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Zweites Kapitel: Unter den Ruinen
ОглавлениеWenn ein Maler alles das, was ich gestern mit dem Ustad gesprochen hatte, auf die Leinwand bringen könnte, so würde er es wohl am besten mit »Morgengrauen im Menscheninnern« zu unterzeichnen haben. Die vorangehende, lebensgefährliche Erkrankung, die Genesungsfreudigkeit, die fromme Feier am Tempeltage, das Erscheinen der Bluträcherschar, der vereitelte Mord in der Halle, das alles hatte trotz meiner innern Ruhe und Stetigkeit doch Nebel in mir aufgerührt, welche das fast überlang geführte Gespräch nur schwer zu Ende kommen ließen. Und noch viel schwerer war es in dem Ustad aufgewallt. Seine Lebensanschauung hatte im Haine Mamre gewurzelt, wohin die Engel einst zu Abraham kamen, und ihren höchsten Punkt in dem Worte Christi gefunden: »Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen!« Dieses Gebet war seine Richtschnur gewesen allezeit, in jeder Lebenslage. Da hatten sich die Andern, die sich ebenso Christen nennen, mit ihrem Haß auf ihn gestürzt, um ihn und seine Nächstenliebe zu vernichten. Er hatte nur einige kurze Versuche gemacht, sich gegen sie zu wehren; aber als er erkannte, mit welchen Waffen man gegen ihn kämpfte, da zog er sich in das stille, ruhige Land des Schweigens zurück, der christlichen Mahnung gedenkend: »So dir jemand deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel!« Aber in seinem Innern wallte es auf in wichtig schweren Fragen: Wer hat recht? Auf wessen Seite steht die göttliche Wahrheit, der göttliche Wille? Bei Christo, welcher sprach: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn?« Oder bei diesen hochangesehenen christlichen Priestern und Laien, die mit den Gottesleugnern im engsten Operationsbunde den begeisterten Bekenner der Lehre von der Nächstenliebe aus der »Gemeinschaft der Gläubigen« hinauszuwerfen trachteten? Es kann ja doch gewiß nur eines von beiden wahr und richtig sein! Entweder hat der Heiland sich geirrt, indem er etwas forderte, was ganz unmöglich war, oder diese Herren treten mit Widerwillen vor dem allerchristlichsten seiner Gebote zurück, weil ihnen die Selbstüberwindung fehlt, es zu erfüllen!
Wenn solche Fragen im Ustad nach klarer Antwort und nach Lösung trieben, so mußte alles, was in ihm festgestaltet gewesen war, ins Wanken kommen, tief erschüttert werden. Daher sein Bestreben, mich zu sich heran in das Gespräch zu ziehen und so lange festzuhalten, bis er deutlich sehe, wo eigentlich das wahre Christentum zu finden sei, bei ihm oder bei diesem Anderen. Wo es zu suchen sei, das wußte ich genau, durfte es ihm aber nicht in deutlichen Worten sagen, weil die Klarheit in seinem eigenen Innern aufzutauchen hatte. Daher mein dilatorisches Verhalten, die Dehnung unsres Stoffes und dann aber auch unsere gemeinschaftliche Freude, als die Antwort endlich, endlich aus dem Alabasterzelte herabgestiegen kam.
Nun war es hell und licht geworden, sogar während meines Schlafes. Ich weiß, ich träumte nicht, und dennoch war es mir, als ob ich träume. Wer war ich wohl, und wo befand ich mich? Ich atmete nicht, und doch war alles Odem! Ich bewegte mich nicht, und doch wallten tausend und abertausend Wogen unendlichen Glückes in mir. Meine Augen waren geschlossen, und dennoch sah ich Herrlichkeiten rings um mich her, die unbegreiflich sind. Und plötzlich hatte ich Flügel. Ich flog. Wohin? Durch Ewigkeiten! Bis ich müde wurde und nach einem Punkte suchte, an dem ich ruhen könne. Und ich fand ihn, fand ihn wieder, diesen meinen irdischen Ruhepunkt im Reiche der Ewigkeiten. Und wo lag er? Im Schlafe, im tiefen, tiefen Schlafe. Ich neigte mich trotzdem zu ihm nieder und – — schlug die Augen auf.
Da stand die Sonne schon in des Vormittags Mitte, und um mich her war alles licht und warm. Das Geräusch des Tages drang zu mir herauf. Ich fühlte mich gekräftigt und so frisch, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Ich stand also auf und ging auf das freie Dach hinaus. Im Hofe unten wurden die Kamele des Ustad gesattelt. Ihn selbst sah ich nicht. Links drüben grasten unsere Pferde auf der bergigen Weide, welche an den Komplex der Ruinen grenzte. Der See glänzte azurblau zu mir herauf. Die Bewohner des Duar waren in lebhafter Bewegung, natürlich der Reise ihres Ustad wegen. Von meinem Vorplatze führten Stufen hinüber nach dem Glockenwege, welcher, von oben herabkommend, sich bis zur Gartenhöhe niedersenkte, wo die Quelle sprudelte, neben welcher sich der Herr des hohen Hauses eine rundum eingefaßte Badestelle abgeschlossen hatte. Ein solches Bad erschien mir sehr von Nutzen. Darum stieg ich da außen langsam am Berg hinab und fand die Tür zum Wasser geöffnet. Wie das erfrischte, dem Körper doppelte Kraft zu geben schien!
Als ich fertig war, spazierte ich auf dem weichen Grase zu unsern Pferden hin. Welche Freude, als sie mich erkannten! Als ich mich dann wieder entfernte, wollten sie partout mitgehen, und ich hatte sie sehr eindringlich zu bedeuten, daß ich dies für jetzt nicht wünsche. Nun durch den Garten nach dem Hofe gehend, kam ich an der Küche vorüber. Diese stand offen. Die »Festjungfrau« sah mich, kam heraus, schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, daß es nur so klatschte, und rief:
»Maschallah, du schläfst nicht mehr, Effendi! Das ganze Haus durfte sich nicht laut bewegen, um dich ja nicht zu wecken. Wie hat unser Ustad dich doch gar so lieb!«
»Wo befindet er sich jetzt?« erkundigte ich mich.
»In seiner Stube.«
»Und Agha Sibil?«
»Der sitzt mit seinem Sohne in der Halle. Ich habe die halbe Nacht hindurch gebacken und gebraten, um Proviant für die Reise nach Isphahan zu machen. Für dich aber habe ich trotzdem immer Zeit. Weißt du, Effendi, um was ich den Ustad gebeten habe, was er mir aus der Hauptstadt mitbringen soll?«
»Nun?«
»Eine Kasawaika!«[13] Bei diesem Worte strahlte ihr Gesicht in einer auffälligen, mir krankhaft scheinenden Wonne.
»Eine Kasawaika?« fragte ich, »woher kennst du das? So etwas wird doch hier gar nicht getragen!«
»Ich habe es gesehen, als ich noch beim Schah-in-Schah mit kochte. Die russischen Madama hatten es. Ich muß so eine haben! Rot und blau, grün und gelb. Das sieht so schön aus im Fackellicht.«
»Fackellicht? Hm! Ich denke, du gehst stets weiß?«
Da kam sie die Stufen vollends herab, trat nahe zu mir heran, legte das fette Händchen auf meinen Arm und sagte in ehrfurchtsvoller Duzbrüderlichkeit:
»Ja, immer weiß! Zuweilen aber auch bunt, ganz bunt! Das steht mir besser, viel besser! Der Aschyk[14] sagt das auch!«
»Du hast einen Geliebten, Pekala?«
Da errötete sie bis zur Farbe der persischen Mohnblume, nahm einen geheimnisvollen Ton an und raunte mir zu:
»Ich vertraue es nur dir an, Effendi, allein nur dir! Es ist ein tiefes Geheimnis. Ich habe es schon vielen sagen wollen! Aber ich fürchte, daß sie es verraten. Du aber hast ein solches Herz voll Freundlichkeit und Güte, daß du es gewiß nicht weiterplaudern wirst. Ein edles Frauenherz muß unbedingt ein edles Männerherz haben, von dem es ganz und gar verstanden wird. Und Tifl ist zwar ein liebes, folgsames Kind, jedoch ein edles Frauenherz, das kann er nicht begreifen!«
Sie schaute so ganz zerflossen und »edel« zu mir auf, daß sie mir gewiß sehr spaßig vorgekommen wäre, wenn ich nicht das zwar noch unbestimmte, aber doch sehr deutliche Gefühl gehabt hätte, hier vor einer vielleicht sehr wichtigen Entdeckung zu stehen. Psychologisch zweifelhafte Personen sind stets mit Vorsicht zu behandeln.
Darum antwortete ich nicht anders als in meiner gewöhnlichen, freundlichen ernsten Weise:
»So sage mir, Pekala, was ein edles Männerherz von dir zu begreifen hat!«
»Dreierlei. Erstens, daß man Vertrauen haben will. Zweitens, daß man verschwiegen sein will. Drittens, daß man nicht ewig Köchin bleiben will! Leuchtet dir das ein, Effendi?«
»Sehr!«
»Das wußte ich. Du bist vernünftiger als tausend andere Männer, die kein edles Frauenherz verstehen. Darum habe ich gewußt, daß ich dir alles, alles mitteilen kann, was ich den meisten Menschen verschweige.«
»Also den meisten! Das ist sehr vorsichtig von dir! Nun sage mir vor allen Dingen, von wem hast du denn eigentlich das von dem »edlen Frauenherzen« erfahren?«
»Von meinem Aschyk. Ich habe gar nicht gewußt, daß ich auch so etwas Edles besitze; er aber hat es sofort erkannt und mir gesagt.«
»Und woher hat er von solchen Herzen erfahren?«
»Von einer Engländerin, die er mit ihrem Engländer in Buschehr getroffen hat. Die hat alle Tage einen neuen Papierfächer verlangt und dabei gesagt, sie habe ein edles Frauenherz und dürfe sich also ihre Gesichtsfarbe nicht verderben. Darum bringt mir mein Aschyk stets auch zwei oder drei Papierfächer mit, so oft er kommt.«
»Wo kauft er diese? Ist er ein Dschamiki?«
»Was du denkst, Effendi. Es ist noch keinem Dschamiki eingefallen, mein Herz edel zu nennen! O nein; mein Aschyk ist kein hiesiger und auch kein gewöhnlicher Mann, sondern ein vornehmer Schahsadeh[15] aus Isphahan.«
»Du Glückliche! Kennst du ihn schon lange?«
»Schon seit einigen Jahren.«
»Besucht er dich oft?«
»Fast immer, wenn vier Wochen vorüber sind.«
»Hat er da einen bestimmten Tag?«
»Ja, denn so ein hoher Schahsadeh ist immer pünktlich. Er kommt stets, wenn es Pazar günü[16] ist. Dann ziehe ich abends meine weißen Sachen aus und lege die schönen bunten an, die er mir immer schenkt. Hierauf gehe ich zu ihm hinüber in die Ruinen, wo ich mit ihm beim Mondenscheine hin und her spaziere, wie eine Tochter des Beherrschers. Ist es aber dunkel, so steigen wir in das Innere und brennen eine Fackel an.«
»Warum da droben und nicht hier?«
»Weil er nur heimlich kommen darf. Edlen Herzen wird es nämlich ungeheuer schwer gemacht, sich öffentlich zu verbinden. Wir können erst dann miteinander in Isphahan einziehen, wenn der jetzige Schah gestorben ist. Ich habe darum geschworen, das tiefste Geheimnis zu bewahren. Aber weil es bei dir ebenso verschwiegen aufgehoben ist wie bei mir, so halte ich meinen Schwur ja doppelt, indem ich es dir erzähle.«
»Aber welchen Grund hast du wohl, es grad mir mitzuteilen?«
»Einen sehr großen, wichtigen Grund. Du bist doch, wenn unser Ustad abgereist ist, der Herr des hohen Hauses?«
»Ja.«
»Ich wußte es. Der Ustad hat uns gesagt, daß wir dir in allen Dingen sofort und willig zu gehorchen haben. Und weil du über alles zu befehlen hast, muß ich dich um etwas bitten, womit ich das Leben meines Aschyk retten kann. Ich bin also gezwungen gewesen, dir mein Geheimnis zu verraten. Wäre das nicht, so hätte ich mich nicht an dich getraut, obgleich ich fühle, daß du ebenso edel bist wie ich! Aber dort kommt der Pedehr. Verrate mich nicht, Effendi! Kein Mensch darf es wissen, kein einziger! Nur du und ich allein! Ich sage dir vielleicht schon heut noch mehr. Jetzt aber muß ich in die Küche!«
Sie machte mir einen so tiefen Knicks, wie bei ihrer Taille möglich war, und verschwand dann in ihrem Reiche. Der Pedehr hatte allerdings im Begriff gestanden, nach der Küche zu kommen, sich aber schon wieder umgedreht, um nicht zu stören. Das war mir lieb. Es war nur diese Pekala, diese Köchin gewesen, mit der ich gesprochen hatte, aber ich muß gestehen, daß ich mich trotzdem nicht in der Stimmung befand, sofort mit einer andern Person über andere Dinge zu reden.
Was für Gedanken hatten mich bisher bewegt! Bis fast zu diesem Augenblick! Und nun hier plötzlich diese geistige Nichtigkeit, zehnfach, hundertfach nichtig grad durch ihre strahlend freundliche Gestalt! Diese Null war hohl; hierüber gab es keinen Zweifel. Aber hinter ihr stand eine ganze Finsternis bereit, sie mit dem Verderben für uns vollständig anzufüllen! Und es war so viel, so ganz unerwartet viel, was ich erfahren hatte! Ich zog mich unter die Bäume des Gartens zurück, um nachzudenken.
Zunächst hielt ich es für begründet, dem Ustad diese Neuigkeit einstweilen zu verschweigen. Ich durfte ihm seine Reise nicht durch Sorgen erschweren, die ihm sehr leicht den klaren Blick beeinträchtigen konnten. Sodann war diese Pekala für mich jetzt in ein ganz neues, in ein drittes Stadium getreten. Von der Krankheit geschwächt, hatte ich sie für ein herzliebes, wenn auch recht unbedeutendes Wesen gehalten. Dann war ein gewisses Mißtrauen gegen sie erwacht, von welchem ich auch dem Ustad gegenüber kein Geheimnis gemacht hatte. Jetzt aber wurde es ernst, sehr ernst! Ein Mensch, welcher Charakter und Inhalt besitzt, kann berechnet werden, eine Pekala aber nicht. Sie ist trotz aller ihrer Liebenswürdigkeit gefährlicher als mancher Bösewicht. Solche Menschen gleichen freundlichen Schmetterlingen, die um ihrer Raupen willen unschädlich gemacht werden müssen. Es tut einem leid, doch hat man sich zu wehren.
Wer war dieser Aschyk, dessen Spionin sie in so unglaublich lächerlicher Weise geworden war? Jedenfalls ein Sill, ein Untergebener von Ahriman Mirza. Er kam monatlich einmal zu ihr, und stets Sonntags. Am Montag aber war der »Tag des Soldes«, also der Versammlungstag. Jedenfalls fragte er sie da nach allem aus, was hier bei den Dschamikun inzwischen geschehen war, und berichtete es dann weiter. So waren die Sillan stets vorzüglich unterrichtet. Das ganze Lebenswerk des Ustad hing also von der Schwatzhaftigkeit einer Person ab, die weiter nichts, als eine Törin, eine Närrin war! Wer weiß, wieviel sie bisher schon geschadet hatte! Stand sie allein mit ihrem Verrate, oder besaß sie noch andere Vertraute? Ich war sehr geneigt, anzunehmen, daß wenigstens Tifl, ihr »Kind«, auch mit beeinflußt worden sei. Konnte man es überhaupt für möglich halten, daß die geheimen Zusammenkünfte der »Schatten« hier in den Ruinen so ganz ohne Verrat und Unterstützung von seiten der Dschamikun abgehalten wurden? Mir erschien dies beinahe undenkbar. Mochte das aber sein, wie es wollte, ich hatte mir schon gestern vorgenommen gehabt, nach den hiesigen Geheimnissen der Sillan zu forschen, und nach dem jetzigen Gespräch mit der Köchin verstand es sich ganz von selbst, daß bei ihr der Anfang zu machen sei, und zwar so bald wie möglich.
Nun ging ich nach dem Hofe. Dort stand Agha Sibil mit seinem Enkel jetzt bei den fertiggeschirrten Kamelen. Ich erkannte den Ersteren sogleich an dem fast beispiellos starken Schnurrbarte, der so riesig war, wie ich noch keinen gesehen hatte. Man mochte auch mich ihm schon beschrieben haben, denn sobald er mich sah, kam er auf mich zu, nannte seinen und meinen Namen, stellte mir seinen Enkel vor und bat mich, bei ihnen im Baumesschatten Platz zu nehmen, damit sie von mir ausführlicher erfahren könnten, was ihnen von Andern nur andeutungsweise mitgeteilt worden sei. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich diese Bitte mehr als gern erfüllte.
Noch während ich erzählte, kam der Ustad mit dem Pedehr aus der Halle. Sie gesellten sich zu uns. Der Erstere hatte gar nicht geschlafen und mich soeben wecken wollen, aber von dem Letzteren erfahren, daß ich schon aufgestanden sei. Der Pedehr verhielt sich so zu mir, als ob gar nichts vorgefallen sei, was man ihm vorzuwerfen habe, und darum zeigte auch ich mich unbefangen. Der Ustad aber schien sehr ernst mit ihm gesprochen zu haben und vermied es sogar jetzt noch, seinem Blicke zu begegnen. Der Kaufmann war ein hochehrwürdiger, braver Herr, der unendlich glücklich und dankbar war für das, was ich ihm erzählte. Er hätte mir noch gern stundenlang zugehört, mußte sich aber bescheiden, weil nun aufgebrochen werden mußte, weil es in der Absicht des Ustad lag, die verwandten Kalhuran noch heut zu erreichen, um ihnen Nachricht über das zufriedenstellende Befinden ihres Scheikes zu bringen. Doch blieb uns Zeit, das Nötigste zu besprechen.
Der Ustad übergab mir seine Wohnung mit dem sämtlichen Verschluß, und ich machte ihn noch einmal besonders auf den Brief aus Basra aufmerksam, den er in Isphahan an den »Henker« zu besorgen hatte. Als ich eine Bemerkung über die Gefahr aussprach, welche ihm seitens der entflohenen Soldaten drohen könne, teilte er mir mit, daß unten im Dorfe eine Schar bewaffneter Dschamikun auf ihn warte, welche ihn begleiten würde, bis alle Gefahr vorüber sei. Hierauf wurden alle Bewohner des »hohen Hauses« herbeigerufen, damit er sich von ihnen verabschieden könne, grad als Kara Ben Halef von einer Tour heimkehrte, die er unternommen hatte, um sein Pferd wegen des Wettrennens geschmeidig zu erhalten. Er wendete sofort wieder um, weil er es für eine Ehrenpflicht hielt, den Ustad bis an die Grenze seines Gebietes zu begleiten.
Mir war es leider nicht möglich, mich ebenso höflich zu erweisen. Ich mußte bleiben, wo ich war, und konnte nur hinauf auf meine Plattform steigen, um erst mit dem Auge und dann mit dem Herzen dem zu folgen, von dem ich mich trotz aller äußerlichen Entfernung innerlich unzertrennlich fühlte. Ich war nun Herr seines Hauses und nahm mir vor, es im allerbesten Sinne zu sein, der menschenmöglich ist!
Eigentlich hatte ich mich jetzt wieder niederlegen wollen und auch sollen, aber ich fühlte sonderbarerweise nicht die geringste Spur von Müdigkeit. Darum ging ich jetzt wieder hinab, um zunächst nach meinem Halef zu sehen, von dem ich heut noch nichts vernommen hatte. Hanneh war bei ihm. Er hatte soeben die Augen aufgeschlagen und richtete sie auf mich, als ich mich bei ihm niederließ. Ein liebes, liebes Lächeln ging über sein eingefallenes Gesicht.
»Sihdi, gib mir deine Hand!« flüsterte er. »Ich muß sie küssen!«
Ich kannte ihn und wußte, daß ich ihm diese Liebe nicht verweigern durfte. Er führte meine Hand an seine Lippen und hielt sie dort so fest, wie es ihm möglich war. Dabei hielt er die Augen wieder geschlossen.
»Sihdi, wo – — – wo bist du gewesen?« fragte er leise. »Aus deiner Hand strömt – — – Leben – — – Kraft – — – und Genesung! Warst du vielleicht – — – im Schlafe dort, wo – — wo – — wo – — —«
Er sprach nicht weiter, sondern er schlief ein.
Dann ging ich wieder durch den Garten und nach der Pferdeweide dahinter. Es war etwas in mir, was mich drängte, die dort so nahen Ruinen einmal in größerer Deutlichkeit als bisher vor mir liegen zu haben. Ich ahnte, daß in ihnen der Anfang des Endes liege, dessen Fäden jetzt in meine leider noch so schwache Hand gegeben waren. Das Gehen fiel mir heut schon wieder leichter als noch gestern. Meine kräftige Natur begann, sich geltend zu machen. Die Pferde seitwärts lassend, wendete ich mich der Stelle des alten Mauerwerkes zu, wo die letzten Büsche des Weidelandes standen. Dort war einer der cyklopischen Steine zu irgend einem Zwecke aus den Fugen gehoben und auf die hohe Kante gerichtet worden. Er warf nach Nord den Schatten. Da wollte ich mich niedersetzen und das Gemäuer in Augenschein nehmen. Aber es saß schon jemand da – — Schakara. Meine Schritte waren im Grase unhörbar gewesen. Sie wurde auf mein Kommen erst aufmerksam, als sie meinen Schatten neben dem des Steines erscheinen sah. Da wendete sie den Kopf, wer es wohl sein möge. Als sie mich erblickte, wollte sie aufstehen, aber ich bat sie, ruhig sitzen zu bleiben, und nahm in ihrer Nähe Platz.
Sie zeigte nicht die geringste Spur von Verlegenheit, während ein europäisches Mädchen, in derselben Beschäftigung überrascht, gewiß aufgesprungen und davongelaufen wäre. Sie hatte nämlich ihre langen, schweren, dunklen Flechten geöffnet und war soeben dabei, dieses fast überreiche Haar durch den Kamm zu glätten.
»Laß dich nicht stören, Schakara!« sagte ich. »Hier bin ich Kurde und nicht Europäer.«
»Europäer – — – ?« Sie sah mich fragend an. Dann kam es wie Verständnis über sie: »Ist es bei euch eine Schande für die Frauen, ihr Haar vor euren Augen zu berühren?«
»Zwar keine Schande, aber auch keine Ehre. Unsere Frauen zeigen ihr Haar nur in künstlich geordnetem Zustande.«
»Künstlich geordnet?« lächelte sie. »Also ist bei euch diese Ordnung nicht Natur, sondern Kunst? Vielleicht ist das richtig; ich verstehe es nicht.«
Wie einfach und unbefangen das klang! Wie hell und sorglos sie mich dabei anschaute! Und wie unbedenklich sie dann in ihrer Beschäftigung fortfuhr! Ich richtete mein Auge auf die Ruinen, zunächst ohne weiter zu sprechen. Kein Lufthauch war zu spüren. Es herrschte tiefe Stille, und nur – — – — was war denn das? Während Schakara ihr Haar bewegte, war jenes laut knisternde, ganz eigenartige Geräusch zu hören, welches entsteht, wenn elektrische Fünkchen überspringen. Sie bemerkte meine schnelle Kopfbewegung und fragte:
»Wolltest du mir etwas sagen, Effendi?«
»Eigentlich nicht; aber, knistert dein Haar stets so, wenn du es ordnest?«
»Ja. Oft noch viel lauter.«
»Seit wann?«
»So lange ich mich besinnen kann.«
»Kennst du noch andere Personen, bei denen dasselbe Geräusch entsteht?«
»Nur eine einzige, nämlich Marah Durimeh. So oft ich ihr die langen, weißen Zöpfe flocht, erklang ihr Haar in diesen lieben Tönen, und in den Händen war es mir, als sprängen tausend Funken auf mich über. Sie sagt, das müsse sein, wenn sich nichts Fremdes zwischen Leib und Seele stelle. Hast du es noch nicht gekannt, Effendi?«
»Doch!«
»Bei vielen?«
»Nein; nur bei einem, bei mir. Darum konnte ich nicht vergleichen und nach den Ursachen suchen.«
»Die Ursache ist das Leben, ist die Seele. Ist diese ungeschwächt, so hat sie auch die Kraft, zu zeigen, daß sie Ueberschuß an Lebensvermögen besitze.«
»Wie du so sprichst, Schakara!«
»Wie soll ich anders reden? Ich hörte es von Marah Durimeh, die meine Lehrerin gewesen ist, so lange ich lebe. Sie liebt dies Knistern sehr; sie pflegt es sogar; sie wird besorgt, wenn es sich einmal mindert. Sie spricht von ihm, wenn sie aus alter Zeit erzählt, als noch kein Mensch von Krankheit etwas wußte. Hat sie dir nicht gesagt von jenem fremden Dichter, der seine Poesie, die er verloren hatte, an diesem Knistern, als sie dann wiederkam, sofort erkannte? Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den nach der fernen Heimat suchenden. Sobald sich dieser in den Sattel schwang, gab es für beide nur vereinten Willen. Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben. Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel, und durch den Aether donnerte das Rennen hinauf, hinauf ins klare Sternenland. Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft, die von den höchsten aller Sonnen stammt und drum auch nur dem höchsten Können dient. Und thaten sich die Thore wieder auf, die niederwärts zur Erdenstunde führen, so tranken Roß und Reiter von dem Brunnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, und kehrten dann im Schein der Sterne wieder. Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel, den ihm der Mond um Brust und Schultern warf, und seiner Locken Reichtum wallte ihm vom Haupte. Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund. Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All.«
Sie hatte langsam und natürlich, ohne alle künstliche Hebung gesprochen, als ob diese Art der Ausdrucksweise eine ihr keineswegs ungewöhnliche sei. Ich war erstaunt, ja wohl mehr als erstaunt. Weniger über die bilderreiche Ausdrucksweise, weil diese dem Oriente eigen ist, als vielmehr über die Tiefe und den dichterischen Wert der Gedanken, welche sie ausgesprochen hatte. Welch ein Denken, Schauen und Empfinden! Welch eine reiche, seltsame Welt in ihrem Innern! Welche Schätze mochte sie in sich tragen, die doch so anspruchslos hier an der Erde saß! Sie begann jetzt, ihr aufgelöstes Haar wieder in Flechten zusammenzulegen. Sie sah dabei nicht zu mir herüber, fühlte aber dennoch meinen auf ihr ruhenden Blick, denn sie sagte:
»Effendi, du forschest in mir. Frage mich doch lieber, wenn du etwas willst! Ich sage es dir ja gern.«
Da erkundigte ich mich denn auch sogleich:
»Du nanntest Marah Durimeh deine Lehrerin. Was hat sie dich gelehrt, und in welcher Weise that sie es?«
»Als echte Muallima[17], die nichts falsch oder überflüssig tut. Sie lehrte mich zunächst das Lesen und das Schreiben. Dann brachte sie mir nach und nach alle jene Bücher, die das enthielten, was ich lernen sollte.«
»Gedruckte Bücher?«
»Nein, zunächst noch nicht. Diese bekam ich erst nach Jahren, als sie glaubte, daß mich fremde oder gar falsche Gedanken nicht mehr beirren könnten. Was ich in der ersten Zeit zu lesen und zu lernen hatte, das schrieb sie alles selbst, nur ganz allein für mich. Sie sagte, das müsse so sein, wenn ich werden solle, was ich zu werden habe. Solche Bücher haben die genaue Mostra[18] zu enthalten, nach welcher die geistige Gestalt zu bilden sei, keinen Strich zu wenig und aber auch keinen zu viel. Weil aber niemals zwei verschiedene Personen ganz dieselbe Begabung besitzen, könne die Form für den einen nicht auch die Form für den andern sein. Darum sei außer der Schule des Lebens jede andere zu eng, die Kleinen in der Weise groß werden zu lassen, daß sich jeder in seiner besondern Eigenart entwickele. – Du siehst mich staunend an, Effendi. Habe ich etwas Törichtes gesagt?«
»Ich staune, ja; aber aus einem ganz andern Grunde, als du denkst. Schakara, ich sage dir: Marah Durimeh ist eine Meisterin! Hat sie noch andere Schülerinnen außer dir?«
»Wer kann das sagen! Sie ist zwar meist verborgen, doch überall geliebt, wo sie erscheint, und jeder lernt von ihr, zu dem sie kommt. Mich aber hat sie einst zu sich geholt; ich war und blieb bei ihr und teilte alles, was sie trug und tat. Sie gab sich wohl mit keiner so viel Mühe wie mit mir, und was ich bin, das habe ich nur ihr allein zu danken.«
»So weiß sie, daß du jetzt hier bei dem Ustad bist?«
»Ja. Ich bin sogar in ihrem Auftrag hergekommen, von dem er allerdings bis jetzt noch nichts erfahren hat. Ich mußte erst studieren.«
»Was oder wen? Darf ich es wissen?«
Da schlug sie ihre klaren Augen groß und voll zu mir auf und antwortete:
»Mir ist, als ob ich vor dir kein Geheimnis haben dürfe, als müsse ich dir alles sagen, was in mir ruht, und auch was mich bewegt. Drum will ich nicht verschweigen, daß ich den Ustad prüfe; weshalb, wozu, das weiß nur Marah Durimeh. Auch ist die Gegend, wo er wohnt, für mich von Wichtigkeit. Es liegt hier in der Nähe viel begraben, was auferstehen will. Er selbst spricht ja von seiner eignen Gruft, doch ist das wohl nicht richtig. Schau diese Mauern an, die hoch und stark sich hier vor uns erheben, als ob sie Heimlichkeiten zu verbergen hätten, die keines Menschen Auge sehen dürfe! Wer baute dies? Warum in dieser Weise? Aus welchem Grund gab man den Bau nicht völlig erdenfrei? So türmt man doch nur Festungen empor, von welchen aus man blutig herrschen will! Wozu Tyrannensitze für den Vater, der liebend zu den Kindern niedersteigt, wenn im Gebete sie ihn zu sich rufen? Indem ich dieses frage, muß ich an jene alte Sage denken, die von »Chodeh, dem Eingemauerten« berichtet. Kennst du sie schon, Effendi?«
»Nein.«
»So laß sie dir erzählen!«
Sie schaute zu den Ruinen hinüber, nickte wie unter einem heimlichen Gedanken vor sich hin und begann sodann:
»Das war zu jener Zeit, als der Teufel auf den Gedanken kam, Baumeister zu werden. Er zeichnete viele tausend Pläne, aber keiner war ihm fromm genug. Da sah er ein, daß man jedes Fach, also auch dieses, erst nach und nach zu erlernen habe, und beschloß darum, zu den Menschen in die Schule zu gehen. Da er von unten zu beginnen hatte, so begab er sich zunächst zu einem Volke, welches nur auf Felsen baute. Als seine Zeit bei diesem vorüber war, suchte er ein anderes auf, welches ungeheure Steine aus dem Felsen brach, um sie zu Mauern aufeinander zu türmen. Bei einem dritten Volke lernte er Ziegel streichen und mit Asphalt zu Gebäuden vereinigen, die von scheinbar ewiger Dauer waren. Bei einem vierten richtete er sich auf riesenhafte Pfeiler und Säulen ein, welche selbst unter den schwersten Lasten nicht zusammenbrachen. Bei einem fünften hörte er zum erstenmal von Schönheit sprechen. Die Säulen bekamen freundlichere Gestalt, und die bisher platten Dächer hoben sich empor. Beim sechsten kam der Schmuck dazu und das Bedürfnis, Licht im Raum zu haben. Ein siebentes sah auf die äußere Gestalt und forderte für jedes Bauwerk andre Formen. So legte er sich also auf den »Stil« und weiter noch auf alles, was sonst noch nötig war. Und als er dann vor seiner Meisterprüfung stand, an was für Bauten hatte er, der Teufel, sich geübt? Was glaubst du wohl, Effendi?«
»Erlaube mir, zu hören, nicht zu raten!« antwortete ich.
»An lauter frommen Werken, die nur zur Ehre dessen errichtet worden waren, für den der Teufel nichts als Haß besitzt. Zwar hatte wohl auch er die Frömmigkeit gewollt, denn fromm erscheinen, fördert selbst den Teufel, doch wirklich fromm zu sein, daran geht er zu Grunde. Drum war sein Haß jetzt gar zum Grimm, zur stillen Wut geworden, weil alle diese Bauten der Wahrheit dienten, aber nicht dem Scheine, und er beschloß, in seinem Meisterstück ein Werk zu schaffen, bei welchem alles Schein, nichts aber Wahrheit sei. Er ging in jenes Felsenland zurück, wo er die Lehre einst begonnen hatte, denn dort war Gott ein lieber Himmelsgast und ließ sich oft bei seinen Menschen nieder. Er saß so gern bei ihnen, licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne freuend. Da kamen sie herbei, die er geschaffen, sie alle, groß und klein, von seiner eignen Hand den Segen zu empfangen. Sie liebten ihn; sie gönnten ihn auch andern; die Eifersucht auf Gott und auf die Seligkeit war ihnen unbekannt. In diesen Menschheitsfrieden trat der Andre, den es gelüstete, sein Meisterstück zu machen. Er brachte seine Scharen, die ihm dienen, und ließ den Neid der Hölle rings verbreiten. Als dann der Herr im Morgenrot erschien, um wieder einen Erdentag zu weilen, da drangen alle, alle auf ihn ein, nur hier bei ihnen noch, sonst nirgends zu erscheinen; die andern Menschen seien es nicht wert. Da neigte er das Haupt und ging betrübt von dannen. Er sprach den Segen nicht, sprach überhaupt kein Wort. Der Andre aber sprach: »Wißt ihr noch nicht, daß Gott sich zwingen läßt? Was ist die Bitte wert, wenn sie nicht zeigt, daß sie auch wirklich will! Beweist ihm euern Ernst, so muß und wird er tun, was ihr begehrt. Ich will euch euern wahren Gott verschaffen; die andre Welt mag andre Götter haben!« Nun sandte er den Neid in Scharen aus, herbeizuschleppen, was er vorbereitet. Und als das nächste Morgenrot erschien, nahm er die göttliche Gestalt des Höchsten an und kam, den frommen Schein ins Werk zu setzen. Er ließ sich licht und hehr im Berge nieder und lächelte voll Huld den Menschen zu. Und als sie ihre Bitte wiederholten und ernsten Nachdruck auf die Worte legten, sprach er im Tone väterlicher Güte: »Ich prüfte euch; drum war ich gestern still; heut aber sag ich euch, ihr habt bestanden. Die Macht der Frömmigkeit ist größer als die meine. Drum nehmt mich hin als euer Eigentum. Ich will nun euch und niemand sonst gehören!« Da flogen die Quader herbei, die Säulen, die Steine, die Ziegel. Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest; sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtume. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm immer höher, bis an den Leib – — – bis an die Brust – — – bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Oeffnung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblick erschien der Architekt vor seinem Werke und lobte laut, daß er zufrieden sei. – — – Was war es für ein Bau? Kein Mensch vermags zu sagen. Wo liegt der Berg? Ich weiß es nicht, doch möchte ich ihn finden. Und wenn ich mich nicht irre, bist du bereit, mit mir nach ihm zu suchen, Effendi.«
»Es wäre wohl der Mühe wert, sich hiermit zu beschäftigen,« antwortete ich. »Es steckt in jedem Märchen und in jeder Sage ein Kern, um dessen willen die Dichtung entstanden ist. Jedenfalls enthält auch diese Erzählung von »Chodeh, dem Eingemauerten«, eine Wahrheit, welche in dieser Form gesagt worden ist, um jedermann zugänglich zu werden. Nur meine ich, daß dieser Gottesberg mit seiner zugemauerten Alabasternische nicht an irgend einem geographischen Ort, sondern nur auf rein geistigem Gebiete zu suchen sei.«
»Ich nicht.«
»Wie?« fragte ich überrascht. »Du denkst dir einen wirklichen Berg, auf den ich mit diesen meinen Füßen hier steigen könnte?«
Da flog ein unbeschreiblich schalkhaftes Lächeln über ihr schönes Angesicht, und es klang beinahe wie von oben herab, als sie erwiderte:
»Effendi, Effendi! Willst du mich etwa glauben machen, daß ein Kurmangdschimädchen klüger sein könne als ein Gelehrter aus dem Abendlande? Was meinst du, wenn du von »Wirklichkeiten« sprichst? Ist nur das wirklich, was ich sehe, höre, fühle? Und muß das, was du als »geistiges Gebiet« bezeichnest, von unsern Sinnen niemals wahrzunehmen sein? Sind wir Menschen nicht unendlich verschieden begabt? Der Eine sieht, hört, riecht, fühlt oder schmeckt etwas, wofür der Andere nicht einen einzigen Empfängnisnerven besitzt. Und diesem Andern werden dafür viel tiefere und verborgenere Dinge offenbar, welche der Vorige für unbegreiflich hält. Ich bin nicht wie du, und du bist nicht wie ich; aber indem wir uns gegenseitig vertrauen und ergänzen, können wir uns zu einer Persönlichkeit vereinigen, welcher zu erreichen möglich ist, was wir vereinzelt nie erreichen würden. Das ist so leicht zu begreifen; aber schau um dich und sag, ob man es beherzigt! Der Sonderstolz, Effendi, der Sonderstolz! Du magst meinen, noch so hoch zu stehen, so hast du herabzusteigen, um zu lernen und dich fördern zu lassen. Willst du aber keinem Niederen etwas zu verdanken haben, so stehst du unter ihm, bist niedriger als er! Ich wollte, ich dürfte dir die Berge zeigen, die es für mich giebt, obgleich du sie nicht siehst!«
»Und ich dir auch die meinen!« fiel ich da schnell ein.
»Wo stehen sie?« fragte sie ebenso schnell.
»Da oben an der Grenze, in stiller Einsamkeit. Nur selten kommt ein Mensch, um dort emporzusteigen und heimzukehren in das Wunderland.«
»An der Grenze? Heimkehr? Wunderland? Effendi, du siehst, ich bin überrascht! Meinst du etwa dasselbe wie ich? Dieselben Felsenkronen, die mir so oft im Abendrot erglühten? Dieselben Pfade durch die heil‘ge Stille, in welcher jede Blume und jeder Lufthauch betet? Dasselbe Wasserrauschen, von welchem meine Seele trinkt, noch durst‘ger als die Lippe, die ich kühle? Warst du vielleicht in jenem Tal der Sternenblüten, wo unsichtbar die Seelen wandeln gehen, doch ihrer Füße Spur im grünen Moose lassen? Ich war einst dort mit Marah Durimeh! Wir hörten süßes Flüstern um uns her und leises Wehen, wie von himmlischen Gewändern. Ein Veilchen stand am Quell, das einzige im ganzen, weiten Tale, soeben erst gepflanzt, die Wurzel zärtlich sorgsam eingebettet und dann befeuchtet, daß sie trinken könne. Da kniete Marah Durimeh sich nieder, schloß es mit ihren lieben Händen ein und sprach: »So war er also hier! Ich kenne seine Weise und auch die namenlos Verehrte, die er mit seiner Lieblingsblume grüßt!« Ich wagte nicht, zu fragen, wen sie meine. Jetzt aber denk‘ ich an die Lagerstätte, die ich mit deinen Lieblingsblumen schmückte, damit ihr Duft die Seele dir erhalte. – Nun sag‘, Effendi, kennst du meine Berge? Warst du schon dort? Bist du die Seele, die mit Veilchen grüßt?«
Da stand ich auf und ging zum nahen Erlenstrauch; dort blühten einige Veilchen. Ich pflückte sie und reichte sie der Fragenden. Auch sie stand auf, steckte die Blumen in das Haar, welches nun wieder in vollen Zöpfen niederhing und sagte:
»Ich kenne seine Weise, sprach Marah Durimeh. Effendi, wenn du ins Tal der Sternenblumen kommst und dort ein zweites Veilchen stehen siehst, begieße es, wie ich das deine tränken werde! Es sei fortan auch meine Lieblingsblume. Und nun sag‘ mir: Warum kamst du hierher an diesen Stein! Zwei Menschen, welche gleiche Pfade gehen, die pflegen gegenseitig sich zu ahnen. Dich zogen die Ruinen her zu mir?«
»Ja, Schakara. Dir will ich offen sagen, daß ich sie durchforschen werde, heimlich, bis in ihren tiefsten Winkel. Niemand soll jetzt davon erfahren, außer du.«
»Also treffen wir uns auch hier auf gleichem Wege! Ich war schon oftmals dort, ganz unbemerkt, des Nachts.«
»Warum?«
»Warum? Du weißt ja, was ich suche! Den Berg, die Alabastergrotte, das Meisterstück des Architekten, der Schein auf Schein anstatt der Wahrheit baute. Er kam zuletzt als Flattertier heraus. Was also kann die Grotte nun enthalten? Doch nichts! Leer muß sie sein! Es wurde weder Gott noch Teufel eingemauert. Und doch, und doch bin ich noch nicht am Schlusse; ich muß vielmehr noch weiter, weiter denken. Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen. Ich bin nur Weib, und du wirst wahrscheinlich über diese meine Mantyk[19] lächeln; aber es handelt sich hier doch nicht um zwei Körper, welche zusammentreffen und sich wieder trennen können, ohne etwas zurückzulassen, sondern um die Frage, was entstehe, wenn das Gute von dem Bösen verdrängt wird und – — —«
Sie hielt inne. Es ist eben nicht leicht, Göttliches und Teuflisches durch menschliches Denken zu ergründen.
»Schakara, ich bitte dich, laß Mantyk Mantyk sein,« sagte ich. »Du fühlst das Richtige; aber es in Worten auszudrücken, das würde ich nicht wagen. Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat, so liegt hinter diesem Scheine sicher etwas Wahres verborgen. Was das ist, das können wir nicht wissen. Gelänge es aber, den Berg zu finden und die Grotte zu öffnen, so würde es sich zeigen. Ahnest du vielleicht einen gewissen Zusammenhang zwischen diesem Berge und dem alten Gemäuer hier im Gebiete der Dschamikun?«
»Ich ahne ihn nicht nur, ich fühle ihn ganz deutlich.«
»Hast du dich nicht gefürchtet, des Nachts so allein in den Ruinen herumzusteigen?«
»Vor Menschen, ja, doch sonst vor nichts.«
»Fandest du Spuren, daß Menschen dort verkehren?«
»Ja. Solche Spuren könnten eigentlich nicht befremden, weil die Neugierde doch gewiß so manchen Dschamiki und auch wohl manchen Andern hinunter in die alten Bauten treibt. Aber ich sah Einiges, was auf keine guten Absichten schließen läßt.«
»Was war das, Schakara?«
»Ich halte es für besser, es dir zu zeigen, statt jetzt davon zu plaudern, ohne daß es Nutzen bringt. Jetzt bist du noch zu schwach für solche Anstrengung, doch wird sich das schnell bessern. Dann steigen wir hinab, und du wirst alles sehen, was ich entdeckte. Man sagte mir, daß du heut‘ den ganzen Tag zu schlafen haben werdest. Effendi, thue es! Es kommen schwere Tage, und du hast stark zu sein. Die Kraft, welche du heut‘ verschwendest, kann dir schon morgen fehlen. Glaube mir, ich meine es gut!«
Das klang so besorgt, so mütterlich, daß ich antwortete:
»Ich werde diesen deinen Rat befolgen, doch nicht sofort, erst nach der Mittagszeit, wenn Pekala – — —«
»Pekala?« fiel sie da rasch ein. »Du wolltest sagen, daß sie dir das Essen bringen werde. Du irrst. Von jetzt an werde ich es sein, die für dich sorgt. Ich lasse dich in keiner andern Hand.«
Ich wollte das nicht acceptieren und brachte meine Gründe dagegen vor. Da öffnete sie das kleine Dschasaltäschchen, welches an ihrem Gürtel hing, nahm ein Pergamentkärtchen heraus, gab es mir und sagte:
»Am Tage nach der Nacht, in welcher man dich und Halef zu uns brachte, sandte ich einen Boten an Marah Durimeh, denn ich hielt es für nötig, daß sie wisse, wie es um euer Leben stand. Ich habe ihr seitdem wiederholt berichtet und Antwort von ihr erhalten. Das Letzte, was sie schrieb, sind diese Worte.«
Ich las:
»Er sei der Geist; du aber sei die Seele, seine Schwester. Das zeige ihm und grüße ihn von mir.
Marah Durimeh.«
Da gab ich ihr das Pergament zurück, legte die Hand auf ihr Haupt und sprach:
»Was meine Freundin sagt, ist immer richtig. Ich will dein Bruder sein; so sorge denn für mich! Jetzt muß ich hinauf zu mir, um den Brief nach Bagdad zu schreiben. In einer halben Stunde wird er fertig sein.
Dann esse ich mit dir und Hanneh in der Halle, und da du es so willst, versuche ich hierauf, mich auszuschlafen.«
Dieses Programm wurde ausgeführt. Die Boten nach Bagdad hatten sich unten im Dorfe schon bereitgehalten. Sie gingen ab, sobald sie den Brief bekommen hatten, und nahmen eine Kamelsänfte für den dicken Kepek mit. Halef schlief noch fest, als wir uns zum Essen setzten. Ich bin ein mäßiger Esser; heut‘ aber aß ich doppelt so viel als gewöhnlich. Ich wurde von zwei Seiten hart bedrängt und hatte mich zu fügen. Als ich dann nach oben ging, nahm ich die noch immer im Hausgange liegenden Kleidungsstücke des Bluträchers mit, um sie in der »Rumpelkammer« aufzubewahren. Oben bei mir angekommen, trat ich auf die Plattform hinaus, um nach dem Stande der Sonne zu sehen. Es war eine Stunde nach Mittag. Da legte ich mich nieder.
Eigentlich war ich gar nicht müde. Es kamen mancherlei Gedanken, welche Audienz begehrten, und ich gab sie ihnen. Dann nickte ich ein bißchen ein, wachte aber sehr bald wieder auf. Nun griff ich zu künstlichen Mitteln. Ich sagte das ganze große und kleine Einmaleins rück- und vorwärts her, rezitierte in Gedanken Schillers Glocke und noch andere Gedichte, doch alles war vergebens. Dann stand ich wieder auf, zog mich an und schaute nach der Sonne. Es war seit dem Essen kaum eine Stunde vergangen. Was nun thun? In den Werken des Ustad lesen? Seine Zeitungen verbrennen? Ja. Aber da fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, einmal nach dem kranken Scheik der Kalhuran zu sehen. Das konnte sofort geschehen. Ich ging also hinab.
In der Halle saßen Hanneh und Schakara noch beisammen. Das Serir[20] aber war fortgetragen worden.
»Es ist mir heut unmöglich, einzuschlafen,« sagte ich. »Darum kann ich mein Versprechen leider nicht halten. Hoffentlich bin ich heut abend müde.«
Da sahen sie einander an. Schakara blieb ernst. Hanneh aber lachte am ganzen Gesicht und sagte:
»Du kannst nicht einschlafen, Sihdi? Was hast du denn da während der ganzen, langen Zeit getrieben?«
»In welcher Zeit?« fragte ich belehrend. »Es ist ja höchstens eine Stunde!«
»Eine Stunde? So weißt du also wirklich nicht, daß du einen ganzen Tag geschlafen hast?«
Tableau, wie man im Abendlande sagt! Aber zum Scheik der Kalhuran ging ich nun erst recht, aber natürlich erst, nachdem ich wieder für zwei Mann hatte essen müssen. Der neue Herr des hohen Hauses trat sein Amt, wie es schien, mit vieler Würde an! Der Scheik befand sich in der besten Pflege. Er hoffte, schon in der kürzesten Zeit wieder aufzukönnen. Den Bluträcher erwähnte er nur ein einziges Mal, aber in einer Weise, die mehr als Worte sagte.
Hierauf wollte ich nach den Pferden sehen. Ich hatte nicht weit zu gehen. Barkh und Assil Ben Rih standen im Hofe. Kara sattelte sie, um sie auszureiten. Mit seinem Ghalib hatte er schon am Vormittage eine Uebungstour gemacht.
»Sihdi, wenn du nur wieder in den Sattel könntest,« sagte er. »Schau nur, wie dich dein Assil bittet!«
Der Rappe machte es allerdings sehr deutlich. Er tänzelte auf allen Vieren und schob sich dabei, ich mochte stehen wie ich wollte, so an mir vor, daß ich den Bügel in die Hand bekam. Das war drollig und rührend zugleich. Um dem Pferde eine, wenn auch nur kurze, Freude zu machen, hob ich den Fuß, setzte ihn auf und schwang mich in den Sitz. Ich wollte nur einen langsamen Gang durch den Hof, weiter nichts. Kaum aber saß ich oben, so war ich schon zum Tore hinaus, und ehe ich mich vorgebeugt und den herabhängenden Zügel aufgenommen hatte, war schon beinahe das Duar erreicht. Dabei fühlte ich weder Schmerzen noch sonst etwas, was mich hätte veranlassen können, abzusteigen. Es war mir sogar möglich, es zu einer Art von Schenkeldruck zu bringen. Ich saß ganz leidlich fest und wankte nicht. Kara hatte mich rasch eingeholt. Er freute sich wie ein König über den Streich, den mir das Pferd gespielt hatte.
»Der macht kurzen Prozeß mit dir, Sihdi!« lachte er. »Wie weit wirst du es wohl wagen können?«
»Wollen sehen,« antwortete ich. »Aber nur Schritt. Ich fühle mich ganz wohl; ja, es ist sogar, als ob im Sattel noch alte Kraft von mir aufgespart sei, die mir nun zugute komme. Sonderbar!«
Wir ritten langsam durch das Dorf. Die Leute kamen aus den Zelten, Hütten und Häusern, grüßten froh und waren baß verwundert, ihren Patienten so plötzlich schon zu Pferde zu sehen. Dann ging es am Seeufer hin, nach Osten zu. Ein Viertelstündchen hielt ich es aus. Dann wurde ich müde und sagte Kara, daß ich absteigen und ruhen müsse.
»Dann gleich hier,« antwortete er, nach dem Ufer deutend. »Das ist die Stelle, welche der Pedehr dir zeigen sollte.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat es mir gesagt, als ich gestern hier an ihm vorüberritt.«
Das war mir interessant. Also der Ort, wo die Sillan ihre Pferde zu tränken pflegten! Wir ließen die unseren an das Wasser gehen, und ich legte mich lang in das Gras. Da begann Kara Ben Halef:
»Sihdi, bist du sehr müde? Oder darf ich von einer Sache zu dir reden, die mir sehr wichtig erscheint? So wichtig, daß ich es nur dir, keinem andern mitteilen kann?«
»Sprich!«
»Tifl lügt!«
Er sagte nur diese beiden Worte; dann war er still.
»So!«
Ich sagte nur dieses eine Wort; dann war auch ich still. Nach einer Weile fuhr er fort:
»Ja, er lügt! Und du weißt, daß ich die Lüge hasse und den Lügner verachte! Und doch muß ich mit diesem Menschen sprechen, denn ich bin Gast!«
»Vielleicht irrst du dich,« warf ich ein. »Es ist ein großer Unterschied zwischen der absichtlichen Lüge, welche aus schlechten Gründen täuschen will, und einer Unwahrheit, die man mit gutem Gewissen verbreitet, weil man sie für Wahrheit hält.«
»Das weiß ich gar wohl, Sihdi; aber ich habe geprüft. Tifl weiß ganz genau, daß er lügt. Auch ist es nicht bloß leichtsinnige Schwatzhaftigkeit von ihm, die sich auf gleichgültige Dinge bezieht, sondern es handelt sich um Angelegenheiten, welche von größter Wichtigkeit für uns sind. Ich meine nämlich Ahriman Mirza.«
»Hat er diesen belogen?«
»Nein, sondern dich – — – uns!«
»Wieso?«
»Du frugst ihn vorgestern vor dem Mordüberfalle, woher der Henker wohl wisse, wo deine Lagerstätte in der Halle sei. Er antwortete dir, er sei den Persern vorangeritten und habe gar nicht mit ihnen gesprochen. Aber Ahriman Mirza habe sich an die begleitenden Dschamikun gemacht und alles, was er wissen wollte, aus ihnen herausgelockt. Tifl behauptete sogar, daß er über diese unvorsichtige Schwätzerei sehr zornig gewesen sei. Besinnst du dich, Effendi?«
»Ja. Ich erinnere mich noch jedes Wortes. Bezieht sich deine Behauptung etwa auf diese seine Angabe?«
»Ja. Er hat gelogen, dir mit vollem Bewußtsein in das Gesicht gelogen! Ahriman Mirza hat während des ganzen Rittes nach der Grenze mit keinem andern Dschamiki auch nur ein einziges Wort gesprochen. Bedenke seinen Stolz! Aber er ist mit Tifl und dem Henker vorangeritten, Tifl zwischen ihnen, und diese drei haben sich sehr lebhaft, fast wie gute Freunde, unterhalten. Beim Scheiden haben der Mirza und Ghulam ihm sogar die Hand gereicht, um Abschied von ihm zu nehmen. Was sie erfuhren, konnte also nur aus seinem, aus keinem andern Munde stammen.«
»Woher weißt du das, Kara?«
»Von Einem, der es am besten wissen muß, nämlich von Tifl selbst. Das war gestern abend, als ich den Pferden zum letzten Male Wasser gegeben hatte. Ich wollte noch nicht schlafen und ging hinter, wo das Weideland aufhört und die Ruinen beginnen. Dort ragt ein großer Mauerstein aufrecht empor, und nur einige Schritte davon steht ein dichter Kyßylbusch[21], an welchem ich mich niedersetzte. Du wirst wohl noch nicht dort gewesen sein und die Stelle also nicht kennen.«
»Ich kenne sie. Ich saß am Vormittage bei dem Steine und pflückte Veilchen bei dem Kyßylstrauch.«
»So weißt du also, daß beide so nahe beieinander liegen, daß man am Kyßyl hören muß, was an dem Steine gesprochen wird. Ich war noch nicht lange dort, so kamen Pekala und Tifl. Sie setzten sich nieder, ohne zu ahnen, daß ich mich so nahe bei ihnen befand. Ich gab mir gar keine Mühe, mich zu verbergen, hatte aber auch keinen Grund, sie besonders auf mich aufmerksam zu machen. Sie brauchten nur einigermaßen aufmerksam zu sein, so mußten sie mich sehen; aber es gibt Menschen, denen die Unvorsichtigkeit so zur zweiten Natur geworden ist, daß sie gar nicht mehr wissen, was man unter Vorsicht zu verstehen hat. Diese sonderbare Mutter sprach mit ihrem noch sonderbareren Kinde zunächst über allerlei, was mir vollständig gleichgültig war. Darum stand ich schon im Begriffe, mich leise zu entfernen; da wurde dein Name genannt, und darum blieb ich sitzen. Was sie sagten, war keineswegs besonders klug zu nennen; sie wissen nicht so recht, was sie aus dir machen sollen; aber Pekala versicherte, daß sie dich in ihr Herz geschlossen habe, und Tifl meinte, man habe mit dir sehr freundlich und sehr höflich zu sein, weil man nicht wissen könne, was aus deiner Freundschaft mit dem Ustad entstehen werde. Bei ihm komme es vor allen Dingen darauf an, was du für ein Reiter seist, und da getraue er sich unbedingt, dich und deinen Assil auf der Stute des Ustad zu überholen. Was sagst du dazu, Effendi?«
»Kinderei!«
»Dieser Mensch ist ein Pferdejunge, aber doch kein Reiter! Rohes Anklammern, Jagen und Hetzen, aber keine Spur von wahrer Reiterkunst! Für solche Leute ist Pferd eben nichts als Pferd! Dann sprachen sie vom Ustad. Ich muß dir sagen, Effendi, was ich da hörte, hat mir fast wehe getan. Sie gaben vor, ihn zu lieben; sie lieben ihn wohl auch, jedoch in ihrer Weise. Beiden steht die Küche oder das Pferd des Ustad höher als er selbst. Sein Geist und seine Gedanken imponieren ihnen; von seiner Person aber sprachen sie in einer Weise, die mir nicht gefallen konnte. Das war Klatsch! Hierauf kam die Rede auf eine Person, welche Aschyk genannt wurde. Wer gemeint war, weiß ich nicht. Dieser Aschyk kommt regelmäßig nach vier Wochen, um Pekala hier bei dem Steine abzuholen. Nächsten Sonntag kommt er wieder, eine Stunde vor Mitternacht. Nun erwähnten sie eine große Empörung. Es soll Jemand abgesetzt werden; aber wer, das konnte ich nicht verstehen. Dann reitet Pekala auf dem herrlichsten Kamele in einer großen Stadt ein, und Tifl wird ein sehr berühmter Mann. Auch aus dem Ustad wird etwas Bedeutendes, doch was, das blieb mir verborgen. Den Mirza und den Bluträcher hassen beide, doch müsse man sich gegen sie verstellen, denn der Aschyk habe es gewünscht. Und hiermit bin ich bei der Hauptsache angelangt: Als Tifl die Perser bis über die Grenze zu bringen hatte, wurde er von Ahriman und Ghulam in die Mitte genommen und ausgefragt. Er fürchtete sich, sie mit ihren Fragen abzuweisen, und sagte ihnen darum alles, was sie wissen wollten. Als du ihn dann in das Verhör nahmst, getraute er sich nicht, es zu verschweigen, und belog dich, um die Schuld auf seine Begleiter zu schieben.«
»War Pekala damit einverstanden?«
»Ja. Sie lügen also beide! Das von der Empörung und der hierauf folgenden Erhebung und Beförderung war wohl nur Kindergeschwätz. Aber das Andere hat mich sehr bedenklich gemacht. Pekala hat mir von Isphahan erzählt, von ihrem Vater, von Tifl, wie er betrunken gewesen ist, vom Ustad, der sich ihrer angenommen hat, von seinem Tode und von seinem Grabe hier im Hause. Sie weinte dabei vor Rührung. Es kommen so schöne Stellen vor, auch Gedichte. Man wird da selbst gerührt und hält sie für ein frommes, liebes, seelensgutes Wesen. Aber sie hat das fast mit ganz denselben Worten und denselben Tränen auch meiner Mutter erzählt; sie erzählt es überhaupt Jedem, der sich von ihr festhalten läßt, sogar den Haddedihn, die mit uns gekommen sind. Dadurch wird ja das Heiligste entheiligt! Und wenn sie bei jeder Gelegenheit hinzufügt, daß die Männer alle noch erzogen werden müssen, so wird sie lächerlich. Vor allen Dingen aber hat mich Folgendes empört: Kaum haben Pekala und Tifl von den hohen Eigenschaften ihres Ustad gesprochen, so dichten sie ihm eine Menge ganz gewöhnlicher, sogar gemeiner Fehler an, die er gar nicht besitzt, sondern die sie nur von sich selbst auf ihn übertragen, weil sie alles, was sie an ihm nicht verstehen können, für Mängel halten wie die ihrigen. Und das tun sie in so niederträchtig vertraulicher Weise, als ob er sie für Engel halte, an denen er sich gern ein Vorbild nehme! Das ist teuflisch, doppelt teuflisch, weil es mit so freundlich lächelndem Munde und mit so warmer Rücksicht ausgesprochen wird. Ich habe es gehört; Jeder hat es gehört; Alle können es hören, die es hören wollen. Er allein, der vollständig Arglose, der stets und ganz Vertrauende, hat keine Ahnung von der Menge dieser giftigen Gedankenschlangen, die sich unablässig zu seinen Füßen ringeln, ohne daß er es bemerkt, weil er nie auf das Niedrige, auf das Gemeine achtet! Sihdi, was mag ihm das wohl schon geschadet haben! Wie gütig bist auch du zu dieser Pekala und diesem Tifl!
Ich aber halte sie für ein Gezücht, mit dem man keine Nachsicht üben sollte. Wer ist dieser Aschyk ? Ein Dschamiki wohl kaum. Sie verkehren mit ihm, und zwar heimlich, wie es scheint. Sie schildern auch ihm den Ustad gänzlich falsch. Er trägt es fort. Infolgedessen macht man sich da draußen im ganzen Lande über des Ustad sogenannte Fehler und Schwächen lustig, die aber nur in den schwachen Köpfen einer dicken Köchin und eines dünnen Pferdejungen existieren! Die Feinde sind wohl klug genug, das zu wissen. Sie lachen heimlich über die Türkin und ihr »Kind«. Oeffentlich aber tun sie, als ob sie es glauben, und verbreiten es aus allen Kräften weiter. Daher der freche Blick, den Ahriman Mirza für den Ustad hatte! Und daher auch die unverschämte Stirn des Multasim! Hätten diese Menschen sich wohl in der Weise, wie sie es taten, in den Duar und hinüber zum Tempel gewagt, wenn der Ruf des Ustad nicht schon fast vernichtet wäre? Sihdi, ich sage dir: Zwei solche Personen im eigenen Hause sind gefährlicher, weit gefährlicher als hundert offene Gegner, die keine Liebe heucheln! Ich habe noch nie, noch nie in dieser Weise zu dir gesprochen. Jetzt aber mußte ich es tun. Und warum? Verzeihe mir, daß ich es sage! Um einer Person willen, die euch mit ihrer Kerbelsuppe nur scheinbar erheitert, in Wirklichkeit aber regiert!«
Hierauf setzte er sich nieder. Wartete er, was ich nun sagen werde? Wenn ja, so ließ er es sich doch nicht merken. Er schaute über den See hinüber, wo soeben das Boot vom Ufer stieß. Es saßen zwei Männer darin. Der eine ruderte; der andere schien zu lesen.
»Das ist der Dschamiki, welcher den andern das Singen lehrt,« sagte Kara, als ob er unser Gespräch als abgebrochen betrachte.
»Und du bist der Haddedihn, der mich etwas anderes lehrt,« antwortete ich. »Ich habe geglaubt, mich nur auf meine eigenen Augen verlassen zu können. Darf ich von jetzt an auch die deinen mit zu Rate ziehen?«
Da sprang er schnell wieder auf, kam zu mir her, kniete neben mir nieder, griff nach meiner Hand und rief im Tone des Glückes, der innigsten Freude aus:
»Sihdi, ich danke dir! Weißt du, was du mir mit diesen deinen Worten schenkst?«
»Ich weiß es, Kara: dich selbst! Du warst bisher ein Glied; nun aber bist du Person, eine vollständige Person. Es wurde über dich bestimmt; nun sollst du selbst bestimmen. Sag, gibt es noch andere Leute hier, welche dir Mißtrauen eingeflößt haben?«
»Ja.«
»Wer?«
»Willst du Vermutungen hören?«
»Nein.«
»So laß mich erst noch prüfen, ehe ich Namen nenne. Ich kann wohl Verdacht hegen, aber ihn weiterverbreiten, ohne Beweise zu haben, das würde gewissenlos gehandelt sein. Das aber tut Kara Ben Halef nicht! Ueber Menschen also schweige ich noch, doch über Dinge kann ich sprechen. Ich muß dir etwas zeigen, was ich gefunden habe. Ich weiß nicht, ob es Edelsteine sind oder ob es Glas ist, aber es funkelt wie lauter Diamanten.«
Er zog aus der Innentasche seiner Weste eine schmale Blechkapsel und reichte sie mir, nachdem er sie geöffnet hatte. Sie enthielt eine Turbanagraffe mit rotem Pferdehaarbusch, welcher mittelst eines Charnieres umgelegt war, vor dem Gebrauche aber aufgeschlagen wurde. Der Halter bestand aus großen Facetten, welche die beiden Buchstaben Sa und Lam umschlossen, über denen das Verdoppelungszeichen stand. Die Facetten waren von Glas, doch gut geschliffen und brillant unterlegt, so daß sie bei künstlichem Lichte wahrscheinlich wie Diamanten funkelten. Diese Haaragraffen durften früher nur von sehr hochgestellten Personen an den Turbanen getragen werden. Der Schah schmückt bei festlichen Gelegenheiten seine Lammfellmütze noch heut in dieser Weise, natürlich aber mit echten Steinen. Die Imitation, welche ich jetzt in meinen Händen hielt, war ohne eigentlichen Wert, eine »Theateragraffe«, wie man bei uns sagen würde, für mich aber von einer Bedeutung, die mich veranlaßte, einen Ruf der Freude auszustoßen.
»Also Edelsteine?« fragte darum Kara.
»Nein. Es ist nur Glas, wertloses Glas; aber du hast trotzdem einen Fund gemacht, der wohl kaum mit Geld bezahlt werden könnte. Wie bist du zu dieser Agraffe gekommen, lieber Kara?«
»Es war auf dem Dschebel Adawa[22] – — —«
»Der liegt doch nicht hier, sondern schon im Gebiete der Takikurden!« fiel ich ein.
Taki heißt fromm. Die betreffenden Kurden führen diesen Namen, weil sie in Beziehung auf den Glauben sehr streng gegen Andere sind und mit großer Bestimmtheit behaupten, daß nur sie allein den Himmel erlangen werden. Jeder nicht ganz Gleichdenkende wird als verdammenswerter Ketzer betrachtet und mit unnachsichtlicher, herzloser Strenge verfolgt.
»Ja; ich bin aber dennoch oben gewesen,« antwortete er.
»Wann?«
»Heut.«
»Kennt schon Jemand diesen deinen Fund?«
»Nein; nur du allein.«
»So schweige jetzt noch gegen Andere; mir aber erzähle!«
»Ich ritt gestern gegen Norden, ganz allein. In der ersten Zeit nahm ich Tifl stets mit; jetzt aber tue ich das nicht mehr. Ich mag nicht Leute bei mir haben, die mir nicht gefallen. Da traf ich auf eine kleine Todeskarawane, lauter persische Schiiten, welche ihre Kamele und Maultiere mit Särgen belastet hatten.«
»Eine Todeskarawane? Hier? Sonderbar! Hier gibt es doch gar keinen Karawanenweg, welcher hinab nach Karbela oder Meschhed Ali führt!«
»Das sagte ich mir auch, und darum kamen mir diese Leute bedenklich vor. Als ich mich aber näher an sie heranmachen wollte, nannten sie mich einen sunnitischen Hund und drohten, auf mich zu schießen. Ich hielt also an und ließ sie von weitem an mir vorüber. Mein Pferd aber wurde ungeduldig und drängte vorwärts, als das letzte Kamel noch vorbeizugehen hatte. Darum kam ich so nahe an dasselbe heran, daß ich alles deutlich sehen konnte. Es trug vier Särge, an jeder Seite zwei. Einer war zerplatzt und mit einem Stricke wieder zusammengebunden, aber so liederlich, daß ich den Inhalt sehen konnte.«
»Wohl keine Leiche?«
»Nein. Mir war schon aufgefallen, daß die Karawane nicht den geringsten Geruch verbreitete. Jetzt nun war das erklärt: Gewehre stinken ja doch nicht.«
»Ah! Gewehre! Sahst du das genau?«
»Ja. Es war kein Irrtum möglich. Ich ritt weiter, zunächst ohne mich umzusehen, denn man sollte nicht merken, daß ich aufmerksam geworden war. Als ich mich aber weit genug entfernt hatte, lenkte ich hinter einen Felsen, um diesen angeblichen Leichenzug zu beobachten. Nachdem er in der Ferne verschwunden war, ritt ich ihm nach, wohl zwei Stunden lang, bis über die Grenze hinüber. Da bog er von seiner bisherigen Richtung ab und hielt auf den Dschebel Adawa zu. Nun folgte ich erst recht, doch so, daß ich nicht bemerkt werden konnte. Am Fuße des Berges gibt es Wasser. Die Tiere aber mußten an demselben vorüber und ohne Verzug die steile Wildnis hinauf. Warum? Wozu? Das war mir ein Rätsel, und ich beschloß, es zu ergründen. Doch mußte ich das für heut aufheben, denn der Tag war schon fast vorüber, und ich wollte auch nichts unternehmen, ohne vorher mit dir gesprochen zu haben. Ich kam spät heim. Du schliefst. Ich stand zeitig auf. Du schliefst noch immer. Da beschloß ich, selbständig zu handeln, und ritt auf Ghalib wieder hin.«
»Bist du Jemandem begegnet?«
»Nein; keinem Menschen. Ich glaube auch nicht, daß mich wer gesehen hat. Als ich auf die gestrige Spur der Todeskarawane traf, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es heut eine doppelte war; sie führte nämlich auch wieder zurück. Diese Perser hatten die Nacht auf dem Berge zugebracht und waren dann wieder heimgeritten.«
»Ah, hätte ich die Fährte sehen können!«
»Keine Sorge, Sihdi! Ich habe von dir gelernt, wie solche Spuren zu lesen sind. Ich sah, daß man getrabt hatte. Der Sand lag hinten weit hinausgeworfen und die Stapfen waren vorn sehr scharf, aber flach und leicht. Wären die Tiere noch so schwer wie gestern beladen gewesen, so hätten sich die Eindrücke mehr vertieft. Die Gewehre waren also auf dem Dschebel Adawa abgeladen worden, und ich beschloß, hinaufzureiten, aber sehr vorsichtig, denn es war doch mehr als möglich, daß die Personen, welche die Waffen erhalten hatten, sich noch oben befanden. Diese Befürchtung hob sich aber, als ich bei meiner Annäherung einen Reitertrupp bemerkte, welcher soeben herabgekommen war und sich nach Westen entfernte, wo die Weideplätze der Takikurden liegen.«
»Hatten sie die Gewehre?«
»Nein. Ich hielt mich versteckt, bis ich sie nicht mehr sehen konnte; dann ritt ich hinauf. Ich konnte nicht irren; die Spuren zeigten mir den Weg. Oben aber war alles so wirr und warr und es liefen so viele Eindrücke in- und durcheinander, daß es mir ganz unmöglich war, mir ein Bild von dem zu machen, was man hier vorgenommen hatte.«
»Gab es Bäume, Sträucher?«
»Genug! Dazu eine große Ruine, wohl aus ganz uralter Zeit. In ihrem Innern hatte das Lagerfeuer gebrannt. Ich suchte mit Fleiß und überall, wohin die Ladung versteckt worden sei, doch war alle Mühe vergebens. Von dem vielen Umherkriechen müde, sah ich mich nach einem schattigen Ort um, mich für kurze Zeit auszuruhen. Er war sehr bald gefunden. Ich legte mich nieder und pfiff mein Pferd herbei. Indem es graste, betrachtete ich den alten Märwer[23], der neben mir am Mauerpfeiler stand. Er war hohl. Das Loch befand sich ungefähr zwei Fuß über der Erde. Und nun komme ich auf etwas, was du so oft behauptet hast, Sihdi, nämlich, daß es keinen Zufall gibt. Es war auch wirklich keiner, sondern ich fühlte es wie eine ganz deutliche Aufforderung in mir, in dieses Loch zu greifen, weil etwas darin stecke, was ich unbedingt sehen müsse. Begreifst du das?«
»Ja. Du griffst hinein und fandest diese Kapsel!«
»So ist es! Wer war das, der es mir sagte?«
»Frage nicht, sondern begnüge dich mit dem Funde, der für uns viel, viel wichtiger ist, als du denkst! Hast du dich dann noch lange auf dem Berge aufgehalten?«
»Nein. Sobald ich das Blech geöffnet und den Inhalt gesehen hatte, ritt ich heim. Ich kam zu spät zum Essen, aß aber nach. Als ich nach dir fragte, hörte ich, du schliefest immer noch. Darum sattelte ich. Vielleicht warst du am Abend zu sprechen. Da aber kamst du doch. Ich wollte nicht sofort beginnen, sondern dich bitten, abseits mit mir zu gehen. Denn niemand sollte sehen, was ich dir zu zeigen hatte. Da aber stiegst du auf, und Assil ging schleunigst mit dir fort. Ich folgte schnell. So ist es gekommen, daß wir uns hier befinden.«
»Ganz, als ob es genau so beabsichtigt worden wäre! Du mußt schnell fort.«
»Wohin?«
»Nach dem Dschebel Adawa. Wenn es möglich ist, lässest du dich unterwegs von keinem Menschen sehen. Hier nimm die Kapsel mit der Agraffe. Du steckst sie wieder in den hohlen Baum und reitest dann sogleich wieder heim.«
»Warum das, Sihdi?«
»Es ist keine Zeit, es dir jetzt zu erklären. Ich sage es dir später. Der Mann, dem diese Agraffe gehört, darf nicht ahnen, daß sie in unseren Händen gewesen ist. Ich glaube zwar nicht, daß er heut nach dem Berge kommt, will aber sicher gehen. Du reitest augenblicklich und kommst nach deiner Rückkehr sogleich zu mir, damit ich erfahre, ob es dir gelungen ist, den Auftrag unbemerkt auszuführen.«
»Darf ich dich denn verlassen, Sihdi? Kannst du allein heimreiten?«
»Da kommt ja der Kahn. Der Chodj-y-Dschuna will, wie ich sehe, hier bei uns anlegen. Ich werde also nicht allein sein.«
Da steckte er die Kapsel zu sich, schwang sich auf den Barkh und ritt davon, eben als das Boot an das Ufer stieß.
»Erlaubst du, Effendi, daß ich dich für einige Augenblicke störe?« fragte der Gesangslehrer, indem er ausstieg, während der Andere beim Ruder sitzen blieb.
»Du störst mich nicht,« antwortete ich. »Es ist mir vielmehr eine Freude, daß du dich wieder einmal bei mir sehen lässest. Nimm bei mir Platz!«
Er ließ sich mit den Worten nieder:
»Ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit. Es gab für mich einen Grund, mit dir zu sprechen, ohne daß man darauf merkte, daß ich dich im hohen Hause besuchte. Ich überlegte soeben, wie ich dies anzufangen habe, da sah ich dich bei mir vorüberreiten und ging sogleich zum Boote, um hier auf deine Rückkehr zu warten. Da trifft es sich gut, daß du grad hier abgestiegen und gar nicht weitergeritten bist.«
»So ist es etwas Heimliches, was du mir zu sagen hast?«
»Ja.«
»Aber wir sind doch nicht allein!«
»Du meinst meinen Begleiter hier? Der ist ein treuer Dschamiki und darf alles hören. Er weiß es sogar schon.«
»Ein treuer Dschamiki? Das klingt ja fast so, als ob es auch untreue gebe!«
»Wo das Gute wohnt, baut sich das Uebel immer auch ein Haus. Doch jetzt zu meiner Sache! Ich habe einen Freund in Chorremabad, der Hauptstadt unserer Provinz. Er ist im Herzen ein guter Dschamiki und hat mir über die uns betreffenden Maßnahmen der Regierung schon manche heimliche Nachricht geschickt, welche ich dem Ustad mitzuteilen hatte. Heut, vorhin erst, kam wieder ein Bote von ihm an, der mir eine Mitteilung machte, über welche ich zunächst erschrak. Bei näherer Betrachtung aber fand ich, daß es noch schlimmer, viel schlimmer geworden wäre, wenn der Scheik ul Islam uns so vollständig überrascht hätte, wie es in seiner Absicht liegt.«
»Der Scheik ul Islam?« fragte ich. »Will uns überraschen? Also hierher kommen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Er trifft schon morgen ein.«
»Das ist ja gar nichts so Schreckliches, sondern ganz im Gegenteil im höchsten Grade interessant!«
Da hob er warnend den Finger und sprach:
»Effendi, urteile nicht so schnell! Du bist hier fremd, bist sogar krank und kennst die Verhältnisse nicht! Der Scheik ul Islam ist ein sehr hochgestellter, wichtiger Mann, von dessen Macht du wohl noch keine Ahnung hast. Er würde selbst für den Ustad ein Gegner sein, vor dem die größte Vorsicht nötig ist. Darum trifft es sich keineswegs gut, daß unser Herr verreist ist. Ich bitte dich, es mir nicht übelzunehmen, daß ich dich warne! Der morgige Besuch kommt in einer Absicht, hinter der sich alle List versteckt, die uns verderben kann. Darum wollte ich, der Ustad wäre hier!«
»Auch ich wünsche das. Da er nun aber einmal abwesend ist, haben wir den Fall zu nehmen, wie er liegt. Auch er muß, wie alles, mehrseitig betrachtet werden.
Beklagst du es, daß der Scheik ul Islam von einem Fremden empfangen werden muß, so gewährt uns grad dieser Umstand doch auch den gar nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß er sich von mir hinhalten lassen muß, er mag beabsichtigen, was er will. Während er den Ustad zu schnellen Entscheidungen verleiten könnte, deren Tragweite sich erst später herauszustellen hat, muß er es sich nun gefallen lassen, von mir vorsichtig ausgehorcht zu werden, ohne daß ich dann verpflichtet bin, auf irgend etwas einzugehen. Du siehst also wohl ein, daß ich, falls es sich um Feindseligkeiten handeln sollte, von den beiden Gegnern derjenige bin, welcher die Schutzrüstung trägt, der andere aber nicht!«
Er nickte zwar nur leise, ließ aber seine Augen forschend an mir niedergleiten, und sagte:
»Vorsichtig ausgehorcht zu werden! Effendi, dazu würde ein Mann gehören, wie ich noch keinen kenne!«
»So warte ruhig, ob du ihn wohl siehst!«
»Der Scheik ul Islam ist wegen seiner hohen geistlichen Würde unantastbar, und über seine persönliche Schlauheit kam noch nie ein Anderer. Dazu ist noch zu legen, daß er ein ganz besonderer Kenner aller unserer Gesetze und Verhältnisse ist, während du dich doch nur erst so kurze Zeit bei uns befindest!«
»Wenn ich nicht will oder nicht kann, so brauche ich weder auf seine Kenntnisse noch auf seine Schlauheit einzugehen. Vor allen Dingen bitte ich dich, unbesorgt zu sein und jedes Vorurteil abzulegen, mag es mich oder ihn betreffen. Ist der Bote deines Freundes noch hier?«
»Nein; er ist schon wieder fort. Die Vorsicht gebot ihm, sich so kurz wie möglich sehen zu lassen. Er macht einen Umweg zurück, um dem Scheik ul Islam ja nicht zu begegnen.«
»Wird dieser mit dem großen Gefolge kommen, welches bei so hohen Würdenträgern fast immer unvermeidlich ist?«
»Das weiß ich nicht. Auch konnte ich nicht erfahren, wie lange er zu bleiben beabsichtigt. Doch sind das ja nur Nebendinge. Die Hauptsache ist, daß ich unterrichtet bin, weshalb er kommt. Mein Freund hat es nämlich zu erfahren gewußt.«
»Ah! Also doch schon Einer, der ihm an Schlauheit über ist! Und du sagtest, daß es Keinen gebe! Das würde mich schon ganz bedeutend beruhigen, wenn ich mich überhaupt gefürchtet hätte. Sind die Ursachen dieses Besuches denn gar so schlimm für euch?«
»Das weiß ich nicht. Und grad diese Ungewißheit halte ich für gefährlich.«
»So sag: Kommt dieser mächtige Herr nur als Scheik ul Islam oder auch als Hekim-i-Schera[24]?«
Da sah er mich überrascht an und fragte:
»Du kennst die Trennung dieser seiner Würde! Woher kannst denn du das wissen?«
»Es gibt bei uns im Abendlande Leute, welche eure Gesetze und Verhältnisse wahrscheinlich besser kennen, als ihr selbst. Oder weißt du noch nicht, daß ihr euch gelehrte oder auch sonstwie gebildete Männer von uns kommen lassen müßt, wenn es einmal gilt, euch über euch selbst klug zu werden?«
»Das kann ich freilich nicht bestreiten, Effendi. Ob dein Gast nur als Geistlicher oder auch als Richter aufzutreten beabsichtigt, das ist mir unbekannt. Er will dem Ustad einen Antrag stellen, welcher im höchsten Grade verführerisch klingt. Aber wenn man mir so ganz ohne alle sichtbare Veranlassung mit so großen Geschenken kommt, dann wird es mir heimlich angst, weil ich sofort an eine noch viel größere Gegenforderung denke. Der Ustad soll nämlich auch zum Ustad der Takikurden erhoben werden.«
»So! Weiter nichts?« fragte ich lächelnd.
»Weiter nichts!« antwortete er erstaunt. »Ich bitte dich, zu begreifen, was das heißt! Welch eine Machtvergrößerung für uns!«
»Machtverkleinerung, willst du sagen! Wenn du irgendwelche Sorge gehabt hast, so wirf sie getrost von dir! Dieser Scheik ul Islam ist schon jetzt durchschaut. Es fällt dem Ustad nicht mit einem einzigen Gedanken ein, die Seelen seiner Dschamikun für eine hohle Ehre zu verkaufen! Ein einziger braver Dschamiki ist ihm tausendmal lieber als alle Takikurden, deren sämtliche Höflichkeiten doch nur den Zweck hätten, ihn betrunken zu machen, damit er sich zu ihrem willenlosen und verächtlichen Werkzeuge erniedrige! Er wird sich nie in fremde Dienste stellen. Er ist sein eigener Herr und wird es bleiben, ohne nach den tauben Nüssen zu fragen, die man ihm mit so vielverheißender Höflichkeit entgegenträgt.«
Da richtete er sich halb auf und fragte in erwartungsvollem Tone:
»Aber man wird sich rächen! Unnachsichtlich und auf jede mögliche Art und Weise rächen! Hast du hieran gedacht?«
»Natürlich! Die Rache ist dann unvermeidlich. Sie liegt im Wesen dieser Art von Menschen. Doch möge sie nur kommen! Ich habe noch keine Rache gesehen, die sich nicht schließlich selbst vernichtet hat!«
»So bist du also entschlossen, dich von dem Scheik ul Islam nicht verlocken zu lassen?«
»Selbstverständlich! Fest entschlossen! Ich werde ihn genau so höflich behandeln wie er mich. Und er mag greifen, zu welchem Mittel er will, so wird er doch nur erreichen, was mir beliebt!«
Jetzt sprang er vollends auf, richtete sich in die Höhe und rief mit dem Ausdrucke der Erleichterung und der Ueberzeugung aus:
»Da kann ich nun freilich ruhig sein! Effendi, Effendi, ich kam in großer Sorge hierher; du aber hast mir das Herz wieder leicht gemacht! Ich kenne die Macht, welche morgen an dich herantreten wird. Sie schmückt sich mit dem Namen Gottes und des Schah-in-Schah. Sie stellt sich auf die Seite des Bestehens und Erhaltens und hat also das Gesetz für sich. Sie kommt im schimmernden Gewande oder im Bettlerkleide und schmeichelt also den Sinnen und der Menschlichkeit. Sie hofft alles Gute und verzeiht alles Böse. Sie ist geduldig freundlich, demütig, der Inbegriff aller Tugenden in menschlicher Gestalt! Aber, kennst du sie, Effendi?«
»Ja.«
»So ist es genug! Sie wird morgen aus Chorremabad bei dir erscheinen. Sie wird dir schmeicheln, dich absondern, dich – — —«
»Nein, das wird sie nicht,« fiel ich ein. »Daß sie das könne, mache ich ihr gar nicht weis. Ich werde nicht allein sein, wenn ich den Scheik ul Islam empfange.«
»Wohl der Pedehr wird bei dir sein, weil er der Scheik des Stammes ist?«
»Ja; er und du.«
»Auch ich?« fragte er in schnell aufquellender Freude. »Warum auch ich?«
»Ich will es so. Das sei dir genug.«
Da trat er einen Schritt näher zu mir heran und sprach:
»Effendi, damit ehrst du nicht nur mich, sondern Viele! Ich weiß nicht, ob man es dir schon gesagt hat: Ich lehre nicht nur den Gesang, sondern alles, was dem Geiste und dem Körper an. Können nötig ist, auch Turnen, Reiten, Schießen, Exerzieren. Ich habe diesen Unterricht gegründet, als mich der Ustad dazu auserwählte, und dann Gehilfen angestellt, als die Zahl der Schüler sich vermehrte. Wir wirken still, ohne Lärm. Ein guter Lehrer lenkt die Aufmerksamkeit auf seinen Gegenstand, doch nicht auf sich. Darum hast du wohl noch wenig oder nichts von uns gehört. Wer mit dem prahlt, was er lernte, der hat nichts gelernt. Aber gib den Dschamikun Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, so werden sie es zeigen, und ich hoffe, du wirst damit zufrieden sein! Ich sehe kommen, was nun kommen wird, und darum will und muß ich dir vor allen Dingen sagen: Wir fürchten keinen Feind! Auch in Beziehung auf das Rennen mit den Persern kannst du ruhig sein. Wir haben gutes Reiter- und Pferdematerial. Ich stehe inmitten unserer Vorbereitungen und werde dir hierüber berichten, sobald es dir beliebt. Der Scheik ul Islam ist ein großer Liebhaber des Aesp-däwani[25]; er hat einen wohlgepflegten Stall und rühmt sich, das »beste Pferd von Luristan« zu besitzen. Sobald er hier von unserm Rennen hört, bin ich überzeugt, daß er sich zur Beteiligung melden wird. Weise ihn ja nicht ab! Du würdest dadurch unsere Ehre schädigen! Das hatte ich dir zu sagen. Hase du vielleicht noch eine Frage?«
»Weiß ich jetzt alles, was dir der Bote mitgeteilt hat?«
»Ja.«
»So über alles Andere, auch über das Rennen, später. Nur über die Stute des Ustad bin ich mir noch nicht im klaren. Ich glaube, dieser Tifl hat sie gänzlich aus der Schule gebracht.«
»Das ist nur eben richtig, wenn Tifl im Sattel sitzt, sonst aber nicht.«
»Wer aber soll sie reiten?«
»Wer anders als der Ustad?« fragte er verwundert. »Er reitet jetzt nur selten; aber stelle jedes beliebige Pferd gegen seine Sahm, so wird er es besiegen, höchstens deinen Assil ausgenommen! Tifl aber wird vom Rennen ausgeschlossen sein.«
»Warum?«
»Das sage ich dir, sobald es reif geworden ist. Ich vermute, dieser Schwätzer wird nicht lange mehr zu den Dschamikun gehören. Der Ustad hat sich seiner nur aus Mitleid angenommen, und die Nachsicht, die er gegen ihn und Pekala übt, ist Vielen unbegreiflich.«
»Schwätzer?« fragte ich.
»Ja. Es genüge ein Beispiel: Tifl hatte die Perser, als der Bluträcher hier war, über die Grenze zu bringen. Da ist er den ganzen, weiten Weg zwischen dem Mirza und dem Multasim geritten und hat ihnen bereitwilligst Auskunft gegeben über alles, was sie wissen wollten.«
»Von wem hast du das erfahren?«
»Von meinem Ruderer hier, welcher dabei gewesen ist. Kein Dschamiki hat mit diesen Leuten ein Wort gesprochen; nur Tifl allein hielt keinen Augenblick den Mund. Doch damit sei es genug. Ich sehe, daß du aufbrechen willst, Effendi.«
Ich war nämlich auch aufgestanden.
»Ja; ich muß heim,« sagte ich. »Aber ich möchte mich über den See rudern lassen. Willst du dich auf Assil setzen und ihn mir an die Landestelle bringen?«
»Wie gern!« rief er aus. »Einmal deinen Rappen unter mir; das war schon längst mein Wunsch! Läßt er mich hinauf?«
»Wenn ich nichts dagegen habe, ja.«
»So zögere ich keinen Augenblick.«
Er schwang sich in den Sattel. Assil schnaubte verwundert, weigerte sich aber nicht, zu gehorchen. Als der Chodj-y-Dschuna ihn dann in hocheleganten Gängen davontänzeln ließ, sah ich, daß beide gar nicht übel zu einander paßten. Hierauf stieg ich in das Boot, und der Dschamiki legte sich in die Ruder.
So kurz dieser unbeabsichtigte Ausflug gewesen war, ich hatte auf ihm außerordentlich Wichtiges erfahren. Meine Gedanken wollten sich ganz ausschließlich hiermit beschäftigen, und ich mußte mich zwingen, sie auf die Schönheit der Umgebung zu lenken, als wir uns auf der Mitte des Sees befanden.
Ich sah jetzt zum ersten Male die westliche Seite des Thales grad vor mir liegen und alle ihre Linien auf zum Himmel streben. Nur allein der Fuß des Berges hatte sich nicht senkrecht, sondern quer gelagert, doch nicht vollständig wagerecht, sondern schief. Das erinnerte mich an die Struktur der Wände des Wadi Jahfufe, durch welches man im Antilibanon von Muallaka nach Damaskus reitet. Ich betone diese Art der Felsenlagerung besonders, weil sie mich zu einer Entdeckung führte, die ich sonst wohl schwerlich gemacht hätte.
Als ich von hier, von der Mitte des Sees aus, nach dem Alabasterzelte emporschaute, fiel mir etwas auf, was ich von dem Rosentempel aus nicht bemerkt hatte. Das Zelt besaß nämlich die Gestalt einer Krone, deren durchbrochene Kuppel von acht weißschimmernden Flügeln auf dem Ringe getragen wurde. Es stand, wie ich sah, nicht auf dem höchsten Punkte des Berges. Sondern von diesem lief ein heller Felsenstreif, fast wie ein niederwärts gestreckter Arm geformt, bis zu der senkrecht abstürzenden Kante vor und bildete dort eine hand- oder faustförmige Verbreitung, auf welche das Zelt gesetzt worden war. Zu beiden Seiten dieses Felsenstreifens lag nur unfester Steingrus, nur lockeres Geröll. Es bedurfte keiner großen Phantasie, sich einen Wetterguß oder sonst eine Katastrophe zu denken, durch welche dieses lose Gestein in die Tiefe gespült oder gerissen wurde. Dann mußte der felsige Arm sich frei in die Lüfte dehnen, um auf gewaltiger Faust die Alabasterkrone über dem Thale herniederzustrecken. Das war nur so eine ganz flüchtige, schnell vorübergehende Idee, wie man sie hat, um dann lächelnd den Kopf darüber zu schütteln. Aber wie oft verdichtet sich scheinbar Flüchtiges zur festen Form, die uns belehrt, daß die Idee denn doch wohl etwas anderes ist, als nur eine schnell und spurlos zerplatzende Gedankenblase!
Je mehr wir uns dem Ufer näherten, desto mehr wurden meine Gedanken nach unten gezogen. Die schiefe Struktur des Felsens beschäftigte mich. Ich folgte mit dem Auge ganz unwillkürlich den auffallend regelmäßigen Linien dieser Lagerung. Es war interessant, zu sehen, mit welcher Neigungsgleichheit sie alle ohne Ausnahme verliefen. Ohne Ausnahme? Nein; doch nicht! Ich bemerkte eine Stelle, wo dies doch nicht der Fall war. Grad da, wo der Berg am weitesten an den See herantrat, hörten die abwärts gesenkten Linien auf, nicht etwa, um anders zu verlaufen, sondern es gab überhaupt keine mehr. Diese Stelle war nicht groß, nicht breit, aber dicht bedeckt von wuchernden Rankengewächsen, welche von dem Humusboden des Ufers bis in das Wasser niederhingen. Es gab da weder Garten noch Feld, sondern wildliegendes Land, und darum war noch niemand auf den Gedanken gekommen, sich um dieses Gestrüpp und seine Bodenunterlage zu bekümmern. Mir aber fiel diese letztere sofort auf. Ich bin zwar kein Gelehrter, obgleich es wohl auch einige Menschen gab, die mich gar Manches lehrten, aber ich sagte mir doch, daß die Naturlinien da, wo sie aufhörten, durch etwas Anderes ersetzt worden sein mußten, was nicht natürlich, also künstlich war – — also durch Menschenhand.
Hundert Andere wären vorübergerudert, ohne sich um diese scheinbare Nebensache weiter zu bekümmern; mir aber konnte das nicht passieren. Ich ließ den Kahn bis ganz nahe an das Gestrüpp treiben und nahm dann dem Dschamiki das eine Ruder aus der Hand. Indem ich mit demselben die Ranken zur Seite schob, sah ich unter ihnen nicht natürliche Felsen, sondern behauene Steine. Das waren genau solche Kolossalblöcke wie diejenigen, aus denen die Cyklopenmauer da drüben am Berge bestand! Ich begann, zu ahnen, und setzte die Untersuchung fort, doch so unauffällig und scheinbar spielend wie möglich, weil der Dschamiki nicht zu erraten brauchte, was für Gedanken oder Vermutungen mich beschäftigten. Und richtig! Endlich, endlich stieß ich durch, vollständig durch! Es gab eine Oeffnung hier, die unter dem schmalen Dorfwege nach dem Innern des Berges führte! Das Wasser war hier tief, sehr tief. Sollte der See etwa durch diese verwachsene Öffnung mit dem Innern des Berges in Verbindung stehen? Die Art des klüftereichen Gesteins ließ dies keineswegs als unmöglich erscheinen. Ich beschloß, dieser Frage anderweit nachzuspüren, und ließ nun nach dem Landeplatze rudern. Dem Dschamiki sah ich an, daß er nichts erriet, ja daß es ihm sehr gleichgültig gewesen war, weshalb ich in dem Pflanzengewirr herumgestochert hatte.
Der Chodj-y-Dschuna erwartete mich mit dem Pferde. Er pries es als das beste Tier, auf dem er je gesessen habe, und erklärte mir, morgen sofort zu kommen, sobald ich zu ihm schicken werde. Ich ritt langsam den Berg hinauf und durch das Thor in den Hof. Dort vergaß ich bei dem, was ich sah, das Absteigen: Halef hatte sich mit samt dem Lager aus seiner Hallenecke heraus vor die Säulen schaffen lassen. Da lag er nun mit bequem erhöhtem Kopfe und sah mich von meinem ersten Ritt nach Hause kehren. Er winkte mit der schwachen, müden Hand. Da ritt ich hin und ließ Assil die Stufen langsam steigen.
»Sihdi, welche Freude!« sagte er. »Wieder zu Pferde! Nun wohl bald auch ich!«
Hanneh saß bei ihm. Sie streichelte ihm zärtlich die Wange und erklärte mir:
»Wir erschraken, als Assil mit dir entfloh; aber Kara, mein Sohn, rief uns zu, daß er dir folgen und dich behüten werde. Das beruhigte uns. Dann sahen wir dich an seiner Seite den See entlang reiten; so brauchten wir uns also nicht zu sorgen. Als Halef später erwachte, erzählte ich ihm, daß du jetzt deinen ersten Ritt versuchest. Da gab er keine Ruhe; er mußte hierhergetragen werden, um dich heimkommen zu sehen. Nun bist du da. Wie freut er sich, der Liebe!«
Ich stieg ab und setzte mich zu ihnen. Assil ging ganz von selbst die Stufen wieder hinunter. Da kam Tifl.
»Effendi, ich werde absatteln,« sagte er. »Aber wenn du wieder reitest, so nimmst du mich mit. Du hast es mir versprochen! Weißt du es noch?«
»Ja. Und was ich verspreche, das halte ich. Wenn du dann nicht mehr mit mir reiten willst, brauchst du es bloß zu sagen.«
Das war eine Andeutung, die er aber nicht verstand. Was mir Kara von ihm erzählt hatte, war mir von dem Lehrer bestätigt worden. Der Lahme stand von jetzt an unter strenger Aufsicht, ohne daß er es ahnte. Und sonderbar: Als er den Rappen fortführte, schaute Halef ihm nach und sagte:
»Ein Gespenst! Ich habe es schon einige Male gesehen – — – wenn ich die Augen öffnete – — —. Es stand vor mir und schaute mich häßlich an – — —. Sihdi, laß diesen Mann nicht her zu mir – — —; ich mag ihn nicht!«
»So geht es mir mit seiner Pekala,« bemerkte Hanneh. »Warum steht immer Eines von beiden hier bei uns, um nachzusehen, was geschieht, und auch zu hören, was gesprochen wird? Es fällt mir schwer, dies nur für Neugierde zu halten; aber für Spione ist doch wohl hier kein Ort!«
Ich war still. Etwa aus Beschämung? Warum hatte ich Tifl und Pekala gegenüber nicht sogleich dasselbe Gefühl gehabt wie Halef und Hanneh? Wahrscheinlich weil diese beiden Letzteren Naturmenschen waren, welche die Instinkte noch besitzen, die uns im Verlaufe unserer »Bildung« mehr und mehr verloren gehen. Die immer strahlende »Festjungfrau« und ihr »originelles Kind« waren mir so außerordentlich »natürlich« vorgekommen, während ich jetzt immer mehr einzusehen begann, daß eine künstliche, eine nachgeäffte Natürlichkeit nicht mehr natürlich ist. Denn daß ich es hier mit Schauspielereien zu tun hatte, das war mir sehr wahrscheinlich. Darüber, daß ich mich einmal in einem oder zwei Menschen geirrt hatte, kam ich sehr leicht hinweg; um so fürchterlicher aber waren mir die kindlich naiven, rührseligen Masken, von denen ich mich hatte täuschen lassen. Wer so aufrichtig blickt und spricht wie diese beiden Menschen und aber doch nicht wahr und ehrlich ist, als was kann man den noch betrachten und behandeln! Es gibt in Persien eine große Menge von Sekten. Eine derselben, die Schujuch, lehrt, der menschliche Körper sei nur dazu da, daß die Geister einander täuschen; das Erdenleben sei ein großer, ununterbrochener Maskenball, doch keinesweges zum Vergnügen, und je schöner, freundlicher und liebenswürdiger ein Maskenbild erscheine, desto mehr habe man sich vor ihm in acht zu nehmen. Die Kinderlarven aber seien am allerschlimmsten. Ich bin weder Perser noch Sektierer, aber es wurde mir nun gar nicht schwer, mich in den Gedanken zu versetzen, daß Pekala und Tifl hier bei den Dschamikun Redoute spielten. Und ich, der ich die Kinder herzlich liebe, war diesen »allerschlimmsten« in das Garn gegangen.
Ueber Halef freute ich mich. Er schien seit gestern einen bedeutenden Fortschritt gemacht zu haben und bat, bis zum Abende im Freien bleiben zu dürfen. Darum schlug ich vor, hier an diesem Platze später unser Abendbrot zu nehmen, worauf gern eingegangen wurde. Als Hanneh mich fragte, wo Kara geblieben sei, sagte ich nur, daß er gegen Abend wiederkommen werde, und ging dann in den Garten, wo, wie ich hörte, sich der Pedehr befand. Er saß auf der Bank, wo ich von Tifl als Pflaumendieb überfallen worden war. Ich setzte mich zu ihm.
»Kennst du den Scheik ul Islam?« fragte ich.
»Ja,« antwortete er, sofort aufhorchend; »doch nicht persönlich.«
»Hat man sich vor ihm zu fürchten?«
»Du wohl nicht, aber vielleicht wir.«
»Falsch! Ich bin jetzt Dschamiki, so vollständig Dschamiki, daß ich keine Gefahr kenne, die es nicht für mich gibt, sondern nur für Euch. Der Scheik ul Islam wird morgen zu uns kommen.«
»Ist das wahr? Wer hat es gesagt?« rief er erschrocken aus.
»Der Chodj-y-Dschuna.«
»So kommt er allerdings. Der Chodj ist stets gut unterrichtet. Er hat sich nie geirrt, wenn er uns warnte. Wenn der Scheik ul Islam persönlich zu uns kommt, so handelt es sich um eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit. Er ist ein Fürst des geistlichen Standes und unternimmt sicher keine solche Reise, ohne die schweren Gründe sorgsam abgewogen zu haben. Effendi, es steht uns nichts Gutes bevor!«
»Warum nichts Gutes. Warum muß es unbedingt Böses sein, was er uns bringt?«
»Weil von dieser Seite überhaupt nichts Gutes kommen kann. Er ist, streng genommen, kein Perser, sondern ein Takikurde. Es gibt ein bekanntes Wort, das lautet: So oft der Taki seinen Blick fromm zum Himmel hebt, tritt er mit dem Fuße einen Menschen nieder. Und dieser tugendheilige Fürst schaut fast immerwährend empor. Wer mag sie zählen, die er schon unter seine leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen trat! Wir werden seinen demütigen, gottseligen Augenaufschlag zu sehen, aber auch seine fanatischen Fußtritte zu fühlen bekommen. In seinen Stapfen hebt sich kein Grashalm wieder auf!«
»So lassen wir ihn nur in Dornen treten; das wird uns nützlich und ihm heilsam sein! Ich konnte leider nicht erfahren, ob er allein kommt oder nicht.«
»Allein? Daran ist nicht zu denken! Er muß sich doch mit Glanz und Stolz umgeben, damit seine Demut um so deutlicher hervortrete! Wir werden hohe, sehr hohe Gäste haben, und zwar nicht wenig. Es gilt also, uns vorzubereiten!«
»Nein! Er darf auf keinen Fall bemerken, daß wir von seiner Ankunft gewußt haben. Die Gäste bekommen nur, was grad vorhanden ist. Angeschafft oder zubereitet wird nicht das Geringste. In der Küche darf Niemand Etwas ahnen. Ganz besonders aber hast du dafür zu sorgen, daß Pekala und Tifl nichts erfahren. Das fordere ich streng!«
Er sah still vor sich nieder und sagte nichts dazu. Darum fuhr ich fort:
»Also keine Vorbereitungen, schon dieser Beiden wegen, die absolut nichts merken dürfen! Wo aber werden wir die Gäste unterbringen?«
»In der Halle.«
»Wo Hadschi Halef liegt?«
»Wenn du erlaubst, betten wir ihn fort. Es trifft sich gut, daß Hanneh mich vorhin fragte, ob sie ihn nicht bald hinauf zu sich bekommen könne. Die Pflege werde ihr dadurch erleichtert, und er habe dann auch mehr Ruhe als jetzt in der Halle, die doch stets offen sei.«
»So bettet ihn gleich nach dem Abendessen hinauf! Hanneh hat Recht; ihr Wunsch ist sehr vernünftig. Sag aber auch zu ihr nichts von dem Scheik ul Islam, überhaupt zu keinem Menschen. Wer es erfahren soll, dem sage ich es selbst. Dieser »Fürst« soll ganz den Eindruck haben, daß er uns vollständig überrasche. Und denke ja nicht an große Gasterei! Es ist sogar sehr möglich, daß weder er noch einer seiner Begleiter einen Bissen von uns bekommt.«
»Effendi, das nimm zurück! Das ist ausgeschlossen, vollständig ausgeschlossen!«
»Warum?«
»Bedenke zunächst die hohe Pflicht der Gastlichkeit!«
»Die kenne ich ebenso genau wie du, und Niemand kann lieber gastlich sein als ich. Nur habe ich abzuwarten, ob der Scheik ul Islam sich gegen uns so benimmt, daß ich ihm erlaube, unser Gast zu sein.«
Da sah er mich groß an.
»Das klingt ja, als ob du dir gar nichts aus diesem hohen Würdenträger machtest!« sagte er.
»Ich mache mir ganz genau das aus ihm, wozu er das Material besitzt, nicht weniger und nicht mehr. Teppiche, Polster, Pfeifen, Tabak, Kaffee, Wasser, das ist ja alles da. Wenn Weiteres gegeben werden soll, ist dann, wenn ich es sage, auch noch Zeit. Zugegen sein werden nur du, der Chodj-y-Dschuna und ich. Er ist der Einzige, mit dem du dich besprechen magst. Ob ich noch andere Dschamikun brauchen werde, das kann ich jetzt nicht wissen; es hat sich erst zu zeigen. Hast du vielleicht einmal vom »besten Pferd von Luristan« gehört?«
»Schon oft. Es gehört dem Scheik ul Islam und ist der schnellste und ausdauerndste Renner aus der Taki-Zucht. Er wurde nie besiegt, und der Besitzer hat schon manchen Preis mit ihm gewonnen.«
»Wie kam er zu diesem Tiere?«
»Der Stamm machte es ihm zum Geschenk, um seine beispiellose Frömmigkeit und Glaubensstrenge zu belohnen. Es gab noch keinen Taki, der so hoch gestiegen ist wie dieser Mann. Darum sind sie stolz auf ihn und halten es für eine Ehre, ihn den Ihrigen nennen zu dürfen. Er sagt, die Liebe zu dem Pferde sei die einzige irdische Liebe, die er sich erlaube. Und da er seinen Stall gern jedem Rennen öffnet, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß er sich morgen mit anmeldet, sobald er hört, daß hier bei uns gelaufen wird.«
»Soll ich annehmen?«
»Das ist deine Sache, Effendi. Ich sage weder ja noch nein. Ein Pferd, welches noch nie geschlagen wurde, ist ein gefährlicher Gegner. Um so ehrenvoller ist es dann aber auch, es besiegt zu haben. Es handelt sich da vor allen Dingen um den Preis, zu welchem er dich in die Höhe treiben würde.«
»Weißt du vielleicht, ob der Scheik ul Islam in irgend einem persönlichen Verhältnisse zu Ahriman Mirza steht?«
»Nein.«
»Oder zu Ghulam el Multasim?«
»Ja, die sind eng befreundet. Der Scheik ul Islam hat Ghulam sogar zu einem seiner Kasi[26] ernennen lassen und sieht ihn oft als Gast in seinem Hause.«
»Das ist mir wichtig, außerordentlich wichtig! Doch jetzt zu etwas anderem: Ich ließ es bisher ruhen; nun ich aber an Stelle des Ustad stehe, ist es meine Pflicht, mich dieser Sache anzunehmen. Ich war nämlich beim Scheik der Kalhuran und freue mich, daß seine Genesung vorwärts schreitet. Er steht nicht unter Eurer Dschemma; aber du sagtest, daß sein Weib bestraft werden müsse, weil sie Blut vergossen hat.«
»So ist es. Sobald er das Lager verläßt, haben wir über sie zu richten.«
»Hättest du an ihrer Stelle anders gehandelt? Hättest du deinen Gatten vollends erschlagen lassen?«
»Was ich getan hätte, kommt nicht in Betracht. Wir haben das Gesetz, und nach diesem ist zu verfahren.«
»Also selbst bei Euch herrscht auch noch der Buchstabe, nicht der Geist des Gesetzes!«
»Du irrst. Wir werden die allergeringste Strafe wählen.«
»Aber doch Strafe! Ist es denn nicht möglich, daß sie freigesprochen wird?«
»Nein.«
»Wer hat das Recht der Begnadigung?«
»Der Ustad. Du weißt, daß in Persien jeder Weli oder Beglerbeg die Macht über Leben und Tod, also auch das Begnadigungsrecht besitzt, und der Ustad ist der Weli unseres Bezirkes.«
»Wer hat es jetzt, da er verreist ist?«
»Sein Stellvertreter, also du.«
»So bitte ich dich, zu dem Kalhuri zu gehen. Sage ihm, daß ich an Stelle seiner Frau gewiß auch Blut vergessen hätte. Ich halte sie also für ebenso unschuldig, wie mich und dich und gebe nicht zu, daß sie bestraft wird. Wer einen Menschen einer Tat wegen verdammt, zu der er unter Umständen selbst fähig gewesen wäre, der ist derselben Strafe wert. Gehe sogleich!«
»Effendi, das ist eine frohe Botschaft. Ich eile, sie zu überbringen. Du hast hiermit die Herzen aller Dschamikun und Kalhuran gewonnen!«
Nun ging ich nach meiner Wohnung um die Schlüssel zu derjenigen des Ustad zu holen. Es galt, mich für den morgigen Besuch so weit vorzubereiten, als es notwendig war, über alles Vorkommende genau unterrichtet zu sein. Ich fand eine Mappe, welche alle Schriftstücke enthielt, die sich auf die Abtretung des Gebiets, auf die Verwaltung desselben und auf die Rechte und Pflichten der Dschamikun bezogen. Der Ustad hatte überhaupt dafür gesorgt, daß ich mich sehr leicht zu orientieren vermochte. Es gab überall beschriebene Zettel, welche den betreffenden Inhalt anzeigten, und so fand ich auch ohne langes Suchen das wertvollste aller Dokumente, bei welchem die Notiz lag: Noch nie gebraucht und noch keinem Menschen gezeigt, doch unbedenklich zu benutzen!
Ich öffnete es mit Spannung und las es durch. Es enthielt Abmachungen, welche ohne alle Zeugen zwischen dem Schah und dem Ustad persönlich gepflogen worden waren, und sicherten dem Letzteren einen Schutz, wie ihn kein Weli oder Beglerbeg sich kräftiger wünschen konnte. Eine große Seltenheit war der eigenhändige Namenszug des Beherrschers und die dreimalige Wiederholung des ebenso eigenhändigen Siegels. Hierbei lag noch eine Karte von schwer vergoldetem Pergament. Die vier Ecken enthielten in Handmalerei das persische Wappen, den vor der Sonne liegenden Löwen. Und in der Mitte war, mit der Feder liebevoll kalligraphisch geschrieben, natürlich in persischer Sprache, doch gebe ich es deutsch: »Wer dieses vorzeigt, hat nur mir zu gehorchen!« Auch hierunter der eigenhändige Namenszug und das Siegel, dessen Inschrift aus den Worten bestand: »Als Nasr-ed-Din das Siegel in die Hand nahm, erschallte der Ruf der Gerechtigkeit vom Monde bis zum Fische.« Der Schah, bekanntlich ein eifriger Kalligraph, hatte diese Karte selbst gezeichnet und geschrieben, und sie war darum vorkommendenfalls selbst den Höchsten seines Reiches gegenüber eine Legitimation, welche zu sofortigem Gehorsam zwang.
Hiermit besaß ich schon viel mehr, als ich für morgen brauchte, und schon wollte ich wieder gehen, da wurde die Tür geöffnet, und Pekala trat herein. Ihr Gesicht glänzte in der gewöhnlichen, ganz wie begeisterten Freundlichkeit, und es war ein höchst vertraulicher Ton, in dem sie sagte:
»Ich sah den Schlüssel stecken, Effendi, und dachte mir gleich, daß du hier im Zimmer seist. Ich habe zwar keine Zeit, doch für dich immer, und so wollte ich dich fragen, ob ich dir das von meinem Aschyk sagen darf.«
»Laß es hören!«
»Und du wirst aber nichts verraten?«
»Ist es denn ein Geheimnis?« umging ich diese ihre Frage.
»Ja, natürlich!« antwortete sie wichtig. »Ich habe eine ganze Menge von Geheimnissen, von denen Niemand Etwas wissen darf. Dir aber sage ich vielleicht einige davon. Das notwendigste von ihnen allen sollst du jetzt gleich hören. Nämlich mein Aschyk kommt immer nach vier Wochen; das habe ich dir schon mitgeteilt. Kürzlich aber war er einmal außer dieser Zeit hier; das weißt du noch nicht. Kannst du vielleicht erraten, weshalb er kam?«
»Nein. Sag es, und mach es so kurz wie möglich!«
»Warum das? Ich spreche ja immer kurz, Effendi! Mein Aschyk hat nämlich beschlossen, mit unserem Ustad zu reden und ihm Vieles mitzuteilen, was ihn vom Tode erretten kann.«
»Wen erretten? Den Aschyk oder den Ustad?«
»Den Aschyk; vielleicht aber auch beide; ich weiß es nicht genau. Ich soll dem Ustad sagen, daß er nächsten Sonntag kommen werde, grad um Mitternacht. Ich aber komme schon eine Stunde vorher mit ihm zusammen.«
»Und hast du das dem Ustad mitgeteilt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil – — – weil – — – weil ich mich vor ihm fürchtete.«
»Vor mir aber nicht?«
»Doch auch! Aber die Zeit verging; der Sonntag ist schon nahe, und wenn ich mich so weiter fürchte und nichts sage, so verliere ich meinen Aschyk. Er hat mir nämlich gesagt, daß er niemals wiederkommen werde, wenn ich nicht ganz gewiß dafür sorge, daß er mit dem Ustad sprechen dürfe. Darum habe ich mir endlich ein Herz gefaßt und diese Bitte zu dir gebracht, weil der Ustad nächsten Sonntag noch nicht wieder hier sein kann. Was sagst du nun dazu?«
Sie wischte sich die feucht gewordene Stirn und atmete erleichtert auf. Es war ihr doch schwer geworden, sich an mich zu wenden.
»Ist es denn dem Aschyk gleich, ob er mich oder den Ustad trifft?« fragte ich.
»Ich denke es. Du stehst ja an des Ustad Stelle, und da die Sache nicht aufgeschoben werden darf, so muß er einverstanden sein.«
»Weiß noch Jemand davon, daß er Sonntag kommt?«
»Nein.«
»Auch Tifl nicht?«
»Tifl? Diesem Schwätzer darf man solche Dinge nicht mitteilen. Er weiß kein Wort!«
Das war eine Lüge, wurde aber mit der ehrlichsten und aufrichtigsten Miene der Welt gesagt. Die kleinen Aeuglein blickten mich dabei so offen, so treuherzig an, daß ich fast glaubte, mich besinnen zu müssen, ob ich mich nicht täusche.
»Hat der Aschyk gesagt, an welchem Orte er mit dem Ustad zu sprechen wünscht?« fuhr ich fort.
»Nein. Das hast nun du zu bestimmen. Willst du mir sagen, wo?«
»Heut noch nicht. Ich werde es dir noch rechtzeitig mitteilen. Und nun höre mich an! Du schweigst gegen Jedermann, auch gegen Tifl! Wenn du einem einzigen Menschen sagst, daß dein Aschyk kommt, um mir etwas zu sagen, so rede ich nicht mit ihm und jage dich aus dem Hause!«
»Effendi,« rief sie aus, indem sie erschrocken zurückfuhr. »Was machst du mir da für fürchterliche Augen. Du hast ja plötzlich ein ganz anderes Gesicht!«
»Das ist mein Gesicht, wenn ich mir etwas vornehme, was ich unbedingt auch ausführe. Du hast es noch nicht gesehen. Hüte dich vor der Wiederkehr! Wenn du nicht schweigst, lasse ich dich noch mitten in der Sonntagsnacht über die Grenze schaffen, ohne zu fragen, was dann aus dir wird! Verstanden?«
»Ja, ja, ganz genau!« versicherte sie, vor Schreck in sich zusammenkriechend. »Effendi, der Ustad ist doch freundlicher als du. Wer hätte das gedacht!«
»Jedes an seinem Orte, die Strenge sowohl als auch die Freundlichkeit! Hast du noch etwas zu sagen?«
»Nein.«
»So geh!«
Sie machte in ihrer inneren Zermalmung einen ganz verkehrten Knicks und entfernte sich bedeutend weniger vertraulich, als sie hereingekommen war. Ich aber schloß die Wohnung sorglich ab und ging, mit Schakara zu sprechen.
Wie kam es doch, daß ich gar nicht nach ihr fragte, sondern daß es mir war, als wisse ich ganz genau, wo sie sei? Ich ging durch den Garten. Bei der Quelle angekommen, sah ich die »Schwester« bei den Pferden.
Die Sahm knusperte mit Ghalib im Grase herum. Assil aber hatte sich niedergelegt. Schakara saß neben ihm und flocht, über seinen Hals gelehnt, aus den Mähnenhaaren Zöpfe, in die sie Veilchen wand. Der Rappe langte von Zeit zu Zeit mit dem Maule herüber, um sie freundschaftlich in den Arm zu kneifen. Ich beobachtete das eine ganze Weile; dann ging ich hin und setzte mich zu ihnen.
Es war nichts Unaufschiebbares, was ich mit Schakara zu besprechen hatte. Ich wollte ihr nur mitteilen, wer morgen kommen werde. Aber indem ich dies tat, war es, als ob sich in mir alles Verschlossene öffne, um von ihr gesehen, geprüft und bestätigt oder verworfen zu werden. Sie sprach ganz wenig, und fast nur, wenn ich fragte. Und was sie dann sagte, war so selbstlos, so bescheiden und klang doch fest, bestimmt und zaglos sicher. Ich erkannte mehr und mehr, daß sie etwas unendlich Großes, Schönes, Klares in sich trug, und sann darüber nach, wie es zu nennen sei. Es war gewiß das, was wir »Gebildeten« eine Welt-, eine Lebensanschauung nennen, und doch noch mehr, viel mehr! Diese Anschauung erstreckte sich über noch ganz andere Schätze als diejenigen, welche die sogenannte »Welt« und das angebliche »Leben« uns bieten. Indem ich jetzt mit ihr sprach, tauchte der Augenblick wieder vor mir auf, an dem ich sie von meinem Krankenlager aus zum zweiten Male sah[27]: Unweit der Tür saß sie mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah. Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!
Damals waren es Harfentöne, die ich von ihr hörte. Sie spielte, damit meine und Halefs Seele festgehalten werden sollten. Jetzt waren es Worte, die ich von ihr vernahm; aber Alles, was und wie sie es sagte, hatte eine tiefe, innige Verwandtschaft mit jenen Harfenklängen. Es war Alles so melodiös, so harmonisch, so voll, so rein, so ganz ohne jede Spur von Dissonanz. Ich sprach weiter und weiter, nur um diese Lippen antworten zu hören, aus denen nichts Trübes, nichts Entweihtes klingen konnte. Es war, als ob ich ihr alle meine Gedanken hinübergeben müsse, um sie geläutert und geklärt dann wieder in Empfang zu nehmen. Hatte Marah Durimeh das gewußt, als sie schrieb, daß ich der Geist sein solle, sie aber die Seele, meine Schwester? Psychologie, nicht theoretisch, sondern praktisch gelehrt! Nicht aus wissenschaftlichen Leitfäden getüftelt, sondern aus dem Geistes- und Seelenleben direkt und ohne Deutelei herausgegriffen!
So saßen wir viel länger, als ich beabsichtigt hatte, beieinander, bis Kara Ben Halef mit seinem Barkh kam und mir meldete, daß es ihm gelungen sei, meinen Auftrag auszuführen, ohne von Jemand gesehen zu werden. Er habe die betreffende Stelle genau untersucht und sei überzeugt, daß kein anderer Fuß sie inzwischen betreten habe. Da es Zeit zum Abendessen war, so forderte ich ihn auf, mit uns zu kommen, um an demselben teilzunehmen. Er lehnte aber ab, weil er für die langsame Abkühlung Barkhs zu sorgen habe, damit dieser ja nicht etwa verschlage. Er war in Allem, was in seinen Händen lag, so wohlbedacht, gewiß mehr ein Erbteil von seiten seiner Mutter als seines Vaters, des oft nur allzu schnellen Hadschi, dessen lebhaftes Temperament der ruhigen Ueberlegung gern aus dem Wege ging.
Nach dem Essen zog ich mich hinauf zu mir zurück, um Alles, was ich von den Sachen des Ustad zu verbrennen hatte, einer vorherigen Prüfung zu unterwerfen. Ich gewann da einen tiefen Einblick in sein Leben, in sein menschenfreundliches Wollen und Empfinden. Die Zeitungen widerten mich an. Ich hatte erklärt, sie nicht durchlesen zu wollen, und tat es auch nicht. Aber indem ich die Blätter einzeln durch meine Hände gehen ließ, blieb mein Auge doch zuweilen an dieser oder jener Stelle haften, und dann flog der zerknitterte Bogen so weit wie möglich fort von mir. Man sollte es kaum für möglich halten, mit was für Quatsch und Tratsch und Klatsch sich jenes sonderbare Wesen befaßt, welches denen, die es besitzen, weismacht, daß sie geistreich seien! Wenn der Ustad das Alles wirklich durchgelesen hatte, so war es sicher eines der größten Wunder, daß er der Menschheit seine Liebe noch immer treu bewahrte. Es muß doch etwas Großes um die wahre, nicht geheuchelte, sondern wirklich aus dem Herzen wirkende Humanität sein, wenn sie die Kraft besitzt, auf ihrem allgemein menschlichen Standpunkte selbst gegen diejenigen Widersacher auszuhalten, die sich nicht scheuen, nur mit den Waffen des Sonderinteresses anzugreifen und dabei doch zu versichern, daß sie die Verfechter der allgemeinen Menschheitsrechte, des edlen Menschentums seien. Hinweg also mit diesen Elaboraten! Ich warf sie auf den Herd, brannte sie an, und als die Flamme emporschlug, flog auch die »Rechtfertigung« hinein, die ganz ohne allen Grund geschrieben worden war.
Nachdem ich mich hierauf noch einige Zeit mit den Werken des Ustad beschäftigt hatte, ging ich schlafen und wachte nicht eher auf, als bis draußen an meine Tür geklopft wurde. Daß man mich weckte, mußte eine sehr triftige Ursache haben. Ich stand auf und öffnete. Der Pedehr war es.
»Verzeihe, Effendi, daß ich dich wahrscheinlich im Schlafe gestört habe!« sagte er. »Es wird nicht lange dauern, so ist der Scheik ul Islam da.«
»So zeitig? Woher weißt du es?« erkundigte ich mich.
»Ich sprach gestern abend noch mit dem Chodj-y-Dschuna. Er hielt es für gut, zu wissen, woran man sei. Darum ist er dann fortgeritten, in der Richtung nach Chorremabad. Er kam bis an den Grenzduar der Dschamikun und erfuhr, daß der Scheik ul Islam dort übernachte und heute mit dem frühesten Morgen aufbrechen wolle. Er gebot Verschwiegenheit und ist nun hier, weil du gewünscht hast, daß er anwesend sei. Sonst aber weiß Niemand davon. Wirst du jetzt herunterkommen ?«
»Nein. Schicke mir das Frühstück herauf! Wer kommt Alles mit?«
»Es sind, Herren und Diener zusammen, fünfzehn Personen, alle sehr gut beritten und bewaffnet. Man hat ihnen dort im Duar gesagt, daß kein Fremder ohne die besondere Erlaubnis des Ustad bei uns Waffen tragen dürfe, sondern sie abzugeben habe, sobald er das Gebiet der Dschamikun betritt. Sie haben sich aber geweigert, dies zu tun.«
»Nun, was dann? Hat man sie gezwungen?«
»Nein. Man hat geglaubt, nicht streng verfahren zu dürfen, weil es der Scheik ul Islam sei. Natürlich werden sie auch hier am ersten Hause angehalten. Wenn du willst, werde ich sie unbedingt entwaffnen lassen. Wollen sie es sich nicht gefallen lassen, so mögen sie umkehren, und ich lasse sie von einer Reiterschar begleiten, bis sie über die Grenze sind.«
»Recht so, Pedehr! So gefällst du mir! Es gibt keinen einzigen Menschen, vor dem wir Ursache, uns zu fürchten, hätten, und Furcht ist überhaupt die größte Torheit, die ich kenne. Aber Alles an seinem Ort und zu seiner Zeit! Faust gegen Faust, doch gegen List nichts Anderes als eben auch wieder List! Wenn man mich vor der Schlauheit dieses Scheik ul Islam warnt, werde ich mich hüten, wie ein dummer Bär mit Tatzen dreinzuschlagen. Und wenn wir fünfzehn Personen gleich am Eingange des Duar entwaffnen wollten, müßte ich so viele Dschamikun hinstellen, daß man sich sofort sagen müßte: die haben gewußt, daß wir kommen! Und grad das soll ihnen doch verheimlicht werden! Lassen wir es also laufen, wie es läuft! Ihr beide, nämlich du und der Chodj-y-Dschuna, habt sie mit allen Zeichen der Ueberraschung zu empfangen und in die Halle zu führen, wo Ihr Euch mit ihnen unterhaltet, bis ich komme.«
»Soll ich dich holen lassen?«
»Nein. Um die Ansicht, daß wir nichts gewußt haben, zu verstärken, sagst du, daß ich nicht daheim sei, sondern einen Spaziergang gemacht habe. Das werde ich auch tun, doch gar nicht weit. Ich sorge dafür, daß ich ihre Ankunft bemerke, und werde mich dann in der Halle einfinden. Jetzt geh! Also mein Frühstück möglichst schnell!«
Er entfernte sich und schickte es mir sofort herauf. Als ich es eingenommen hatte, schloß ich bei mir zu und ging in die Wohnung des Ustad, um die goldene Karte des Schah zu mir zu stecken. Es war leicht möglich, daß ich sie brauchte. Dann schloß ich auch hier zu und ging, aber nicht die Treppe, sondern hinten den Glockenweg hinab, der nach dem Garten, dem Bade und der Pferdeweide führte. Ich sah Niemand, der mich bemerkte. Da es mir darauf ankam, die Ankunft des Scheiks ul Islam zu beobachten, so suchte ich einen Ort, von welchem aus es möglich war, dies unbemerkt zu tun. Der ganze, lange Rand des Gartens und der Weide war mit dichtem Gebüsch eingefaßt, hinter welchem die Gigantenmauer senkrecht niederfiel. Durchdrang ich dieses Strauchwerk bis zur Mauerkante, so bot sich mir dann dort die freie Aussicht, die ich wollte. Ich wendete mich also nach einer Stelle, wo eine Lücke durch die Büsche zu führen schien, sah aber, als ich sie erreichte, daß sie nicht ganz hindurchführte. Sie war vielmehr wie eine Laube geformt und rundum mit einer Rasenerhöhung zum Niedersetzen versehen. Das Grün war hier so wirr und dicht, daß man nicht einmal hindurchsehen und also noch viel weniger hindurchdrängen konnte, ohne Aeste und Zweige loszubrechen. Aber gleich daneben standen einige Tamarisken so, daß ich mich zur Not hindurchdrängen konnte, ohne sie zu beschädigen. Ich tat es, konnte aber nicht ganz bis vor kommen, sondern mußte mich dann nach der Seite, also hinter die Laube, wenden. Dort fand ich, was ich suchte. Es gab genug Zweige, mich vollständig zu verstecken, und doch so viele Oeffnungen zwischen denselben, daß ich das ganze Tal und auch, nur einige Windungen abgerechnet, den zu uns heraufführenden Weg übersehen konnte. Ich machte es mir so bequem wie möglich und richtete mich auf längeres Warten ein, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn eben, als ich mich lang ausgestreckt und den Kopf in die Hand gestützt hatte, kam von rechts unten eine Reitertruppe, die keine andere als diejenige des Scheik ul Islam sein konnte. Ich zählte freilich mehr als fünfzehn Pferde, doch kamen die überzähligen auf die Dschamikun, welche ihm von dem Grenzduar aus das Geleit gegeben hatten.
Fünf der Tiere waren nach reicher, persischer Reschma-Art geschirrt, eines von ihnen ganz besonders auffallend. Der Mann, welcher auf diesem saß, trug einen Taki-Turban von ungeheurem Durchmesser auf dem Haupte. Von dieser, mit einigen hohen, bunten Federn geschmückten Wulst ging ein weißer Schleier, welcher wie ein Mantel nicht nur den Reiter, sondern auch den ganzen hintern Teil des Rosses bedeckte.
Sollte diese so in die Augen fallende Gestalt etwa der fromme Würdenträger sein? Der Demütige? Der Mann mit den leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen? Indem ich mir diese Frage vorlegte, betrachtete ich auch die Andern, welche völlig schmucklos ritten und natürlich dienstbare Personen vorstellen sollten. Einer von diesen hielt sich ganz am Ende. Er trug einen sehr gewöhnlichen Taki-Anzug, saß aber auf einem Pferde, welches meine ganze, übrige Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Entfernung war zu groß, als daß ich Einzelheiten bemerken konnte, aber dieser Adel in der Haltung, diese Lebensfülle in jeder Bewegung, diese graziöse Sicherheit des Schrittes und dieses spannkräftige Selbstbewußtsein trotz der Schenkel und Zügel, das war mir genug zu der Annahme, daß es das beste, das wertvollste Pferd von allen fünfzehn sei – — ein Hellbrauner mit zwei weißen Vorderstiefeln!
Der Trupp bog nach dem Wege zum hohen Hause ein. Weil hierdurch die Entfernung sich stetig verringerte, bekam ich dieses Pferd immer deutlicher zu sehen, und indem ich es auf einen Kaufwert von ganz sicher wenigstens neuntausend Mark deutschen Geldes abschätzte, sagte ich mir, daß der Daraufsitzende unmöglich zu den Sijas[28] gehören könne.
Es waren also sonderbarerweise zwei Personen, welche mir nicht als das vorkamen, für was man sie allem Anscheine nach halten sollte. Der Weißverschleierte und der letzte Reiter waren beide höchst wahrscheinlich in ihrer äußern Erscheinung darauf berechnet, uns zu täuschen. Der Eine sollte höher, der Andere niedriger erscheinen, als er eigentlich stand. Die Würde des Ersteren konnte mir gleichgültig sein, die des Letzteren aber nicht. Wenn von diesen Leuten einer überhaupt mehr war, als er zu sein schien, so hatte ich gewiß alle Veranlassung, mit meiner Vermutung nicht nur bis zur nächsten, sondern gleich bis auf die höchste Stufe zu steigen: Der vermeintliche Reitknecht war der Scheik ul Islam selbst!
Indem mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Tifl, welcher drüben auf dem Wege erschien, um aus irgend einem Grunde hinab nach dem Duar zu gehen. Er wußte nichts von der Ankunft dieser Leute und blieb darum überrascht stehen, als er sie erblickte. Als sie ihn erreichten, sprach er auf sie, und da war es mir höchst interessant, zu bemerken, daß ihn die voranreitenden Vornehmen von sich ab und auf den letzten Reiter verwiesen. Das war ein Umstand, durch welchen meine Vermutung fast zur Gewißheit erhoben wurde.
Er winkte den Andern zu, weiter zu reiten, und blieb bei Tifl stehen. Dieser Wink verriet mir, daß er der eigentlich Befehlende sei. Sie sprachen eine kleine Weile miteinander; dann ließ der Fremde seinen Hellbraunen wieder vorwärtsgehen, und Tifl kehrte um und schritt, sich lebhaft mit ihm unterhaltend, an seiner Seite, bis beide hinter der letzten, obersten Biegung des Weges verschwanden.
13
Polnischer Aermelmantel für Frauen.
14
Türkisch = Geliebter.
15
Kaiserlicher Prinz.
16
Sonntag.
17
Lehrerin.
18
Modell.
19
Logik, Denkschärfe.
20
Speisetischchen.
21
Erle.
22
Berg der Feindschaft.
23
Holunder.
24
Richter des geschriebenen Gesetzes.
25
Pferderennen.
26
Assessor.
27
Band III pag. 267.
28
Reitknechten.