitet; durch das Denken wird die Welt hin und her gezerrt. Das Denken ist das einzige, dessen Gewalt alle folgten.«5 Deshalb muss man das Denken von irrigen Gedanken reinigen. Und der wichtigste Irrtum ist die Ich-Illusion, die Vorstellung von Milliarden Menschen, sie seien – jeweils apart für sich – der Mittelpunkt der Welt und deshalb berechtigt, Gier und Aggression aus »Selbstinteresse« frei zu entfalten. Wenn man betont, man habe »Ideen«, die man verwirklichen wolle, so verkennt man die Struktur der Wirklichkeit und hält ein fiktives Zentrum fest, in dem die Idee und ihr Träger nicht mehr hinterfragt werden. Ideen sind einseitig und abstrakt; die soziale Wirklichkeit ist vernetzt, fließend und das Ergebnis von vielen verwirrten, verblendeten Handlungen. Wenn man in dieser Wirklichkeit eine abstrakte Idee – welche auch immer und wie »gut« man es auch immer damit meint – umsetzen möchte, dann wendet man sich gegen diese Wirklichkeit. Hegel sagte einmal mit Blick auf die Französische Revolution: »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.«6 Die Verwirklichung von Ideen, damit alle Vorschläge zur Weltveränderung, Programme zur Neuprogrammierung des ganzen Planeten, wollen diese soziale Wirklichkeit von außen gestalten und wenden sich darin gegen diese Wirklichkeit von anderen Ideen. Das ist der einfache Grund, weshalb »neue Ideen« dann in Konkurrenz zu anderen Ideen geraten, und ehe man es sich versieht, ist man verstrickt in Streit, bis hin zur Gewalt.

Eben deshalb ist das vorrangige ethische Prinzip im Buddhismus die Gewaltfreiheit und eng damit verknüpft die Toleranz anderen Anschauungen gegenüber. Der sozial engagierte Buddhismus7 – jedenfalls meinem, im vorliegenden Buch entwickelten Verständnis zufolge – hat keine »Idee« von einer idealen Gesellschaft, die man verwirklichen und in Konkurrenz gegen andere Ideen durchsetzen müsste. Er geht exakt den umgekehrten Weg und untersucht, weshalb die Gesellschaft nicht das Glück bietet, das sich die Menschen erhoffen, das die Medien verkünden und das zu erstreben als Menschenrecht gilt. Der Weg, anderen zu helfen, kann nur das Gespräch, das Argument und das praktische Vorbild sein, ohne anderen etwas Bestimmtes als Gesellschaftsform aufnötigen zu wollen. Hinweisen möchte ich darauf, dass – was übrigens neuerdings auch Hirnforscher mit Erstaunen entdeckt haben – sich die Motivation, die Einübung von Mitgefühl systematisch üben lässt, dass diese Übung schrittweise die Einübung von Egoismus, Ellenbogen und nichtigen Begierden, wie sie in der vorherrschenden Wirtschaftsform alltäglich in Werbung und Medien, in der Ausbildung und in den Wissenschaften propagiert wird zurückdrängen kann. Der Ort der Veränderung ist der fiktive Ego-Prozess, so paradox das zunächst klingen mag. Nur wenn jeder selbst und aus freien Stücken bereit ist, Achtsamkeit und Mitgefühl immer mehr zum Leitstern seines Lebens zu machen, wird sich die Gesellschaft von innen her, vom Denken her verändern. Nicht in eine vorgeformte Richtung, nicht als Verwirklichung einer gegebenen »Idee«; wohl aber verändert sich dadurch die Gesellschaft in ihrem Innersten, im Denken und Erleben der Menschen. Die äußeren Formen, Institutionen, Prinzipien oder Ideale spielen dann keine besondere Rolle mehr. In jeder Situation ist Befreiung und das Glück der Gelassenheit den Geschäften der Welt gegenüber möglich.

Welcher »Reformvorschlag« auch immer Mitgefühl und Achtsamkeit fördert, das Leiden vermindert, wird deshalb von sozial engagierten Buddhisten begrüßt werden. Sie selbst haben keine vorgefasste, einseitige Idee vom »Wesen der Gesellschaft«, außer der kritischen Einsicht, dass die Gesellschaft meist das Resultat von Egoismus und irrigen Auffassungen, eher selten von Gemeinsinn und Mitgefühl ist. Der Buddha hat den Menschen viele praktische Ratschläge in ihrer konkreten Lebenssituation gegeben. Dennoch hat er ausdrücklich keine Theorien, keine Ansichten oder Ideen über die Menschen und die Gesellschaft vertreten. Und Nāgārjuna, der Vater des Mādhyamaka, der Philosophie des Mittleren Weges, betonte immer wieder, dass er zwar helfe, Irrtümer bei anderen Denkformen zu durchschauen, selbst aber ausdrücklich keine Denkform vertrete.8 Darin liegt eine tiefe Weisheit, die westlichem Ideenglauben nicht leicht einsichtig zu machen ist: Wer eine bestimmte Idee oder Theorie (z. B. zur Reform der Wirtschaft) vertritt und verteidigt, der tritt dadurch in Konkurrenz zu anderen Ideen. Ideen unterscheiden sich von anderen, sie haben sozusagen ihr eigenes »Ego«, das man sich dann als Anhänger dieser Idee zu eigen macht. Der buddhistische Weg verläuft anders. Er nimmt den Ideen von innen ihren Ichkern und verhilft zur Erkenntnis der notwendigen Einseitigkeit jeder Theorie der Gesellschaft oder der Weltwirtschaft. Dieser Weg ist der Weg des Mitgefühls, der Achtsamkeit – ein Weg des Loslassens, nicht des Ergreifens von Ideen. Dann kann sich jeder in eine konkrete Wirklichkeit einfügen, ohne auf diese Wirklichkeit und ihre Gegensätze hereinzufallen und sich zu sehr beunruhigen zu lassen. Deshalb ist die buddhistische Wirtschaftsethik offen für alle konkreten Initiativen und Veränderungsvorschläge, offen für Zusammenarbeit in allen das Leiden mindernden Initiativen, solange nur die Menschen aus eigener Einsicht handeln und darin vor allem Toleranz anderen gegenüber üben. Im Buddhismus werden nicht Denkfehler toleriert, wohl aber betont diese Lehre das Mitgefühl mit Menschen, die ihnen erliegen. Dies ist die Praxis von Toleranz, Gewaltfreiheit, vernünftigem Argumentieren und liebender Güte allen lebenden Wesen gegenüber. Alles andere ergibt sich dann in jeder Situation des Alltags, motiviert durch diesen Geist, ganz von selbst – immer wieder neu, denn bleibend ist nur der Wandel.

Gröbenzell, 15. Dezember 2010

Buddhistische Wirtschaftsethik

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