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VERGELTUNG Goliath

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Auf der hoch im Gebirge gelegenen Posthaltestelle wurde der aus der Kreishauptstadt einen Tag um den anderen hin und her gehende Eilwagen erwartet. Seine Ankunft war hier noch ein Ereignis, dem einige Bewohner des Orts, auf der Haltestelle hin und her schlendernd, mit Neugier entgegenzusehen pflegten.

So auch heute, wo indes die anwesenden Gebirgsbewohner Anlass fanden, noch einen zweiten Gegenstand hier zu beobachten. Ihre Aufmerksamkeit war geteilt zwischen dem ein wenig gesuchten, geschäftigen Treiben der beiden Postbeamten und einem leichten Wagen, der vor dem Posthaus hielt.

Ein derber, pausbäckiger Knecht stand vorn bei den mutigen Braunen, denen das geduldige Harren schwer zu werden schien, und am offnen Schlag lehnte eine Gestalt, die jedes Vorübergehenden Blicke auf sich ziehen musste. Sie war von wahrhaft riesiger Größe, die auf ebensolche Körperstärke schließen ließ. Der Mann ragte, wie einst Saul, um eines Kopfes Länge über alles Volk empor, seine breiten Schultern, nur von einer kurzen Tuchjacke bekleidet, der starke Nacken, der unverhüllt aus dem zurückgeschlagenen Hemdkragen hervorsah, die hochgewölbte Brust, die gewaltigen Arme, die kräftigen Schenkel, von einer engen Lederhose umschlossen, die sich in die weit heraufgeschlagenen Aufschlagstiefel verlor, bildeten eine beredte Warnung, mit dem Besitzer dieser Vorzüge lieber nicht in feindselige Berührung zu kommen. Doch wurde diese Warnung bedeutend abgeschwächt durch einen Umstand, der zu der Furcht das Mitleid gesellen musste: Der Mann war blind. Zwei große, glanzlose Augen blickten starr unter den buschigen Brauen hervor, die ursprünglich weiße Hornhaut zeigte eine dunkle, körnige Färbung, und auch über die Gesichtsteile zog sich ein eigentümliches Blauschwarz, das ihm ein beinah schreckliches Aussehen verlieh.

Einer der beiden Postbeamten war unter den Eingang getreten.

„Wer ist der Herkules dort?“, fragten die Dastehenden.

„Kennt ihr ihn nicht?“, lautete seine Antwort. „Aber gehört habt ihr von ihm! Es ist der Goliath aus Rothenwalde.“

„Der Goliath?“

„Ja, der Bachbauer, den sie den Goliath heißen, weil ihn kein Mensch zu überwinden vermag. Der Waldschwarze hat ihm das Augenlicht hinweggeschossen.“

„Der Waldschwarze? Ah!“

Der Frager warf einen teilnehmenden Blick auf den Riesen und eilte dann hinweg. Das Posthorn schallte von fern, den nahenden Wagen ankündigend. Dieser bog um die Ecke der Straße und hielt nach wenigen Augenblicken vor der Haltestelle. Der Bachbauer blieb am Wagen lehnen, aber trotz der Verunstaltung seiner Züge konnte man darin die Ungeduld erkennen, mit der er auf die umwogende Geschäftigkeit horchte.

„Kommt er noch nicht, Balduin?“, fragte er den Knecht.

„Hab noch nichts von ihm gesehn. Ich kenn ihn doch auch gar nicht“, antwortete dieser.

„Wirst ihn gleich kennen: Krauskopf, rote Backen, Samtrock und lackierte Stulpenstiefel, rot und weiß Verbindungsband mit goldner Klunker auf der Weste und die grüne Studentenmütze hoch droben im Pfiff.“

„Ja, dort steht einer, der ist so lang und breit wie Ihr. Krauskopf und Stulpenstiefel, das ist richtig, hat er auch, aber Rock, Mütze und Klunker, das wird nicht passen. Jetzt kommt er grad auf uns zu!“

Der junge Mann, den Balduin meinte, war aus dem Postwagen gestiegen und hatte sich suchend auf dem Platz umgesehen. Als er kein bekanntes Gesicht erblickte, schritt er von dem Ausgang fort und gewahrte das Geschirr, bei dem die beiden standen. Eine Sekunde lang verschärfte er seinen Blick, dann flog es wie ein heftiger Schreck über sein hübsches, jetzt tief erbleichendes Gesicht. Im nächsten Augenblick stand er vor dem Goliath.

„Vater!“, rief er aus.

„Frieder!“, antwortete der Riese.

Sie lagen sich in den Armen. Aus der Innigkeit der Umarmung konnte man auf die herzliche Liebe schließen, die beide verband.

„Endlich, endlich bist wieder da, Frieder!“, seufzte der Bauer auf. „Ich lass dich nun auch gar nimmer wieder fort. Nicht wahr, du bleibst, du böser Wandervogel?“

„Ja, Vater! Und wenn ich dich und die Mutter auch nicht gar so lieb hätte, ich müsste doch die Stelle des Bruders ausfüllen, der...“

„Lass gut sein jetzt, Frieder, das hat Zeit bis nachher!“ Das Gesicht des Sprechers legte sich in düstere Falten. „Nicht wahr, hast nicht gedacht, mich so zu finden?“

„Nie! Ich kann dir gar nicht sagen, wie es mir das Herz zerreißt, das zu sehn, was zu lesen mir schon so entsetzlich war. Gebe Gott, dass noch Hilfe für deine lieben Augen möglich ist.“

„Nichts ist mehr möglich, gar nichts! Ich bin bei allen Doktoren und Professoren gewesen und hab um Hilfe gefleht wie ein Nestling, der zur Erde gefallen ist, aber umsonst. Komm, steig ein! Ich erzähl dir die Geschichte unterwegs.“

„Lass mich erst den Koffer besorgen!“

Nachdem dieser von dem Knecht geholt und auf dem Bock befestigt worden war, stiegen Vater und Sohn ein, die Braunen zogen an und der Wagen rollte der nahen Landstraße zu, die höher hinauf in das Gebirge führte.

Schweigend saßen sie nebeneinander. Der Bauer rang mit den finsteren Regungen seines Innern, mit denen er seit seiner Erblindung so viel und vergeblich gekämpft hatte. Mit doppelter Gewalt bäumten sie sich von Neuem in ihm auf, da er sich verurteilt sah, auf den so lange entbehrten Anblick des geliebten Sohnes verzichten zu müssen. Und Frieder, so legt sich der Erzgebirgler den Namen Friedrich gern zurecht, konnte kein Auge von der Zerstörung wenden, die dem Gesicht des Vaters den einst so freundlichen und intelligenten Ausdruck geraubt hatte. Es wallte in ihm von Gefühlen, die ihm heiß und feucht in das Auge traten und ihm die Hände ballten, als müsse er den Urheber solcher Leiden zwischen ihnen zermalmen. In diesem lautlosen Zorn lag eine Art unheimlicher Drohung, denn Frieder besaß, wie der Knecht vorhin ganz richtig bemerkt hatte, die Gestalt des Vaters und war diesem an jugendlicher Gewandtheit ja weit überlegen. Zwischen den Bergen rechnet man mehr mit den körperlichen Kräften als in der städtereichen Ebene, wo das geistige Vermögen den Ausschlag gibt.

„So hast also den Brief erhalten?“, fragte endlich der Bauer, als der Wagen schon längst die Stadt verlassen hatte und beinah geräuschlos zwischen den bewaldeten Höhen dahinfuhr.

„Ja, ein fürchterlicher Brief!“

„Er war kurz, aber schlimm. Ich konnte ihn nicht schreiben, weil das Augenlicht nicht mehr vorhanden ist, und so hat ihn die Mutter aufs Papier gesetzt, die mit der Feder nicht viel zu Wege gebracht hat.“

„Aber warum habt ihr mir nicht vorher gemeldet, dass der Bruder gestorben ist?“

„Gestorben? Ja, gestorben ist er, aber wie und woran? Ich hab es dir nicht kundgetan, weil ich dir das Leid auf kurze Zeit ersparen wollte und weil ich andre Dinge im Kopf trug als Feder und Papier. Aber jetzt sollst du alles erfahren, jetzt bist du daheim und der Mund kann sagen, was die Tinte nicht zu erzählen versteht.“

Des Sprechenden ausdrucksloses Auge starrte leer in die Weite, seine Lippen zitterten unter der Qual des Erlebten und doch nicht Überstandenen und seine Hände drückten sich auf die hochgehende Brust, als wolle er den darin wütenden Schmerz gewaltsam niederdrücken. Dann fuhr er fort:

„Vom Waldschwarzen hast du gehört?“

„Nein! In den fünf Jahren hab ich in der weiten Welt wenig von zu Haus vernommen, bis die letzte Botschaft kam, die mich veranlasste, schleunigst heimzukehren.“

„So muss ich die Geschichte von vorn anfangen. Du weißt von Kind her, dass vor langen Jahren der ,Schmugglerfürst‘ mal hier in den Bergen sein Wesen trieb. Er hatte alle Wilderer und Pascher unter sich, die ihn nicht verrieten, weil sie selber nicht wussten, wer er eigentlich war, und weil sie die Strafe fürchteten, die er jedem gab, den er für seinen Feind hielt. Nachher ist es aber doch herausgekommen, wer er war. Weißt noch die Geschichte?“

„Ja. Die Schmuggelei ist eine von jenen Sünden, die vom Volk durch allerhand Trugschlüsse und Spitzfindigkeiten beschönigt werden, sodass man die Pascher mit dem Heldennimbus umgibt und vorzieht, ihnen allen möglichen Vorschub zu leisten, statt sie der wohlverdienten Strafe zu überliefern.“

„Hast Recht, Frieder, und wenn es auf mich ankäm, so müssten sie alle am Strick baumeln. Aber tu mir doch den Gefallen und sprich nicht so vornehm wie bisher, sondern red die Sprache, die wir daheim sprechen, sonst kommst mir fremd vor und ich weiß nicht, ob du auch wirklich der Frieder bist! Also grad wie damals mit dem Grenzmeister ist’s auch jetzt mit dem ,Waldschwarzen‘, nur dass dieser noch viel schlimmer ist als jener. Was jetzt in einer Woche über die Grenze geschafft wird, das ist sonst in vielen Jahren nicht hinüber- und herübergekommen, und das Wild ist beinah ganz ausgestorben, weil der Waldschwarze es hinwegputzt. Große Schmuggelzüge gehn hin und her, die Kerle sind bewaffnet bis an die Zähne. Der Grenzer, der es wagt, mit ihnen anzubinden, ist verloren, und wer ihnen unglücklicherweise begegnet, wird unschädlich gemacht. Wie und womit, das siehst du an mir.“

„Schrecklich! Und die Obrigkeit, Vater?“

„Die Obrigkeit, ha, ha! Die gibt sich alle Mühe, aber vergebens. Sie versteht’s nicht! Hat sie mir das Auge beschützt? Kann sie mir das Licht zurückgeben in der Finsternis, die mich umgibt wie das weite Meer den Mann, der am Strohhalm hängt? Wo soll man den Hauptmann der Pascher suchen und wo soll man ihn greifen und packen? Niemand weiß, wer er ist und wo er wohnt; er ist nirgends und doch überall und seine Leute sind ihm untertan und gehorsam aufs Wort und auf den Wink. Die Förster und die Grenzer haben sich zusammengetan und ihm Feindschaft geschworen, er lacht sie alle miteinander aus. Niemand hat solche List und Stärke wie er; er ist der Fuchs und der Tiger zugleich; das ist der Grund, warum ihn keiner fängt.“

„Sollte es wirklich niemand geben, der ihm die Faust auf den Nacken legt, Vater?“, fragte Frieder mit einem selbstbewussten Lächeln.

„Keinen! Die Bachbauern sind seit Menschengedenken ein stark Geschlecht gewese, auch ich hab mir auf meine Kraft viel zugut getan. Und doch sind wir, dein Bruder Franz und ich, dem Waldschwarzen unterlegen! Freilich weiß ich nicht, auf welche Weise sie über mich gekommen sind, und bei mir sind es gar viele gewesen, sonst hätte meine Faust sich schon Raum verschafft.“

„Wie ist’s gekommen, Vater?“

„Das war so: Dein Bruder, der Franz, hatte stets gute Freundschaft mit dem Förster gehalten und sie sind beide oft miteinander auf die Pirsch gegangen. Eines Nachts nun kommen sie nicht wieder heim und am Morgen findet man sie an einen Baum gebunden, der eine hüben, der andre drüben, und jeder tot, die Kugel in der Brust! Die Erde und das Gestrüpp waren ringsumher zerstampft und zertreten, als hätte ein gewaltiger Kampf stattgefunden, und in der Tasche steckte bei ihnen ein Zettel, darauf stand geschrieben: ,Zur Strafe vom Waldschwarzen‘. Als sie mir nachher den Franz herbeibrachten, ist mir’s gewesen, als ob mich einer mit der Keule erschlüge, ich hab alle Sinne verloren, mich eingeschlossen und nichts gewusst von dem, was um mich vorgegangen ist. Erst nach dem Begräbnis hat mich die Mutter wieder hervorgebracht und ich bin hinausgegangen auf den Friedhof zu meinem Sohn, der tief unter der Erde gelegen hat, wo ihn mein Auge nicht erreichen konnte. Da hab ich das Gelübde getan, nicht zu ruhn und zu rasten, bis der Waldschwarze vernichtet ist!“

Die letzten Worte waren pfeifend zwischen den knirschenden Zähnen hervorgestoßen worden und über das Gesicht des Erzählers zuckte ein Grimm, der ihm alle Glieder erbeben machte. Frieder hatte seine beiden Hände ergriffen.

„Vater“, rang es sich aus seiner hochgehenden Brust hervor, „grad so denk und fühl auch ich in diesem Augenblick, und was dir nicht gelungen ist, das werde ich umso sichrer erreichen. Hier hast du meine Hand darauf!“

„Du? Geh, Bub! Was denkst denn von dir und ihm? Du bist der kleine Student, der mir nicht an die Schulter reicht und dem das Studium das Mark aus Leib und Seele genommen hat. Ich hab es nimmer gern gehabt, dich als hochgelehrt zu sehn, aber du hast gute Worte gegeben und die Mutter auch und so ist euch euer Wille geschehn. Jetzt bin ich blind und der Franz ist tot und das Geschlecht der Bachbauerriesen stirbt aus. Ich war der stärkste von allen, darum nennt man mich den Goliath. Wie aber wird man dich heißen, Knirps?“

Trotz der nichts weniger als lustigen Stimmung des Augenblicks zuckte ein heiteres Lächeln um das Bärtchen, das Frieders Lippen beschattete.

„Fünf Jahre, hast’s gehört, Vater, fünf volle Jahre war ich nicht daheim! Denkst nicht, dass ich in dieser Zeit ein wenig gewachsen bin?“

„Ein wenig, ja. Aber der echte Bachbauer wirst nicht sein, der Bücherwurm hat dir die Kraft verzehrt und den Mut dazu.“

„So werde ich wieder stark zu Haus, denn nun der Franz tot ist, nehm ich die Arbeit auf mich. Der Bachhof steht mir höher als die Gelehrsamkeit, denn er ist ja meine Heimat, und die hält man hoch!“

„Frieder“, rief der Bauer entzückt, „so hör ich’s gern, und niemand wird sich mehr darüber freun als die Mutter! Du sollst das Auge werden, mit dem ich schau, und wirst auch die Hand sein, mit der ich schaffe und arbeite. Hab Dank für dieses Wort!“

Ein kräftiger Händedruck, der jeden anderen zu einem Laut des Schmerzes veranlasst hätte, besiegelte diesen Bund. Nach einem tiefen Atemzug begann der Vater von Neuem.

„Es ist nachher für mich eine gar regsame Zeit gewesen. Bei Tag hab ich im Hof und auf dem Feld geschafft und bei Nacht bin ich hinaus in den Wald gegangen, den Hass im Herzen und die Büchse auf der Schulter. Ich hab gehorcht und gelauscht vom Abend bis zum Morgen und nichts gesehn und nichts erfahren, als dass die Nachbarn alle die Rache erkannt haben, die in mir kochte Tag und Nacht. Nur einer hat kein Mitleid mit mir gehabt, sondern über mich gelacht und gespottet, der Feldbauer, der mein Nebenbuhler von Jugend auf gewesen ist. Er trägt es mir noch heut nach, dass deine Mutter mich genommen hat und nicht ihn, und wo er nur kann, da fügt er mir Verdruss und Schaden zu. Die erste Frau hat er ins Grab geärgert und die zweite, die er als Witwe bekommen hat, wird wohl das Gleiche erleiden müssen. Mich dauert nur das arme Kind, die Martha, die er gar schlecht behandelt, weil er der Stiefvater ist, und dennoch ist sie das schönste und beste Mädel weit und breit. Sie ist trotz der Feindschaft ihres Vaters gekommen und hat der Mutter bei der Pflege geholfen, als ich unter Schmerz und Qual daniederlag. Das werde ich ihr nimmer vergessen, solang ich lebe, denn ihr Wort und Trost war grad so mild und lind wie die Hand, mit der sie mir das Auge verbunden hat. Und ich hab ihn gebraucht, den Zuspruch und den Trost, denn es war, als hätte die Hölle in mir gebrodelt und gekocht, viel schlimmer noch als damals, wie ich das Gelübde am Grab tat!“

Er holte abermals tief Atem. Die Erinnerung stürmte heftig auf ihn ein und es dauerte lange, eh er wieder ruhiger zu erzählen vermochte.

„Es war in einer Mondnacht, beinah so hell wie der Tag, als ich drunten auf der Halde saß, wo sie vor langer Zeit den alten Stollen zugeschüttet haben. Da knackte es im Gebüsch, und als ich aufschaute, stand einer vor mir, breit und stark wie ein Herkules, bewaffnet bis an die Zähne und mit einer schwarzen Larve vor dem Gesicht. ,Der Waldschwarze!‘, rief ich und sprang empor, um die Büchse anzulegen. Der aber sagte kein Wort, sondern legte den Finger an den Mund und pfiff. Ich wollte grad losdrücken, doch in demselben Augenblick wurde ich von hinten und von der Seite gefasst und zu Boden gerissen. Sie sind über mich hergefallen wie die Wölfe über das einzige Ross, ich schlug um mich, soviel ich konnte, schüttelte sie ab und sprang empor, wurde wieder niedergeworfen, und so ging der Kampf wohl zehn Minuten fort, bis ich endlich ermüdet war und gefesselt wurde. Es waren wohl an die zwanzig Mann, jeder mit der Maske vor dem Gesicht. Ein Tuch wurde mir um die Augen gelegt und ein Knebel mit Gewalt in den Mund gesteckt, dann ging es fort, wohin, weiß ich nicht. Halb getragen, halb gestoßen und geschoben, wurde ich über eine halbe Stunde weitergezerrt, bis es wie Strauch- und Dornzeug raschelte und ich eine Treppe hinuntersteigen musste. Dort war’s feucht und kalt; ich wurde zu Boden gelegt und dann begann mit leiser Stimme die Verhandlung über mich. Ich hörte nichts als das letzte Wort davon: ,Es ist genug, dass der Franz die Kugel bekam! Der Tod ist nicht so schlimm wie das andre und gibt auch keine größere Sicherheit. Er soll den Waldschwarzen nicht fangen, dafür wird gesorgt!‘ Die Stimme kam mir bekannt vor, obgleich sie unter der Larve anders und auch nach Verstellung lautete, aber noch heut kann ich mir nicht sagen, wo ich sie schon vernommen hab. Ich hörte dann ein Geräusch, als werde ein Gewehr geladen, und dann nahm man mir die Binde vom Auge hinweg. Ich blickte auf, aber da blitzte und krachte es grad vor meinem Gesicht los und ich brach zusammen wie vom Blitz erschlagen. Das Feuer vom Pulver nahm mir’s Augenlicht. Der Lauf war nur mit Pulver geladen; schau her, ich hab ein gut Teil davon noch heute im Auge und im Gesicht! Das Weitre kannst dir denken! Meine Schmerzen wurden verlacht und verhöhnt; man fasste mich an, schleppte mich empor und schaffte mich in das Dorf, wo man mich liegen ließ; ich brachte schließlich mit Gewalt die Fesseln herunter und nahm dann auch den Knebel fort. Der Nachtwächter kam herbei und führte mich nach Haus. Das ist die Geschichte, Frieder; das andre will ich nicht erzählen. Das Gewehr taugt nichts mehr in meiner Hand, aber diese Hand, Frieder, diese Hand, wenn sie den Waldschwarzen erst ergriffen hat, sie lässt nicht wieder los. Er mag sich winden wie eine Schlange und krümmen wie ein Wurm, sie hält ihn fest und malmt ihn zusammen wie Papier, das man zerknüllt. Der Waldschwarze ist mein Gedanke am Tag und mein Traum bei Nacht; ich hab weder Ruh noch Rast und vermag nicht zu sterben, eh ich weiß, dass er den Lohn bekommen hat!“

Obgleich der Wagen in raschem Trab auf der Straße dahinrollte, hatte der Sprecher sich doch erhoben. Er streckte die muskulösen Arme aus, als könne er den Todfeind mit ihnen erfassen, die Faust öffnete und ballte sich abwechselnd, ein sprechendes Bild der Zermalmung, von der er gesprochen hatte. Seine Zähne mahlten hörbar aneinander, ihr Elfenbein blickte drohend zwischen den grimmig sich spaltenden Lippen hervor, und die Augen starrten aus ihren Höhlen, als wolle die leidenschaftlich angeregte Kraft der unverletzten Sehnerven den geblendeten Augapfel durchdringen, um auszublicken nach dem geheimnisvollen Dämon, der so viel Unglück verschuldet, so unversöhnlichem Hass das Dasein gegeben hatte.

Frieder war in die Ecke zurückgesunken. Seine Glieder wurden nicht wie diejenigen des Vaters bewegt von der gewaltigen Gärung, die auch in seinem Innern herrschte. Aber in seinen Augen glühte es wie ein eingeschlossener Brand, der nur der geringsten Hoffnung bedarf, um vernichtend emporzulohen.

Dem Knecht war kein einziges Wort der Unterhaltung entgangen. Dem guten Menschen stand das Wasser in den Augen. Er wusste, was sein Herr gelitten hatte und heute noch litt. Das griff ihm ans Herz. Und wie sehr er sich räusperte, wie oft er sich mit dem Ärmel über das Gesicht fuhr, die Tropfen erneuerten sich immer wieder, sodass er endlich, zwischen Ärger und Beschämung kämpfend, auf die Braunen einhieb, dass sie förmlich auf der Straße dahinflogen. An einer Stelle, wo ein Feldweg in die Straße mündete, drehte er sich um und fragte:

„Gradaus oder links?“

„Fahr links ab. Wir kommen näher“, antwortete der Bauer, obgleich er den Weg nicht zu sehen vermochte.

Er wusste, welcher gemeint war. Er war ihn früher stets selbst gefahren, um einen guten Bruchteil Zeit zu gewinnen. Es ging weiter. Der Wald lichtete sich zur offenen Heide, zwischen der das Gleis schmal und holperig dahinführte, und schon senkte sich der Weg herab zum Dorf, als Balduin sich nochmals nach rückwärts wandte:

„Dort kommt einer geritten. Es muss der Feldbauer sein!“

Er war gewohnt, dem Blinden jede Begegnung zu melden, damit dieser die Begrüßung nicht verfehle.

Der Reiter, den er meinte, kam ihnen in scharfem Trab entgegen. Es war eine breite, nicht zu hohe, aber massige Gestalt, an welcher der nicht mehr zu junge Schimmel grad genug zu tragen hatte. Dicht vor ihnen hielt er mitten auf dem Weg das Pferd an, sodass auch Balduin zum Halten gezwungen war.

„Holla, wer ist das?“, rief er. „Das ist ja der Goliath mit dem Studenten, der in die weite Welt gegangen ist, weil ihn zu Haus niemand gern leiden mag! Fahrt seitwärts ab, damit anständige Leute vorüber können!“

„Ihr könnt uns eher ausweichen als wir Euch, Feldbauer“, meinte der Knecht. „Reitet ab!“

„Ich euch, Grünschnabel? Fällt mir nicht ein! Marsch auf die Seite, sonst helf ich nach!“

Als Balduin keine Miene machte, dem Gebot zu folgen, bekam der Schimmel die Sporen; der Reiter hielt im nächsten Augenblick neben dem Wagen und zog dem Knecht mit der Peitsche einen kräftigen Hieb über das Gesicht.

„So, Bursche, da hast, was du brauchst, um ein andermal zu wissen, wer Meister ist, du oder ich!“

„Was ist das, Feldbauer?“, fragte der Blinde. „Du wagst es, mein Gesinde zu schlagen! Könnt ich sehn, so wollte ich dir schon heimleuchten!“

„Du mir heimleuchten? Denkst vielleicht, ich fürchte mich vor dir? Da hast den Hieb grad so wie der Knecht!“

Der Feldbauer holte aus zum Schlag, kam aber nicht dazu. Mit einem gedankenschnellen Sprung war Frieder aus dem Wagen und griff dem Schimmel in die Nüstern, dass er vorn emporstieg, und zwar so kerzengrade, dass der Reiter zu Boden fiel. Sofort kniete der junge Mann auf diesem, entriss ihm die Peitsche und bearbeitete ihn damit, als habe er einen Schulknaben unter sich liegen.

„Frieder, Frieder, was machst du?“, rief der Blinde angstvoll, der nicht anders glaubte, als dass die hörbaren Schläge seinem Sohn galten.

„Ich lehr ihn Achtung vor dem Bachbauern, Vater. Hab keine Sorge um mich!“

Der Feldbauer strengte seine ganze Kraft an, sich emporzubäumen und den Gegner abzuwerfen; es gelang ihm nicht. Die tatendurstige Erbitterung, durch die Erzählung des Vaters in dem Herzen Frieders hervorgerufen, war infolge der Beleidigung zum Ausbruch getrieben worden. Der Jüngling hielt die Arme des Feindes unter den Knien fest, drückte ihm mit der Linken die Kehle wie zwischen einem Schraubstock zusammen und ließ mit den unaufhörlich niedersausenden Peitschenhieben nicht eher nach, als bis er fühlte, dass die Widerstandskraft des Feldbauern vollständig erlahmte.

„So, du hast genug und bist gezeichnet für lange Zeit! Ich will dich lehren, den Knecht zu schlagen und den Vater zu beschimpfen. Die Peitsche nehm ich mit, zum Zeichen, dass der Student, den niemand leiden mag, weit über den Feldbauern kommt, der der Liebling ist vom ganzen Dorf. Willst sie wiederhaben, so kannst sie vom Bachhof holen, nachher sollst sie bekommen, aber anders nicht!“

Er gab dem Schimmel einen Schlag, dass dieser laut wiehernd das Weite suchte, und sprang, ohne den Überwundenen eines weiteren Blicks zu würdigen, schnell in den Wagen, der seinen Weg unverzüglich fortsetzte.

„Frieder!“, stieß der Blinde vor Erstaunen hervor.

„Wunderst dich wohl, Vater? Der Feldbauer mag dir beinah gewachsen sein, mir aber nicht! Willst mich nun noch den Knirps heißen?“

„Nun sicher nicht! Ich hab dich vor mir geschaut immer nur grad so, wie du vor fünf Jahren gewesen bist, und es ist wahr, du bist gewachsen, Frieder. Aber einen Feind hast du dir erworben, der die Züchtigung niemals vergeben wird.“

„Ich fürchte mich nicht und nehm’s mit zweien auf von seinem Schlag!“

Als der Wagen in den Bachhof, den ersten und größten des Dorfs, einfuhr, stand die Bäuerin schon zum Empfang bereit.

„Komm her, Anna, und nimm den Sohn wohl an“, meinte der Blinde. „Er hat die grüne Mütze und die Klunker abgelegt und will für immer bei uns bleiben. Ich sag dir, dass er ein Bachbauer werden wird, wie es noch keinen gegeben hat, denn der Mensch ist ein Riese, noch stärker als der Goliath!“

Vergeltung

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