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Kapitel 1
ОглавлениеI. Bella
(1828.)
I.
Am Gesundbrunnen zu R. stellte sich vor einigen Jahren ein junges Paar ein, welches die Aufmerksamkeit
sämmtlicher Badegäste auf sich zog. Der Mann ein bleicher, düsterer Dreißiger mit scheuem Blick und verlegenem
Benehmen! die Frau vielleicht zehn Jahre jünger, ein Bild der sittsamsten Anmuth, doch sicher und frei in ihrem Wesen.
Beide waren sichtbar krank, auch trotz einer gewissen Zierlichkeit in Tracht und Haltung ziemlich dürftig. Man sah
sie nur des Morgens am Brunnen, sonst in keinem geselligen Kreise. Desto höher steigerte sich das Interesse, welches
Männer und Frauen für Frau und Mann nährten. Diesem Interesse gesellten sich bald Neugierde und – Argwohn. Die
jungen Leute schienen sich sehr zu lieben; ja, oft glich ihr Verhältniß mehr einer eben geschlossenen glühenden
Verbindung, als einer seit Monaten bestehenden Ehe. Dann aber sah man sie wieder verstimmt, kalt und unfreundlich
neben einander her gehen.
Das Unglück lag auf ihnen und breitete sich über sie wie ein schwarzer Schleier, durch den, nur umhüllt, die
Schönheit der Frau, der unsichere Feuerblick des Mannes strahlte. Wohl fehlte es nicht an jungen Damen, die jenem
Feuerblicke gern begegnen und sich unter dem Fremden (wir nennen ihn Hugo) einen sehr geistreichen Mann denken
mochten. Aber noch größer war die Zahl junger und älterer Bewunderer, die an Natalien's Bewegungen hingen und im
Salon ziemlich unverhohlen gestanden, daß sie den geselligen Zusammenkünften sehr fehle. Jede Bemühung, das Paar
dorthin zu locken, blieb fruchtlos. Beide wiesen alle Einladungen zurück, erwiederten keinen Besuch und schnitten so
den hoffnungslosen Verehrern die Aussicht auf nähere Bekanntschaft ab. Daß es mir gelang, der Freund Hugo's zu
werden, verdank' ich einem Zufall. Ich würde darüber, so wie über das ganze Ereigniß, meinem Worte getreu, ewiges
Stillschweigen beobachten, hätte nicht der Tod, dieser Entbinder von so mancher treu bewahrten Pflicht, mich auch
meines Versprechens entbunden. Erst vor Kurzem empfing ich aus Paris die Nachricht von Hugo's Tode. Mit ihr
zugleich ein Briefchen von ihm, kurz vor seinem Ende geschrieben, in welchem er mich geradezu auffordert, seine
Geschichte zu erzählen. Er nimmt in diesen mit zitternder Hand geschriebenen Zeilen einen recht rührenden Abschied
vom Leben und mir; deutet, wenn gleich unklar und schwankend, die Hoffnung an, mit geliebten vorangegangenen
Wesen wieder vereinigt zu werden, und erinnert mich in tiefer Wehmuth an die Tage, wo wir uns fanden! – In meinem
Gedächtniß hatten jene Tage und ihre Begebenheiten nur noch dunkel gelebt. Neuere, frischere Lebensbilder hatten sie
schnell verdrängt. Aber Hugo's Zeilen riefen sie mächtig wieder hervor. Das Blatt war von seinen Händen gefaltet,
diese Züge von seiner Feder geschrieben, diese Lettern von seinen Thränen verwischt. Und so sah ich ihn denn vor
mir, wie damals in R., als ich sinnend und schwermüthig über strauchbewachsene Felsen kletternd plötzlich mit ihm
zusammen traf. Wir hatten uns seit drei Wochen täglich in der Brunnen-Allee gesehen; jetzt staunte ich ihn an, als
kämen wir uns zum ersten Male entgegen.
Retten Sie mich, rief er mir zu, retten Sie mich vor dem Alten, er verfolgt mich noch immer! Und mit diesen in
höchster Angst ausgestoßenen Worten warf er sich in meine Arme.
Welcher Alte?
Der Mann mit dem grauen Barte, sprach er und deutete in den Abgrund hinab, aus dem er emporgeklettert war.
Ich folgte seiner Hand mit den Augen und erblickte Niemand.
Unter dem Namen »der Alte mit dem Barte« war ein Franzose im Bade bekannt, der sich schon früher dort
eingefunden hatte, als irgend Jemand von der ganzen Gesellschaft.
Man sagte, er halte in einem abgelegenen Bauernhäuschen eine kranke Tochter verborgen; doch wußte Niemand
etwas Genaues von ihr, und Niemand hatte sie gesehen. Sein Aeußeres war nur abschreckend, deshalb bekümmerte
man sich nicht um ihn; auch ihm schien es gleichgültig, was im Orte vorgehe; ja er verweigerte der Gesellschaft sogar
recht absichtlich die gewöhnlichsten Höflichkeitsbezeugungen. Was er mit diesem Alten zu schaffen habe, war natürlich
meine erste Frage an Hugo.
Was ich mit ihm zu schaffen habe? Was ich mit ihm zu schaffen habe? Weiß ich's, den er verfolgt wie ein
Gespenst? – Was haben Sie mit einem Traume zu schaffen, der Nacht für Nacht Sie ängstigt und endlich sogar am
Tage, in Gottes heiterm Sonnenlichte vor Ihnen aufsteigen will? – Ich kenne ihn nicht, ich weiß Nichts von ihm! und
doch wird mir bange, wenn ich ihn sehe. Heute, von häuslichem Kummer belastet – meine arme Frau ist wieder krank
– benütze ich einen ruhigen Augenblick, wo sie sanfter schlief, um frische Bergluft zu schöpfen. Kaum bin ich im
Freien, seh' ich ihn hinter mir, und je schneller ich laufe, desto näher ist mir der Widerwärtige. Zuletzt muß es nur sein
Schatten gewesen sein, der zauberhaft an den meinen gebunden ist; denn eben, als ich Sie sah, glaubte ich ihn dicht
hinter mir – und nun sind wir zu Zweien. O verlassen Sie mich nicht und erlauben Sie mir, mit Ihnen zurückzukehren.
Ich faßte den Arm des Geängstigten, und wir traten langsam den Rückweg an. Welche Besorgniß, nahm ich
endlich das Wort, kann Sie, einen starken jungen Mann, zur Flucht vor dem thörichten Greise anspornen? Haben Sie
Gründe zu glauben, daß er Ihnen ein Leid zufügen will? Kennen Sie ihn denn gar nicht? Haben Sie niemals in einem
Verhältniß mit ihm gestanden? – Ich muß, begann Hugo mit mehr Fassung als zuvor, ich muß ihn schon einmal im
Leben gesehen haben. Aber fragen Sie nicht wie, wann und wo? Ich selbst würde glauben, daß auch eine Schuld
gegen ihn auf mir laste, deren Bewußtsein mich in Furcht jagt, wenn ich mich nur auf irgend einen, auch den kleinsten
Umstand besinnen könnte. In Frankreich war ich allerdings früher; – dort habe ich meine Frau kennen gelernt. Dort
auch kann ich das Schreckbild, welches mich hier peinigt, schon gesehen haben. Aber niemals bin ich mit ihm in
Berührung gekommen. Ich müßte es ja wissen! Ich bin ja noch nicht wahnsinnig! Ich weiß ja zu genau, was um mich
her, fühle, ach! zu tief, was in mir vorgeht! Mein Gedächtniß ist nur zu gut; denn oft würde ich mein halbes Leben
darum geben, daß die Vergangenheit minder hell vor mir läge! Warum also schreckt mich der Alte? Sein Blick ist mir
drohend. Wenn er vor meiner Wohnung auf- und abgeht, wag' ich nicht aus der Thür zu treten. Wenn er hinausblickt,
zieh' ich mich vom Fenster zurück. Und Natalie – –
Kennt diese vielleicht ihren Landsmann?
Meine Frau ist eine Deutsche. Aber auch sie fühlt sich beängstigt, wenn er uns begegnet.
Hier brach er ab. Es schien ihm in diesem Augenblick unangenehm, Natalien genannt zu haben, und unser
Gespräch stockte. Wir gingen einen schmalen Bergsteig, im tiefsten Schatten dichtbelaubter Buchen, aus denen
einzelne Tannen und Fichten emporstiegen. Die Einsamkeit der Gegend erweckte noch düsterere Gefühle in meiner
Seele, und der Anblick meines Begleiters war nicht geeignet, mich umzustimmen. Ich hatte nun recht lange Zeit, ihn zu
beobachten. Das bleiche, verlebte Gesicht war reich an Ausdruck von Sanftmuth und Güte. Nur der Schmerz lag auf
diesen edlen Zügen; kein Hohn, keine Bitterkeit. Sollte er wahnsinnig sein? fragte ich mich, und als er nun mich
freundlich ansah, als unsere Augen sich begegneten, mußte ich mir sagen: nein!
Gleichsam um das Unrecht gut zu machen, welches ich stillschweigend gegen ihn begangen, reichte ich ihm die
Hand. Er hielt sie lange und fest. Endlich sprach er mit bebenden Lippen: Sollte mir der heutige trübe Tag in Ihnen
zugeführt haben, was ich vergebens suche, einen Freund?
Es hängt nur von Ihnen ab, mich dazu zu machen.
O das sagen Sie nicht; in diesen Worten liegt eine schwere Grausamkeit. Ja, Sie fühlen sich zu mir gezogen, das
fühle ich, indem ich Ihre Hand fasse, indem ich Ihrem Blicke vertraue. Aber es ist mein Schicksal, mein altes Schicksal,
meine Freunde noch schneller zu verlieren, als ich sie gewann. Auch Sie werden sich von mir wenden, wenn Sie mich
kennen, wenn Ihnen meine Erscheinung nicht mehr neu sein wird. Der zerstörte Unglückliche, der Sie jetzt noch
interessirt, wird Ihnen lästig werden, wenn er Ihnen erst Gelegenheit gab, zu bemerken, daß der Kern seines Lebens
von einem Wurme durchnagt ist. Ja, auch Sie werden sich von mir wenden, und wenn Sie das thun wollen, so thun Sie
es jetzt! Lassen Sie mich hier allein, im tiefsten Walde. Stoßen Sie mich zurück, ehe ich noch zu hoffen beginne, daß
ich Sie Freund nennen darf.
Und lastete ein Mord auf Ihrem Gewissen, Sie könnten nicht wüster, nicht verzweifelter sprechen. Ich würde
lügen, wenn ich Ihnen verschweigen wollte, daß dies Zusammentreffen, daß diese halben Bekenntnisse mir peinlich
sind. Auch gehöre ich nicht zu den Menschen, die als Vermittler, Tröster und Berather der Schwachen auftreten
wollen. Wer so wie ich mit sich selbst und seinem eignen Leben nur zu oft uneinig ist, nur zu oft den stützenden Stab,
den sichern Weg verloren hat, der würde einem mit sich Zerfallenen gegenüber ebenso oft in Verlegenheit gerathen.
Deshalb rufe ich den Genius der Freundschaft, die Sie von mir wünschen, ich rufe Ihr Vertrauen auf. Sagen Sie mir,
was Sie quält, und erwarten Sie von mir volle Aufrichtigkeit. Ich werde Ihnen den Eindruck nicht verheimlichen, den
Ihre Geständnisse auf mich machen. Dann wird es sich bald erklären, ob wir Freunde werden können.
Hugo's Antlitz verfinsterte sich; Auge und Mund zuckten unwillkürlich. Mit einem ganz veränderten Tone sagt er:
Sie halten mich für einen Verbrecher, der vor der Polizei flieht und Sie in Verlegenheit setzen könnte durch seinen
Umgang. Sorgen Sie nicht. Meine Papiere sind in der besten Ordnung, und die Gensd'armen sind mir nicht so peinlich,
als der Alte mit dem Barte. Er wendete sich ab und wollte gehen. Ich hielt ihn nicht zurück. Aber nachdem er einige
Schritte von mir war, kehrte er aus eigenem Antriebe um.
Halten Sie mich für einen Verbrecher?
Ich schwieg und schlug die Augen nieder.
Oder für einen Wahnsinnigen?
Ja, erwiederte ich, für einen zerstörten Menschen, auf dessen Seele ein finsteres Bewußtsein lastet, welches ihm
die Freiheit des Willens, die Klarheit des Denkens raubt, die wir als höchstes Gut des gebildeten Menschen
bezeichnen.
Ich gebe Ihnen Recht, sagte Hugo mit schwerem Athemzuge, dieses höchste Gut habe ich verloren. Aber das
Bewußtsein des Frevels gilt nur als Anklage gegen mich selbst. Ich bin Thäter und Erdulder in einer Person. Nur gegen
mich habe ich gesündigt, nur mir habe ich Böses zugefügt. Eine edle Natur, begabt mit allen Vorzügen des Körpers
und Geistes, trat ich in's Leben; früh entwickelten sich die schönsten Keime zu frischen Blüthen; – – ich habe sie
gebrochen, ehe sie mir oder der Welt Früchte tragen konnten, mit wildem Uebermuthe hab' ich an den kräftigen
Stamm Hand gelegt, habe ihn gerüttelt, daß er bis in's innerste Mark es büßte. Ich habe mein Dasein in Nichts
aufgelöst, habe in eitlem Leichtsinn das Schicksal eines liebenden Weibes an das meine gekettet. Weil ich sie liebte,
hab' ich sie unglücklich gemacht; weil sie ohne mich unglücklich wäre, ist sie durch mich elend geworden. Das ist mein
Leiden. Verpfuscht und verdorben ist mir die Zukunft. Regellos liegen meine Talente um mich her, wie ein verwilderter
Garten, den das Unkraut nun einmal erstickt hat. Zur Erhebung fehlt mir der Muth, zur Verzweiflung die Kraft. Natalie
zieht mich mit Liebesbanden in die Wirklichkeit zurück, der mich die wehmüthige Erinnerung an frühere Zeiten oft
entführen möchte. – – Der Tag verschleicht in nächtlichen Träumen, in halber Thätigkeit und fauler Sehnsucht. Die
Nacht bringt glühende Thränen, grauenhafte Ungeduld. Ja, ich bin auf dem Wege, wahnsinnig zu werden – und würde
es schon sein, wenn Natalie mich nicht umgäbe. So lange sie mich erheitert, ist mir wohler. Jetzt, wo sie kränkelt, weiß
ich mir keinen Rath.
Warum aber ziehen Sie sich so geflissentlich von der Welt zurück, von dem Umgange mit Menschen, der sie
zerstreuen würde?
Sie kennen nicht, war seine Antwort, das Schicksal eines Mannes, der eine schöne Frau hat. Ich bin wahrhaftig
nicht zur Eifersucht geneigt, und gegen Natalien wäre sie Frevel. Aber ich kann die Art der jungen Leute nicht ertragen,
die jeder Schönheit mit mehr oder minder versteckten Ansprüchen nahen. Kommt nun gar ein Paar, wie ich und
Natalie, in die schöne Welt, in die gute Gesellschaft, so heißt es: der Mann ist ein Träumer, ein Genie, er vernachläßigt
die arme kleine Frau, und jeder Laffe glaubt ein Recht auf sie zu haben. Es würde mit Mord und Todtschlag enden.
Und dann kommen die Zierlichen, die mit frühem Morgen nach dem Befinden der »Gnädigen« fragen, und wenn sie
des Mittags mit noch Gnädigeren promeniren, die Gnädige von diesem Morgen kaum noch zu kennen scheinen.
Natalie ist zu gut, ich bin zu heftig – –
Und so wäre Ihre Frau Schuld, daß Sie keinen Freund haben – – ?
Beinahe. Aber auch sie ist Schuld, daß sie keine Freundin hat, denn sie ist eifersüchtig.
Weiß sie vielleicht, daß sie Ursache dazu hat, und weiß sie es vielleicht ebenso gewiß, als Sie von ihr das
Gegentheil? fragte ich halb scherzend.
Hugo wurde feuerroth. Sie sollen sie kennen lernen, sagte er. Ich werde Sie bei uns einführen, sobald Natalie sich
wohler fühlt. Wenn Sie wollen, setzte er gleich darauf argwöhnisch hinzu; wenn Sie den Umgang eines Paares nicht
fürchten, dessen eine Hälfte körperlich – – die andere geistig krank ist.
Ich erwiederte: so passe ich vollkommen zu Ihnen, denn daß ich körperlich krank bin, dafür bürge Ihnen mein
Aufenthalt an diesem langweiligen Badeorte; daß ich es geistig bin, werden Sie zeitig genug erfahren. Vielleicht können
wir uns gegenseitig erheitern.
II.
Ich hütete mich wohl, in der Gesellschaft von dieser neuen Bekanntschaft Etwas laut werden zu lassen. Hugo
schien dies Benehmen zu billigen; denn wenn wir uns vor Zeugen sahen, war er so fremd und gleichgültig, wie früher.
Als ich ihn aber nach einigen Tagen an Natalien's Arm erscheinen sah, gab er mir einen Wink, der mir deutlich sagte,
daß er nun meinen Besuch wünsche. Ich machte mich von einer Lustpartie, welche die ganze Gesellschaft an diesem
Tage nach einem benachbarten Berge unternahm, durch nichtigen Vorwand los und ging, nicht ohne Besorgniß, dem
entlegenen Häuschen zu, an dessen Thür mich Hugo schon erwartete. Gottlob, daß Sie mich verstanden haben, rief er
mir entgegen, Sie sind mir heute doppelt willkommen; seit einer Stunde streift der Alte mit dem Barte hier auf und ab,
und einmal machte er schon eine entschiedene Bewegung, in die Thür zu treten.
Natalie empfing mich sehr freundlich. Ich muß Ihnen danken, sagte sie, daß Sie Hugo's Bitten Gehör gegeben, und
will nur um unser Aller Willen wünschen, daß Sie es nicht sehr bald bereuen mögen, in ein Haus getreten zu sein,
dessen Bewohner wunderliche Leute sind. Es giebt übrigens eine Art von stillem Wahnsinn, der sich noch am
leichtesten ertragen läßt. Von einer solchen ist der unsrige, und bis auf einen gewissen Punkt werden Sie mich, denk'
ich, ziemlich vernünftig finden.
Ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte, stotterte endlich Etwas von längst gehegten Wünschen einer
solchen Bekanntschaft.
Hugo lachte höhnisch. Ja, sie wünschen es Alle hier, die charmanten Leute. Läßt man sich doch, wenn man einmal
in Pirna ist, gern auf den Sonnenstein locken. Nun, fürchten Sie Nichts, wir wollen uns heute recht gut aufführen. Dies,
liebe Natalie, ist der Mann, den ich eben im Walde kennen lernte, als Du neulich krank warst und der Alte mich
verfolgte. Ich bin diesem Herrn für seine Güte und Geduld viel Dank schuldig. Unterhalte ihn, so gut Du kannst, ich
muß mich zur Ruhe legen. Diese ganze Nacht (fuhr er zu mir gewendet fort) hab' ich kein Auge zugethan; die Hitze ist
drückend. In einer Stunde bin ich wieder hier! – Er ging. Ich war allein mit Natalien. Es herrschte ein langes
Stillschweigen. Nachdem sie mich einige Male fragend angesehen, nahm sie das Wort:
Was mögen Sie nur von uns denken, mein Herr? – Rechnen Sie es nicht einem Mangel an Zartgefühl, rechnen Sie
es vielmehr der Seltsamkeit unserer Lage zu, wenn ich unsere Bekanntschaft damit eröffne, Ihnen von mir und meinen
Verhältnissen zu sprechen. Ich weiß, es ist wider die Formen der großen Welt. Es ist in einem Bade am wenigsten
angebracht, wo man sich nur begegnet, um sich bald wieder, oft für immer, zu trennen. Da pflegen nur die
oberflächlichsten Erörterungen zu erfolgen, und man ist gegenseitig damit zufrieden. Bei mir trifft das nicht zu. Wer allen
Bekanntschaften aus dem Wege geht, sucht, wenn er einmal eine schließt, mehr als eine augenblickliche Unterhaltung.
Hugo hat Sie zum Opfer ausersehen; Sie sind so großmüthig gewesen, ihm nicht zu widerstreben – nun ist kein
Entrinnen mehr. Bedenken Sie, daß ich ein Weib bin, ein Weib, welches Mondenlang über ihr Schicksal geschwiegen;
denn mit Hugo'n darf ich nicht besprechen, was in mir vorgeht; und wenn ich es dürfte, wenn er es duldete, ich würde
es nicht, um ihn zu schonen. Er ist krank; ja, daß ich es Ihnen bekenne: er ist dem Wahnsinn nahe, und oft glaub' ich es
auch zu sein, wenn ich so mit ihm allein bin. Daher meine nur halb scherzhaft gemeinte Begrüßung von vorhin. Ich bin,
was Ihnen ein Blick auf meine Umgebung schon gesagt haben wird, Malerin. Als Lehrerin ihrer Töchter war ich mit
einer vornehmen Dame nach Paris gegangen. Dort lernte ich Hugo kennen und lieben. Wir konnten unsere
Bekanntschaft nur heimlich fortsetzen. Meine Gräfin übte eine Art von Mutterrecht über mich, die, eine Waise, ihren
Wohlthaten viel zu verdanken hatte. Diese war vom ersten Moment an gegen Hugo eingenommen. Unsere Verbindung
war eine heimliche, und unsere Abreise könnte Flucht genannt werden. Nur zu bald kehrte uns die Besinnung zurück,
als die Wirklichkeit und der mit ihr verbundene Mangel uns drückte. Hugo ist ein gebildeter, kenntnißreicher Mann,
Dilettant in allem Schönen, aber in Nichts vollendeter Künstler und, wie es sich später fand, jetzt ganz arm. Ich suchte
Pinsel und Palette hervor, um durch meine Kunst und die Eitelkeit der Menschen bestehen zu können. Bald störte mich
die Krankheit, die Hugo's unerklärliches Benehmen vermehrt. Von dem Tage unserer Verbindung an ist ein anderer
Geist über ihn gekommen. Er fühlt sich unglücklich – ich sehe ihn nur mit Grauen an. Von allen Menschen hat er sich
bisher zurückgezogen. Sie sind der Erste, den er mir zuführt. Ich beschwöre Sie, mein Herr, nehmen Sie sich unserer
an. Entreißen Sie durch das Uebergewicht, welches Sie gegen einen unglücklichen Freund haben, entreißen Sie ihm
sein Geheimniß; denn daß ein Geheimniß, daß eine verborgene Last ihn drückt, ist keinem Zweifel mehr unterworfen.
Vielleicht, daß seinem Herzen die Ruhe wiederkehrt, wenn er sich Luft gemacht hat. Besonders suchen Sie zu
erforschen, warum er den Alten, den unheimlichen Franzosen, fürchtet und flieht; warum dieser mir völlig unbekannte
Mensch ihn sichtbar verfolgt und beobachtet. O, ich bitte, ich beschwöre Sie, handeln Sie männlich und entschieden
und seien Sie meiner ewigen Dankbarkeit gewiß.
Die Besorgniß, in welche mich eine so stürmische Anrede, ein so unbedingtes Zutrauen versetzte, wurde durch den
Anblick der Sprechenden gemildert, deren bleiches Gesicht, jetzt feurig und roth, den schönsten Ausdruck gewonnen
hatte. Ich äußerte mein Befremden, daß hier noch Nichts von ihrer Portraitmalerei in's Publikum gekommen, da doch
eben hier für sie ein bedeutender Gewinn zu hoffen sei.
Wenn ich recht viel gewinnen wollte – unbesorgt um das, was dabei zu verlieren ist, wo häusliche Ruhe und Ehre
au dem Spiele stehen – so müßte ich nur meine Wenigkeit in Farben vervielfältigen, erwiederte sie verschämt. Die
Anträge der jungen Herren verfolgen mich von allen Seiten und peinigen mich nicht minder, als der Alte mit dem Barte
den armen Hugo. In den verschiedensten Gestalten und Formen gelangen sie an mich. Ich heuchle oft Schwäche und
Uebelbefinden, um nur nicht mit an den Brunnen gehen zu dürfen, und will lieber die segensreichen Heilkräfte dieser
Quelle entbehren, als sie zu einer Quelle der Eifersucht für Hugo machen. Auch darin können Sie uns ein gütiger
Freund sein, wenn Sie dazu beitragen wollen, die Ansichten zu berichtigen, die über uns umlaufen mögen, und die ich
am Ende Niemand übel nehmen kann, weil unsere Lebensart sie zum Theil erzeugt.
Eben deshalb, sagte ich, sollten Sie eine Zurückgezogenheit aufgeben, die Sie der Welt – verzeihen Sie den harten
Ausdruck – verdächtig machen muß. Erscheinen Sie mit ihrem Gemahl im Salon, machen Sie von der edlen und feinen
Sicherheit Ihrer Erscheinung den schönsten Gebrauch, indem Sie durch Ihre eigene gesellige Ruhe auch den unruhigen
Hugo erheben und ihm den Platz in unserem Kreise anweisen, auf den ein so gebildeter Mann vollen Anspruch machen
darf. Ich kann mich nach dem, was ich an ihm gesehen und von Ihnen gehört habe, ganz in seine Lage versetzen. Ein
verpfuschtes Leben, eine Reihe unerfüllt gebliebener Hoffnungen, eine Beschränktheit äußerer Mittel – das Alles
erzeugt der Welt gegenüber jene melancholische Schüchternheit, die, mit Argwohn und Mißtrauen gegen sich und alle
Menschen gepaart, zu einer Art von einsiedlerischem Wahnsinn führt. Aber das eben ist das hohe Vorrecht, ist die
heilige Pflicht einer Frau wie Sie, daß sie die Ueberlegenheit des Geschlechts zum Vortheil Ihres Mannes geltend
mache. Die Mythen, in welche Sie Ihre Abgeschiedenheit gleichsam gehüllt hat, werden in Nichts zerfließen bei dem
prosaischen Lichtschein unserer ärmlichen Abendbeleuchtung, und ein Gespräch Hugo's mit irgend einer armen Dame
von Adel, in welchem er ihr die Ahnen für Majoratsgüter anrechnet, stellt ihn in die Zahl der angenehmen jungen
Männer, bei denen nur zu bedauern bleibt, daß sie nicht von Familie sind! Ich kann Ihre Aufforderung, zur geistigen
Genesung beizutragen, nur dann annehmen, wenn Sie mir das Wort geben, Ihrerseits nicht unthätig zu bleiben. Wir
wollen vereinigt wirken, und es sei unser erstes Geschäft, den Eigensinnigen noch heute unter Menschen zu bringen.
Natalie versprach mir, was ich bat, mit Mund und Hand.
III.
Die segensreichen Folgen dieses Versprechens für Hugo und seine Frau zeigten sich sehr bald. Schon nach Verlauf
einiger Tage hatte sich aus staunendem Anstarren der neuen Gäste ein ihnen freundliches Entgegenkommen gebildet,
und binnen einer Woche war Natalie von der Blüthe der Männerwelt umgeben. Hugo führte im schönen Damenkreise
das Wort. Ich, der ich diese für alle Theile angenehme Veränderung als mein Werk betrachten durfte, begnügte mich,
halb aus der Ferne den frohen Beobachter zu machen und dann in seiner Behausung mich an den guten Folgen zu
ergötzen, die sie bei Hugo hervorbrachte. Aus der Befriedigung, die seiner Eitelkeit zu Theil wurde, entsprang
Heiterkeit, welche den talentvollen Mann zunächst veranlaßte, sich zu beschäftigen, und die sich dann aus dieser
Beschäftigung wieder neu erzeugte. Natalie gewann Zeit, von der trüben Laune des Mannes ungestört, ihre Farben zu
mischen, und ein gelungenes Bildchen nach dem andern ging aus ihren zarten Händen. Wenn sonst junge Herren von
Künstlern als höchste Aufgabe verlangen, daß sie ihnen die Gesichter junger Damen auf Leinwand zaubern sollen, so
nahm hier Niemand Bedenken, sich selbst malen zu lassen, nur daß er stundenlang der Malerin gegenüber sitzen
konnte. Das Geheimniß, welches nach ihrer Meinung den Gemahl belasten, von dem seine Zerstörtheit ausgehen sollte,
war jetzt ganz vergessen, und Natalie Weib genug, zu übersehen, daß Hugo, nur äußerlich verändert, jede Minute
noch einem Rückfall ausgesetzt sei. Ich sah den Augenblick mit banger Ahnung voraus. Diese Ahnung wurde noch
vermehrt, als ich den oben erwähnten, räthselhaften Franzosen jetzt häufiger, doch vorsichtiger als sonst, auf den
Spuren meines Paares fand, welches glücklicherweise in dieser Stimmung ihn kaum der Aufmerksamkeit würdigte.
Und gerade mir kam er jetzt bedeutender vor. In seinem widrigen, aber beredten Gesichte lag der Ausdruck eines
Anspruchs auf Hugo, eines Vorwurfs gegen Natalie. Er schien mir nur auf eine Gelegenheit zu lauern, wo er beide
geltend machen könnte, und da ich nun einmal den lebhaftesten Antheil an Jenen nahm, da meine Anhänglichkeit
vielleicht sogar auf einer tiefer liegenden Neigung ruhte, so war es mir willkommen, daß ich einst auf schmalem
Fußpfade mit dem Alten zusammentraf. Ich redete ihn in der Sprache seines Landes an, so gut ich vermochte, und es
entspann sich ein Gespräch, dessen Haupt-Inhalt etwa folgender war:
Wir begegnen uns so oft, mein Herr, und haben uns noch nicht mit freundlichen Worten begrüßt. An einem
Gesundbrunnen pflegt solche Zurückhaltung sonst nicht statt zu finden.
Nein, mein Herr!
Es würde mich sehr glücklich machen, mit einem Manne, wie Sie, näher bekannt zu werden, insoweit Sie mir diese
Ehre gönnen wollen.
Ja, mein Herr!
Sie werden mich nicht verkennen und mir die freimüthige Aeußerung nicht übel deuten, wenn ich gestehe, daß Ihre
Erscheinung etwas Seltsames und Fremdartiges für mich hat.
Nein, mein Herr!
Aber sehr oft verbirgt sich hinter einer zurückschreckenden Person die liebenswürdigste gesellige Unbefangenheit,
und besonders bei Ihren Landsleuten soll dies öfter der Fall sein.
Ja, mein Herr!
So redete ich eine lange Weile fort, ohne ein anderes Wort, als Ja oder Nein aus ihm hervorzulocken, und schon
wollte ich ungeduldig und beleidigt abbrechen und ihm den Rücken kehren, als plötzlich ein Gedanke ihn zu beleben
und gesprächig machen zu wollen schien.
Sie kennen die junge Malerin?
Ja, mein Herr!
Sie würden mir eine kleine Gefälligkeit nicht versagen?
Nein, mein Herr!
So dürft' ich Sie bitten, mich dort einzuführen?
Ja, mein Herr! – Aber nur unter der Bedingung, daß Sie mir Grund und Ursache Ihres Wunsches anvertrauen.
Sehr gern, nahm er mit französischer Lebendigkeit das Wort, und es ist meine Schuldigkeit. Ich bin alt, wie Sie
sehen. Mit dem Leben hab' ich abgeschlossen, oder vielmehr das Leben mit mir. Ich habe keine Wünsche mehr, denn
ich wüßte manche nicht zu befriedigen – und die leicht erfüllbaren sind, auch gewährt, langweilig. Daß ich von Adel
war, hab' ich vergessen; daß meine Verwandten guillotinirt wurden, ist mir jetzt wie ein Traum; daß die alte Dynastie
hergestellt worden, ist mir um der guten Familie willen lieb, die ohne diese Her- und Anstellung manche Sorge um ihren
Unterhalt haben würde, während sie jetzt nur für ihre Unterhaltung besorgt sein darf, und wenn deshalb der König von
Frankreich selbst seine Messe lieset, so macht er eben von einem alten Rechte seiner Vorfahren Gebrauch. Daß die
Deputirten sich zanken, thut mir Leid um ihre Lungen; daß die Minister sich ärgern, mag ihrer Verdauung nützlich sein,
wenn sie nicht zu viele Galle absetzen; daß Benjamin Constant Zuckerwasser trinkt, interessirt mich weniger, als die
Pariser. Daß man die Emigrirten entschädigt, würde mich vielleicht zum Satyriker gemacht haben, wenn ich dadurch
nicht selbst zu einem kleinen Sümmchen gelangt wäre – und was übrigens in der Welt vorgeht, ist mir gleichgültig –
ganz gleichgültig, mein Herr! Ich habe es nur mit meiner Tochter zu thun. Nun sehen Sie, meine Tochter ist ein
schwächlich kränkliches Ding; wer weiß, wie lange sie's treibt? Auch die hiesige Quelle will ihr nicht mehr munden. Sie
hat Launen und Grillen wie eine kleine Prinzessin. Meine Phantasie ist sehr ausgetrocknet. Was werd' ich haben, wenn
die Tochter mir stirbt? Nicht einmal die Erinnerung, wie sie ausgesehen. Nun wünsch' ich, daß die junge Malerin, der
Sie und alle Herren hier am Orte den Hof machen, sich entschließen wolle, meine Tochter zu malen. Sie soll trefflich
treffen. So hätt' ich doch wenigstens ein Bild von dem Kinde, wenn es zum Aergsten käme. Seitdem ich hier bin, lauf
ich dem Gatten der Malerin nach; der Eigensinnige flieht vor mir, als ob er ein böses Gewissen hätte, und hält mir nicht
so lange Stand, daß ich mein Gesuch anbringen könnte. Ohne vorgestellt zu sein, darf ich der Dame doch nicht in's
Zimmer laufen! Und meine Bella ist ein schönes Mädchen, führt ein sanftes Gesicht, trägt zartere Mienen mit sich
herum, als all' die bärtigen Stutzer, die Madame tagtäglich abschreibt, schlechten Büchern gleich, und auf Leinwand so
sorglich überträgt, wie Ihre deutschen Bühnenschriftsteller, mein Herr, die Werke unserer Boulevard-Dichter auf Ihre
Theater. Sie sind, wenn mich eine alte Praxis nicht täuscht, der Begünstigtste unter vielen Gunstsuchenden. Deshalb
wende ich mich an Sie mit der Bitte: meinen Wunsch und mich bei der Malerin einzuführen. Bezahlen will ich sie, als ob
sie ein weiblicher Gérard wäre, aber zwei Bedingungen muß man mir im Voraus zugestehen. Erstens, daß sie sich nicht
weigert, mein Kind zu malen, wenn ich es ihr zuführe und der erste Eindruck vielleicht nicht günstig ist; daß sie ohne
Ausflucht sogleich die Arbeit beginne. Zweitens, daß bei den Sitzungen ihr Gemahl nicht gegenwärtig sei! Sie, mein
Herr, will ich um die schönen Stunden nicht bringen; vielleicht sind Sie mir dankbar, daß ich Ihnen zu einer vertrauten
Unterredung verhelfe: denn ich bin, wenn Sie deutsch mit ihr sprechen, so gut als nicht da, und mein Kind achtet auf
gar Nichts.
Was ich von seinen Aeußerungen hätte übel nehmen können, überging ich gern und froh bei dem Gedanken, daß
der confuse Alte Nichts weiter von meinem Paare gewollt habe, als das eben Mitgetheilte. Ich sah eine erwünschte
Auflösung des drückenden Räthsels und freute mich im Voraus, dem guten Hugo nach Beendigung des Bildes sagen zu
können, daß die geschickte Hand seiner Natalie ihn von der kindischen Furcht vor einem französischen Narren befreit
habe. Ich ging also auf den Vorschlag ein und versprach, ihn am andern Morgen um elf Uhr, als um eine Zeit, wo Hugo
Besuche zu machen pflegte, abzuholen; dies wies er jedoch entschieden zurück und erbot sich, um diese Stunde bei
mir zu sein. Wir schieden im Ganzen Beide befriedigt.
Bei Natalien fand ich außer ihrem Gatten einen jungen Edelmann, der es sich vorzugsweise angelegen sein ließ, ihr
Schönheiten zu sagen. Schon drei Mal hatte sie ihn malen müssen, und jedes Mal gab er nicht undeutlich zu verstehen,
daß diese Portraits für Freundinnen bestimmt wären. Vielleicht ging er darauf aus, Natalie solle sich die Erlaubniß
erbitten, auch für sich ein Abbild machen zu dürfen; denn er war auf seine Schönheit ebenso eingebildet, als auf seine
Geburt und seinen Reichthum, und da er uns so oft und so viele Geschichten erzählte, in denen er als unwiderstehlicher
Eroberer glänzte, so hatten ihm einige Spottvögel den Beinamen des zweiten Casanova gegeben, den er nun trug, ohne
es zu wissen, der ihn aber auch nicht beleidigt haben würde, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre; denn die Figur
der Ironie war ihm ziemlich fremd; wer ihn für einen beschränkten Kopf gehalten, hätte ihm kein schweres Unrecht
zugefügt. Die Sorge für seine Kleidung überwog jede andere. Von der Literatur wußte er so viel, als man aus
schlechten Zeitschriften erfährt, also genug, um überall mitreden zu können; er war hinreichend hinter den Coulissen
gewesen, um zu beurtheilen, wie sich die Toilette mittelmäßiger Schauspielerinnen zu dem Beifall verhält, den der erste
Rang ihr spenden soll; er besaß ein Reitpferd und zwei Wagenpferde, von denen das eine auch geritten werden
konnte; er hatte seinem Bedienten an der Thüre des Salons zwei Zähne eingeschlagen; er war schon in Paris gewesen;
sprach stark von einer Reise nach England; unterhielt lebhafte Correspondenz mit einem Freunde in Neapel; hatte
sechs Louisd'or an der Bank verloren (er selbst behauptet, es seien sechshundert); hatte einmal mit fünf Andern ein
Frühstück im Casino gegeben; konnte eine Melodie aus Oberon singen, den robin adair recht leidlich pfeifen; trug
Schnupftücher mit dem Bilde der Sonntag; silberne Sporen auch beim Tanze; eine Reitgerte immer, und seine Beine
waren so lang, daß sie jede mäßige Stube sperrten und wie der Riesenstamm beim Hamburger Baumhaus die Passage
ohn' Erbarmen hemmten. Was Wunder, wenn er sich für unwiderstehlich hielt! Casanova hatte seine dreizehnte Sitzung
überlebt und die vierzehnte eben auf dem Sopha Nataliens begonnen, bei welcher jedoch er der Maler sein zu wollen
schien, so frech und starr faßte er die Malerin in's Auge. Hugo ward ungeduldig, das Gespräch stockte. Den Eheleuten
schien mein Eintritt willkommen. Ich erzählte sogleich, daß ich den Alten mit dem Barte gesprochen und ihn gar nicht
so übel gefunden hätte. Hugo sah mich staunend an, Natalie unterdrückte, mit einem Seitenblick nach ihrem schönen
Nachbar, eine Frage, und dieser schlug ein Gelächter auf, welches ich für herzlich dumm zu halten mich versucht fühlte.
Der alte Franzose, sagte oder vielmehr näselte er, ist auf Ehre eine recht komische Badefigur, eins von den
köstlichen Originalen, die leider immer seltner werden heut zu Tage, und die man, Gott straf' mich, in Spiritus
conserviren sollte, weil sie echt poetisch sind. Wenn Hoffmann noch lebte, würd' er uns ein köstliches Phantasiebild
von diesem Alten gegeben haben! Kennen Sie Hoffmann? Ein köstlicher Schriftsteller. Er ist der Erste, der Mozart's
Don Juan ganz erfaßt hat. Sie kennen Don Juan! Köstlich! Auf Ehre, so tief Shakespeare und Correggio. Kennen Sie
Correggio? Köstlich. In Dresden hängen vier. Besonders spricht mich die Nacht an. Schade, daß sein größtes Werk
nicht dort ist: wo er den Sack voll Kupfer trägt. Ich will auf Ehre nach Italien reisen, um das Bild zu sehen, sobald ich
aus England zurückkomme.
Wählend der Jüngling in diesem Tone fortfuhr, ging ich mit mir zu Rathe, ob ich Hugo'n den Inhalt meines
Gesprächs mit dem Franzosen mittheilen, oder die Sache mit Natalien allein abmachen sollte. Jedes Für und Wider
reiflich erwogen, fand ich rathsam, den letzten Weg einzuschlagen, und ich war deshalb recht zufrieden, als Hugo, dem
Nataliens Verstimmung nicht entging, unserem Casanova den Vorschlag machte, mit ihm eine Partie Billard zu spielen,
und ihn mit sich führte.
Ich erzählte, was der Leser schon weiß. Wir waren bald einig, daß Hugo den Vorgang nicht eher erfahren sollte,
als bis das Bild der jungen Französin vollendet und abgeliefert wäre, damit er dann auch zugleich das Lächerliche
seiner Furcht einsehen und wie von einem finstern Traume aufwachen möge. Es trifft sich gut, sagte, mich beruhigend,
Natalie, daß Hugo morgen sehr früh in's Freie gehen und erst gegen Abend wiederkehren will; er bildet sich ein, das
Gedicht, mit dem er sich acht Tage quält, werde nur so zur Vollendung kommen. Es ist eine Thorheit, aber morgen
können wir sie brauchen. Uebrigens bin ich neugierig auf die Französin! Hören Sie, Freund, wenn es nur nicht gar eine
alte Pariser Liebschaft ist, die der Papa uns auf eine so listige Weise in's Haus bringen will. Ich besinne mich aus der
ersten Zeit unserer Bekanntschaft, daß Hugo in dieser Beziehung nicht ganz frei schien, und daß die ersten Wochen
unserer Liebe durch einige unangenehme Vorfälle gestört wurden.
Ich bekenne, erwiederte ich, daß auch ich im ersten Augenblick eine solche Ahnung nicht unterdrücken konnte,
aber bei näherer Beleuchtung muß sie alle Wahrscheinlichkeit verlieren. Wäre Hugo sich eines Verhältnisses mit einer
Französin bewußt, so würde die Erscheinung des Alten ihn sogleich und zuerst daran erinnert haben; er müßte ja
wissen, daß dies der Vater ist, und seine Furcht hätte dann einen bestimmten Grund, den er entweder offen gestanden
(mir besonders!), oder den er durch irgend ein entschiedenes Mittel aus dem Wege geräumt hätte. Seine Angst hätte ja
gar nicht den grauenhaften Charakter bekommen, denn was wäre denn an der Verfolgung von Seiten einer verlassenen
Geliebten Wunderbares oder Gespenstisches? Selbst wenn der Alte ihr Vater nicht wäre, oder wenn Hugo ihn nicht
kennte, sondern nur argwöhnte, daß er es ist! Nein, hier ist kein Zweifel! Eben weil der Eine gar keine Ursache findet,
warum der Andere ihn so seltsamlich verfolgt, geräth er in Angst. Und der Wahnsinn des Verfolgers (denn daß eine
Schraube in seinem Kopfe wackelt, mögen Sie mir glauben) fand bei dem Andern einen so fruchtbaren Boden, daß
ohne mein Dazwischenkommen Beide sich wahrscheinlich wechselseitig vollkommen verrückt gemacht haben würden.
Also danken wir dem Geschick, welches der Sache diese mehr komische Wendung giebt, noch dazu nicht ohne
Beimischung von Romantik, was einer Künstlerin von Ihrem Geiste doppelt angenehm sein muß. Hugo anlangend,
wollen wir ihm sagen, der Franzose habe mir entdeckt, daß er ihn verkannt, für einen früheren Bekannten unter
fremdem Namen gehalten und deshalb so aufdringlich verfolgt habe.
Natalie willigte ein.
IV.
Mein Alter, der sich Mortier nannte, war zur sichern Stunde bei mir; wir traten den Weg an, und ich glaubte, er
würde mich zu sich zurückführen, um die Tochter dort abzuholen. Aber er deutete stumm und ernst nach Natalien's
Wohnung. Will er in aller Förmlichkeit sich erst allein vorstellen lassen, oder ist das Mädchen schon dort? dachte ich
und folgte ihm still, um ihn nicht zu erzürnen oder vielleicht von seinem Vorhaben abzubringen, was mir leicht möglich
schien. Wir traten ein: Natalie empfing uns mit lächelnder Neugier und freundlicher Ungeduld. Ich stellte Herrn Mortier
vor, den ich gestern schon gemeldet.
Unser Freund hat mir Ihren Wunsch mitgetheilt, nahm sie das Wort, den ich mit wahrer Freude, so gut ich kann,
erfüllen werde; ich bedaure nur, daß meine Bereitwilligkeit, Ihnen zu dienen, so lange auf die erwünschte Gelegenheit
warten mußte. Aber wo ist der geliebte Gegenstand, dessen gewiß anmuthige Züge meine Hand auf Leinwand
darstellen soll? Wo ist die Demoiselle, Ihre Tochter?
Hier, Madame! sagte Mortier trocken, ohne eine Miene zu verziehen, und wies mit der Hand auf die Erde. Erst
jetzt bemerkten wir, daß ihm ein Thier gefolgt war. Hier, riefen wir Beide erstaunt, die Hündin?
Meine Bella, mein Kind! Ist Ihnen gefällig? Er setzte einen Stuhl vor die Staffelei, winkte dem Thiere, und Bella
sprang, ihren Gebieter mit klugen Augen anblickend, sogleich hinauf. Natalie verbarg ihr Lächeln, so gut sie konnte,
und sagte mir auf deutsch: Er ist völlig toll, wir wollen die Komödie fortspielen, so lange ich Fassung behalte.
Mortier nahm in einem Winkel Platz und beobachtete seine Bella sehr scharf. Diese gehörte zur Gattung jener
kleinen zierlichen Windspiele, deren Gesicht wirklich bisweilen eine Art von menschlichem Aussehn hat.
Natalie malte fleißig fort, ich blätterte in einem Buche, und Bella blickte wechselnd ihren schweigenden Herrn und
die emsige Malerin an. So vergingen fast drei Stunden. Bin ich doch erschöpft wie niemals, seufzte sie, Palette und
Pinsel weglegend; nun aber auch heute keinen Strich mehr! Sind Sie zufrieden, mein Herr?
Mortier trat zu, ich folgte ihm. Die Künstlerin hatte sich eine lustige Aufgabe gestellt und sie bewundernswürdig
gelöset. In den Umriß eines jugendlichen Mädchenkopfes hatte sie Bella's blasses Hundeschnäuzchen gesetzt und die
Uebergänge aus dem Thierischen in's Menschliche und wieder umgekehrt so kunstreich verbunden, daß man, trotz der
Aehnlichkeit mit Bella, bisweilen wirklich ein weibliches Portrait zu sehen glaubte und dann immer wieder auf das rothe
Halsband blicken mußte, um die Täuschung zu zerstören. Das Bildchen war unklar angelegt, die Umrisse schwankend,
wie in einem Nebel verschwimmend, und der dunkle Grund trug zur düstern Anschauung das seine bei. Für heute also
mag es genug sein! wiederholte sie. – Eben wollte Mortier mit seinem Kinde davon gehen, als der Blick der Malerin
von diesem noch einmal auf das Bild glitt und sie plötzlich rief: Nein, ich kann es nicht lassen, das muß ich noch hinein
malen; sehen Sie, welch' seltsamen Zug das Thier unter den Augen hat, man könnte ihn schwärmerisch nennen. Den
hab' ich ganz übersehen, und er darf nicht fehlen. Besser, als in diesem Augenblicke, werd' ich ihn nicht mehr
auffassen; schnell, Bella, noch einmal auf den Stuhl!
Bella blieb unbeweglich. Auch Mortier redete ihr vergeblich zu. Sie kratzte an der Thüre. Ei, sei nicht eigensinnig,
dummes Thier! rief in lustiger Aufregung Natalie, faßte das Halsband, Bella aber wüthend und mit einem kreischenden
Geheul wehrte sich, vor Wuth schäumend, und schnappte mehrmals nach Natalien. So laß es bleiben, Närrin, lachte
diese und rief dem gehenden Mortier nach: vielleicht ist das Fräulein morgen bei besserer Laune?!
Nun stellte sie das Bild hinter andere, größere in einen Winkel und sandte die Magd nach dem Mittagsessen. Mir
ist, sprach sie, als hätt' ich heute ein gutes Werk gethan, und als wäre die Arbeit dieses Morgens, obwohl
wahrscheinlich gar nicht einträglich, doch wichtiger und nützlicher für mein häusliches Verhältniß, als jede andere. Ich
kann mich von der Hoffnung nicht losmachen, daß die Erzählung des Vorgefallenen und der Anblick dieses Bildes dazu
beitragen wird, Hugo zu erheitern, dem immer noch eine Beimischung von Geisteskrankheit geblieben ist, obgleich er
sich, seitdem Ihr Rath ihn unter Menschen trieb, viel besser befindet. Ob er es auch nicht eingestand, ich glaube, der
alte Franzose war noch immer sein Aergerniß, und wenn dieser nun abreiset (wie er uns hoffen ließ) und wir Nichts
von ihm behalten, als die Erinnerung an dies Gemälde, so wird es Hugo ergehen, wie Manchen, die von einer fixen
Idee geheilt werden, weil man in ihren stillen Wahnsinn einging und die Komödie bis nach der Heilung mit ihnen spielt.
Ich gab der heitern, liebenswürdigen Frau scheinbar Recht, wenn auch in meinem Innern ihr eine Stimme Unrecht
gab. Wir verbrachten die Zeit bis zu Hugo's Rückkehr mit wechselnden und anziehenden Gesprächen. Ich hatte wohl
bemerkt, daß Natalie während des Essens einige Male aufstand und ihren Arm mit kölnischem Wasser strich, doch
darauf nicht sonderlich geachtet.
Hugo kam und mit ihm neue Heiterkeit in unsere Unterhaltung. Sein Gedicht war glücklich vollendet, er las es uns
vor, wir mußten die Fülle der Gedanken, die Klarheit des Ausdrucks, den Reichthum der Bilder, die Gewandtheit des
Verses bewundern. Der Antheil, den wir ihm gönnten, und den er von seiner Frau nicht gewohnt zu sein schien, machte
ihn so froh, wie ich ihn in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft gar nicht gesehen. Er begehrte Wein, verlangte ihn
recht dringend, ganz gegen seine Gewohnheit, die Sorte bezeichnend, die er trinken wollte. Laß es guten Ungar sein!
rief er der bestellenden Natalie in die Thüre nach, denn so gut wie hier und so wohlfeil, weil hier drei Grenzen sich
schneiden, bekommt man ihn wohl nirgend. Mit jedem Glase wurd' er heiterer. Wir wollen, rief er mir zu, im Weine
aller Weine Brüderschaft trinken! Es geschah, und Natalie mußte feierlich mit anstoßen. Wir lachten und scherzten viel.
Er trank sogar die Gesundheit sämmtlicher Anbeter Nataliens. O diese jungen Herren, mit ihren Liebschaften und
Eroberungen, sagte er, wie viel Geschrei und wenig Wolle. Gott sei Dank, daß ich nicht eifersüchtig bin – und daß ich
keine Ursach habe, es zu sein. Bei diesen Worten küßte er Natalien verbindlich die Hand. Diese, von einem Glase des
feurigen Weines schon erhitzt, zog sich drohend zurück und sagte im Uebermuth der Laune: Ei, Freund, wie stand es in
Paris mit Dir, ehe Du mich kanntest?
Hugo entfärbte sich und wurde plötzlich stumm. Ich erschrak. – Natalie aber nahm es leichter und fuhr scherzend
fort: da sieht man das böse Gewissen. Ja, wir sind hinter all' Deine Schliche! Was noch mehr, die verlass'nen Geliebten
folgen Dir nach, und eine ist gar hier, Dich auszusuchen.
Nein, sprach Hugo mit bitterm Lächeln, und indem seine Hand über das matte Antlitz fuhr, nein, sie kommt mir
nicht nach.
Er schwieg. Natalie beobachtete ihn erstaunt und aufmerksam; mir schien, daß er jetzt keineswegs an den alten
Franzosen dachte, sondern daß seine Seele mit etwas ganz Anderem, am wahrscheinlichsten mit einer tiefen Wehmuth
erfüllt war.
Laßt diesen Augenblick, liebe Kinder, wo wir unerwartet aus der fröhlichsten Stimmung, ich wenigstens, in eine
traurige versetzt worden sind – begann er nach einer Weile – nicht ungenützt vorüber gehen. So lang' ich Dich besitze,
Natalie, trag' ich ein Geheimniß auf dem Herzen, welches ich trotz Deinen Fragen Dir niemals zu entdecken vermochte;
eine unerklärliche Macht, eine fürchterliche Bangigkeit hielten mich davon ab. Und doch machte mich dieses
Schweigen eben unglücklich. Ich fühlte die Pflicht, Dir zu vertrauen; ich fühlte das Bedürfniß, dennoch konnte ich nicht
– und das brachte mich dem Wahnsinne nahe. Seit einem Monat bin ich ruhiger, weil ich thätiger bin. Ich bereite mich
schon seit einigen Tagen auf die Erzählung vor, die ich Euch Beiden geben will. Heute, in diesem Moment zum ersten
Male, ist mir um's Herz, als dürft' ich es wagen. Ich fühle mich rührend bewegt. Ich fühle Trost in meiner Wehmuth,
und auf Eure Nachsicht darf ich rechnen. Du, liebes Weib, wirst mir verzeihen, wenn ich Manches berühre, was Du
schon weißt, weil Du es mit mir erlebt hast. Ich bin es dem Zusammenhange und unserm Freunde schuldig. Hört
geduldig zu. Mir wird besser sein, wenn Ihr Alles wißt, das fühle ich.
Hugo's Erzählung.
In Paris angekommen, fremd, ohne Freund, übermannt von dem großartigen Eindruck, trieb ich mich planlos in
jener Weltstadt herum, wie ein junger Mensch, der im wildesten Gewirr ungeregelter Vergnügungen die Befriedigung
seines geistigen Strebens sucht und von einer mäßigen Börse voll Goldstücke glaubt, sie sei Fortunatus'
unerschöpflicher Säckel, weil beinah' sein ganzes Vermögen darin enthalten ist. Das Herz hatte nicht den geringsten
Antheil an den flüchtigen Bekanntschaften, die da geknüpft wurden, um eben so schnell wieder vergessen zu werden;
der Geist ging nur halb und oberflächlich auf die bunten Zerstreuungen ein, die sich in den gefälligsten Formen
mannichfach darboten, und es war noch kein Monat verstrichen, als ich mitten im Gedränge einer
vergnügungssüchtigen großen Masse mich bang und einsam fühlte, sogar mit einer Art von deutschem Heimweh erfüllt
war. So ging ich denn mit zwiefach lebendigem Wohlgefallen einem jungen Manne entgegen, mit dem mich der Zufall
mehrmals zusammengeführt, und in dessen Pariser Existenz ich eine auffallende Aehnlichkeit mit meiner Lage bemerkt
hatte. Gleiches Alter, ähnliches Temperament, Ungebundenheit und das gemeinsame Vaterland machten bald Freunde
aus Bekannten; wir wurden unzertrennlich und bewohnten sogar Ein Zimmer. – Ich habe Dir schon früher einmal
gesagt, Natalie, daß mich eigentlich Nichts nach Paris gezogen hatte, als der Wunsch, die dortigen Theater, ihre Sitten,
Bräuche, Verhältnisse, ihre Dichter und Darsteller kennen zu lernen und dort an der Quelle zu sein, wo jene
allerliebsten leichten Dichtungen entspringen, die man so gern und so schlecht für Deutschland übersetzt, und die in
bessern Bearbeitungen meinem Vaterlande zuzusenden mir ein würdiges Ziel, ein reichlicher Erwerb schien. Nur zu
bald mußte ich mir selbst gestehen, daß dieser Traum ein thörichter sei; daß das Beste, was Scribe und seine minder
geistreichen Genossen der Pariser Welt dargeboten, eben in der Lokalfarbe ein Haupt-Verdienst besitzt, und daß es
eines deutschen, irgend selbstständigen Talentes unwürdig ist, den Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland auf
diese Art zu machen. Je mehr man Paris kennen lernt, je tiefer man sich in das dasige Thun und Treiben einlebt, desto
klarer muß es jedem Verständigen werden, wie nur dort so geschrieben, nur dort so gespielt werden kann. Ich mag
mich hier nicht auf Entwickelung der Gründe einlassen; es ist mir nicht darnach um's Herz, zu dociren. Auch würde ich
diesen Punkt, der in meine Erzählung nicht zu gehören scheint, gar nicht berührt haben, wenn ich ihn nicht zur
Bezeichnung meines damaligen und jetzigen Zustandes für nöthig hielte. Mit einem Herzen voll Hoffnung hatte ich die
Barrièren von Paris betreten. Entmuthigt, in jeder Beziehung hoffnungslos fand mich schon der zweite Monat. Paris
hatte für mich eine Goldgrube werden sollen, – es ward mir eine Grube, in die ich mein Geld warf. Ich mußte meine
eitlen Pläne für unausführbar erklären und somit den Gedanken aufgeben, mir durch schnelle, leichte Arbeiten eine
glänzende Existenz zu gründen. Ich hatte also meine Lage, im Vergleich zur früheren in Deutschland verlebten Zeit, nur
verschlimmert. Dort hatte ich Kraft, Lust und Muth zu eigenen Produktionen gehabt; hier erstarben Muth, Lust und
Kraft, theils im zerstreuenden Geräusch, theils im Vergleiche zwischen dem französischen und deutschen Theater. Bei
uns: getrennte Städte, genirte Hoftheater, prätentiöse Darsteller, regellose Virtuosität, geschmacklose Anarchie,
verletzte Autorrechte, schlechte Honorare, theilnahmlose Zuschauer, leere Bänke; – hier: eine tonangebende
Hauptstadt, fünfzehn Bühnen, volle Häuser, lebendiges Publikum, fleißige Schauspieler, strenger Eifer, goldner Lohn! –
Ohne neidisch zu sein, fühlt' ich, daß wir armselig dagegen wären, und ich ließ entmuthigt die Flügel hängen. Jeden
Abend brachte ich in einem andern Theater zu, jeden Abend lernte ich neue Künstler kennen, jeden Abend kam ich
niedergeschlagener in meine kleine, theure Zelle – und mein Freund lachte den deutschen Schriftsteller aus. So
vorbereitet fand mich der Abend, dessen Wichtigkeit ich nun beschreiben will, in sentimentaler Stimmung. Louis und
ich hatten Plätze zur Porte St. Martin genommen, um den (nun jenseits wandelnden) Affen-Mazurier springen, leiden,
sterben zu sehen. Die Loge, in welche wir traten, war bereits durch zwei Damen besetzt, die, den Rücken kehrend,
uns die hintern Plätze überließen. Wir waren ungewöhnlich heiter; ich übermüthig, wie ich es immer in der dunklen,
düstern Vorahnung schwerer Geschicke zu sein pflege. Louis hatte auf dem Boulevard einen Polichinell gekauft, ein
Kinderspielwerk, durch dessen gelenke Vermittelung wir die Bekanntschaft der beiden Damen suchten, von denen die
eine jung, groß, schön gestaltet, aber nur mäßig hübsch, die andere älter, jedoch regelmäßig schön war. Der
Reihenfolge unserer Platze gemäß schien ich bestimmt, mit der Jüngern ein Gespräch zu beginnen. Auf viele Fragen
erhielten wir kurze und trockne Antworten, Scherze von unserer Seite wurden kaum belacht, und erst als Polichinell
durch eine zu kühne Lenkung meines Freundes sich der haltenden Hand entwunden und einen Sprung über die
Logenbrüstung in den vorderen Balkon gemacht hatte, schienen der Schreck und die Besorgniß über das unter uns
entstehende Gemurmel eine Annäherung von Seiten der Damen herbeizuführen, die freilich mit bittern Vorwürfen über
unsere Etourderie begann. Die Aeltere zog sogleich das Gitter vor, um uns den Blicken der unzufriedenen
Balkonbewohner zu entziehen, und wir saßen nun, mitten im vollen Hause, von aller Welt abgeschieden. Die
Darstellung ging zu Ende, die Damen brachen auf, und wir schieden – noch ziemlich fremd. Unser Anerbieten, die
Begleiter zu machen, wurde so entschieden zurückgewiesen, daß gerade keine deutschen Fremdlinge dazu gehörten,
die Zurückweisung für Ernst zu nehmen; unser anziehendes Paar verlor sich nach einem ziemlich kurzen und kalten
»Guten Abend« im Gedränge. Ich hatte Fassung genug, beim Gehen einen Blick nach der Nummer der Loge zu
werfen, der Schließerin für den mir bewahrten Hut ein großes Silberstück in die Hand zu drücken und ihr zu sagen,
daß wir wieder da zu sitzen wünschten, wenn wir dieselbe Gesellschaft öfter zu finden erwarten dürften.
Das wird die Welt nicht kosten, erwiederte sie schlau, indem sie mich fest in's Auge nahm, und ich war sicher, daß
sie mich nun unter Tausenden nicht mehr verkennen würde. Mein Gespräch mit dem Freunde dauerte bis tief in die
Nacht und wendete sich immer wieder auf unsere Unbekannten. Wir waren einig darüber, daß Beide weder
unzugänglich, noch vom besten Rufe sein konnten; aber es hatte in ihrem Benehmen doch eine gewisse Zurückhaltung
gelegen, die sie nach meiner Meinung höher stellte, als Louis zugeben zu wollen schien. Auch gestand er, daß seine
Nachbarin milder und zuvorkommender gewesen sein möge, als die meine. Daß der nächste Abend uns wieder in
derselben Loge fand, werdet Ihr erklärlich finden; jedoch schon als wir kamen, deutete mir der Blick und das
Achselzucken meiner neu erworbenen Gönnerin die fehlgeschlagene Hoffnung an. Wir kamen zwei Abende vergebens.
Erst am dritten, wo ein neues Werk voll schauerlicher Verbrechen die halbe Stadt in Bewegung setzte, hatten sich auch
die Schönen eingefunden. Aber die Schließerin konnte nicht verhindern, daß außer uns, ihren Schützlingen, noch zwei
Neugierige in das Heiligthum unserer Loge drangen. Diese Kühnen hatten das dem neuen vorangehende Stück und die
Langeweile desselben dazu benutzt, unsern Damen den Hof zu machen, und waren dabei freilich kühner und sicherer
eingeschritten, als wir bescheidene Deutsche. Waren sie aber vielleicht gar zu parisisch gewesen, und hatte ihre edle
Dreistigkeit den Frauenzimmern widerstanden – oder wollten diese (was ich am meisten zu glauben geneigt war) uns
auszeichnen; – sie blieben fremd und abschreckend gegen die Landsleute und wendeten sich mit so herzlicher
Vertraulichkeit zu uns, daß die beiden Schnurrbärte uns Viere für alte Bekannte hielten und ihre Verfolgung aufgaben.
Das neue Stück begann, die Pariser waren Ohr und Auge, und wir zwei Paare konnten ungestört unsere
Augensprache fortsetzen. Welcher Triumph für mich, daß Bella, so hieß meine Schöne, die Scene und ihre Gräuel
ignorirte, nur für mich da zu sein schien! Wir machten Riesenschritte. Schon vor Beendigung des Schauspiels brachen
wir auf, begleiteten heute nach kurzer Widerrede die Heimkehrenden bis an ihre Thür, und ich, dem das Herz mächtig
schlug, faßte erst dann den Muth einzutreten, als mir Louis an Sophiens Arme mit kühnem Beispiel voranging. Zwei
zierliche kleine Zimmer, fünf Treppen hoch, empfingen uns. Louis und Sophie blieben in dem einen; ich hatte zu viel mit
mir selbst zu thun, um nach ihnen zu fragen oder mich um sie zu bekümmern. Bella schürte das Feuer im Kamin. Wir
saßen in traulichem Gespräche vor der Flamme. Auf meine schüchternen Eingeständnisse zärtlicher Empfindungen
lächelte sie mich fragend an, spöttisch und gutmüthig zugleich. Ich konnte nicht länger die Frage zurückhalten, wie ihre
Verhältnisse seien, was sie triebe, wovon sie lebe u. s. w. Mit einer fast mitleidigen Güte blickte sie mir staunend in's
Gesicht, als wollte sie sagen: wie weit muß man her sein, aus welchem entlegenen Winkel der Barbarei muß man
kommen, um das noch zu fragen? Und als ich wiederholentlich, von dunkler Eifersucht getrieben, in sie drang, erzählte
sie mir mit einer Unbefangenheit, die mich ganz entwaffnete, sie sei ein Jahr lang die Geliebte (kleine Frau) eines alten
Geschäftsmannes, mit dessen Behandlung auch ziemlich zufrieden gewesen; aber nun habe sich die Sache wohl durch
beiderseitige Schuld zerschlagen, und sie suche ein neues Engagement. – Und Ihre Eltern? rief ich furchtsam
dazwischen. – Ich habe keine, fuhr sie verlegen fort. Mein Vater – ich sehe ihn selten – und meine Mutter hielt ein
meublirtes Hôtel. Da wurde ich als fünfzehnjähriges Mädchen von einem reisenden Engländer verführt, betrogen und
verlassen. Bald darauf starb auch meine Mutter, hinterließ mir Nichts als Schulden, und da half ich mir seit drei Jahren
allein durch die Welt. –
Sie hatte während ihres Berichtes, der höchst umständlich und, die letzten drei Jahre ihres Lebens betreffend, ganz
wie die Auseinandersetzung eines geregelten Geschäftsganges abgefaßt war, mir die vier oder fünf Männer geschildert,
mit denen sie bis dahin gelebt. Die Feuerzange war nicht aus ihren Händen gekommen; mit eigenthümlicher Anmuth
hatte sie Kohlen auf Kohlen gethürmt, die Gluth sorglich unterhalten, als ob sie von den gleichgültigsten Dingen
spreche. Ich konnte nicht zu mir selbst kommen. An diesem Abgrund von Verworfenheit, wo ein junges Geschöpf sich
ohne Liebe für Geld preisgiebt, noch diese Ruhe, diese Gleichgültigkeit über ihr Schicksal! Und dabei diese Bildung,
diese Einsicht in das Leben und seine Verhältnisse; – das ist nur in Paris möglich, dachte ich, und die
verschiedenartigsten Empfindungen wechselten in meiner Brust. Ich sah Bella nun mit andern Augen an, mit andern
Gefühlen. Die schon aufkeimende Herzensneigung schien neuen Gedanken weichen zu wollen. Aber auch diese zogen
sich bei dem Anblick ihrer sittsamen Ruhe wieder scheu zurück. Ich begriff weder sie noch mich. – Es war sehr spät;
Gehen schien mir das Rathsamste. Und plötzlich sprang ich auf, so rasch, daß Bella erschrak. Ich klopfte an Sophiens
Thür, Louis zu rufen, aber Bella hielt lachend meine Hand und sagte: Stören Sie sie nicht, er geht gewiß nicht mit Ihnen;
Sophie hat mir neulich schon gestanden, daß sie den blonden Deutschen liebt, und er schien ihr auch nicht abgeneigt.
Auch hat sie den Riegel vorgeschoben, gleich als wir kamen.–
Der Ton, mit dem Bella diese letzten Worte sagte, schnitt mir durch's Herz; sie erschien mir fast gemein. O, dachte
ich, wie wird sie deiner spotten, wenn du so schüchtern davon gehst, und damit faßte ich sie heftig und sprach: Nun,
Bella, und wir?
Und wir!? – Sie haben ja den Hut in der Hand.
Sie nahm das Licht und setzte hinzu: die Portière ist noch wach, Sie dürfen nur rufen.
Also, sprach ich, halb schüchtern, halb keck, ich bin nicht so glücklich wie mein Freund? Ich bin nicht geliebt?
Vielleicht mehr als er, und herzlicher, erwiederte sie flüchtig; aber ich habe Rücksichten zu nehmen, die Sophie
nicht hat. Sie ist verheirathet, ihr Mann oft abwesend, sie hat Nichts zu fürchten. Ich aber muß mich, wenn ich nicht zur
Klasse der verachteten niedern Dirnen herabsinken will, vor jedem Verhältnisse in Acht nehmen, welches nicht ein
dauerndes und auf die Zeit seiner Dauer ein sicheres ist. Können und wollen Sie mir ein solches bieten, so werde ich
lieber die Ihrige sein, als irgend eines Andern.
Nicht ohne Empfindlichkeit sagte ich darauf: Mein Kind, ich bin ein armer Deutscher ohne Vermögen, der hierher
gekommen ist, sich einen Erwerb zu gründen; den seine Hoffnungen getäuscht haben, der nun sehr eingeschränkt leben
muß. Wenn ich aber Millionen zu vergeuden hätte, so würde ich nie der Thor sein, sie an Weiber zu wenden, die ihre
Gunst mir verkaufen wollten. Das gemißbrauchte Wort Liebe gilt mir noch Etwas, und so gewiß ich mit aufrichtiger
Zuneigung für Sie hierher gekommen bin, so gewiß gehe ich jetzt über meine Leichtgläubigkeit beschämt hinweg und
muß Sie bedauern, – da ich niemals die verachten werde, die ich einmal zu lieben begonnen. – Ich ging. – Schon war
ich auf der vorletzten Treppe, als ich Bella ängstlich hinter mir her rufen hörte. Die Worte: Mein Freund, mein theurer
Freund! bannten mich auf einen Augenblick fest; dennoch ging ich immer wieder eine Stufe weiter, wenn auch
langsamer, als vorher. Schon hatte ich die letzte erreicht, schon schwebte das entscheidende »cordon s'il vous plait!«
auf meiner Zunge. – Bella stürmte mir nach, sie hatte mich erreicht. Zitternd umschlang sie mich und beschwor mich
umzukehren. Sie irren, sagte ich höhnisch, Sie irren, Demoiselle, ich bin kein reisender Lord, ich bin ein armer Poet,
und wie gesagt, meine Taschen sind leer, es lohnt nicht der Mühe. – Deutsches Ungeheuer, sei nicht so grausam, schrie
sie, kalter Oesterreicher! und wollte mir die Hand küssen.
Ich suchte meinen Schreck hinter Gelächter zu verbergen, indem ich sagte: um Vergebung, ich bin kein
Oesterreicher. – Ha, so bist Du aus Leipzig, wo unsere Helden begraben liegen, oder vielleicht gar ein Preuße? Ach,
ich wollte, daß ich die Worte: ich liebe Dich! in Deiner Sprache zu Dir sagen könnte, dann würdest Du mir eher
glauben.
Der Lärm hatte die Pförtnerin aus ihrer Klause gelockt; mir lag in diesem Augenblicke Alles daran, nur
fortzukommen; aber Bella ließ mich nicht eher los, als bis ich ihr mit den heiligsten Eiden gelobt hatte, morgen sie zu
besuchen. Auch meine Wohnung mußt' ich ihr genau bezeichnen. Ich eilte heim und entschlief spät, vielmehr früh unter
bunten Träumen. Es mochte zehn Uhr sein, als mich Louis weckte. Eben war er nach Hause gekommen und hatte viel
zu erzählen, von Sophien und dem neugeschloss'nen Bündniß; aber mitten im Erzählen brach er ab: Ach, da ist auch ein
Brief von Bella, bald hätt' ich ihn vergessen.
Natalie, ich habe den Brief vernichtet, als ich Dich kennen lernte! –
Ich will auch weiter Nichts davon sagen, als daß sein Inhalt mich augenblicklich zu Bella zurückführte. Etwas
Rührenderes hatt' ich nie gelesen. Was soll ich viel erzählen und beschreiben von einem Verhältniß, welches sich nicht
beschreiben läßt! Bella war mein, gab mir unaufgefordert das Versprechen, nie mehr eines Andern zu sein – und hat es
gehalten bis zu ihrem Tode. Zum ersten Male erfuhr ich, daß auch Tiefgesunkene höchster heiliger Gluth, reinster Treue
fähig sind.
Paris war nicht mehr Paris, nicht mehr ein unübersehbarer Raum, in dem Tausende Tausende drängen, um sich und
das Leben zu betäuben. Es war mir ein kleines, heiteres, verborgenes Gemach, und in diesem lebte mir ein liebendes,
tief ergebenes Herz, ein anhängliches Wesen. Ich begann wieder zu arbeiten, zu leben und zu hoffen; – denn ich liebte
und glaubte. Bella's Armuth und ihr Bestreben, sie vor mir zu verbergen, war rührend. Ich bemerkte, wie sie das
Entbehrlichste aus ihrer kleinen Wirthschaft heimlich verkaufte, ihre Dienerin abschaffte; ich hatte die größte Mühe, ihr
begreiflich zu machen, daß sie nun einen Beitrag von mir annehmen müsse. Nur durch die Drohung, daß ich sie sonst
verlassen und schnell abreisen würde, brachte ich sie dazu. – So, glaub' ich, so heftig hat noch kein Weib geliebt. Oft
hab' ich sie belauscht, wenn ich unerwartet eintrat, wie sie mit ihrem Hündchen, einem zierlichen, kleinen Windspiel,
kosete und ihm von mir erzählte. Das kluge Thier saß vor ihr und hörte aufmerksam dem süßen Geschwätze zu, als ob
es ihm verständlich wäre. Auch trug es seinen Gehorsam, seine Anhänglichkeit auf mich über, begleitete mich oft in
meine Behausung, machte sogar bisweilen den Boten zwischen uns, indem es kleine Briefchen, die wir in sein rothes
Halsband verbargen, hin und her trug. – Bei all' der Liebe, die wir gegenseitig gaben und empfingen, fehlte es nicht an
unangenehmen Auftritten. Sie war zu leidenschaftlich, um nicht bis zur Uebertreibung eifersüchtig zu sein. So fand ich
sie eines Morgens, ohne vorher ein Wort davon gehört zu haben, im Räumen ihrer Wohnung begriffen, weil sie
behauptete, ich und Sophie (die sich von Louis längst getrennt hatte, oder er von ihr), wir hätten uns beim Begegnen
auf der Treppe »süße Augen gemacht.« Ich durfte keine Gesellschaft besuchen, ohne ihr die genaueste Beschreibung
aller weiblichen Mitglieder zu liefern. Kam ich einmal eine Viertelstunde später, als gewöhnlich, zu ihr, so war ich dem
schärfsten Verhör ausgesetzt; überall, meinte sie, würde mir nachgestellt, und oft sagte sie in bitterm Scherze zu ihrem
Hunde, daß es wie Ernst klang: verfolg' ihn, gieb Acht auf ihn, und wenn er mich verräth, so melde mir's. Einmal war
ich gegen Abend weggegangen, mit dem Versprechen, bald wieder zu kehren; das Hündchen hatte mich begleitet.
Unterwegs begegnete mir Louis mit einigen so eben angekommenen Deutschen. Sie forderten mich auf, mit ihnen die
große Oper zu besuchen. Ich konnt' es nicht vermeiden, wenn ich mich nicht den größten Neckereien aussetzen wollte.
Ich sagte zum Hunde: lauf heim! und winkte ihm. Das Thier verstand mich. – Wir gingen in's Theater. – Als ich am
andern Morgen zu Bella kam, fand ich sie in einem entsetzlichen Zustande, dem Tode nahe gewesen, nur eben erst
durch ein Gewaltmittel des Arztes, den ihre neuen Miethsleute herbei geholt hatten, gerettet. Sie hatte, als gestern der
Hund ohne mich gekommen war, in eifersüchtigem Verdacht geraset, Grünspan von einigen alten Messing-Leuchtern
geschabt und diesen in einer Tasse Thee verschlungen, um sich zu tödten. Ich schauderte bei der Erzählung dieser
Unthat um so mehr, als mein Gewissen nicht rein war. Ich hatte Dich, Natalie, an jenem Abend zum ersten Mal
gesehen. –
Unser Verhältniß war zerrissen. Von ihrer Seite fehlte das Vertrauen, von der meinen die innere Ruhe. Ich sah
Dich, auch wo ich Dich nicht sah. Bella fühlte, daß meine Zärtlichkeit erheuchelt sei; ... es waren qualvolle Tage. Du
wirst Dich unseres Zusammentreffens in den Tuilerien erinnern. Der Blick, den Du mir gegönnt, als mein Auge das
Deine traf, glüht ewig in meiner Phantasie. Mir war, als ob in die Nacht eines wilden, wüsten Traumes der Freudenruf
eines heiligen Engels ertönte. Ich konnte nicht mehr in Bella's Arme kehren; ich hätte es nicht gekonnt, und wenn Alles
auf dem Spiele gestanden. – Als ich heim kam, fand ich den Hund, mit dem Louis spielte. Ich schrieb zwei Zeilen, daß
ich reisen müsse, daß sie sich fassen solle, daß sie ohne mich glücklich sein möge. Der kleine Bote empfing den
grausamen Brief und trabte fort damit. Nach einer halben Stunde kehrte er zurück, wand sich winselnd und heulend zu
meinen Füßen. Er war blutig geschlagen. Seine verzweifelnde Herrin hatte den armen Liebling gemißhandelt, der nun
bittend bei mir Schutz suchte. Ich mußte doch alle Fassung zusammennehmen, um nicht noch einmal zu ihr zu stürzen.
Aber ich dachte an Dich, ich bezwang mich, blieb, und der Hund blieb bei mir. – Es vergingen einige Wochen, ohne
daß Bella von mir, oder ich von ihr vernommen hätte. Gewiß wähnte sie mich fern. Unterdessen hatte ich bei Deiner
Gräfin Eingang gefunden, aber keine Gnade. Je mehr ich in Deiner Gunst stieg, desto tiefer sank ich in der ihrigen. Wir
konnten uns schon damals nicht öffentlich sehen, ich mußte meine Besuche einstellen und höchst behutsam nur
schriftlich mit Dir reden. – Longchamps war gekommen, das Volksfest, mit welchem Paris seinen Frühling begrüßt. Ich
stand am Wege, im tiefsten Gewühl der Kutsche harrend, in der Du mit Deiner Gräfin kommen solltest. Du kamst.
Unsere Blicke trafen sich, und die strenge Gebieterin hatte zu viel auf den Putz anderer Damen zu achten, um die
Vertraulichkeit unserer Augensprache bemerken zu können. Aber eine Andere hatte sie bemerkt. Bella stand neben
mir; ehe ich sie noch gewahrte, hatte sie meinen Arm gepackt, daß ich es schmerzhaft fühlte. Das ist die Reise?
Verbrecher! murmelte sie, mit den Zahnen knirschend, warf einen wüthenden Blick nach Eurem Wagen und ließ mich
Erstaunten stehen, der sie abgehärmt und in dem ärmlichen Aufzuge kaum erkannt hätte. –
Du weißt, Theure, daß schon damals sich in unsern heimlichen Zuschriften der Gedanke einer Vereinigung durch
gemeinschaftliche Flucht deutlich aussprach. Deine Verpflichtung gegen die stolze, unfreundliche Gräfin war zehnfach
gelöset, Du warst frei, sobald Du den Muth hattest, es zu sein. Ich kam also unter dem Vorwande, Deiner Gebieterin
und den Ihrigen meinen Abschiedsbesuch zu machen, noch ein Mal in Euer Haus. Glücklicherweise waren Alle
abwesend, ich fand Niemand als Dich, und wir konnten ungestört unsern Plan entwerfen, unsere Zukunft besprechen.
In jener schönen Stunde, der ersten, die ich ohne Furcht vor einem Ueberfalle mit Dir verlebte, beschlossen wir nun,
um jedes Aufsehen, jeden vorher erregbaren Verdacht zu vermeiden, uns nicht mehr zu sprechen, und ich sollte Dir,
sobald alle Anstalten getroffen wären, nur am Abend die Nachricht senden, die Dich eine Stunde später in meine Arme
führen würde. Das Wann blieb unentschieden. Bald nachher erschienen die Damen; ich brachte meine sehr kalt
aufgenommenen Huldigungen an und eilte heim. Hier fand ich Louis mit einem Einkauf beschäftigt, den er in feiner
Chokolade gemacht, und über den er sich als Führer unserer kleinen Oekonomie sehr freute. Die Verkäuferin, ein
verhülltes, bleiches Mädchen, war ihm zur Zeit der Dunkelstunde bei ihrem Eintritt unkenntlich gewesen, erst später
hatt' er Bella erkannt, die sich sichtbar verlegen zeigte, nur ihn zu finden. So, sagt' er, hat Deine Untreue das stolze
Mädchen zur Hausirerin gemacht; und so tragen die verlassenen Schönen des Einen zur Magenstärkung des Andern
bei. Ich dankte meinem guten Glücke, daß sie mich nicht gefunden, und sagte ihm, er müsse diesen Abend wieder
allein zubringen, wenn er mich nicht in's Theater begleiten wolle (wo ich Dich aus der Ferne zu sehen hoffte). Er zog es
aber vor, zu Hause zu bleiben.
Du warst nicht im Theater, ich verließ es in trüber Stimmung, fand Louis schon schlafend und legte mich auch zu
Bette. Kaum entschlummert, wurd' ich durch ein klägliches Gewimmer wieder geweckt. Es hielt minutenlang an,
vermehrte sich, schwieg wieder, wurde aber endlich so stark, daß ich aufsprang und Licht anzündete. Ich trat vor
Louis, fand ihn halb schlafend, mit offenen Augen, blauen Lippen, bleichem Angesicht, offenbar mit dem Tode ringend.
Mein Schreck war unbeschreiblich. Nicht nur Louis Zustand verursachte ihn, auch eine furchtbare Ahnung, die mich
schaudernd durchzuckte. Es wurde nach Aerzten geschickt. Sie fanden den Aermsten schon todt. Ihr erstes Wort war:
»Vergiftung.« Die Leute, bei denen wir wohnten, erhoben ein mörderliches Geschrei, man sah mich argwöhnisch an;
mir schnürte heiße Angst die Kehle zu. In diesem Augenblicke fiel mein irrendes Auge auf den Tisch – da sah ich die
blaue Hülle von der Chokolade genommen, einige Tafeln zerbrochen und wie vom bösen Geiste getrieben, schrie ich,
meiner Sinne nicht mehr mächtig! Bella! Bella! –
Als ich zu mir kam, waren bereits Polizei-Beamte im Zimmer; ich ward in's Gefängniß geführt. Das Hündchen war
mir unbemerkt dahin gefolgt. Schon im ersten Zeugenverhör fand ich mich so tief in meine Worte verwickelt, daß ich
die Wahrheit nicht mehr umgehen konnte, wollt' ich nicht der Mörder heißen. Ich erzählte Alles. Bella wurde sogleich
zur Haft gezogen und machte durch ein wildes, rasendes Geständniß und durch wiederholte Beschwörungen, daß sie
ihre Freiheit nur dazu benützen werde, sich zu rächen, der Sache ein schnelles Ende. Ich ward frei erklärt. Ueber sie
sprachen die Geschwornen einstimmig ihr Urtheil, und die Verurtheilte, als man sie hinaus führte, würdigte mich keines
Blickes.–
Du weißt, Natalie, wie zerstört ich in jenen Tagen war, daß Du es sogar aus der Ferne bemerken konntest. Du
schobst es auf die Furcht vor der Flucht und sprachst mir durch Deine Mienen Muth zu. – Unser Wagen war endlich
bestellt, nöthige Vorkehrungen getroffen. Natalie verließ bei Nacht ihre Gräfin, gelangte unbemerkt und glücklich bis zu
mir, der unterdessen ein anderes Zimmer gemiethet hatte, und wir erwarteten ungeduldig den Morgen. Er brach an,
aber noch hatte die Stunde nicht geschlagen, wo wir unsere Reise antreten sollten. Natalie war eingeschlafen. Sie lag in
himmlischer Schönheit auf der Ottomane – unter dieser der Hund, den sie nie gesehen hatte, von dem sie Nichts
wußte. Ich hatte gar nicht mehr an ihn gedacht. Jetzt sah er von Zeit zu Zeit Natalien grimmig an. Ich fing an, mich vor
ihm zu entsetzen, und beschloß eben, ihn nicht mit auf die Reise zu nehmen, als ich Geräusch von der Straße herauf
hörte.
Unsern Wagen vermuthend, trat ich an's Fenster – ein Zug von Menschen – ein blasses Weib – Bella – man
schleppte sie zur Guillotine! – Die Unruhe des Hundes vermehrte sich, er rannte wild in der Stube umher, murrte,
drohte Natalien zu erwecken, biß sogar nach ihr. Ich war in Todesangst. Behutsam setzt' ich mich neben die
Schlummernde, griff mit der Hand unter das Sopha, wo ich das unbändige Thier bei der Gurgel packte und so fest
hielt, als ich nur immer konnte. – Der Zug schien vorüber – der Hund ruhig – ich ließ ihn los – er war todt – ich hatt'
ihn erstickt.
Nun rollte der Reisewagen vor; ich weckte Natalien; wir eilten davon. Aber noch war das Maß meiner Leiden
nicht voll; dicht bei dem unseligen Platze, wo die Missethäter sterben, mußten wir vorbei. Natalie wendete sich
schaudernd ab (Du ahntest nicht, wie mir zu Muth war); der Streich fiel – die Pferde scheuten – ich glaubte mein –
Bella's Windspiel keuchend und in Kreisen das Schaffot umjagen zu sehen. Vielleicht war das Thier wirklich wieder
in's Leben gekommen, wie bei Erdrosselten häufig der Fall ist. So haben wir Paris verlassen, so unsere Ehe begonnen
– und das hat mich bis heut' gequält. Nun ist's von der Brust, nun ist mir besser, und nicht wahr, Natalie, Du liebst mich
noch?
VI.
Hugo hatte seine Erzählung geendet. Wir saßen stumm, und Natalie hatte kaum Kraft, auf seine letzte Frage mit
einem bebenden, leisen Ja zu antworten. Dann blieben wir wieder stumm; aber ein Wink Nataliens erinnerte mich, daß
es jetzt um Gotteswillen nicht an der Zeit sei, den Ideen zu folgen und nachzugeben, die sich in unsern Köpfen
kreuzten, und so ermannte ich mich denn zu der Frage, ob seit jener Zeit Nichts mehr begegnet sei, was ihn äußerlich
an das traurige Ereigniß erinnere.
Doch, erwiederte Hugo, es wurde mir durch meinen Wirth ein Brief nachgesendet von einem alten Soldaten, der
sich für Bella's Vater ausgab und mich zum Zweikampf forderte. Ich konnte dieses Verlangens wegen doch nicht nach
Paris zurückreisen – und antworten konnt' ich nicht; der Brief enthielt weder Namen noch Adresse. Was sollt' ich
thun? Mein Wirth meinte in seiner Beilage, der vermeintliche Vater hätte mich noch in Paris geglaubt und sei
wahrscheinlich einer jener Händelsucher, die dort von Herausforderungen Metier machen und ihre Drohungen bei
furchtsamen Leuten für ein Geschenk zurücknehmen.
Nataliens bedenkliche Miene zeigte mir nur zu deutlich, daß sie meiner Meinung sei, und ohne ein Wort zu
wechseln, waren wir einig, mein erster Gang müsse morgen zu Herrn Mortier sein, um die Sache auf's Aeußerste zu
treiben und schlimmsten Falls anderweitige Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wir schieden; Natalie und ich
niedergeschlagen und fürchtend, ohne es uns merken zu lassen; Hugo aufgeregt, aber heiter und scheinbar beruhigt.