Читать книгу Entscheidung im Wattenmeer - Karl Hemeyer - Страница 7

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2. LOVE IS IN THE AIR

Jo schaute Simone lange an. Er versuchte zu lächeln, nahm einfach eine ihrer Hände in seine und fragte fast flüsternd: „Können Sie sich vorstellen, schon heute Abend mit Ihrer guten Laune einen gerade etwas neben sich stehenden älteren Herrn aufzumuntern?“

Simone blickte kurz zu den außer Hörweite sitzenden Kolleginnen im Nebenraum und schaute über ihre miteinander verschlungenen Hände in das Gesicht von Jo Breiter. Sie überlegte, dann nickte sie: „Ja, das kann ich. Vorausgesetzt, Sie meinen sich mit dem ‚älteren Herrn‘.“ Simone machte eine Pause, blickte ihn lächelnd an und sprach mit gespitzten Lippen: „Aber, Sie wollen doch mit mir ausgehen? Da ist es doch eigentlich Ihre Aufgabe, mich zu unterhalten und aufzumuntern.“ Jo war gerührt, und auch beeindruckt, wie Simone es schaffte, dass er sich sofort wesentlich besser fühlte. „Wenn Sie möchten, kann ich auch gleich mitkommen!“ Jo löste seine Hände und schaute sichtlich überrascht auf seine Uhr: „Wie, jetzt gleich, sofort?“

„Ja, jetzt gleich!“ Simone lächelte „Es ist siebzehn Uhr. Ich habe Feierabend. Die beiden Kolleginnen machen jetzt alleine weiter.“ Sie nahm einfach ihre Handtasche unter dem Tresen hervor, holte ihren Mantel aus dem Nebenraum und verabschiedete sich von ihren Kolleginnen. Dann packte sie Breiter am Arm, schob ihn Richtung Fahrstuhl und schaute ihm direkt in die Augen: „Ich darf entscheiden, wohin?“ Breiter nickte: „Ja, habe ich doch gesagt.“

Während sich die Fahrstuhltür öffnete und die beiden eintraten, baute sich Simone vor ihrem gleich großen Begleiter auf. „Okay. Ich würde unheimlich gern einmal in das ach so tolle Maribare gehen!“ Jo Breiter, für den es Alltag war, sich im Maribare aufzuhalten, wollte protestieren. Doch Simone legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Psst, nicht in die Trattoria. Nebenan, in das Restaurant. Das ist doch der beste Italiener der Stadt, oder nicht?“

„Ah, ja …“, entgegnete er. „Ich merke schon, die Dame kennt sich aus.“

„Genau“, bestätigte Simone. „Und ich habe Geschmack. Sonst würde ich auch gar nicht mit Ihnen ausgehen.“ Sie hakte sich bei ihm unter und so verließen sie den Fahrstuhl, gingen Arm in Arm durch das Foyer und verließen das Gebäude. Breiter blieb stehen, blickte zum Himmel und schlang mit einer Hand seinen Schal um den Hals. „Den lege ich jetzt mal wieder um …“, erklärte er mit leichter Ironie, „denn das Maribare-Restaurant ist ein piekfeiner Laden, da sind viele kreative und wichtige Menschen, da sollte man immer entsprechend gestylt sein.“ Er löste sich aus Simones Arm und schaute sie von oben bis unten an. „Sie haben ja Gott sei Dank diese edle Firmenkluft. Wenn Sie jetzt noch den Forer-Logo-Pin von Ihrem Jackett machen, sieht das doch echt nach Gucci, Prada oder Chanel aus.“ Simone lächelte und fingerte, während Breiter sie zum Parkplatz geleitete, an ihrer Kostümjacke und steckte den abgelösten Pin in die Tasche.

„Und Sie?“, fragte sie mit frechem Blick. „Sie behalten Ihre Taxifahrer-Jacke an, oder wie?“ Breiter hob beschwichtigend beide Hände: „Das ist eine dieser englisch-italienischen Edeljacken, meine liebste Simone. Das ist etwas ganz Exklusives. Die hatte ich schon, bevor die Firma so richtig bekannt wurde, weil ja mittlerweile die ganzen großen Filmstars damit herumlaufen. Aber keine Sorge, junge Frau. Ich weiß, was sich gehört.“

An seinem Auto angekommen, öffnete er den kleinen Kofferraum, holte aus einer dort abgestellten Sporttasche ein paar schwarze Slipper heraus und wechselte mitten auf dem Parkplatz die Schuhe. Dann zauberte er einen schwarzen Ledergürtel hervor, legte ihn der staunenden Simone über die Schulter, holte aus den Taschen seiner Lederjacke einige Utensilien und legte sie seiner mittlerweile völlig verdutzten Begleiterin in die Hände. Dann zog er die Lederjacke aus und stopfte sie in die Sporttasche. Den Deckel des Kofferraums klappte er zu, öffnete Simone die Beifahrertür, nahm ihr die Utensilien ab und half ihr beim Einsteigen. Schließlich ging er um den Wagen herum, zog ein über dem Fahrersitz hängendes dunkelblaues Sakko heraus und stopfte die vorher der Lederjacke entnommenen Sachen in die jeweiligen Taschen des Sakkos, hängte es wieder über den Sitz und ließ sich mit einem leichten Stöhnen in den Wagen fallen.

„Fertig?“, fragte Simone spöttisch.

„Noch nicht ganz“, antwortete er. „Jetzt wird es ernst. Schauen Sie bitte weg!“ Er nahm den über ihrer Schulter abgelegten Gürtel und zog ihn unter deutlichem Hervorheben seines Beckens in die Schlaufen seiner Hose. Dann öffnete er zum Erstaunen der aus den Augenwinkeln blinzelnden Simone den Reißverschluss seiner Hose und bemerkte dabei, dass sie geguckt hatte. „Ist manchmal anstrengend, korrekt zu sein“, sagte er lächelnd, stopfte sein Hemd in die Hose und schloss den Reißverschluss sowie den Gürtel. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich wieder in den Sitz fallen. „Fertig.“

„Darf ich wieder gucken?“, fragte Simone.

„Hast du doch sowieso getan“, entgegnete er und bemerkte, dass er sie geduzt hatte.

„Ach, sind wir schon so weit? Schon beim ‚Du‘, ja?“, entgegnete sie.

„Ja. Pardon. Das ist mir so rausgerutscht. Das mit dem Kuss können wir ja nachholen“, erklärte er mit einem entschuldigenden Augenaufschlag und merkte, wie sich seine durch das Gespräch mit Dr. Fischer doch arg in Mitleidenschaft gezogene Laune noch weiter verbesserte. Er atmete lächelnd tief durch, startete den Wagen und fuhr vom Parkplatz: „Greifen Sie doch mal bitte in das Handschuhfach und geben mir den Rasierer heraus.“

„Wie, jetzt doch wieder ‚Sie‘?“, fragte Simone und reichte ihm einen kleinen Elektrorasierer.

„Nee, Quatsch, ach, ich weiß auch nicht. Wer soll jetzt entscheiden, Sie oder ich?“, antwortete er.

„Sie sind ganz schön listig. Antworten mir und stellen gleichzeitig eine Frage. Aber gut, ich bin es gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Also, da Sie ja bei Weitem der Ältere, und auch der Mann sind, entscheiden Sie.“ Simone machte eine ganz kleine Pause. „Oder ‚du‘?“, fügte sie mit sprudelndem Lachen hinzu.

Auch Breiter lachte befreit auf. Er schaltete den Rasierer ein und begann, sich während der Fahrt zu rasieren: „Das darf man, aber mit dem Handy telefonieren ist nicht erlaubt.“

„Hmmh“, entgegnete Simone. „War das jetzt die Antwort ob ‚du‘ oder ‚Sie‘?“

Breiter schaute kurz zu ihr herüber und rasierte sich weiter. „Kleinen Moment noch, bitte.“ Nach dem Rasieren strich er sich mehrfach über die Bartzone seines Gesichtes und reichte das Werkzeug zurück: „Du!“

Simone stutzte kurz, packte aber den Rasierer in das Handschuhfach. „Also, gut. Du. Und warum hat das so lange gedauert?“, wollte sie wissen.

„Ich musste mich erst glatt machen“, lautete seine Antwort.

„Und warum?“, fragte sie weiter.

„Wegen des Kusses“, entgegnete er und fügte hinzu: „Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Frauen lieber glatt rasierte Männer küssen als einen Stoppelacker.“

„Das stimmt“, bestätigte Simone „Jedenfalls geht mir das so. Also dann, auf das Du. Ich heiße Simone!“, sagte sie, beugte sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

„Jo, ich heiße Jo. Meinen Kuss gibt’s später, einverstanden?“

Simone lächelte. „Ich kann warten. Aber nicht so lange, bis ich so alt bin wie du.“ Dabei betonte sie das „alt“ ganz besonders. „Wie alt bist du eigentlich?“

Breiter schaute sie an. Gerade jetzt schoss ihm durch den Kopf, dass er aus seiner „alten Clique“ der Einzige war, der noch nie verheiratet gewesen war. Und auch seine letzte längere Beziehung lag schon viele Jahre zurück. Er schaute sie an und lächelte: „Warum fragst du?“

„Weil du vorhin von dir als älterem Herrn gesprochen hast. Und da wir uns jetzt schon seit fast einer Stunde und etwas näher als das sonst immer nur geäußerte ‚Guten Tag, mein Name ist Breiter, ich möchte zu Dr. Fischer‘ kennen und sogar schon beim Du sind, werde ich doch wohl fragen dürfen. Oder? Aber ich glaube, so alt bist du noch gar nicht. Jedenfalls nicht zu alt zum … Zum …“

Jo schmunzelte und fragte: „Magst du George Clooney?“

„Ja“, antwortete Simone wahrheitsgetreu.

„Und Brad Pitt?“, legte er nach. „Und Til Schweiger?“

„Eh, was soll das denn jetzt?“

„Diese momentan in den Medien so angesagte Herrenriege ist in etwa meine Altersklasse“, frotzelte er mit listigem Blick und bemerkte sofort, dass Simone doch etwas stutzte. „Keine Angst. Die sind über zehn Jahre älter als ich“, erklärte er lachend und schaute zu ihr herüber: „Und du? Übrigens, wir sind da. Da ist sogar ein Parkplatz.“

„Wie, und du? Soll ich dir jetzt sagen, wie alt ich bin? Das fragt man eine Dame aber nicht.“ Simone antwortete mit gespielter Entrüstung, während Breiter das Fahrzeug abstellte und ausstieg. Wieder blickte er zum Himmel, griff nach seinem Jackett und ging um den Wagen herum, um Simone, die selbst die Tür geöffnet hatte, beim Aussteigen aus dem sehr niedrigen Wagen behilflich zu sein. Sie bedankte sich mit einem Schmatz auf die Wange. „Und ich kriege bitte noch einen für das ‚Du‘!“, sagte sie und zeigte mit ihrem Zeigefinger auf ihre Wange.

Während Jo sie auf die Wange küssen wollte, drehte sie ihm blitzschnell das Gesicht zu, so dass sein Kuss direkt auf ihren Lippen landete, was bei Jo ein wohliges Gefühl auslöste. Es tat ihm richtig gut. „Mit allen Tricks, wie?“, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schultern. Simone zog ihren Kopf ein und schaute ihn mit Unschuldsmiene an: „Ich habe diesen Gag mal als junges Mädchen gesehen und fand den ganz toll. Daran habe ich mich gerade erinnert. Schlimm?“ Er schloss mit der Fernbedienung das Auto und neigte kurz seinen Kopf an Simones Wange. So betraten sie das Lokal.

Doch statt wie sonst immer geradeaus in die Trattoria des Lokals zu gehen, bog Jo Breiter mit seiner Begleitung diesmal zur Überraschung des ihm gut bekannten Personals des Maribare in das mit zwei Sternen ausgezeichnete Restaurant ab.

* * *

Unterdessen packte Janina im Schlafzimmer der inzwischen bezogenen Hotelsuite einige Taschen aus, während Daniel im Wohnraum stand, aus dem Fenster blickte und telefonierte. „Die großen Koffer packe ich aus, wenn wir ein Haus gefunden haben!“, rief Janina. Daniel beendete sein Telefonat. Er trat zu ihr und gab ihr einen flüchtigen Kuss: „Was machen wir denn zum Abendessen? Ich habe einen Riesenhunger. Wollen wir irgendwo hingehen?“ Janina schüttelte den Kopf: „Bestell uns doch einfach was aufs Zimmer. Essen, ein bisschen Glotze und dann schlafen. Ich bin todmüde.“ Daniel griff zum Zimmertelefon und fragte: „Sandwich oder ’n Steak?“

Zögerlich antwortete Janina, die sich zum Essen eigentlich schon viel zu müde fühlte: „Für mich was Leichtes, ’nen großen Salat mit Pute. Nee, besser mit Thunfisch. Oder doch ’n Steak? Nee, Daniel, bestelle bitte was Kaltes für mich, einen Caesar’s Salad am besten. Dann kann ich erst noch einmal in die Wanne steigen.“ Während Daniel das Essen bestellte, ging Janina ins Bad, ließ Wasser in die große Designer-Wanne laufen und machte vor dem Waschbeckenspiegel ein ausführliches Gesichtspeeling. Danach legte sie sich mit einem „Endlich wieder zu Hause“ entspannt in die Wanne.

Sie genoss ihr ausgiebiges Bad und dachte an ihre Zukunft. „Endlich begreift er, um was es mir geht“, schmunzelte sie und malte sich ein geistiges Bild, in dem sie mit Daniel und zwei Kindern in einem Häuschen im Grünen lebte. Daniel saß im Wohnzimmer der Suite vor dem Fernseher, verfolgte gespannt die Wirtschaftsnachrichten eines amerikanischen Senders und verzehrte dabei sein riesiges T-Bone-Steak.

* * *

Währenddessen hatten Jo Breiter und Simone Herzog nur noch Augen für sich. Trotzdem schaute Breiter in die Speisekarte und besprach sich mit Simone, die ihr Exemplar mit den Worten „Ich esse, was auf den Tisch kommt“ dem ungeduldig am Tisch wartenden Kellner zurückgegeben hatte. „Einen kleinen Moment noch“, bedeutete Breiter mit einem entsprechenden Blick dem jungen, sehr gepflegten, dunkelhaarigen Mann, der sich daraufhin kurz verneigte und den Tisch wieder verließ.

„Isst du Austern?“, fragte Jo. Simone hatte ihn die ganze Zeit über genau beobachtet und festgestellt, dass seine dunkelbraunen Haare an einigen Stellen grau wurden, er eine Narbe an der Augenbraue sowie am Kinn hatte und, wie sie fand, über ein ganz liebes, braunes Augenpaar verfügte. Sie stützte ihre Ellbogen auf die Tischkante, legte ihr Kinn in die geöffneten Handflächen und beugte sich etwas vor. „Was hast du denn noch vor heute Abend?“, fragte sie. Breiter schaute überrascht über den oberen Rand der Speisekarte: „Was meinst du, was ich heute noch vorhabe? Was hat das mit den Austern zu tun?“

Simone schüttelte den Kopf. „Entschuldigung. Manchmal geht meine Fantasie mit mir durch.“ Listig schmunzelnd erklärte sie: „Ich habe einmal gelesen, dass Casanova, um, na, nennen wir es einmal so, besonders gut in Form zu kommen, Dutzende von Austern vertilgt haben soll.“

Breiter lachte zunächst laut auf, um sie dann gespielt entrüstetet zu fragen: „Simone! Wo bist du denn gerade mit deinen Gedanken?“

„Na ja, ich habe sehr viel über die damaligen Zeiten gelesen. Schließlich hatte ich ja mal angefangen, Literaturwissenschaft zu studieren. Kennst du eigentlich ‚Il Camerone‘ von Boccaccio? Da ging es wirklich zur Sache“, erklärte sie mit einem breiten Grinsen.

„Das sollten wir jetzt auch tun“, entgegnete Breiter. „Ich meine das auf das Essen bezogen“, fügte er hinzu und winkte dem Kellner. „Wir nehmen zunächst eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche eiskalten Bianco di Toscana. Und dann bringen Sie uns bitte eine gemischte mediterrane Platte, also Austern, Scampi, Calamaretti und so weiter. Aber keine Muscheln.“ Der Kellner wiederholte lächelnd die Bestellung, schaute dabei immer wieder auf Simone, verneigte sich mit einem kurzen „Sehr gern“ und verließ mit einer Serviette wedelnd den Tisch.

„Zurück zum Thema.“ Breiter blickte ihm nach und ergriff wieder das Wort: „Ich kenne das ‚Decamerone‘ zwar nicht in allen Einzelheiten, aber das wurde doch schon im vierzehnten Jahrhundert geschrieben. Da musste der arme Casanova noch vierhundert Jahre warten, bis er seine Aktivitäten beginnen konnte.“

Während der Kellner das Wasser, den Wein und frisch gebackenes, noch warmes Ciabatta servierte, erzählte Jo einfach weiter. „Wir wollen das aber nicht alles überbewerten. Ich glaube, dass von Erzählung zu Erzählung immer wieder ein bisschen dazu gedichtet wurde.“ Er probierte den Wein und nickte dem Kellner anerkennend zu. „Klasse. Große Klasse. Vielen Dank.“ Dann hob er sein Glas und stieß mit Simone an. Ein zweiter Kellner servierte jetzt eine Platte, auf der Austern, verschieden große Scampi sowie einige kleine, gegrillte Tintenfische sehr appetitlich angerichtet waren. Breiter lachte beim Anblick der Speisen laut auf, schaffte es aber noch, den Kellnern zumindest mit Blicken und Kopfnicken zu danken.

„Was ist?“, fragte Simone neugierig.

„Ich musste gerade an etwas denken“, wiegelte er ab, doch Simone ließ nicht locker, sodass Jo erzählte: „Also, Kai, ein Freund von mir, hat mal die Episode erzählt, dass er an einem Abend zwölf Austern gegessen hätte, aber dass anschließend nur zwei davon gewirkt hätten.“

„Na immerhin“, sagte Simone und lächelte ihn an, während er zum Essen griff. „Lass es dir schmecken, Simone. Und vielen Dank für deine Spontaneität.“ Auch Simone griff zu der Platte, nahm sich einen Scampi und drehte mit geschickten Bewegungen das leckere Fleisch aus der Schale. Sie betrachtete es kurz und schob es mit einem langen „Hmmmh, ist das lecker“ in den Mund. Breiter schlürfte die erste Auster. „Wirklich lecker“, befand er.

Mit zunehmender Dauer des Essens ging es in ihrer Unterhaltung nur noch um das Thema erotische Literatur. Nach „Decamerone“ und „Casanova“ sprachen sie über Werke wie „Lady Chatterley“ und „Fanny Hill“, über Henri Miller und Charles Bukowski, aber auch über Autorinnen wie Anaïs Nin und Erica Jong, die auf diesem Gebiet zu echtem Weltruhm gelangt sind und endeten bei den Erfolgen von „Shades of Grey“.

„Fisch oder Fleisch als Hauptgang?“, fragte Breiter dann.

„Ich möchte gern eine leckere Portion Nudeln mit frischen Trüffeln“, antwortete Simone. „Obwohl, das ist ja eigentlich ein Männeressen. Oh Mann …“, kicherte sie schon leicht beschwipst, „… wo das wohl noch alles hinführt. Austern, Wein, Trüffel …“

„Gute Idee, nehme ich auch“, sagte Jo und entschied: „Aber dazu schmeckt ein Rotwein besser.“

Kaum hatte er seine Äußerungen in Richtung Simone beendet, war der Kellner am Tisch und Breiter bestellte die Nudeln und dazu eine Flasche Amarone.

„Wie, noch ’ne ganze Flasche?“, fragte Simone. „Wir müssen sie ja nicht austrinken.“ entgegnete Jo. „Wir kommen einfach wieder und trinken sie dann.“ Simone nippte zur Abwechslung an ihrem Wasserglas und nickte ihm zu.

Nachdem sie ihre in einem großen Käselaib gewendeten Spaghetti mit den frisch darüber gehobelten Trüffeln gegessen hatten, war auch die Rotweinflasche leer. „Das reicht jetzt aber“, entschied Simone. „Wir sollten jetzt gehen. Ich bin schon so weit.“ Jo stutzte etwas und schaute sie an. „Ich bin gleich wieder da“, sagte er und machte beim Aufstehen eine leichte Verbeugung in ihre Richtung. Diese kleine Geste hinterließ bei Simone großen Eindruck. So ein Verhalten kennt man ja nur noch aus Büchern, sagte sie sich und dachte an ihre letzten Dates.

Jo ging zu dem hinter der Bar stehenden Kellner: „Ich zahle hier bei Ihnen, ja?“ Der Ober nickte. Jo ging, während der Kellner auf der Computerkasse tippte, kurz zur Toilette und beglich danach am Tresen die Rechnung. „Darf ich noch ein Digestif auf Kosten des Hauses servieren?“, fragte der Kellner und bedankte sich für das Trinkgeld. „Nächstes Mal gern, für heute reicht es aber, vielen Dank. Wenn Sie uns allerdings ein Taxi rufen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar“, sagte Jo und beobachtete, wie sich Simone von ihrem Stuhl erhob und mit schnellen Schritten hinter einer Tür verschwand, an deren Rahmen eine tanzende Ballerina angebracht war. Jo unterhielt sich noch kurz mit Mario, dem Chef des Maribare, der aus der Trattoria herübergekommen war, um ihn zu verabschieden.

Nachdem Simone ihren Besuch im Damenbereich des Restaurants abgeschlossen hatte, verließen sie das Lokal. „Bringst du mich bitte nach Hause?“, fragte sie und legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Das Taxi steht schon da“, zeigte Jo und half Simone beim Einsteigen.

„Und? Wohin?“, fragte der Taxifahrer mit Blick in den Rückspiegel. „In die Sierichstraße“, nuschelte Simone. „Na dann, ab dafür“, sagte Jo.

Der Fahrer wiederholte das Fahrtziel und beobachtete im Rückspiegel, wie Simone ihren Kopf wieder auf Jos Schulter legte, der während der Fahrt nachdenklich lächelnd aus dem Fenster schaute.

Von einem gut vernehmbaren „Wir sind da“ wurde er aus seinen Gedanken gerissen. „Warten Sie bitte, ich bin gleich wieder da“, sagte Jo und wollte mit Simone das Taxi verlassen.

„Das kenne ich“, bellte der Fahrer und fügte hinzu: „Ich warte gern, aber erst wird diese Fahrt bezahlt!“

„Ist ja gut“, entgegnete Breiter. Er blickte auf den im Rückspiegel zu erkennenden Fahrpreis, steckte dem Fahrer einen Zwanzig-Euro-Schein zu und verließ mit Simone das Taxi.

Sie hakte sich sofort wieder bei ihm ein. „Schick ihn weg“, bat sie und gab dem etwas zögerlich wirkenden Jo einen dicken Kuss direkt auf den Mund. Er erwiderte zunächst ihren Kuss, dann nickte er lächelnd und klopfte auf das Autodach als Signal zur Weiterfahrt für den Fahrer. Der verdrehte nur die Augen, machte eine unerklärliche Handbewegung und fuhr davon.

„Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen“, sagte Simone und begann, in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüsselbund zu suchen. Als sie ihn gefunden hatte, drückte sie ihn Jo in die Hand. „Gelb für unten, Grün für drinnen.“ Jo guckte auf die farblich unterschiedlich markierten Schlüsselköpfe und geleitete Simone in ihre Wohnung, wo sie sofort, schon in dem kleinen Eingangsflur, begann, ihre Schuhe abzustreifen. Beim Weitergehen ins Wohnzimmer ließ sie ihren Kostümrock fallen. „Du bleibst!“, sagte sie freundlich, aber sehr bestimmt und legte auch ihre Kostümjacke ab, so dass der etwas verdutzt guckende Jo einen ausgiebigen Blick auf ihren schwarzen, mit Stickereien verzierten Body werfen konnte.

„Schau dich ruhig um. Ich bin gleich wieder da“, vernahm er noch, dann war Simone hinter einer Tür verschwunden. Jo Breiter schaute sich einen Augenblick in der aus nur einem Zimmer mit einer angrenzenden Kochecke bestehenden, sehr spärlich, aber, wie er fand, durchaus geschmackvoll eingerichteten Wohnung um, als Simone splitternackt wieder in den Raum zurückkam, die Tür hinter sich schloss und etwas provokativ mit in der Taille aufgestützten Händen zwar direkt vor ihm, aber doch außerhalb der Reichweite seiner Hände stehen blieb und ein paar Mal ihre Hüften wiegte.

Ohne ein Wort zu sagen, ging sie direkt auf ihn zu, schlang dem immer noch überraschten Jo ihre Arme um den Hals und küsste ihn. Zunächst verspielt, etwas später aber sehr innig und dann wild verlangend. Sie nahm ihren Kopf zurück und lächelte ihn an. Anschließend bedeckte sie sein Gesicht wieder mit Küsschen und begann, ihm sein Hemd aufzuknöpfen. Sie streifte ihm gleichzeitig sein Hemd und das Jackett vom Körper und dirigierte ihn sehr entschlossen zu ihrem in der Zimmerecke stehenden Bett.

Dort zerrte sie ihrem bereitwillig mitspielenden Gast die restlichen Sachen vom Leib, wälzte sich rücklings aufs Bett und zog ihn zu sich. Zunächst war sie überrascht, aber kurze Zeit später sehr beeindruckt, mit welch einer Geduld Jo sich auf das von ihr eröffnete Spiel einließ. Er widmete sich sehr gefühlvoll ihrem Gesicht und ihren geöffneten Lippen. Anschließend schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit ihrem sehr weiblich geformten Körper. Sehr einfühlsam, dann immer heftiger und letztendlich mit sehr entschlossener Eindringlichkeit. So sorgte er für einige ihren ganzen Körper erfassende wohlige Schauer, wie Simone sie schon länger nicht mehr erlebt hatte.

Ist doch was anderes, dachte Simone, als sie sich nach ihrer intensiven Liebesrunde für einen Moment ins Bad begab. „Ich hatte noch nie einen Mann über dreißig!“ Sie kicherte in ihre Hand. „Und Jo ist schon über vierzig, oder?“, fragte sie sich. „Egal“, gab sie sich zur Antwort. „Es ist egal, ganz egal!“ Sie ging zurück in ihr Zimmer. Direkt zum Bett, wo Jo auf dem Rand saß und sie anschaute. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht wieder“, bemerkte er und erhob sich vom Bett. Im Stehen gab er ihr einen ganz langen Kuss. Danach sagte er nur: „Ich komme gleich wieder“ und verschwand im Bad.

„Wie meinst du das?“, rief Simone ihm hinterher, kuschelte sich unter ihre Decke und wiederholte schmunzelnd: „Komme gleich wieder.“

Jo antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte er ihre Worte auch gar nicht gehört.

Es dauerte jedenfalls einen Moment, bis er aus dem Bad zurückkam und sich ganz eng an sie herankuschelte. Allerdings war er noch wach genug, um zu bemerken, dass Simone jetzt doch sehr müde wirkte. Sie gab nur noch ein „Hmmhh, einen Augenblick nur“ von sich, und schon war sie eingeschlafen. Jo lächelte, schaute auf seine Armbanduhr und schlief mit einem wohligen Seufzer ein. Wenige Stunden später wachte er auf und ein erneutes Verlangen in ihm sorgte dafür, dass auch die weiterhin eng an ihn geschmiegte Simone ihren wohlverdienten Schlaf zu ihrer beider Erfüllung bereitwillig unterbrach.

Am nächsten Morgen sorgte die Helligkeit des neuen Tages dafür, dass sie ihre Nachtruhe endgültig beendeten, um sich vor dem Aufstehen noch einmal ihre gegenseitige Sympathie zu beweisen. Für Jo war diese erneute Intensität ihres Zusammenseins ein Signal. Er dachte ernsthaft darüber nach, ob es neben seiner Arbeit nicht auch ein durchaus zufriedenstellendes Privatleben für ihn geben könnte.

Er lächelte und begab sich ins Badezimmer. „Hast du ein Handtuch für mich?“, fragte er Simone nach dem Duschen. Sie hatte ebenfalls das Bad betreten und ihm lachend eine Kondompackung an den Kopf geworfen: „Die sind alle geworden.“ Sie drückte ihm einen Kuss auf die nasse Schulter und reichte ihm ein Handtuch. „Lass dich noch mal anschauen“, sagte Jo, während er sich mit dem Handtuch abrubbelte.

„Du bist schön, Simone“, stellte er fest. „Wunderschön!“ Er nahm sie ganz fest in die Arme: „Ich danke dir für den tollen Abend und die tolle Nacht!“, sagte er und drückte sein Gesicht an ihre Wange.

„Iiih. Du kratzt“, antwortete Simone und zog ihren Kopf weg. „Entschuldigung“, schob sie schnell hinterher und gab ihm einen Kuss. „Wir müssen jetzt. Ich muss um neun Uhr am Desk sein.“

Breiter schaute auf seine Uhr. „Das ist zu schaffen. Wir rufen uns ein Taxi, holen mein Auto, dann fahr’ ich dich in die Firma.“

Simone schüttelte lachend ihren Kopf und sah ihn an. „Das ist keine so gute Idee, dass du mich um neun Uhr da vorfährst. Ich denke mal, dich und dein Auto kennen so einige im Unternehmen. Oder sollen es gleich alle wissen?“, fragte sie.

Clever, clever, dachte Jo schmunzelnd, nickte ihr zu und sagte: „Okay. Dann fährst du allein mit dem Taxi weiter. Ich steige am Maribare aus.“ Er verließ das Bad und ging in das kleine Wohnzimmer. Als er gerade dabei war, seine Kleidung wieder anzuziehen, klingelte sein Handy. „Jo Breiter!“, meldete er sich.

„Paule“, schallte es aus dem Hörer. „Hast du Zeit für ein gemeinsames Frühstück?“

Nur ganz kurz überlegte er und warf durch die offen stehende Badezimmertür einen Blick auf die sich abtrocknende Simone. „Jaaa, passt. Bin aber erst in etwa dreißig Minuten daaa!“, antwortete Jo säuselnd, um dem Anrufer zu signalisieren, dass er sich in einer besonderen Situation befand.

„Lass dir Zei-heit“, sagte Paule und versuchte, Jos Singsang nachzuahmen. „Die öffnen sowieso erst um neu-heun.“

„Alles klar, bis gleich“, antwortete Jo und schaute wieder zu Simone.

Sie stand vor ihrem Schrank neben dem Bett und zog sich an.

„Das war mein Anwalt“, erklärte er.

„Wie, brauchst du nach einer gemeinsamen Nacht mit mir schon gleich einen Anwalt?“, fragte Simone lachend.

Jo wurde plötzlich sehr ernst. „Ich muss ihn sowieso sprechen. Beruflich“, fügte er hinzu. „Da kommen im Moment einige heftige Sachen auf mich zu.“

Simone trat zu ihm und gab ihm einen Kuss. „Ich hoffe, nicht meinetwegen“, sagte sie.

„Indirekt schon“, bemerkte Jo.

„Das verstehe ich nicht“, entgegnete Simone.

„Na ja, zumindest arbeitest du für den Konzern, um den es geht. Aber das besprechen wir ein andermal. Lass uns jetzt gehen“, beendete Jo das Thema und drückte grübelnd die Nummer des Taxirufs.

Nach einer ziemlich schweigsamen Fahrt zum Maribare, in der Jo sich gedanklich schon wieder mit den Auswirkungen der feindlichen Übernahme beschäftigte, verabschiedete er sich. Er gab Simone einen langen Kuss und dem Fahrer einen Fünfzig-Euro-Schein. „Lass dir von ihm den Rest rausgeben und bringe bitte auch eine Quittung mit“, bat er und sprang aus dem Taxi.

Entscheidung im Wattenmeer

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