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GOTTES SCHWIEGERMUTTER

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Die Mutter hatte Kinder und fühlte sich einsam.

Der Jüngere war jahraus, jahrein auf der Universität, genannt die hohe Studi, und wenn er in den heißen Tagen des Hochsommers auf Ferien kam, fragten die guten Bekannten immer:

»Alsdann, Herr Schriftgelehrter, wie viel Papier ist denn heuer wieder draufgegangen?«

Im Laufe der Jahre aber lernten sie vernünftiger fragen, indem sie am Papier die erste Silbe verschluckten.

Dann der Ältere, der war gar schon Gesellpriester zuhinterst im Passeiertale und kriegte jeden Samstag einen Gulden und drei Zwanziger bar auf die Hand, Woche für Woche. Ja, der saß in der Wolle und stak im Winter im Schnee. Zum Glück dauert so ein Winter in Passeier nicht ewig, höchstens dreiviertel Jahr.

Und dann wurde eines Tages der große, braune Holzkoffer mit den drei Fächern und dem kunstvollen Vexierschloß vom Dachboden heruntergeholt und sorgsam vollgepackt für eine weite Reise. Nesthockerl, das liebe, lustige, rosige Mädl, ging fort, um niemals wiederzukehren. Gott wollte sie sich weihen. Das hatte ihr der Pater Angelus so herrlich schön ausgemalt. Und nun wollte sie sich vor der bösen Welt verschließen in ein streng versperrtes Frauenkloster. Und noch dazu gar außer Land, weit fort über die Grenze; wahrscheinlich, weil wir in Tirol daheim keine Klöster haben.

Die Mutter weinte bitterlich, da sie wieder ein Kind verlor, aber der Pater Angelus verwies es ihr:

»Mutter, Ihr weint? Wieder eines aufgehoben mit Leib und Seele, für Zeit und Ewigkeit, und braucht sich nicht auf gut Glück herumzuschlagen in der lumpigen, grundverderbten Welt! Auf den Knien danken sollt Ihr, Mutter, für die Gnade. Eure Tochter eine Braut Christi, könnt Ihr das fassen?«

»Wenn sie eine Braut Christi ist«, lächelte die Mutter unter Tränen, »dann wär ja ich eigentlich gar Gottes Schwiegermutter!«

Nun konnte die Mutter ihre Kinder nicht mehr segnen, wie sie es daheim jeden Abend getan. So machte sie allabendlich drei Kreuze in die Luft und sandte sie vom Stubenfenster aus in die Weite; das eine, größte mit einem leisen Seufzer der Universität zu, eines gegen das felsige, windige Passeiertal und das dritte über die Grenze in die Fremde.

Sooft der Mutter etwas glückte und gut ausging, schob sie den Erfolg auf das Kind im fernen Kloster.

Der gottgeweihte Gesellpriester im Passeiertal hätte Grund zur Eifersucht gehabt.

Aber zu verwundern braucht es einen nicht, wenn die Mutter dem Gebete eines jungen, fröhlichen Kindes, das sich dem Herrgott freiwillig zwischen vier Mauern gefangengab, besondere Kraft zuschrieb. »Bin ja Gottes Schwiegermutter geworden! So eine vornehme Verwandtschaft, ja, die spürt man!«

Freilich, wenn sie abends den Kindern die Kreuze nachgesandt hatte und anstatt zu schlafen in der leeren Kammer herumsaß, da mußte sie oft weinen.

»Wenn man halt Kinder hat und fühlt sich so mutterseelenallein!«

Als wieder einmal der Winter kam und der Holzbauer mit seinen kotigen Stiefeln ins Haus tappte, ob Langes oder Kurzgeschnittenes in den Schuppen komme, da herrschte sie ihn an:

»Nichts, kein Langes und kein Kurzes, gar nichts!«

»Soll sie meinetwegen ihr Bettstatt verheizen!« murrte im Gehen der Bauer.

Das tat die Mutter auch. Allgemach wurde das Gerümpel im Hause kurz und klein gehackt. Mit dem Bügelladen kochte sie Kaffee und wärmte mit den alten, zerlatterten Stühlen den Ofen. Die guten Schränke und Kästen verkaufte sie den Nachbarsleuten.

Als auch die ewig raunzende Bettstatt zerlegt und verheizt war, da schlich sich Gottes Schwiegermutter bei Nacht und Nebel aus dem Heimatland fort, über die Grenze.

Auf der langen Fahrt im Nachtzug dachte sich die Mutter aus: Sie werde der Klosterpförtnerin nicht gleich sagen, wer sie sei; ein Besuch aus Tirol sei da und wolle die Schwester Dominika sprechen. Und wenn die dann ins Sprechzimmer kommt und sieht ihre Mutter dastehn, die wird Augen machen.

Als die Mutter in der Station ausstieg, sah sie vor dem Bahnhof einen Wagen stehn; in den stieg sie gleich ein, denn zu Fuß wäre es ihr zu langsam gegangen; und wenn man schon einmal Gottes Schwiegermutter ist, dann will man doch ein bißchen vornehm ins Kloster einfahren.

Nachdem sie zwei-, dreimal den eisernen Glockengriff gezogen hatte, wurde auf den Steinfliesen hinter der Klosterpforte ein Geschlürfe vernehmbar. Die Pförtnerin öffnete das Tor ein wenig und fragte: »Liebe Frau, was wünschen Sie?«

»Bitt, die Schwester Dominika rufen, ein Besuch aus Tirol wär da!« »Ist nicht zu sprechen! Wer tun Sie denn sein?«

Dachte sich die Mutter: »Mit den Klosterleuten kann man schon gar kein Späßchen haben«, und sagte gradewegs heraus:

»Die Mutter bin ich!«

Diese Worte zaubern plötzlich Leben in das welke Mienenspiel der Torwärterin., »Ach du lieber Gott«, seufzte sie auf. »Die Mutter tun Sie sein? Bitt nur einen Augenblick, gleich werd ich’s der ehrwürdigen Mutter Oberin melden!«

Hastig schob sie die Mutter in das Sprechzimmer und trippelte eilig davon. Sie schien froh, so schnell aus der beklemmenden Nähe zu kommen. Die Mutter aber dachte sich:

»Aha, der hab ich jetzt Füß gemacht!«

Und ließ kein Auge mehr vom Sprechgitter. Bald war in dem abgegitterten Raum des Sprechzimmers ein Rauschen vernehmbar, und gleich darauf schob sich die ehrwürdige Gestalt der Oberin mit dem weit ausladenden, blühweißen Kopfschleier ans Sprechgitter vor.

»Gelobt sei Jesus Christus!«

»In Ewigkeit, Amen!«

»So? Die Mutter sind Sie, liebe Frau? Nehmen Sie Platz!«

Sie räusperte ein Weilchen, dann fing sie gedrückt an, während ihre Finger verlegen mit dem an der Lende hängenden Rosenkranz spielten:

»Denken Sie, so ein fröhliches Kind, die Schwester Dominika, blühend wie eine Rose, ja; und vor drei Tagen fällt sie beim Frühchor zusammen, ja, und jetzt liegt sie in der Zelle, Fieber über Fieber! Nicht weinen, liebes Mutterl, ja, es wird schon wieder gut werden, wir stehen alle in Gottes Hand, ja; ich hab selber schon zwei Lungenentzündungen durchgemacht, und da schauen Sie mich an!«

Und sie reckte ihre kräftige Gestalt nach allen Richtungen, um die Mutter von der Machtlosigkeit zweier Lungenentzündungen zu überzeugen.

»Mutterl, der Doktor hat auch gute Hoffnung, er ist gerade bei ihr droben.«

Draußen wurden grobe Tritte hörbar. Die Priorin lauschte gegen den Gang hinaus.

»Mir scheint, da kommt er eben zurück!«

Sie verschwand auf einen Augenblick durch die kleine Seitentüre, um gleich darauf wieder mit dem Doktor einzutreten.

»Sie sind also«, begann dieser, »die Mutter von der, na Teufel, wie heißt sie denn gleich«, ein Schnalzer mit dem Daumen kam seinem Gedächtnis zu Hilfe. »Dominika, ja! Na, zum Lachen ist der Fall grad nicht!«

Die Mutter starrte mit ihren graublauen Augen in unsäglicher Angst den Doktor an.

»Papperlapapp!« wehrte der ab. »Ich mein damit gar nichts! Junges Leben vertragt schon einen Puff, nur nicht gleich verzagt! Abwarten, immer abwarten!«

Und summend trollte er sich zur Türe hinaus.

Die Mutter schien sich die längste Weile mit einem schüchternen »Dürft ich nit« oder »Ich möcht recht schön bitten« um irgendein Anliegen herumzudrücken.

»Aber ja, liebs Mutterl«, drang die Oberin in sie. »Reden Sie nur, schenieren Sie sich nicht!«

Und da rückte sie endlich heraus:

»Weiß wohl, es ist ein versperrtes Kloster mit strenger Klausur, aber lassen Sie mich zu ihr in die Zelle hinein!«

»Aber von Herzen gern, wenn nur die Klausur nicht war! Also gedulden Sie sich acht, vierzehn Tage! Bis dort ist das arme Kind hoffentlich aus dem Ärgsten heraus, und da lassen wir es auf einem Sessel zu Ihnen heruntertragen in das Sprechzimmer, und da können Sie dann zusammen plaudern den ganzen Tag! Was hätten Sie denn bei ihr droben, wo das arme Schwesterl im Fieber liegt und niemanden kennt und nicht einmal weiß, ob’s Nacht ist oder Tag! Also Geduld, Mutterl, Geduld!«

Die Mutter seufzte ein schweres »In Gottes Namen!« und fügte sich frommgläubigen Sinnes.

»Aber beten will ich«, fuhr sie plötzlich auf, während ihr die Zähren über die Wangen liefen. »Tag und Nacht werd ich dem lieben Gott in die Ohren schreien, und kein Frieden geb ich ihm, und sekkieren werd ich ihn, bis er endlich sagt: Tun wir ihr den Gefallen, der bösen Schwiegermutter!«

Die Oberin hatte der Mutter ein an das Sprechzimmer anstoßendes Gastgemach als Wohnraum angewiesen. Es war ein freundliches, helles Stübchen mit blühweißen Gardinen und Blumen vor den Fenstern. Da richtete sie sich häuslich ein, spann und nähte, schluchzte und betete und malte sich das Wiedersehen aus, wenn sie ihr das Kind zum ersten Mal auf einen kleinen Plausch von der Zelle herunterbrächten. Sooft sie den Doktor an die Pforte kommen hörte, warf sie flugs alle Arbeit weg. Da nähte sie keinen Stich mehr zu Ende und strickte keine Masche aus. Im Nu war sie aus dem Stübchen und hinter ihm her. Während der vor der kleinen Klausurtür ungeduldig auf das Aufsperren wartete, musterte ihn die Mutter mit neidischen Blicken: »Mein Gott, haben Sie es gut, Herr Doktor!«

»So?« lachte der ärgerlich. »Tags nicht Zeit zum Essen, nachts keine Stunde Ruh! Teufel, hab ich’s gut!«

Wenn sich dann die Klausurtür in den Angeln drehte, starrte sie mit gierigen Augen durch den Spalt in den dämmerigen Gang hinein und lauschte, solange noch des Arztes schwerer Tritt auf der Holztreppe hallte, die zu den Zellen führte.

»So ein Doktor hat’s gut!«

Gottes Schwiegermutter stand auf den kalten Fliesen des Klosterganges und harrte mit klopfendem Herzen knapp vor dem Türl, wie ein ausgesperrter Hund, bis der Doktor zurückkam. Dann durchsuchten ihre grauen Augen jedes Mal angstvoll seine Miene und durchstöberten jedes Fältchen auf seinem Gesicht.

»Frisch auf, Mutterl, wir bringen sie durch! Sie werden schon sehen!« Solche Worte malten eine jähe Röte auf ihre verhärmten Wangen, und dann ging ein Fragen an, daß es nur so sprudelte.

»Ist sie recht bleich? Keinen Tropfen Blut wird sie mehr im Gesicht haben, was? Und früher so eine frische Farbe gehabt! Fragt sie nach mir? Mein Gott ja, Sie wollen es mir nur nicht sagen!«

Der vielbeschäftigte Arzt sagte nur immer:

»Ja, ja! Na, na! Papperlapapp! Freilich! Mhm!« und schielte sehnsüchtig nach der Pforte. Die Mutter hielt ihn aber immer wieder am Ärmel fest, er mußte sich Schritt für Schritt bis zur großen Pforte durchkämpfen.

Dann schlurfte sie wieder fürchtend und hoffend in ihr Stübchen und bearbeitete den lieben Gott bis tief in die Nacht hinein:

»Ich gib ihm keinen Frieden, ich laß ihm keine Ruh, der soll seine Schwiegermutter spüren!«

Späterzu wurde der Doktor immer verdrießlicher und endlich so borstig wie ein Igel. Er konnte die ewige Fragerei nicht leiden. »Machen Sie mich nicht zuwider«, fuhr er die Mutter an und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Ich hau noch die ganze Medizin zum Teufel, meiner Seel, lieber Steineklopfen!«

Einmal kam er aus der kleinen Klausurtüre und sah nicht rechts noch links. Er sagte nichts, und die harrende Mutter fragte nichts. Sie sah ihm nur nach, wie er so murrig durch den Vorraum polterte. Als sein schwerer Tritt auf den Fliesen verhallt und die Türe ins Schloß gefallen war, da war es im Vorraum mäuschenstille, und doch schrie etwas fürchterlich auf.

Die Mutter lief zur Klosterglocke und riß an dem rostigen Griffe, daß es läutete wie zum Sturm.

Erschrocken eilte die Torwärterin herbei.

»Die Schwester Oberin soll kommen!«

Als die Schwester Oberin kam, sagte die Mutter:

»Ehrwürdige Schwester, das Türl aufmachen! Es geht zu End!«

»Arme Mutter, es ist hart, hart! Aber wir haben strenge Klausur, tun Sie es aufopfern!«

»Ich kann nimmer!«

»Aber Sie sind ja so ein frommes Mutterl! Denken Sie an die Schmerzensreiche, was die gelitten hat!«

»Die hat’s leichter ghabt als ich! Hat unter dem Kreuz stehen dürfen bei ihrem Sohn! Aufsperren!«

»Aber wenn wir nicht dürfen, Sie haben es ja früher gewußt, daß unser Orden so streng ist! Opfern Sie es auf, tun Sie es aufopfern und ergeben Sie sich in Gottes heiligsten Willen!«

Die Mutter wehrte mit der Hand den Wortschwall ab und sagte nur: »Schwester Oberin, Sie sind halt keine Mutter!«

Die Klausurtüre blieb verriegelt.

Ja, es ist bei aller Ehre kein Spaß, mit Gott verschwiegert zu sein!

Nun umkreiste Gottes Schwiegermutter wie eine Diebin lauernd und spähend das Klösterlein mit den hellgetünchten Mauern und schlich das kleine, blinde Gäßchen entlang, an dem sich die Seitenfront dehnte.

Dort oben rechter Hand das schmale Fenster war’s, mit dem herabgelassenen Vorhang aus grauem Tuch und dem matt durchschimmernden Lichterschein. Die Mutter starrte mit zwei großsternigen, gierigen Raubtieraugen zum Fenster empor, sie dehnte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, als wollte sie sich bis an das Sims hinan recken.

Dann trieb es sie wieder ruhelos zurück, hinein in den Schuppen. Und suchte da herum, ganz wirr und verloren, bis endlich der halbblöde Klosterknecht fragt:

»Was sucht denn die Frau Mutter?«

»Eine Leiter such ich, Jakob! Grad eine Leiter tu ich suchen!«

Da sagte der Knecht: »Wir haben keine Leiter, bei uns wird nit gfensterlt!«

Wieder irrte sie im dunkelnden Abend aufwärts gegen das dunkle Gäßchen und setzte sich unter das Fenster hin:

»Wenn ich ihr nur dürft die Kopfpolster zurechtrichten! Die da drinnen wissen es ja nicht, wie sie es von klein auf gewohnt ist! Allweil so mehr links ist sie gelegen, so halb hoch, den oberen Polster ein bissel zusammengewurstelt und den unteren vorgeschoben. Oh, so gut tät ich’s wissen!«

Gott holte seine junge Braut bald heim. Ihr Leben war wie ein Lerchenflug: von der Erde weg jubilierend, Gott preisend hoch auf in die Luft, und in jähem Flug wieder nieder in das Gras, lautlos in den Boden hinein.

Im kleinen Klosterkirchel liegt die junge Schwester aufgebahrt, der schmucklose Sarg nach Ordensbrauch auf ebener Erde, der Deckel offen. Sie ruht im blühweißen Ordenskleid, an dem Kopfschleier ein kleines Myrtensträußchen (sie war ja Christi Braut) und um die zarten Finger den Rosenkranz gewunden; im Tode noch jung und schön.

Die Leute aus der Umgebung kamen scharenweise zum Weihbrunngeben.

Da sagte die Mutter zum Klosterknecht: »Jakob, ich will auch hinauf in das Kirchl, will sie sehen, du mußt mich begleiten!«

Darauf meinte der Knecht:

»Warum denn nicht, ich geh schon mit!« Und ging mit der Mutter.

Es begegneten der Mutter auf dem schmalen Wege zur Klosterkirche genug Leute; die wichen ihr zu beiden Seiten aus und drängten sich an die Mauer, um ihr den Weg freizulassen. Als die Mutter in die dämmerige Kirche trat, stießen die Besucher einander mit den Ellbogen an, beendigten rasch ihre Gebete und drückten sich scheu zur Kirchtür hinaus. So neugierig und fürwitzig sonst Kirchenleute sind, es gelüstete niemand danach, diese Mutter mit ihrem Kinde zu belauschen.

Die Mutter trat auf den Sarg zu und rechtfertigte ihr spätes Kommen:

»Ich wär schon früher kommen, aber sie haben mich nicht hineingelassen!«

Die Worte hallten in der leeren Kirche wider, aus den heiligen Nischen heraus, von der Decke herab, hinter dem Hochaltar hervor, aus jedem Winkel der Kirche schrie es und klagte die Menschen an: »Nicht hineingelassen!«

So daß selbst der Klosterknecht, verwundert den Kopf schüttelnd, meinte:

»Sapperament, das hätt ich nie glaubt, daß das kleine Kirchel da ein fünffaches Echo hat!«

Die Mutter sagte kein Wörtlein weiter, sie starrte nur eine lange Weile auf die Tote hin. Wer könnte beschreiben, was ihr da durch den Kopf ging? Endlich zupfte sie den Klosterknecht am Joppenärmel :

»Jakob, meinst, ist sie wohl wirklich tot?«

»Warum soll sie denn nicht tot sein«, gab der Knecht zur Antwort und stierte verständnislos die Mutter an.

Nach einem Weilchen zupfte ihn die Mutter wieder:

»Jakob, sie zuckt mit dem Augenlid! Jetzt wieder!«

Der Knecht sah eine Weile scharf auf die Tote hin, dann sagte er:

»Da zuckt nix, da kann die Frau Mutter ganz ruhig sein!«

Der Knecht sah recht, aber die Mutter wollte es sich nicht nehmen lassen, daß noch Leben in ihrem Kinde sei. Da nahm der Knecht die verwitterte Flaumfeder von seinem alten Filzhut und hielt sie der Toten ganz nahe vor Mund und Nase hin:

»Frau Mutter, wenn nur ein Fünkel Atem drin war, dann müßt sich doch eins von den vielen kleinwinzigen Flaumflinserln rühren!«

Die Mutter beugte sich ganz über die Tote hin, hielt den Atem ein und sah nach der Flaumfeder. Nach einer Weile sagte sie:

»Kein Flimmer rührt sich!« Und erhob sich langsam vom Boden.

»Na also«, brummte der Knecht und steckte sich die Flaumfeder wieder auf den Hut.

Die Mutter sagte kein Wort mehr und wandte sich zum Gehen. Ihre Augen blieben trocken. Sie konnte nicht weinen; da wäre ihr leichter gewesen.

Vor der Kirche standen viele Leute beisammen, die sahen alle mit Erbarmen Gottes Schwiegermutter nach, wie sie so dahinschritt. Das eine und andere sagte auch halblaut, daß es die Mutter hören konnte: »Arme Mutter!«

Aber die Mutter wollte das Erbarmen der Leute nicht. Sie biß die Zähne fest aufeinander, ging mitten durch sie durch und ließ ihr Elend nicht merken, denn es dünkte sie viel zu groß für das Erbarmen der Leute.

Caritas

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