Читать книгу Das Dorf: Der Streit - Karl Olsberg - Страница 5
Оглавление2. Heiliges Brot
Jemand drischt mit dem Schmiedehammer seines Vaters auf Primos Kopf herum. Jedenfalls fühlt es sich so an. Er versucht, die Augen zu öffnen, schließt sie jedoch rasch wieder, weil das Licht viel zu grell ist.
„Oh!“, stöhnt er. „Oh, mein Kopf!“
„Primo!“, ruft Golina. Sie klingt besorgt und erleichtert zugleich. „Wie geht es dir?“
„Nicht so gut.“ Sein Mund fühlt sich trocken an, und er kann kaum sprechen.
„Hier, trink das!“, sagt sein Vater. Wieso ist er plötzlich in Willerts Hütte?
Primo öffnet vorsichtig ein Auge. Als er sich an das grelle Licht gewöhnt hat, erkennt er, dass er nicht mehr in der Hütte im Wald ist, sondern in seinem Bett zuhause. Porgo, Golina, Kolle und Margi sind bei ihm und blicken sorgenvoll auf ihn herab. Sein Vater hält ihm eine Glasflasche mit einer roten Flüssigkeit hin.
„Was ... was ist das? Hat Ruuna das etwa gebraut?“, fragt Primo misstrauisch.
„Nein. Das ist ein Heiltrank. Ich habe ihn von dem Fremden eingetauscht.“
„Der Fremde ist zurück?“ Primo versucht, sich aufzusetzen, wobei das Pochen in seinem Schädel intensiver wird.
„Trink jetzt erst mal!“, sagt sein Vater.
Primo gehorcht. Die Flüssigkeit schmeckt nicht besonders gut, aber bald geht es ihm besser.
„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragt er.
„Kolle hat dich getragen“, erklärt Margi. „Wir dachten, es ist besser, wenn wir dich nach Hause bringen. Ruuna wollte dir einen Trank brauen, der dich wieder gesund macht, aber Willert hat es nicht erlaubt. Die beiden haben sich ziemlich gestritten deswegen.“
„Ich hab mir solche Sorgen gemacht!“, sagt Golina.
Primo lächelt. Es ist irgendwie schön, dass sie seinetwegen besorgt war. „Vielleicht esse ich in Zukunft lieber keinen Kuchen mehr, den Ruuna gebacken hat“, meint er. „Jedenfalls nicht, wenn sie wieder ihr supergeheimes Spezialrezept anwendet. Obwohl, lecker war er schon.“
„Die blöde Hexe hätte dich beinahe umgebracht!“, schimpft Golina.
„Sie ist nicht blöd“, erwidert Primo. „Nur ein bisschen schusselig. Ohne Ruunas Hilfe wäre Kolle ein Nachtwandler geworden.“
„Primo hat recht, Ruuna meint es nicht böse“, stimmt Margi zu. „Aber wir sollten in Zukunft wirklich vorsichtig sein, wenn sie uns etwas anbietet.“
„Meinst du, du fühlst dich wohl genug, um mit in die Kirche zu kommen?“, fragt Porgo.
„In die Kirche? Aber der Gottesdienst ist doch erst morgen!“
„Du warst einen ganzen Tag lang bewusstlos“, erwidert sein Vater. „Vielleicht solltest du dich lieber noch etwas schonen.“
„Nein, ist schon okay. Mir geht es gut. Einen ganzen Tag lang? Wow! Das war aber wirklich ein seltsamer Kuchen!“
Als er aufsteht, schwankt der Boden unter seinen Füßen, und er muss sich bei Golina abstützen. Arm in Arm gehen sie zur Kirche.
Wie üblich schwadroniert Magolus, der Priester, über Notchs Güte und Gnade und darüber, wie wenig die Dorfbewohner diese verdienen, weil sie dauernd seine Regeln missachten. Als er mit seiner Predigt fertig ist, verteilt seine Gehilfin Birta Stücke vom Heiligen Kuchen. Bei dessen Anblick wird Primo übel, und er bringt es nicht fertig, etwas davon zu essen. Birta wirft ihm einen finsteren Blick zu, als sei sein Platz im Nether schon reserviert, weil er es gewagt hat, etwas abzulehnen, das sie ihm anbietet. Doch sie sagt nichts und reicht den Kuchen weiter zu Margi. Die zögert kurz, nimmt dann aber doch ein Stück und isst es. Danach ist Kolle an der Reihe.
„So gehet denn hin in Frieden und befolgt meine ... äh, Notchs Gebote“, sagt der Priester zum Schluss. Die kleine Gemeinde strömt ins Freie. Wie üblich bleiben die meisten Dorfbewohner auf dem Platz vor der Kirche stehen, um noch ein wenig zu plaudern.
„Der Kuchen hat gut geschmeckt“, sagt Margi zu Birta, als diese in Begleitung von Magolus aus der Kirche kommt. „Besser als das Heilige Brot, das in meinem Heimatdorf gereicht wird.“
Magolus‘ Gehilfin wirft ihr einen abfälligen Blick zu. „Du redest Unsinn! Es gibt kein Heiliges Brot!“
„Bei uns im Wüstendorf schon“, beharrt Margi.
„Mag sein, dass ihr da, wo du herkommst, in der Kirche Brot esst, aber es ist auf keinen Fall heilig! Nur Kuchen kann heilig sein. So steht es im Heiligen Buch.“
„In unserem Heiligen Buch steht aber etwas anderes“, behauptet Margi. „Und Notch nahm das Brot und sagte Dank, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Laib, den ich euch hingebe. So steht es geschrieben.“
„Das ist Gotteslästerung!“, keift Birta. „Notch hat seinen Jüngern Kuchen gegeben, kein Brot! Wer etwas anderes behauptet, begeht eine schwere Sünde!“
„Ist doch egal, ob es Kuchen oder Brot ...“, versucht Primo die Situation zu entschärfen. Doch vergeblich, denn jetzt mischt sich Kolle in den Streit ein.
„Wenn Margi lieber Heiliges Brot als Heiligen Kuchen essen will, dann ist das ihr gutes Recht!“, ruft er. Sein Gesicht hat eine leicht grünliche Färbung angenommen.
„Margi kann so viel Brot essen, wie sie will, aber es wird niemals heilig sein, und sie wird auch niemals eine richtige Bewohnerin dieses Dorfs sein, wenn sie nicht anerkennt, dass unser Heiliges Buch das einzig wahre ist und das in ihrem Dorf nur eine schlechte Kopie!“
Margi wird blass, doch sie antwortet nicht. Offenbar traut sie sich nicht, Birta zu widersprechen.
Kolle hingegen hat keine Angst vor Magolus‘ Gehilfin. „Du hast hier überhaupt nichts zu bestimmen!“, schreit er. „Margi ist eine Bewohnerin dieses Dorfs, genau wie du. Wenn sie sagt, das Brot ist heilig, dann ist es heilig. Und wenn dir das nicht passt, kannst du gern verschwinden!“
„Was heilig ist und was nicht, bestimme immer noch ...“, beginnt Magolus, doch Birta unterbricht ihn.
„Ich soll verschwinden? Und eine Fremde darf hierbleiben? Das wird ja immer besser! Erst wird Primo von der Hexe im Wald vergiftet, und jetzt will diese kleine Hexe hier mich aus dem Dorf vertreiben! Aber das werden wir nicht zulassen!“ Sie blickt sich in der Menge der Dorfbewohner um, die sich in einem Kreis um die Streitenden versammelt haben. „Das werden wir doch nicht, oder?“
„Äh, also ...“
„Nun ja ...“
„Ich habe noch ein Hühnchen im Ofen ...“
Magolus hebt die Hände. „Wir sollten uns nun alle wieder beruhigen. Ich bin sicher, nach reiflicher Überlegung wird Margi ihren Irrtum ...“
„Gar nichts wird sie!“, brüllt Kolle. Sein Gesicht hat jetzt eine dunkle, olivgrüne Färbung angenommen und seine Augen leuchten rötlich. „Und wenn du meine Freundin noch einmal eine Hexe nennst, dann kannst du was erleben, du dummes Huhn!“
„Beruhige dich, Kolle“, bittet Margi. „Hexe ist doch gar kein Schimpfwort!“
„Ich nenne diese fremde Gotteslästerin, wie ich will!“, schreit Birta, die ebenfalls vor Wut rot angelaufen ist. „Wenn es nach mir ginge, dann würden alle Fremden aus der Gegend verbannt. Oder noch besser, in die Schlucht geworfen und ...“
„WUAARGH!“ Der Wutschrei, den Kolle ausstößt, lässt alle Anwesenden zusammenzucken. Ehe Primo und Margi ihn zurückhalten können, verpasst er Birta einen Kinnhaken.
„Kolle! Nein!“, ruft Margi entsetzt.
Erschrockene Rufe erklingen aus der Menge:
„Er hat sie geschlagen!“
„Er verwandelt sich in einen Nachtwandler!“
„Rette sich, wer kann!“
„Ich hab’s ja immer gesagt, Fremde sind gefährlich!“
„So ein Quatsch! Kolle ist doch kein Fremder! Außerdem ist Birta selber schuld!“
„Ist sie nicht!“
„Ist sie doch!“
„Wo ist sie eigentlich?“
Während Margi und seine Eltern versuchen, Kolle zu beruhigen, blickt sich Primo verwundert um. Tatsächlich, Birta ist spurlos verschwunden.
„Er hat sie weggezaubert!“, behauptet Kaus, der Bauer.
„Blödsinn!“, widerspricht Olum, der Fischer. „Erst sagst du, Kolle verwandelt sich in einen Nachtwandler, und jetzt soll er auf einmal zaubern können?“
„Vielleicht ist er ja gar nicht Kolle. Vielleicht ist das in Wirklichkeit die Hexe, die sich die Gestalt von Kolle gegeben hat.“
„Ja klar. Und Magolus ist ein verkleideter Nachtwandler, oder was?“
„Wie kannst du es wagen ...“
„Da oben ist sie!“, ruft Golina und zeigt auf das Kirchendach.
Tatsächlich, Magolus‘ Gehilfin steht dort oben und blickt verängstigt auf die Menge herab. Kolles Faustschlag muss sie aufs Dach befördert haben.
„Hilfe!“, jammert sie. „Holt mich hier runter!“
Wieder diskutieren die Dorfbewohner wild durcheinander, was zu tun ist.
„Wir müssen sie da runter holen!“
„Was du nicht sagst!“
„Wieso springt sie nicht einfach?“
„Bist du verrückt? Das ist viel zu hoch!“
„Wir brauchen eine Leiter. Porgo, kannst du nicht eine Leiter machen?“
„Tut mir leid, ich bin Schmied, kein Tischler.“
Während die Versammelten diskutieren, hat Primo eine Idee. Er betritt die Kirche und klettert die Leiter hinauf in das Zwischengeschoss des Kirchturms. In allen vier Wänden sind Fenster. Er schlägt mit seinem Schwert auf das Fenster ein, das auf das flache Dach zeigt, bis es zersplittert.
Birta steigt durch die Fensteröffnung ins Zwischengeschoss und klettert die Leiter hinab. „Bist du verrückt?“, keift sie Primo an, als die beiden wieder vor der Kirche stehen. „Du kannst doch nicht einfach das Kirchenfenster zerschlagen!“
„Schön, dass du so dankbar für deine Rettung bist!“, gibt Primo zurück.
„Es ... es tut mir leid, Birta!“, sagt Kolle, dessen Gesicht inzwischen wieder seine normale Farbe angenommen hat. „Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich ...“
„Schon gut“, sagt Magolus‘ Gehilfin und wirft einen finstern Blick in Richtung Margi. „Du kannst vermutlich nichts dafür. Wahrscheinlich hat irgendjemand deinen Verstand verhext!“
Bevor Kolle sich erneut aufregen kann, zerren Margi und seine Eltern ihn davon.
„Das wird ein Nachspiel haben!“, keift Birta. „Hexen aus der Fremde, die unsere Kirche mit ihrem ekelhaften Brot vollkrümeln und Lügen über das Heilige Buch verbreiten, werde ich in meinem Dorf nicht dulden!“
„Das ist immer noch mein ... ich meine, unser Dorf!“, weist sie Magolus zurecht.
„Komm, wir gehen!“, sagt Primo zu Golina. Zusammen mit ihren Eltern, dem Bauern Bendo und seiner Frau Agia, sowie Primos Vater Porgo verlassen sie den Platz vor der Kirche.
„Vielleicht wollt ihr beide noch etwas spazieren gehen?“, schlägt Agia vor. Sie zwinkert ihrer Tochter zu.
Golina sieht Primo fragend an. „Hast du Lust?“
Primo wüsste nicht, was er lieber täte. Kurz darauf wandern sie Hand in Hand an der Schlucht entlang.
„Wenn man sich vorstellt, dass Birta Margi hier hineinwerfen lassen wollte ...“, sagt Golina.
Primo kann Magolus‘ Gehilfin nicht leiden. Trotzdem hat er das Gefühl, die Situation etwas entschärfen zu müssen. Kolles Wutausbruch hat ihm Angst gemacht, und er befürchtet, dass der Streit das Dorf spalten könnte.
„Sie hat es bestimmt nicht so gemeint“, erwidert er.
„Du nimmst sie auch noch in Schutz?“
„Nein, das nicht, aber ...“
„Ich finde, Kolle hätte ruhig noch etwas fester zuhauen können“, meint Golina, „so dass die blöde Birta bis auf den Kirchturm fliegt.“
Der bewundernde Unterton in ihrer Stimme ärgert Primo. „Er hätte sie nicht schlagen dürfen“, widerspricht er.
„Ach? Du findest also, er hätte seine Freundin nicht verteidigen sollen?“
„Doch, aber ... nicht so. Gewalt ist keine Lösung.“
„Ich finde jedenfalls, Margi hat großes Glück, dass sie einen Freund hat, der sie beschützt und für sie kämpft! Und noch dazu einen so Starken! Ich bin sicher, wenn Margi in Gefahr wäre, dann würde er bis in den Nether und zurück gehen, um sie zu retten!“
„Das würde er bestimmt“, stimmt Primo zu.
„Und?“, fragt Golina.
„Und was?“
„Was ist mit dir?“
„Soll ich etwa für Margi in den Nether und zurück gehen?“
„Nein, du Idiot! Aber was, wenn ich in Gefahr wäre?“
„Du bist aber doch nicht in Gefahr!“
„Nehmen wir an, ich wäre es. Nehmen wir an, ein böser Geist hätte mich in den Nether gezaubert. Würdest du hingehen und mich befreien?“
„Es gibt keine bösen Geister. Und ob es den Nether gibt, ist auch nicht erwiesen.“
„Also bist du ein Feigling. Hab ich’s mir doch gedacht! Margi hat wirklich großes Glück mit ihrem Freund! Er würde alles für sie tun. Ich dagegen ...“ Sie schnieft.
Primo reicht es. Ihn einen Feigling zu nennen! Ihn, der Wüsten durchquert hat und bis zum Sumpf im Norden gegangen ist, um seinen besten Freund zu retten! Der sich mit Nachtwandlern herumgeprügelt und einen uralten Schatz gefunden hat!
„Dann geh doch zu deinem Kolle, wenn du ihn so viel besser findest als mich!“, schimpft er.
Golina bricht in Tränen aus. Wortlos dreht sie sich um und stapft zurück ins Dorf.
Primo blickt ihr ratlos nach. Warum nur müssen Mädchen so seltsam sein?