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I. DIE ZEICHEN CHINAS AUF DEN WÄNDEN: CHAUSSEESTRASSE 125
ОглавлениеBerlin, Chausseestraße Nummer 125. Vom S-Bahnhof kommend, läuft man die Friedrichstraße hinauf Richtung U-Bahn-Haltestelle Oranienburger Tor. Nach wenigen Metern bereits – man ist überrascht, wie früh – eine massive Brecht-Spur: linkerhand das Haus des Berliner Ensembles, Brechts Theater, das er weltberühmt gemacht hat. Nach der Haltestelle Oranienburger Tor mündet die Friedrichstraße in die Chausseestraße. Linkerhand der Dorotheenstädter Friedhof. Hegel liegt hier begraben, auch Fichte, Heinrich Mann, Anna Seghers, Heiner Müller. Unmittelbar daneben, noch an der Friedhofsmauer gelegen, das Haus Chausseestraße 125. Unten im Parterre zwei große Schaufenster. Früher war hier ein Buchladen, jetzt werden die Räume für Vorträge genutzt. Man stößt das große Tor auf, betritt einen Torbogen, geht durch ein zweites Tor und befindet sich im Hinterhof. Rechterhand ein mehrstöckiger Anbau, in dessen Mitte eine Tür zu einem Stiegenhaus. Man öffnet sie, geht die Stiege hinauf in den ersten Stock: Brechts Wohnung, die er in den letzten drei Jahren vor seinem Tod 1953-1956 benutzt hat.
Als Besucher ist man erstaunt über die Kleinheit, Helligkeit und Kargheit dieser Wohnung. Zuerst ein kleines Arbeitszimmer, lichtdurchflutet, weil die Iinke Wand mit drei großen Fenstern durchbrochen ist. Der Blick von dort geht auf den Dorotheenstädter Friedhof mit den berühmten Gräbern. Spektakulär. Er hatte stets diesen Friedhof vor sich, unter sich. Kein Wunder, dass er hier begraben sein wollte, dass er hier begraben liegt. Die rechte Wand des Zimmers ist ausgefüllt mit Bücherregalen. Brechts Bibliothek ist noch erhalten. Davor ein runder Tisch mit zwei Sesseln. An der linken Wand mit den Fenstern ebenfalls ein Arbeitstisch mit Tischlampe und Telefon, noch einmal zwei große Sessel. Und dann die erste Überraschung: rechts und links zwischen den Fenstern zwei chinesische Motive, zwei Bildrollen. Die eine besteht aus fünf langen Zeilen ganz mit chinesischen Schriftzeichen. Die andere bildet eine Figur ab, fast lebensgroß, schwarz-weiß, oben eine Kopfzeile mit chinesischen Buchsta-ben, dann die ganze Gestalt einer monumentalen, massigen Figur. Ein Mann mit großem Bart, riesig, voluminös, mit langem Gewand. Eine erste China-Spur, unerwartet, rätselhaft. Man ist sensibilisiert, schaut sich nun bewusster um. Und schon entdeckt man eine zweite Spur auf einem kleinen Bücherbord im selben Raum. Zwischen einem Portrait von Lenin und Brechts Totenmaske steht ein ungerahmtes Bild mit chinesischen Schriftzeichen. Mehr Bilder gibt es nicht in diesem Raum. Alles Zufall, beliebig?
Doch im nächsten Raum setzt sich das Bildprogramm fort. Brechts großes Arbeitszimmer, ebenfalls lichtdurchflutet durch viele Fenster. Sofort fallen drei Masken ins Auge, die an der Wand hängen, und man erinnert sich an Brechts Auseinandersetzung mit dem japanischen Nô-Theater: Die Maske eines Dämons, eines jungen Mädchens und eines komischen Alten. Ein Gedicht Brechts kommt einem in den Sinn, wenn man in das grotesk verzerrte Gesicht des Dämons blickt: „Die Maske des Bösen“:
„An meiner Wand hängt ein japanisches Holzwerk
Maske eines bösen Dämons, bemalt mit Goldlack.
Mitfühlend sehe ich
Die geschwollenen Stirnadern, andeutend
Wie sehr es anstrengt, böse zu sein.“ (XII, 124)
Dann eine weitere Überraschung. Über dem Sofa in einer Sitzecke noch einmal eine chinesische Bildrolle. Chinesische Zeichen darauf. Ein Mann im Halbportrait, frontal. Wiederum massig seine Gestalt, die Arme verschränkt, die Augenbrauen hochgezogen, der Mut wie zum Sprechen geöffnet. Ein großer Hut, eine Kappe, ziert seinen Kopf. Ein schwarzer Bart umgibt das Gesicht, Würde ausstrahlend, Alter, Weisheit. Der Typus eines Lehrers, eines Wissenden, eines Weisen.
Der Raum ist sonst kaum bildhaft ausgestattet. Eine kleine gotische Madonnenfigur hängt noch da und ein Poster von Picasso.
In einem Nebenraum Brechts Schlafzimmer, schmal, sehr eng. Ein Bett passt gerade hinein, ein kleiner Tisch. Hier ist er gestorben. Und wieder: zum dritten Mal eine chinesische Bildrolle. Man sieht in der unteren Hälfte eine sitzende, bucklige Gestalt, ganz eingehüllt in einen Mantel. Ein alter Mann. Seine Arme sind nicht zu sehen, sind umhüllt wie der ganze Körper. Nur sein Gesicht ist erkennbar, eingefasst von einem schütteren Bart. Seine Augen sehr klein, listig. Sein Mund drückt Vielerfahrenheit aus, Müdigkeit, Skepsis. Ein Mann mit Lebensspuren. Und plötzlich geht mir auf, dass es ja auch zu dieser chinesischen Bildrolle ein Gedicht von Brecht gibt mit dem Titel „Der Zweifler“:
„Immer wenn uns
Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiel und
Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
So sehr zweifelte.
Ich, sagte er uns,
Bin der Zweifler. Ich zweifle, ob
Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
Auf die Wahrheit verlassen habt, dessen, was ihr gesagt habt.
Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
Tragt ihr die Schuld. Es kann auch zu eindeutig sein
Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos.
Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
Sprecht Ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt?
Und, nebenbei:
Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die
Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
Durch Erfahrung? Durch welche?
Aber vor allem
Immer wieder vor allem andern: Wie handelt man
Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: wie handelt man?
Wir rollten zusammen den zweifelnden
Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
Begannen von vorne“ (XIV, 376f.)
Der chinesischen Spuren sind zu viele, als dass man hier an Beliebigkeit glauben könnte. Die chinesischen Zeichen sind so bewusst von Brecht in seiner Wohnung angebracht wie die antiken Zeichen in Goethes Wohnung am Frauenplan. Wie der Weimarer sich ausgestattet hatte mit einem Bild- und Skulpturenprogramm aus der Antike, so Brecht in seinen letzten Jahren gezielt mit Symbolzeichen aus der Welt Japans und Chinas. Die No-Masken, der „Zweifler“, allen voran die beiden massigen Gestalten auf den Bildrollen, Darstellungen, wie man später erfahren kann, des großen chinesischen Lehrers Konfuzius. Zweimal große Konfuzius-Portraits in Brechts Wohnung. Das provoziert geradezu die Frage, welches Verhältnis dieser Mann, der sich mit solchen Zeichen umgibt, zur chinesischen Tradition hatte. Machen wir uns nach der Spurensuche auf die Spurendeutung.