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II. Ein Greenhorn

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Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet? eine höchst ärgerliche und despektierliche

Bezeichnung für denjenigen, auf welchen sie angewendet wird.

Green heißt grün, und unter horn ist Fühlhorn gemeint. Ein Greenhorn ist demnach ein Mensch, welcher

noch grün, also neu und unerfahren im Lande ist und seine Fühlhörner behutsam ausstrecken muß, wenn

er sich nicht der Gefahr aussetzen will, ausgelacht zu werden.

Ein Greenhorn ist ein Mensch, welcher nicht von seinem Stuhle aufsteht, wenn eine Lady sich auf

denselben setzen will; welcher den Herrn des Hauses grüßt, ehe er der Mistreß und Miß seine

Verbeugungen gemacht hat; welcher beim Laden des Gewehres die Patrone verkehrt in den Lauf schiebt

oder erst den Propfen, dann die Kugel und zuletzt das Pulver in den Vorderlader stößt. Ein Greenhorn

spricht entweder gar kein oder ein sehr reines und geziertes Englisch; ihm ist das Yankee-Englisch oder

gar das Hinterwälder-Idiom ein Greuel; es will ihm nicht in den Kopf und noch viel weniger über die

Zunge. Ein Greenhorn hält ein Racoon für ein Opossum und eine leidlich hübsche Mulattin für eine

Quadroone. Ein Greenhorn raucht Cigaretten und verabscheut den tabakssaftspeienden Sir. Ein

Greenhorn läuft, wenn er von Paddy Irländer eine Ohrfeige erhalten hat, mit seiner Klage zum

Friedensrichter, anstatt, wie ein richtiger Yankee tun soll, den Kerl einfach und auf der Stelle

niederzuschießen. Ein Greenhorn hält die Stapfen eines Turkey für eine Bärenfährte und eine schlanke

Sportjacht für einen Mississippisteamer. Ein Greenhorn geniert sich, seine schmutzigen Stiefel auf die

Kniee seines Mitpassagiers zu legen und seine Suppe mit dem Schnaufen eines verendenden Büffels

hinabzuschlürfen. Ein Greenhorn schleppt der Reinlichkeit wegen einen Waschschwamm von der Größe

eines Riesenkürbis und zehn Pfund Seife mit in die Prairie und steckt sich dazu einen Kompaß bei,

welcher schon am dritten oder vierten Tag nach allen möglichen andern Richtungen, aber nie mehr nach

Norden zeigt. Ein Greenhorn notiert sich achthundert Indianerausdrücke, und wenn er dem ersten Roten

begegnet, so bemerkt er, daß er diese Notizen im letzten Couvert nach Hause geschickt und dafür den

Brief aufgehoben hat. Ein Greenhorn kauft Schießpulver, und wenn er den ersten Schuß tun will, erkennt

er, daß man ihm gemahlene Holzkohle gegeben hat. Ein Greenhorn hat zehn Jahre lang Astronomie

studiert, kann aber ebenso lang den gestirnten Himmel angucken, ohne zu wissen, wie viel Uhr es ist. Ein

Greenhorn steckt das Bowiemesser so in den Gürtel, daß er, wenn er sich bückt, sich die Klinge in den

Schenkel sticht. Ein Greenhorn macht im wilden Westen ein so starkes Lagerfeuer, daß es baumhoch

emporlodert, und wundert sich dann, wenn er von den Indianern entdeckt und erschossen worden ist,

darüber, daß sie ihn haben finden können. Ein Greenhorn ist eben ein Greenhorn und ein solches

Greenhorn war damals auch ich.

Aber man denke ja nicht etwa, daß ich die Überzeugung oder auch nur die Ahnung gehabt hätte, daß

diese kränkende Bezeichnung auf mich passe! O nein, denn es ist ja eben die hervorragendste

Eigentümlichkeit jedes Greenhorns, eher alle andern Menschen, aber nur nicht sich selbst für "grün" zu

halten.

Ich glaubte ganz im Gegenteile, ein außerordentlich kluger und erfahrener Mensch zu sein; hatte ich doch,

so was man zu sagen pflegt, studiert und nie vor einem Examen Angst gehabt! Daß dann das Leben die

eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der

Vorsehung zu bestehen haben, daran wollte mein jugendlicher Sinn damals nicht denken. Unerquickliche

Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang hatten mich über den

Ozean nach den Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines

strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage. Ich hätte in den

Oststaaten recht wohl ein gutes Unterkommen gefunden, aber es trieb mich nach dem Westen. Bald auf

diese und bald auf jene Weise für kurze Zeit tätig, verdiente ich mir so viel, daß ich, äußerlich wohl

ausgerüstet und innerlich von frohem Mute erfüllt, in St. Louis ankam. Dort führte mich das Glück in eine

deutsche Familie, in welcher ich einen einstweiligen Unterschlupf als Hauslehrer fand. In dieser Familie

verkehrte Mr. Henry, ein Original und Büchsenmacher, welcher sein Handwerk mit der Hingebung eines

Künstlers betrieb und sich mit altväterischem Stolze Mr. Henry, the Gunsmith nannte.

Dieser Mann war ein außerordentlicher Menschenfreund, obgleich er das Gegenteil zu sein schien, da er

außer der erwähnten Familie mit keinem Menschen verkehrte und selbst seine Kunden so kurz und

schroff behandelte, daß sie nur der Güte seiner Ware wegen zu ihm kamen. Er hatte seine Frau und

Kinder durch ein grausiges Ereignis verloren, über welches er nie sprach, doch vermutete ich infolge

einiger seiner Äußerungen, daß sie bei einem Überfalle ermordet worden waren. Das hatte ihn äußerlich

rauh gemacht; er wußte es vielleicht gar nicht, daß er eigentlich ein perfekter Grobian war; der Kern aber

war mild und gut, und ich habe oft sein Auge feucht gesehen, wenn ich von der Heimat und den Meinen

erzählte, an denen ich mit ganzem Herzen hing und auch heut noch hänge.

Warum er, der alte Mann, grad für mich, den jungen, fremden Menschen, eine solche Vorliebe zeigte, das

wußte ich nicht, bis er es mir einmal sagte. Seit ich da war, kam er öfters als vorher, hörte dem

Unterrichte zu, nahm mich, wenn dieser beendet war, für sich in Beschlag und lud mich schließlich sogar

ein, ihn zu besuchen. Ein solcher Vorzug war noch keinem Andern zu teil geworden, und ich hütete mich

daher, die mir gewordene Erlaubnis auszubeuten. Diese Zurückhaltung schien ihm aber keineswegs lieb

zu sein; ich erinnere mich noch heut des zornigen Gesichtes, welches er mir eines Abends, als ich zu ihm

kam, zeigte, und des Tones, in welchem er mich empfing, ohne auf mein "good evening" zu antworten:

»Wo habt Ihr denn gestern gesteckt, Sir?«

»Zu Hause.«

»Und vorgestern?«

»Auch zu Hause.«

»Macht mir doch nichts weis!«

»Es ist wahr, Mr. Henry.«

»Pshaw! Solche grüne Vögel, wie Ihr einer seid, bleiben nicht im Neste hocken; die stecken die Schnäbel

überall hin, nur da nicht, wo sie hingehören!«

»Und wo gehöre ich hin, wenn es Euch beliebt, es mir zu sagen?«

»Hierher zu mir, verstanden! Habe Euch schon lange einmal nach etwas fragen wollen.«

»Warum habt Ihr es nicht getan?«

»Weil ich nicht wollte. Hört Ihr es?«

»Und wann wollt Ihr denn?«

»Heute vielleicht.«

»So fragt getrost nur zu,« forderte ich ihn auf, indem ich mich hoch auf die Schraubenbank setzte, an

welcher er arbeitete.

Er sah mir ganz verwundert in das Gesicht, schüttelte mißbilligend den Kopf und rief aus:

»Getrost! Als ob ich so ein Greenhorn, wie Ihr seid, erst um Erlaubnis fragen müßte, wenn ich mit ihm

reden will!«

»Greenhorn?« antwortete ich, die Stirn in Falten ziehend, denn ich fühlte mich bedeutend verletzt. »Ich

will annehmen, Mr. Henry, daß dieses Wort Euch ohne Absicht und nur so herausgefahren ist!«

»Bildet Euch doch nichts ein, Sir! Ich habe mit vollem Bedacht gesprochen; Ihr seid ein Greenhorn, und

was für eins! Den Inhalt Eurer Bücher habt Ihr gut im Kopfe, das ist wahr. Es ist ganz erstaunlich, was ihr

Leute da drüben lernen müßt! Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt

sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er

doch nicht sehen kann! Und weil er dies weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt

die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber

auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht! Was Ihr bis jetzt wißt, ist nichts ist gar

nichts. Und was Ihr bis jetzt könnt, ist noch viel weniger. Ihr könnt ja nicht einmal schießen!«

Er sagte dies in einem außerordentlich verächtlichen Tone und mit einer solchen Bestimmtheit, als ob er

seiner Sache förmlich sicher sei.

»Nicht schießen? Hm!« antwortete ich lächelnd. »Ist dies vielleicht die Frage, welche Ihr mir vorlegen

wolltet?«

»Ja, die ist es. Nun antwortet doch einmal!«

»Gebt mir ein gutes Gewehr in die Hand, so will ich antworten, eher nicht.«

Da legte er den Büchsenlauf, an welchem er schraubte, weg, stand auf, trat nahe an mich heran, fixierte

mich mit verwunderten Augen und rief aus:

»Ein Gewehr in die Hand, Sir? Wird mir nicht einfallen, ganz und gar nicht! Meine Gewehre kommen nur

in solche Hände, in denen ich mit ihnen Ehre einlegen kann!«

»Solche hab ich,« nickte ich ihm zu.

Er sah mich noch einmal, und zwar von der Seite an, setzte sich wieder nieder, begann wieder an dem

Laufe zu arbeiten und brummte vor sich hin:

»So ein Greenhorn! Könnte mich wirklich wild machen mit seiner Dreistigkeit!«

Ich ließ ihn gewähren, denn ich kannte ihn, zog eine Zigarre hervor und brannte sie an. Dann blieb es

wohl eine Viertelstunde lang still zwischen uns. Länger aber konnte er es nicht aushalten; er hielt den

Lauf gegen das Licht, sah hindurch und bemerkte dabei:

»Schießen ist nämlich schwerer als nach den Sternen gucken oder alte Ziegelsteine von Nebukadnezar

lesen. Verstanden? Habt Ihr denn jemals ein Gewehr in der Hand gehabt?«

»Ich denke.«

»Wann?«

»Schon längst und oft.«

»Auch angelegt und abgedrückt?«

»Ja.«

»Und getroffen?«

»Natürlich!«

[Illustration Nr. 1: Zum erstenmal den Bärentöter in der Hand]

Da ließ er den Lauf, den er geprüft hatte, rasch sinken, sah mich wieder an und meinte:

»Ja, getroffen, natürlich, aber was?«

»Das Ziel, ganz selbstverständlich.«

»Was? Wollt Ihr mir das im Ernste aufbinden?«

»Behaupten, aber nicht aufbinden; es ist wahr.«

»Hol Euch der Teufel, Sir! Aus Euch wird man nicht klug. Ich bin überzeugt, daß Ihr an einer Mauer

vorbeischießen würdet, und wenn sie zwanzig Ellen hoch und fünfzig Ellen lang wäre, und doch macht

Ihr bei Eurer Behauptung ein so ernstes und zuversichtliches Gesicht, daß einem darüber die Galle

überlaufen könnte. Ich bin kein Knabe, dem Ihr Stunde gebt, verstanden! So ein Greenhorn und

Bücherwurm, wie Ihr seid, will schießen können! Hat sogar in türkischen, arabischen und andern

dummen Scharteken herumgestöbert und will dabei Zeit zum Schießen gefunden haben! Nehmt doch

einmal das alte Gun Gewehr, Büchse. da hinten vom Nagel, und legt es an, als ob Ihr zielen wolltet! Es ist

ein Bärentöter, der beste, den ich jemals in den Händen gehabt habe.«

Ich ging hin, langte die Büchse herab und legte sie an.

»Halloo!« rief er aus, indem er aufsprang. »Was ist denn das? Ihr geht ja mit diesem Gun wie mit einem

leichten Spazierstocke um, und doch ist es das schwerste Gewehr, welches ich kenne! Besitzt Ihr denn

eine solche Körperkraft?«

Anstatt der Antwort nahm ich ihn unten bei der zugeknöpften Jacke und bei dem Hosenbund und hob ihn

mit dem rechten Arm empor.

»Thunder-storm!« schrie er auf. »Laßt mich los! Ihr seid ja noch weit kräftiger als mein Bill.«

»Euer Bill? Wer ist das?«

»Er war mein Sohn, der lassen wir das! Er ist tot, wie die Andern auch. Er versprach, ein tüchtiger Kerl

zu werden, wurde aber während meiner Abwesenheit mit ihnen ausgelöscht. Ihr seid ihm ähnlich von

Gestalt, habt beinahe dieselben Augen und auch denselben Zug um den Mund; darum bin ich Euch na,

das geht Euch ja doch nichts an!«

Der Ausdruck tiefer Trauer hatte sich über sein Gesicht gebreitet; er fuhr mit der Hand über dasselbe und

fuhr dann in munterem Tone fort:

»Aber, Sir, bei Eurer Muskelkraft ist es wirklich jammerschade, daß Ihr Euch so auf die Bücher geworfen

habt. Hättet Euch körperlich üben sollen!«

»Habe ich auch.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Boxen?«

»Wird drüben bei uns nicht getrieben. Aber im Turnen und Ringen mache ich mit.«

»Reiten?«

»Ja.«

»Fechten?«

»Habe ich Unterricht erteilt.«

»Mann, schneidet nicht auf!«

»Wollt Ihr es versuchen?«

»Danke; habe genug von vorhin! Muß überhaupt arbeiten. Setzt Euch wieder nieder!«

Er kehrte zu seiner Schraubenbank zurück, und ich tat dasselbe. Die nun folgende Unterhaltung war eine

höchst einsilbige; Henry schien sich in Gedanken mit irgend etwas Wichtigem zu beschäftigen. Plötzlich

sah er von der Arbeit auf und fragte:

»Habt Ihr Mathematik getrieben?«

»War eine meiner Lieblingswissenschaften.«

»Arithmetik, Geometrie?«

»Natürlich.«

»Feldmesserei?«

»Sogar außerordentlich gern. Bin sehr oft, ohne daß ich es notwendig hatte, mit dem Theodolit draußen

herumgelaufen.«

»Und könnt messen, wirklich messen?«

»Ja. Ich habe mich sowohl an Horizontal-, als auch an Höhenmessungen oft beteiligt, obgleich ich nicht

behaupten will, daß ich mich als ausgelernten Geodäten betrachte.«

»Well sehr gut, sehr gut!«

»Warum fragt Ihr danach, Mr. Henry?«

»Weil ich eine Ursache dazu habe. Verstanden! Braucht es jetzt nicht zu wissen; werdet es schon noch

erfahren. Muß vorher wissen hm, ja, muß vorher wissen, ob Ihr schießen könnt.«

»So stellt mich auf die Probe!«

»Werde es auch tun; ja, werde es tun; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Wann beginnt Ihr morgen früh den

Unterricht?«

»Um acht Uhr.«

»So kommt um sechs zu mir. Wollen hinauf auf den Schießstand gehen, wo ich meine Gewehre

einschieße.«

»Warum so früh?«

»Weil ich nicht länger warten will. Bin ganz begierig darauf, Euch zu zeigen, daß Ihr ein Greenhorn seid.

Jetzt genug davon, habe Anderes zu tun, was weit, weit wichtiger ist.«

Er schien mit dem Gewehrlaufe fertig zu sein und nahm aus einem Kasten ein polygones Eisenstück,

dessen Ecken er abzufeilen begann. Ich sah, daß jede Fläche desselben ein Loch hatte.

Er war mit solcher Aufmerksamkeit bei dieser Arbeit, daß er meine Gegenwart ganz vergessen zu haben

schien. Seine Augen funkelten, und wenn er sein Werk von Zeit zu Zeit betrachtete, so sah ich, daß es, ich

möchte beinahe sagen, mit einem Ausdrucke von Liebe geschah. Dieses Eisenstück mußte einen großen

Wert für ihn haben. Ich war neugierig, zu erfahren, warum; darum fragte ich ihn:

»Soll das auch ein Gewehrteil werden, Mr. Henry?«

»Ja,« antwortete er, als ob er sich besinne, daß ich noch da sei.

»Aber ich kenne kein Gewehrsystem, das einen derartigen Teil besitzt.«

»Glaube es. Soll erst noch werden. Wird wohl System Henry werden.«

»Ah, eine neue Erfindung?«

»Yes.«

»Dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich gefragt habe! Es ist natürlich Geheimnis.«

Er guckte eine längere Zeit in alle die Löcher hinein, drehte das Eisen nach verschiedenen Richtungen,

hielt es einige Male an das hintere Ende des Laufes, den er vorhin fortgelegt hatte, und sagte endlich:

»Ja, es ist ein Geheimnis; aber ich traue Euch, denn ich weiß, daß Ihr Verschwiegenheit besitzt, obgleich

Ihr ein ausgemachtes, richtiges Greenhorn seid; darum will ich Euch sagen, was es werden soll. Es wird

ein Stutzen, ein Repetierstutzen mit fünfundzwanzig Schüssen.«

»Unmöglich!«

»Haltet Euren Schnabel! Ich bin nicht so dumm, mir etwas Unmögliches vorzunehmen.«

»Aber da müßtet Ihr doch Kammern zur Aufnahme der Munition für fünfundzwanzig Schüsse haben!«

»Habe ich auch!«

»Die würden aber so groß und unhandlich sein, daß sie genierten.«

»Nur eine Kammer; ist ganz handlich und geniert gar nicht. Dieses Eisen ist die Kammer.«

»Hm! Ich verstehe mich auf Euer Fach ja gar nicht; aber wie steht es mit der Hitze? Wird der Lauf zu

heiß?«

»Fällt ihm nicht ein. Material und Behandlung des Laufes sind mein Geheimnis. Übrigens, ist es denn

immer nötig, die fünfundzwanzig Schüsse alle gleich hintereinander abzugeben?«

»Schwerlich.«

»Also! Dieses Eisen wird eine Kugel, welche sich exzentrisch bewegt; fünfundzwanzig Löcher darin

enthalten ebensoviele Patronen. Bei jedem Schusse rückt die Kugel weiter, die nächste Patrone an den

Lauf. Habe mich lange Jahre mit dieser Idee getragen; wollte nicht gelingen; jetzt aber scheint es zu

klappen. Habe schon jetzt als Gunsmith einen guten Namen, werde dann aber berühmt, sehr berühmt

werden und viel, sehr viel Geld verdienen.«

»Und ein böses Gewissen dazu!«

Er sah mir eine Weile ganz erstaunt in das Gesicht und fragte dann:

»Ein böses Gewissen? Wie so?«

»Meint Ihr, daß ein Mörder kein böses Gewissen zu haben braucht?«

»Zounds! Wollt Ihr etwa sagen, daß ich ein Mörder bin?«

»Jetzt noch nicht.«

»Oder ein Mörder werde?«

»Ja, denn die Beihilfe zum Morde ist grad so schlimm wie der Mord selbst.«

»Hole Euch der Teufel! Ich werde mich hüten, Beihilfe zu einem Morde zu leisten.«

»Zu einem einzelnen freilich nicht, aber sogar zum Massenmorde.«

»Wie so? Ich verstehe Euch nicht.«

»Wenn Ihr ein Gewehr fertigt, welches fünfundzwanzigmal schießt, und es in die Hände jedes beliebigen

Strolches gebt, so wird drüben auf den Prairien, in den Urwäldern und den Schluchten des Gebirges sich

bald ein grausiges Morden erheben; man wird die armen Indianer niederschießen wie Cojoten, und in

einigen Jahren wird es keinen Indsman mehr geben. Wollt Ihr das auf Euer Gewissen laden?«

Er starrte mich an und antwortete nicht.

»Und,« fuhr ich fort, »wenn jedermann dieses gefährliche Gewehr für Geld bekommen kann, so werdet

Ihr allerdings in kurzer Zeit tausende absetzen, aber die Mustangs und die Büffel werden ausgerottet

werden und mit ihnen jede Art von Wild, dessen Fleisch die Roten zum Leben brauchen. Es werden

hundert und tausend Aasjäger sich mit Eurem Stutzen bewaffnen und nach dem Westen gehen. Das Blut

von Menschen und Tieren wird in Strömen fließen, und sehr bald werden die Gegenden diesseits und

jenseits der Felsenberge von jedem lebenden Wesen entvölkert sein.«

»'sdeath!« rief er jetzt aus. »Seid Ihr wirklich erst vor kurzem aus Germany herübergekommen?«

»Ja.«

»Und vorher noch nie hier gewesen?«

»Nein.«

»Und im wilden Westen erst recht noch nicht?«

»Nein.«

»Also ein vollständiges Greenhorn. Und doch nimmt dieses Greenhorn den Mund so voll, als ob es der

Urgroßvater aller Indianer wäre und schon seit tausend Jahren hier gelebt hätte und heute noch lebte!

Männchen, bildet Euch ja nicht ein, mir warm zu machen! Und selbst wenn alles so wäre, wie Ihr sagt, so

wird es mir niemals in den Sinn kommen, eine Gewehrfabrik anzulegen. Ich bin ein einsamer Mann und

will einsam bleiben; ich habe keine Lust, mich mit hundert oder gar noch mehr Arbeitern

herumzuärgern.«

»Aber Ihr könntet doch, um Geld zu verdienen, Patent auf Eure Erfindung nehmen und dies verkaufen?«

»Das wartet ruhig ab, Sir! Bis jetzt habe ich stets gehabt, was ich brauche, und ich denke, daß ich auch

fernerhin und ohne Patent keine Not leiden werde. Und nun schert Euch für heut nach Hause! Ich habe

keine Lust, einen Vogel piepen zu hören, der erst flügge werden muß, ehe er pfeifen oder singen kann.«

Es fiel mir gar nicht ein, ihm diese derben Ausdrücke übel zu nehmen; er war nun einmal so, und ich

wußte recht gut, wie er es meinte. Er hatte mich liebgewonnen und war ganz gewiß gewillt, mir in jeder

Beziehung, so weit er es vermochte, förderlich und dienlich zu sein. Ich gab ihm die Hand und ging,

nachdem er mir dieselbe kräftig gedrückt und geschüttelt hatte.

Ich ahnte nicht, wie wichtig dieser Abend für mich werden sollte, und ebensowenig kam es mir in den

Sinn, daß dieser schwere Bärentöter, den Henry ein altes Gun nannte, und der noch unfertige

Henrystutzen in meinem späteren Leben eine so große Rolle spielen würden. Aber auf den nächsten

Morgen freute ich mich, denn ich hatte wirklich schon viel und gut geschossen und war vollständig

überzeugt, daß ich vor den Augen meines alten, sonderbaren Freundes gut bestehen würde.

Ich fand mich pünktlich morgens sechs Uhr bei ihm ein. Er wartete schon auf mich, gab mir die Hand und

sagte, indem ein ironisches Lächeln über seine alten, guten, derben Züge glitt:

»Welkome [Welcome], Sir! Ihr macht doch ein recht siegesgewisses Gesicht? Meint Ihr, daß Ihr die

Mauer, von der ich gestern abend sprach, treffen würdet?«

»Ich hoffe es.«

»Well, so wollen wir gleich sehen. Ich nehme ein leichteres Gewehr mit, und Ihr tragt den Bärentöter; ich

mag mich mit so einer Last nicht schleppen.«

Er hing sich eine leichte, doppelläufige Rifle um, und ich nahm das "alte Gun", welches er nicht tragen

wollte. Auf seinem Schießstande angekommen, lud er beide Gewehre und tat zunächst aus der Rifle selbst

zwei Schüsse. Dann kam ich an die Reihe mit dem Bärentöter. Ich kannte dieses Gewehr noch nicht und

traf infolgedessen beim ersten Schusse nur grad den Rand des Schwarzen in der Scheibe; der zweite

Schuß saß besser; der dritte nahm die genaue Mitte des Schwarzen, und die nächsten Kugeln gingen alle

durch das Loch, welches die dritte durchgeschlagen hatte. Das Erstaunen Henrys wuchs von Schuß zu

Schuß; ich mußte auch die Rifle probieren, und als dies ganz denselben Erfolg hatte, rief er schließlich

aus:

»Entweder Ihr habt den Teufel, Sir, oder Ihr seid zum Westmann rein geboren. So habe ich noch kein

Greenhorn schießen sehen!«

»Den Teufel habe ich nicht, Mr. Henry,« lachte ich. »Von einem solchen Bündnisse möchte ich nichts

wissen.«

»So ist es Eure Aufgabe und sogar Eure Pflicht, Westmann zu werden. Habt Ihr keine Lust dazu?«

»Warum nicht!«

»Well, werden sehen, was sich aus dem Greenhorn machen läßt. Also reiten könnt Ihr auch?«

»Zur Not.«

»Zur Not? Hm! Also doch nicht so gut, wie Ihr schießt?«

»Pshaw! Was ist das Reiten weiter! Das Aufsteigen ist das Schwierigste. Wenn ich dann erst oben sitze,

bringt mich wohl kein Pferd herunter.«

Er sah mich forschend an, ob ich im Ernste oder im Scherze gesprochen hatte; ich machte ein höchst

unbefangenes Gesicht, und so meinte er:

»Denkt Ihr wirklich? Wollt Euch wohl an der Mähne anhalten? Da seid Ihr im Irrtum. Ihr habt ganz

richtig gesagt: Das Hinaufkommen ist das Schwierigste, denn das muß man selber machen; das

Herabkommen ist viel leichter: das besorgt der Gaul, und darum geht es viel, viel schneller.«

»Bei mir besorgt es der Gaul aber nicht!«

»So? Wollen sehen! Habt Ihr Lust, eine Probe zu zeigen?«

»Gern.«

»So kommt! Es ist erst sieben Uhr, und Ihr habt noch eine Stunde Zeit. Wir gehen zu Jim Korner, dem

Pferdehändler; der hat einen Rotschimmel, der es Euch schon besorgen wird.«

Wir kehrten in die Stadt zurück und suchten den Pferdehändler auf, bei dem es einen weiten Reithof gab,

welcher rings von Stallungen umgeben war. Korner kam selbst herbei und fragte nach unserm Begehr.

»Dieser junge Sir behauptet, daß ihn kein Pferd aus dem Sattel bringe,« antwortete Henry. »Was meint

Ihr dazu, Mr. Korner? Wollt Ihr ihn einmal auf Euern Rotschimmel klettern lassen?«

Der Händler maß mich mit prüfendem Blicke, nickte dann befriedigt vor sich hin und antwortete:

»Das Knochengestell scheint gut und elastisch zu sein; übrigens brechen junge Menschen den Hals nicht

so leicht wie ältere Leute. Wenn der Gentleman den Schimmel versuchen will, so habe ich nichts

dagegen.«

Er gab den betreffenden Befehl, und nach einiger Zeit brachten zwei Knechte das gesattelte Pferd aus

dem Stall geführt. Es war höchst unruhig und strebte, sich loszureißen. Meinem alten Mr. Henry wurde

Angst um mich; er bat mich, von dem Versuche abzustehen; aber erstens war mir gar nicht bange, und

zweitens betrachtete ich die Angelegenheit nun als Ehrensache. Ich ließ mir eine Peitsche geben und

Sporen anschnallen; dann schwang ich mich, allerdings nach einigen vergeblichen Versuchen, gegen

welche das Pferd sich wehrte, in den Sattel. Kaum saß ich oben, so sprangen die Knechte eilends fort, und

der Schimmel tat einen Satz mit allen Vieren in die Luft und einen zweiten zur Seite. Ich behielt den

Sattel, obgleich ich noch nicht in den Bügeln war, beeilte mich aber, hineinzukommen. Kaum war dies

geschehen, so begann der Gaul, zu bocken; als dies nichts fruchtete, ging er zur Wand, um mich an

derselben abzustreifen; die Peitsche aber brachte ihn rasch von derselben fort. Hierauf gab es einen bösen,

beinahe für mich gefährlichen Kampf zwischen Reiter und Pferd. Ich bot alles auf, das wenige Geschick

und die unzureichende Uebung, welche ich damals nur besaß, und die Kraft der Schenkel, die mich

schließlich doch zum Sieger machte. Als ich abstieg, zitterten mir die Beine vor Anstrengung; aber das

Pferd triefte vor Schweiß und schäumte große, schwere Flocken; es gehorchte nun jedem Drucke und

Rucke.

Dem Händler war Angst um sein Pferd geworden; er ließ es in Decken wickeln und langsam hin und her

führen; dann wendete er sich an mich:

[Illustration Nr. 2: Ein Rotschimmel wird zugeritten]

»Das hätte ich nicht gedacht, junger Mann; ich glaubte, Ihr würdet schon beim ersten Sprunge unten

liegen. Ihr habt natürlich nichts zu bezahlen, und wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, so kommt wieder

und bringt mir die Bestie vollends zu Verstand. Es soll mir auf zehn Dollars nicht ankommen, denn es ist

kein billiges Pferd, und wenn es gehorchen lernt, so mache ich ein Geschäft.«

»Wenn es Euch recht ist, soll es mir ein Vergnügen sein,« antwortete ich.

Henry hatte, seit ich abgestiegen war, noch nichts gesagt, sondern mich nur immer kopfschüttelnd

angesehen. Jetzt schlug er die Hände zusammen und rief aus:

»Dieses Greenhorn ist wirklich ein ganz außerordentliches oder vielmehr ungewöhnliches Greenhorn!

Hat das Pferd halb tot gedrückt, anstatt sich in den Sand werfen zu lassen! Wer hat Euch das gelehrt,

Sir?«

»Der Zufall, der mir einen halbwilden, ungarischen Pußtenhengst, der niemand aufsitzen lassen wollte,

zwischen die Beine gab. Ich habe ihn nach und nach bezwungen, dabei aber fast das Leben riskiert.«

»Danke für solche Kreaturen! Da lobe ich mir meinen alten Polsterstuhl, der nichts dagegen hat, wenn ich

mich auf ihn setze. Kommt, wir wollen gehen. Es ist mir ganz schwindelig geworden. Aber umsonst habe

ich Euch nicht schießen und reiten sehen; darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

Wir gingen nach Hause, er zu sich und ich in meine Wohnung. Während dieses und der beiden nächsten

Tage ließ er sich nicht sehen, und ich hatte auch keine Gelegenheit, ihn aufzusuchen; aber am

darauffolgenden Tage kam er des Nachmittags zu mir; er wußte, daß ich da frei hatte.

»Habt Ihr Lust, einen Spaziergang mit mir zu machen?« fragte er.

»Wohin?«

»Zu einem Gentleman, der Euch gern kennen lernen will.«

»Warum mich?«

»Das könnt Ihr Euch doch denken: weil er noch kein Greenhorn gesehen hat.«

»So gehe ich mit; er soll uns kennen lernen.«

Henry machte heut so ein pfiffiges, unternehmendes Gesicht, und wie ich ihn kannte, hatte er irgend eine

Überraschung vor. Wir schlenderten durch einige Straßen und dann führte er mich in ein Bureau, in

welches von der Straße aus eine breite Glastür führte. Er nahm den Zutritt so schnell, daß ich die

goldenen Lettern, welche auf den Glasscheiben standen, nicht mehr lesen konnte, doch glaubte ich, die

beiden Worte Office und surveying gesehen zu haben. Bald stellte es sich heraus, daß ich mich nicht

geirrt hatte.

Es saßen drei Herren da, welche ihn sehr freundlich und mich höflich und mit nicht zu verbergender

Neugierde empfingen. Karten und Pläne lagen auf den Tischen; dazwischen gab es allerlei

Meßinstrumente. Wir befanden uns in einem geodätischen Bureau.

Welchen Zweck mein Freund mit diesem Besuche verfolgte, war mir unklar; er hatte keine Bestellung,

keine Erkundigung vorzubringen; er schien nur der freundschaftlichen Unterhaltung wegen gekommen zu

sein. Diese kam allerdings sehr bald in einen lebhaften Gang, und es konnte nicht auffallen, daß sie sich

schließlich auch auf die Gegenstände, welche sich hier befanden, erstreckte; dies war mir lieb, denn da

konnte ich mich besser beteiligen, als wenn von amerikanischen Dingen oder Verhältnissen gesprochen

worden wäre, die ich noch nicht kannte.

Henry schien sich heut außerordentlich für die Feldmeßkunst zu interessieren; er wollte alles wissen, und

ich ließ mich gern so tief in das Gespräch ziehen, daß ich endlich immer nur Fragen zu beantworten, den

Gebrauch der verschiedenen Instrumente zu erklären und das Zeichnen von Karten und Plänen zu

beschreiben hatte. Ich war wirklich ein tüchtiges Greenhorn, denn ich merkte nicht die Absicht heraus.

Erst als ich mich über das Wesen und die Unterschiede der Aufnahme durch Koordinaten, der Polar- und

Diagonalmethode, der Perimetermessung, des Repetitionsverfahrens, der trigonometrischen Triangulation

ausgesprochen hatte und die Bemerkung machte, daß die drei Herren dem Büchsenmacher heimlich

zuwinkten, wurde mir die Sache auffällig, und ich stand von meinem Sitz auf, um Henry anzudeuten, daß

ich zu gehen wünsche. Er weigerte sich nicht, und wir wurden jetzt auch ich noch freundlicher entlassen,

als der Empfang gewesen war.

Als wir dann so weit gegangen waren, daß man uns von dem Bureau aus nicht mehr sehen konnte, blieb

Henry stehen, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, indem sein Gesicht in heller Genugtuung

leuchtete:

»Sir, Mann, Mensch, Jüngling, Greenhorn, aber habt Ihr mir eine Freude gemacht! Ich bin ja förmlich

stolz auf Euch!«

»Warum?«

»Weil Ihr meine Empfehlung und die Erwartung dieser Leute noch übertroffen habt!«

»Empfehlung? Erwartung? Ich verstehe Euch nicht.«

»Ist auch nicht nötig. Die Sache ist aber sehr einfach. Ihr behauptetet kürzlich, etwas von der

Feldmesserei zu verstehen, und um zu erfahren, ob dies etwa nur Flunkerei gewesen sei, habe ich Euch zu

diesen Gentlemen, die gute Bekannte von mir sind, geführt und Euch von ihnen auf den Zahn fühlen

lassen. Es ist ein sehr gesunder Zahn, denn Ihr habt Euch höchst ehrenvoll herausgebissen.«

»Flunkerei? Mr. Henry, wenn Ihr mich solcher Dinge für fähig haltet, werde ich Euch nicht mehr

besuchen!«

»Laßt Euch nicht auslachen! Ihr werdet mich alten Kerl doch nicht der Freude berauben, die mir Euer

Anblick macht. Wißt schon, wegen der Ähnlichkeit mit meinem Sohne! Seid Ihr vielleicht einmal beim

Pferdehändler gewesen?«

»Täglich des Morgens.«

»Und habt den Rotschimmel geritten?«

»Ja.«

»Wird etwas aus dem Pferde?«

»Will es meinen. Nur bezweifle ich, daß der, welcher es kauft, so gut mit ihm auskommen wird wie ich.

Es hat sich nur an mich gewöhnt und wirft jeden Andern ab.«

»Freut mich, freut mich ungeheuer; es will also, wie es scheint, nur Greenhorns tragen. Kommt einmal

mit durch diese Seitenstraße! Weiß da drüben ein famoses dining-house, in welchem man sehr gut speist

und noch besser trinkt. Das Examen, welches Ihr heut so vortrefflich bestanden habt, muß gefeiert

werden.«

Ich konnte Henry nicht begreifen; er war wie umgetauscht. Er, der einsame, zurückhaltende Mann, wollte

in einem dining-house essen! Auch sein Gesicht war ein anderes als gewöhnlich, und seine Stimme klang

heller und froher als sonst. Examen hatte er gesagt. Das Wort fiel mir auf, konnte hier aber ein ganz

bedeutungsloser Ausdruck sein.

Von diesem Tage an besuchte er mich täglich und behandelte mich wie einen lieben Freund, den man

bald zu verlieren befürchtet. Aber einen Stolz über diese Bevorzugung ließ er in mir nicht aufkommen; er

hatte stets einen Dämpfer bereit, welcher in dem fatalen Wort Greenhorn bestand.

Sonderbarerweise hatte sich zu derselben Zeit auch das Verhalten der Familie, in der ich wirkte,

verändert. Die Eltern hatten sichtlich mehr Aufmerksamkeit für mich, und die Kinder waren zärtlicher

geworden. Ich überraschte sie bei heimlichen Blicken auf mich, die ich nicht verstehen konnte; ich hätte

sie liebevoll und auch bedauernd nennen mögen.

Ungefähr drei Wochen nach unserm sonderbaren Besuche im Bureau bat mich die Lady, am Abend, der

heut für mich ein freier war, nicht auszugehen, sondern das supper mit der Familie zu nehmen. Als Grund

dieser Einladung gab sie an, daß Mr. Henry kommen werde, und außerdem habe sie zwei Gentlemen

geladen, von denen der eine Sam Hawkens heiße und ein berühmter Westmann sei. Ich als Greenhorn

hatte diesen Namen noch nicht gehört, freute mich aber doch darauf, den ersten wirklichen und sogar

berühmten Westmann kennen zu lernen.

Da ich Hausgenosse war, brauchte ich nicht bis Punkt zum Glockenschlage zu warten, sondern stellte

mich einige Minuten vorher in dem dining-room ein. Dort sah ich zu meiner Verwunderung nicht das

gewöhnliche Arrangement, sondern es war wie zu einem Feste gedeckt worden. Die kleine, fünfjährige

Emmy hatte sich allein in dem Raume befunden und den Finger, um zu naschen, in das Beerenkompott

gesteckt. Sie zog ihn, als ich eintrat, schnell zurück und wischte ihn spornstreichs an ihrem hochblonden

Frisurchen ab. Als ich nun mit strafendem Winke den meinigen erhob, kam sie auf mich zugesprungen

und flüsterte mir einige Worte zu. Um ihr Vergehen gut zu machen, teilte sie mir das Geheimnis der

letzten Tage, welches ihr das kleine Herzchen fast abgedrückt hatte, mit. Ich glaubte, falsch verstanden zu

haben; sie aber wiederholte auf meine Aufforderung dieselben Worte: »Your farewell-feast.«

Mein Abschiedsschmaus! Das konnte doch unmöglich sein! Wer weiß, durch welches Mißverständnis das

Kind auf diese jedenfalls irrige Meinung gekommen war. Ich lächelte darüber. Dann hörte ich Stimmen

im Parlour; die Gäste kamen, und ich ging hinüber, sie zu begrüßen. Sie waren alle drei zu gleicher Zeit

gekommen, auf Verabredung hin, wie ich später erfuhr. Henry stellte mir einen jungen, etwas stumpf und

ungelenk aussehenden Mann als einen Mr. Black und dann Sam Hawkens, den Westmann, vor.

Den Westmann! Ich gestehe offen zu, daß ich, als mein Auge verwundert auf ihm ruhte, wohl nicht sehr

geistreich ausgesehen haben mag. Eine solche Gestalt hatte ich denn doch noch nicht gesehen; später

freilich habe ich noch ganz andere kennen gelernt. War der Mann schon an sich auffällig genug, so wurde

dieser Eindruck dadurch erhöht, daß er hier in dem feinen Parlour ganz genau so stand, wie er draußen in

der Wildnis gestanden haben würde, nämlich ohne die Kopfbedeckung abzunehmen und mit dem

Gewehre in der Hand. Man denke sich folgendes Äußere:

Unter der wehmütig herabhängenden Krempe eines Filzhutes, dessen Alter, Farbe und Gestalt selbst dem

schärfsten Denker einiges Kopfzerbrechen verursacht haben würden, blickte zwischen einem Walde von

verworrenen, schwarzen Barthaaren eine Nase hervor, die von fast erschreckenden Dimensionen war und

jeder beliebigen Sonnenuhr als Schattenwerfer hätte dienen können. Infolge dieses gewaltigen

Bartwuchses waren außer dem so verschwenderisch ausgestatteten Riechorgane von den übrigen

Gesichtsteilen nur die zwei kleinen, klugen Äuglein zu bemerken, welche mit einer außerordentlichen

Beweglichkeit begabt zu sein schienen und mit einem Ausdrucke von schalkhafter List auf mir ruhten.

Der Mann betrachtete mich ebenso aufmerksam wie ich ihn; später erfuhr ich den Grund, warum er sich

so für mich interessierte.

Diese Oberpartie ruhte auf einem Körper, welcher bis auf die Knie herab unsichtbar blieb und in einem

alten, bockledernen Jagdrocke stak, der augenscheinlich für eine bedeutend stärkere Person angefertigt

worden war und dem kleinen Manne das Aussehen eines Kindes gab, welches sich zum Vergnügen

einmal in den Schlafrock des Großvaters gesteckt hat. Aus dieser mehr als zulänglichen Umhüllung

guckten zwei dürre, sichelkrumme Beine hervor, welche in ausgefransten Leggins steckten, die so

hochbetagt waren, daß sie das Männchen schon vor zwei Jahrzehnten ausgewachsen haben mußte, und

die dabei einen umfassenden Blick auf ein Paar Indianerstiefel gestatteten, in denen zur Not der Besitzer

in voller Person hätte Platz finden können.

In der Hand trug dieser berühmte "Westmann" eine Flinte, welche ich wohl nur mit der äußersten

Vorsicht angefaßt hätte; sie war einem Knüppel viel ähnlicher als einem Gewehre. Ich konnte mir in

diesem Augenblicke keine größere Karikatur eines Präriejägers denken, doch sollte keine lange Zeit

vergehen, bis ich den Wert dieses originellen Männchens vollauf erkennen lernte.

Nachdem er mich genau betrachtet hatte, fragte er den Büchsenmacher mit einer dünnen Stimme, die wie

eine Kinderstimme klang:

»Ist dies das junge Greenhorn, von dem Ihr mir erzählt habt, Mr. Henry?«

»Yes,« nickte dieser.

»Well! Gefällt mir gar nicht übel. Hoffe, daß Sam Hawkens ihm auch gefallen wird, hihihihi!«

Mit diesem feinen, ganz eigenartigen Lachen, welches ich später noch tausendmal von ihm gehört habe,

wendete er sich nach der Tür, die sich in diesem Augenblicke öffnete. Der Herr und die Dame des Hauses

traten ein und begrüßten den Jäger in einer Weise, welche vermuten ließ, daß sie ihn schon einmal

gesehen hatten. Das war hinter meinem Rücken geschehen. Dann luden sie uns ein, in das Speisezimmer

zu treten.

Wir folgten dieser Aufforderung, wobei Sam Hawkens zu meinem Erstaunen gar nicht vorher ablegte.

Erst als wir unsere Plätze an der Tafel angewiesen erhielten, sagte er, indem er auf seinen alten

Schießprügel deutete:

»Ein richtiger Westmann läßt sein Gewehr niemals aus den Augen und ich meine brave Liddy erst recht

nicht. Werde sie dort an die Gardinenrosette hängen.«

Also Liddy nannte er sein Gewehr! Später erfuhr ich freilich, daß es die Gewohnheit vieler Westläufer ist,

ihr Gewehr wie ein lebendes Wesen zu behandeln und ihm einen Namen zu geben. Er hing es an die

genannte Stelle und wollte den famosen Hut hinzufügen; als er ihn abnahm, blieb zu meinem Entsetzen

sein ganzes Kopfhaar an demselben hängen.

Es war wirklich zum Erschrecken, welchen Anblick nun sein hautloser, blutigroter Schädel bot. Die Lady

schrie laut auf, und die Kinder kreischten, was sie konnten. Er aber wandte sich zu uns um und sagte

ruhig:

»Erschreckt nicht, Myladies und Mesch'schurs; es ist ja weiter nichts! Hatte meine eigenen Haare mit

vollem Rechte und ehrlich von Kindesbeinen an getragen, und kein Advokat wagte es, sie mir streitig zu

machen, bis so ein oder zwei Dutzend Pawnees über mich kamen und mir die Haare samt der Haut vom

Kopfe rissen. War ein verteufelt störendes Gefühl für mich, habe es aber glücklich überstanden, hihihihi!

Bin dann nach Tekama gegangen und habe mir einen neuen Skalp gekauft, wenn ich mich nicht irre;

wurde Perücke genannt und kostete mich drei dicke Bündel Biberfelle. Schadet aber nichts, denn die neue

Haut ist viel praktischer als die alte, besonders im Sommer; kann sie abnehmen, wenn mich schwitzt,

hihihihi.«

Er hing den Hut zur Flinte und stülpte sich die Perücke wieder auf den Kopf. Dann zog er den Rock aus

und legte ihn über einen Stuhl. Dieser Rock war viele, viele Male geflickt und ausgebessert worden,

immer ein Lederfetzen wieder auf den andern genäht, und dadurch hatte dieses Kleidungsstück eine

Steifheit und Dicke erlangt, daß wohl kaum ein Indianerpfeil hindurchkommen konnte.

Nun sahen wir seine dünnen, krummen Beine ganz. Der Oberkörper stak in einer ledernen Jagdweste. Im

Gürtel hatte er ein Messer und zwei Pistolen stecken. Als er seinen Stuhl an der Tafel wieder erreichte,

warf er erst auf mich und dann auf die Dame des Hauses einen listigen Blick und fragte:

»Mag Mylady nicht, bevor wir an das Essen gehen, diesem Greenhorn sagen, um was es sich handelt,

wenn ich mich nicht irre?«

Der Ausdruck "wenn ich mich nicht irre" war bei ihm zur stehenden Redensart geworden. Die Lady

nickte, drehte sich mir zu, deutete auf den jüngeren Gast und sagte:

»Ihr werdet vielleicht noch nicht wissen, daß Mr. Black hier Euer Nachfolger ist, Sir.«

»Mein Nachfolger?« stieß ich ganz betroffen hervor.

»Jawohl. Da wir heut Euern Abschied von uns feiern, waren wir gezwungen, uns nach einem neuen

Lehrer umzusehen.«

»Meinen Abschied ?«

Heute preise ich das Schicksal, daß ich in jenem Augenblick nicht photographiert worden bin, denn ich

habe jedenfalls wie die personifizierte Verblüfftheit ausgesehen.

»Ja, Euern Abschied, Sir,« nickte sie mit einem wohlwollenden Lächeln, welches ich aber nicht für am

Platze fand, denn mir selbst war keineswegs zum Lächeln. Sie fügte hinzu: »Es hätte eigentlich gekündigt

werden sollen, doch wollen wir Euch, den wir so lieb gewonnen haben, nicht hinderlich sein, Euer Glück

so bald wie möglich zu ergreifen. Es tut uns innig leid, Euch von uns gehen zu sehen, doch geben wir

Euch unsere besten Wünsche mit. Reist in Gottes Namen morgen ab!«

»Abreisen? Morgen? Wohin denn?« brachte ich mühsam hervor.

Da schlug mir Sam Hawkens, der neben mir stand, mit der Hand auf die Achsel und antwortete lachend:

»Wohin? Nach dem wilden Westen mit mir. Ihr habt ja Euer Examen glänzend bestanden, hihihihi! Die

andern Surveyors reiten morgen fort und können nicht auf Euch warten; Ihr müßt unweigerlich mit. Ich

und Dick Stone und Will Parker, wir sind als Führer engagiert, immer den Kanadian hinauf und ins New

Mexiko hinein. Denke doch nicht, daß Ihr hier und ein Greenhorn bleiben wollt!«

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das alles war abgekartete Sache gewesen! Surveyor,

Feldmesser, vielleicht gar für eine der großen Bahnen, welche geplant wurden. Welch ein froher

Gedanke! Ich brauchte gar nicht zu fragen; ich erhielt die Auskunft unaufgefordert, denn mein alter, guter

Henry trat zu mir, faßte mich bei der Hand und sagte:

»Hab's Euch ja schon gesagt, weshalb ich Euch gern habe. Ihr seid hier bei braven Menschen, aber ein

Hauslehrerposten ist nichts für Euch, Sir, gar nichts. Ihr müßt nach dem Westen. Habe mich darum an die

Atlantik und Pazifik Company gewendet und Euch examinieren lassen, ohne daß Ihr es wußtet. Habt gut

bestanden. Hier ist die Installation.«

Er gab mir das Dokument. Als ich einen Blick in dasselbe warf und da mein wahrscheinliches

Einkommen verzeichnet fand, gingen mir die Augen über. Er aber fuhr fort:

»Es wird geritten; Ihr braucht also ein gutes Pferd. Habe den Rotschimmel gekauft, den Ihr selbst

zugeritten habt; sollt ihn bekommen. Und Waffen müßt Ihr auch haben; werde Euch den Bärentöter

mitgeben, das alte, schwere Gun, welches ich nicht brauchen kann, mit dem aber Ihr bei jedem Schusse in

das Schwarze trefft. Was sagt Ihr dazu, Sir, he?«

Ich sagte zunächst gar nichts; dann, als ich die Sprache wiederfand, wollte ich die Gaben von mir weisen,

hatte aber keinen Erfolg. Diese guten Menschen hatten beschlossen, mich glücklich zu machen, und es

hätte sie tief gekränkt, wenn ich bei meiner Ablehnung geblieben wäre. Um, wenigstens für einstweilen,

alle Weiterungen abzuschneiden, nahm die Lady an der Tafel Platz, und wir Andern waren gezwungen,

ihrem Beispiele zu folgen; es wurde gegessen, und das Thema durfte nicht gleich wieder aufgenommen

werden.

Erst nach Tische erfuhr ich, was ich wissen mußte. Die Bahn sollte von St. Louis aus durch das Indian-

Territory, New Mexiko, Arizona und Kalifornien nach der Pazifikküste gehen, und man hatte den Plan

gefaßt, diese weite Strecke in einzelnen Sektionen erforschen und ausmessen zu lassen. Diejenige

Sektion, welche mir und noch drei andern Surveyors unter einem Oberingenieur zugefallen war, lag

zwischen dem Quellgebiete des Rio Pecos und des südlichen Kanadian. Die drei bewährten Führer Sam

Hawkens, Dick Stone und Will Parker sollten uns dorthin bringen, wo wir eine ganze Schar von wackeren

Westmännern vorfinden würden, die für unsere Sicherheit zu sorgen hatten. Natürlich waren wir

außerdem auch des Schutzes aller Fortsbesatzungen sicher. Um mich so recht zu überraschen, war mir

dies alles erst heut gesagt worden, freilich etwas sehr spät. Doch beruhigte mich die Mitteilung, daß für

meine vollständige Ausrüstung bis auf das Kleinste gesorgt worden sei. Es blieb mir nichts weiter zu tun,

als mich meinen Kollegen vorzustellen, welche in der Wohnung des Oberingenieurs auf mich warteten.

Ich ging in Begleitung von Henry und Sam Hawkens hin und wurde auf das freundlichste begrüßt. Sie

wußten, daß ich hatte überrascht werden sollen, und konnten mir also die Verspätung nicht übelnehmen.

Als ich am andern Morgen zunächst von der deutschen Familie Abschied genommen hatte, ging ich zu

Henry. Er schnitt meine Dankesworte dadurch ab, daß er, mir die Hände herzlich schüttelnd, in seiner

derben Weise mich unterbrach:

»Haltet den Schnabel, Sir! Ich habe Euch doch nur deshalb hinausgeschickt, damit mein altes Gun wieder

einmal mitreden kann. Kehrt Ihr zurück, so sucht mich auf und erzählt, was Ihr erlebt und erfahren habt.

Dann wird es sich zeigen, ob Ihr das noch seid, was Ihr heute seid und doch nicht glauben wollt, nämlich

ein Greenhorn, wie es im Buche steht!«

Damit schob er mich zur Tür hinaus, doch ehe er sie schloß, sah ich, daß ihm das Wasser in den Augen

stand.

Winnetou Band 1

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