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ERSTER TEIL  Erstes Buch. Münchhausens Debüt Fünfzehntes Kapitel

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Zwei Zuhörer sind in ihren Erwartungen so getäuscht, wie die Leser, der dritte Zuhörer fühlt sich dagegen höchst befriedigt. Der Freiherr teilt einige dürftige Familiennachrichten mit

Der Schulmeister Agesilaus hatte schon während des letzten Teils dieser Erzählung deutliche Zeichen hergestellter Zufriedenheit von sich gegeben. Vergnügt hatte er seine Hände gerieben, sich auf dem Stuhle hin- und hergewiegt, ein Hm! Hm! Ja! Ja! So! So! Ei! Ei! dazwischen geworfen, und den Freiherrn mit einer Schalkhaftigkeit angesehen, welche eine Schattierung von Tiefsinn durchschimmern ließ. Nachdem nun Münchhausen zu Ende gekommen war, sprang der Schulmeister auf, lief zu dem Erzähler, schüttelte ihm die Hand, und rief: »Verzeihung, mein hochzuverehrender Gönner, daß ich die Standesunterschiede nicht achte, und Ihnen so geradezu mich nähere, aber wie Not kein Gebot hat, so achtet die Begeisterung keiner Schranke. Erlauben Sie mir, Ihnen auszusprechen, wie mich Ihre diesmalige Diatribe, in die Form einer historischen Novelle gegossen, erquickt hat. So fahren Sie fort, dann sind Sie des Dankes aller Edeln gewiß. Endlich doch einmal Nahrung für Geist und Herz!«

»Ich verstehe Sie nicht«, versetzte ernsthaft der Freiherr.

»O! O! O! aber ich verstehe Sie, mein Hochgeschätzter«, rief der Schulmeister. »Ja, ja, Erleuchteter, das kommt bei den Übertreibungen heraus! Das haben wir davon, daß wir alles auf die Spitze stellen, von allem und jeglichem das Höchste, Überschwenglichste begehren! Nicht wahr, mein Verehrtester, Sie wollten mit Ihrer anscheinlichen Ironie gegen jenen so oft verkannten und angefeindeten Mann sagen: Seht, zu solchen maßlosen Extravaganzen gelangt man, so überspringt der Spott sich selbst, so fallen die stärksten Hiebe, wenn Leidenschaft sie führt, immer über den zu Hauenden hinaus in das Leere, und darum lernt Euch begnügen, Ihr Leute, mit dem Vorhandenen, geht zwischen Haß und Enthusiasmus die Mittelstraße, die von den Weisen aller Zeiten immer die goldne genannt wurde! Diese und ähnliche Lehren wollten Sie durch Ihren ausschweifenden Angriff einschärfen, wenn ich sonst, nicht oberflächlich an der Oberfläche Ihrer Reden haftend, deren inneren Sinn richtig aufgefaßt habe.«

Auf diese Anrede erwartete der Schulmeister etwas Schmeichelhaftes. Der Freiherr sah ihn jedoch nur mit weitgeöffneten Augen starr an, und sagte nach einem langen Schweigen nichts, als: »Herr Professor, Sie sollten uns doch auch noch einen Kommentar über den »Faust« schreiben.« — Dann wandte er ihm den Rücken und suchte die Blicke des Fräuleins auf, die ihn aber mieden.

Diese liebte eigentlich im stillen den Helden der Novelle, weshalb ihr auch der Vorschlag, seiner unerschrocknen Wirksamkeit ein Ziel zu setzen, nicht vom Herzen gekommen war. Sie pflegte sich in ihren erregtesten Stunden seine lombardischen Chausseepappelverse zu ihrer Aufrichtung laut vorzusagen. Nun hatte sie jedoch auch, wie alle Damen, eine unglaubliche Furcht vor dem Lächerlichen, und da sie denn doch während Münchhausens Erzählung sich mit ihrem Lieblinge in dieser Beleuchtung zu einer Gruppe vereinigt sah, so fühlte sie sich in ihrem Bewußtsein völlig vernichtet, und rang vergebens nach einem Anker für ihre ratlose Seele. Zugleich aber ängstigte sie das Schweigen, welches nach den Verhandlungen zwischen dem Freiherrn und dem Schulmeister in der Gesellschaft entstanden war, und nicht weichen wollte. Denn ihr Vater schnitzte, wie er zu tun pflegte, wenn er gänzlich verstimmt war, mit seinem Federmesser Einkerbungen in den schlechten hölzernen Tisch, um welchen alle saßen, und murrte nur halblaut vor sich hin: »Der Schulmeister schnappt noch gar über! Es war ja die pure, blanke Gottes-Satire auf den Hirseschwenzel, oder Schmirsehenzel, oder wie der Mensch sonst heißen mag! Denn Dichterei und Romanenwesen ist meine Sache nicht, sondern Natur- und Völkerkunde.«

Der Schulmeister aber saß schweigend und zornrot da. Er hatte zwar Münchhausens Antwort nicht eben ganz verstanden, fühlte jedoch, daß darin ein Stich liegen müsse. In diesem Punkte war nun nicht mit ihm zu scherzen, denn seine Eitelkeit war nur seiner unbegrenzten Vorliebe für die Sitten der alten Sparter gleich.

Wer hat nicht einmal die Last solcher Windstillen in der Gesellschaft erfahren? Die gesamte Sozietät sitzt wie eine Flotte, die sich auf dem unbewegten Meeresspiegel nicht zu rühren vermag. Schlaff hangen die Segel herab, verzweiflungsvoll schaun alle Blicke nach ihnen hinauf, ob nicht ein frisches Lüftchen sie endlich schwellen wolle. Umsonst! Das ist, als ob ein Rad in der Schöpfung gebrochen, und die ganze Maschine mit Sonne, Mond und Fixsternen in Stockung geraten sei. So sucht eine in Windstille versetzte Gesellschaft auch verzweiflungsvoll nach einem Gedanken, nach einer Vorstellung, ja nur nach einer Redensart, um sie in die Segel der Konversation zu hauchen; vergebens! Nichts will über die Lippen, nichts hörbaren Laut gewinnen. Der Mythus sagt, in solchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer, aber nach der Länge derartiger Pausen zu urteilen, müssen zuweilen auch Engel diese Flugübungen anstellen, deren Gefieder aus der Übung gekommen ist. Endlich pflegt einer sich zum Opfer für das Gemeinwesen darzubringen, er fährt mit einer ungeheuren Dummheit heraus, und damit ist der Zauber gelöset, das Band der Zungen entfesselt; die Ruder klatschen, die Segel sausen, der Kiel schwirrt lustig durch das Meer von Kunst, Stadtneuigkeiten, Politik, Krankheits- und Gesundheitsumständen, Religion und Karnevalsbällen.

Nachdem das Schweigen in der Gesellschaft, von welcher hier die Rede ist, etliche Minuten gedauert hatte, und die verschiednen Affekte der Schweigenden in die heiße Sehnsucht, ein menschliches Wort zu vernehmen, übergegangen waren, sagte das Fräulein zu Münchhausen plötzlich, wie von einem guten Geiste erleuchtet: »Es pflegt doch immer im Sommer schöneres Wetter zu sein, als im Winter.«

Nach dieser Explosion atmeten alle frei auf und fühlten sich von dem Zauber erlöset, der über ihnen gelastet zu haben schien, nachdem von unsrem Nationaltragöden so viel die Rede gewesen war. Münchhausen aber küßte dem Fräulein die Hand und versetzte: »Sie haben da eine tiefsinnige Wahrheit ausgesprochen, meine Gnädigste, und ich kenne außer Ihnen nur noch eine Dame, welche diese großartige Naturbetrachtung fest im schönen Gemüte ergriffen hat, und sie einem Dichter zu äußern pflegt, jederzeit, wo er das Glück hat, ihr zu nahn. Vergebens, daß der Dichter manches ausgehen ließ, was der Welt nicht unbekannt blieb, daß man überhaupt mit ihm von allem und jedem sprechen kann, weil er so ziemlich für alles und jedes sich interessiert, und über die Dinge, von denen er nichts versteht, gern Belehrung empfängt — vergebens alles dieses, sage ich — die Dame äußert, so oft er das Glück hat, ihr zu nahen, nur ihre Überzeugung, daß im Sommer das Wetter schöner zu sein pflege, als im Winter.«

»Unmöglich!« rief der alte Baron.

»Vielleicht unmöglich, aber gewiß wahr«, versetzte Münchhausen. »Der Dichter ist mein Freund und hat mir die Tatsache bei seinem Ehrenworte beteuert.« — Münchhausen fuhr heiter fort: »Ich wollte Ihnen einige kurze Nachrichten über meine Familie geben; hier sind sie. Der sogenannte Lügenmünchhausen ist mein Großvater, wenn unser Stammbaum in Bodenwerder recht hat. Adolph Schrotter in Düsseldorf hat ihn jüngst gemalt, wie er unter Jägern und Pächtern sein Pfeifchen schmaucht, und diesen Leuten seine Geschichten erzählt. Ein dicker Mann sitzt ihm gegenüber und hat den Rock ausgezogen, um besser zuhören zu können, in seinem Gesichte spricht sich die gläubigste Hingebung aus, und sein großer Hund, der neben ihm liegt, sieht ihm sehr ähnlich.

Adolph Schrotter hat meinen Großvater getroffen, wie kein anderer vor ihm. Das ist aber auch kein Wunder, denn mein Großvater ist ihm im Traume erschienen, er hat eine Vision von ihm gehabt. Die frommen Maler haben nicht allein Visionen, nein! die andern haben die ihrigen auch. Es malt keiner ein paar Kinder, die von zwei schlechten Kerlen totgemacht werden sollen, oder eine Kegelbahn, oder auch nur ein Porträt, ohne daß er eine Vision von diesen Dingen gehabt hätte. Und das ist der Vorteil dieser weltlichen Gesichte: Man kann immer da die Vergleichung anstellen, und urteilen, ob die Erscheinungen richtig gewesen sind, denn überall gibt es unschuldige Kinder und schlechte Kerle und Kegelbahnen, und Leute, die sich porträtieren lassen; aber bei den frommen Visionen kann man das nie, und man weiß daher auch nicht, ob die lieben Engelein und Heiligen und die Mutter Gottes so ausgesehen haben, wie die Leute behaupten, daß sie ihnen vorgekommen seien.

Daß Adolph Schrotter eine richtige Vision gehabt, bestätigte noch letzthin ein alter eisgrauer Jäger von Bodenwerder, der jetzt mit Ratten- und Mäusepulver handeln geht, und der denn endlich auch an den Rhein gewandert war. Er kam auf die Kunstausstellung, weil er glaubte, dort Geschäfte machen zu können und rief, als er das Bildchen sah: »Das ist der alte Herr, wie er leibte und lebte, wenn er von den zwölf Enten erzählte!« Das Bildchen soll jetzt, Figuren über Lebensgröße, al fresco für ******** ausgeführt werden.

Meinem Vater tat die Abstammung von diesem Manne Zeit seines Lebens den größten Schaden. Wenn er Geld erborgen wollte und auf Kavalierparole die Rückzahlung versprach, sobald sie sich tun lasse, sagten die Wucherer, mit denen er unterhandelte: »Wir bedauern sehr, aber wir können nicht dienen, denn Sie sind der Herr von Münchhausen.« Er trat in Kriegsdienste und machte als Stabsrittmeister einst einen allerdings unwahrscheinlich lautenden Rapport; der General glaubte ihm nicht, und davon war die Folge, daß eine große Schlacht verlorenging. Kabale über Kabale wurde gegen ihn gespielt; man drehte die Sache ganz herum, er erhielt in Ungnaden seinen Abschied. Nun widmete er sich dem Finanzfache, da entdeckte er ein geheimes Mittel, die edeln Metalle zu vervielfältigen, wollte es dem Staate verkaufen, aber der Staat wies ihn zurück und sagte, es sei schon gut, man wisse, daß er Münchhausen heiße. Auch aus dem Finanzfache wurde er ungnädig dimittiert, weil er ein Schwindler sei, wie es in dem Entlassungsreskripte hieß. Was hat der Staat von seiner Zurückweisung gehabt? Papiergeld mußte er machen.

Mein Vater aber hatte von seinem Geheimmittel auch nichts; er konnte es für sich nicht in Anwendung bringen, die Kosten der ersten Auslagen waren für einen Privatmann zu bedeutend. Bei zwölf Fräuleins hielt er nacheinander um ihre Hand an, aber

Die erste sagte scheu,

Die zweit‘ — ein Leu —

Die dritte spitzig,

Die vierte witzig,

Die fünfte hitzig,

Die sechste zornwinkend,

Die siebente borntrinkend,

Die achte stickeiferig sehr,

Die neunte blickschweiferig mehr,

Die zehnte rücksteiferig-hehr,

Die eilft‘, ein Bärbchen, schnipp‘sch, zwar weichend, doch gütig,

Die zwölft‘, ein Körbchen hübsch darreichend, hochmütig:


»Herr von Münchhausen, wir danken für die uns zugedachte Ehre; Sie führen uns doch nur an.«

So schlugen alle meine zwölf projektierten Mütter dem armen Manne sein Begehr ab, bloß wegen seines Namens und wegen der Erinnerung an den Großvater. Ich wäre ohne Mutter geblieben, wenn er nicht zuletzt noch bei einer dreizehnten Gehör gefunden hätte, bei einer Denkerin, die in des Großvaters Lügenbuche einen geheimen Sinn ahnete, und alles allegorisch und theosophisch auslegte. Sie gab meinem Vater ihr Jawort, nicht aus Liebe zu ihm, wie sie ihm bei der Verlobung offen sagte, sondern aus Achtung für den Großvater.

Über diese Ehe darf ich mich nicht aussprechen. Sie birgt Geheimnisse, die wieder tief in andre Geheimnisse meines tiefsten Seins verflochten sind, und welche mit mir zu Grabe gehen werden. Nur so viel mag ich Ihnen vertrauen: Eine Ehe aus Achtung für den Vater des Gatten ist für diesen die unglückseligste unter den unglückseligen Ehen. »Die unglückliche Ehe aus Delikatesse« von Schröder bedeutet gar nichts dagegen, und die Heirat durch ein Wochenblatt gründet ein Paradies, mit der Achtungs-Ehe verglichen.

Theophilus, Freiherr von Münchhausen, (so heißt der Mann, welcher vor der Welt mein Vater heißt;) ergab sich ganz den ernstesten Studien, nachdem es ihm im Leben und in der Ehe so äußerst schlecht gegangen war. Er wurde ein großer Wassertrinker, und ich habe ihn, während ich in Bodenwerder verweilte, nur dreimal lächeln sehen.

Meine früheste Jugend verlebte ich durch eine seltsame Verkettung von Zufall, Schickung und Leidenschaft unter dem Vieh, und zwar bei einer Ziegenherde am Öta. Was ich da erfahren, will ich Ihnen späterhin erzählen, für jetzt nur so viel, daß ich meine Knabenjahre, abermals durch eine seltsame Verkettung von Zufall, Schickung und Leidenschaft im väterlichen Hause zubringen durfte. Da trieb ich denn nun alles und jedes mit dem Manne, dem ich, die Geheimnisse mögen nun sein, welche sie wollen, doch immer meine Tage verdanke.

Vormittags: Philologie, Geographie, Alchimie, Technologie, Spezialhistorie, Generalhistorie, Physik, Mathematik, Statik, Hydrostatik, Aerostatik;

nachmittags: Literatur, Poesie, Musik, Plastik, Drastik, Phelloplastik, gemeinnützige Kenntnisse;

abends: Gymnastik, Hippiatrik, Medizin, insonderheit Anatomie, Physiologie, Pathologie, Semiotik, Biotik, Materia medica;

nachts: repetierten, experimentierten, disputierten wir.

Bei diesem Lehrplane konnte ich denn allerdings manches aufschnappen.«

»Und wann schliefen Sie?« fragte das Fräulein.

»Hin und wieder eine Viertelstunde bei den leichteren Doktrinen«, versetzte der Freiherr. »Ich war Schnellschläfer, wie man Schnelläufer hat. In wenigen Minuten konnte ich den Gehalt von Schlafstunden gewöhnlicher Menschen zusammendrängen. Von Schlaf kann überhaupt für jemand, der sich auf der Höhe des Jahrhunderts halten will, nach der großen Ausdehnung, welche die Wissenschaft gewonnen hat, heutzutage wohl nicht mehr viel die Rede sein. — Neben dieser intellektuellen Bildung, die ich auf Bodenwerder erhielt, wurde mein Charakter, mein Gemüt nicht verabsäumt. Ganz besonders brachte mir mein sogenannter Vater den heftigsten moralischen Widerwillen gegen das Lügen bei, weil der Großvater durch dieses Laster das ganze Familienglück zerstört hatte. Er folgte in manchen Dingen seinen eigenen Grundsätzen, mein sogenannter Vater, und hielt erstaunlich viel auf die Gewalt der ersten sinnlichen Eindrücke in der Jugend. Ich bekam daher alle Sonn- und Feiertage eine allegorische Figur der Wahrheit, aus Honigkuchenteig gebacken, zu verzehren, nämlich, eine unbekleidete Person, die Augen zwei Rosinen, die Nase eine Bamberger Pflaume, auf der Brust eine Sonne von Mandelkernen. Hatte ich nun diese Allegorie mit Wollust verspeiset, so wurde mir dabei unaufhörlich wiederholt: »Süß, wie der Honigkuchen, ist die Wahrheit.« Wenn ich mir aber den Magen verdorben hatte und Rhabarber einnehmen mußte, so hieß es im einschärfendsten Tone: »Das ist der bittre Trank der Lüge.«

Die Richtigkeit der Methode bewährte sich an mir. Ich bekam wirklich einen unbesieglichen Abscheu gegen das Lügen und kann wohl sagen, daß aus meinem Munde nie ein unwahres Wort gegangen ist, mit einer einzigen Ausnahme, die aber sofort sich bitter an mir rächte. Lange Zeit konnte ich der Wahrheit oder gewisser Wahrheiten nicht denken, ohne daß mir Honigkuchen, Rosinen und Mandelkerne und Bamberger Pflaumen einfielen, endlich erhob ich mich freilich zu gereinigteren Vorstellungen.

Was aber die einzige Lüge meines Lebens und ihre Folgen betrifft, so ging es damit folgendermaßen zu. Ich sitze eines Tages in meinem Zimmer am Schreibepult und habe eine sehr notwendige Arbeit vor. Der Bediente meldet mir einen Besuch. »Geh‘ hinaus«, sage ich, »ich wäre nicht zu Hause.« Der Herr wäre nicht zu Hause, sagt er draußen. Sowie der Mensch seine Botschaft ausgerichtet hat, und ich höre, daß mein Besuch abzieht, spüre ich eine Unruhe, die mich am Pult nicht weilen läßt; ich muß aufspringen, es wird mir heiß, es wird mir kalt, jetzt wird mir so, dann wird mir so; der Rhabarber fällt mir ein aus meinen Jugendjahren und dessen allegorische Deutung, die Phantasie tritt in ihre ungeheuren Rechte, die geheimen Bezüge zwischen Seele und Leib fangen an zu ziehen, immer wesenhafter, kreatürlicher wächst die Idee des Rhabarbers in mir, bald bin ich vom Kopf bis zur Fußzehe jeder Zoll Rhabarber, die Natur folgt der Vorstellung, das Übel bricht aus — — Sie erraten das übrige! —

Die Folgen meiner Lüge, durch Rhabarber-Allegorie-Erinnerung bedingt, treten mit einer Stärke auf, vor welcher die Wissenschaft scheu zurückweicht. Vierundzwanzig Ärzte gab es in der Stadt; alle kommen nach und nach zu der leidenden Kreatur. Vierundzwanzig Ansichten werden laut, vierundzwanzig verschiedene und entgegengesetzte Mittel werden verordnet. Der erste hält die Krankheit für eine Schwäche, der zweite für Hypersthenie, der dritte für eine neue Form der Schwindsucht. Der vierte verschreibt Sinapismen, der fünfte Kataplasmen, der sechste Blähungen; der siebente Adstringentia, der achte Mitigantia, der neunte Corroborantia; Ipekakuanha! ruft der zehnte, nein, Hyosciamus! schreit der eilfte; keines von beiden, sondern Meerzwiebel, sagt ruhig der zwölfte; dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebenzehn operieren, skarifizieren, amputieren, evakuieren, trepanieren; Nummer achtzehn hat in der Diagnose recht, Nummer neunzehn findet die Prognose schlecht; der zwanzigste gibt Borax, der einundzwanzigste Storax, der zweiundzwanzigste findet des Übels Sitz im Thorax; der dreiundzwanzigste mir Frankenwein bot, der vierundzwanzigste macht mich Kranken scheintot.

Aus diesem Zustande erweckt mich ein Homöopath mit 1/6000000 Gran Arsenik. »Herr Medizinalrat«, flüstre ich ihm, entkräftet von vierundzwanzigfacher allopathischer Behandlung zu, »Herr Medizinalrat, ich hab‘s vom Lügen!« — »Vom Lügen?« versetzt er. »Nichts leichteres dann, als die Heilung. Similia similibus. Sie müssen verleumden d. h. lügen mit feindseliger Absicht, dann gibt sich die Krankheit sofort!«

Ein Blitz fährt durch meine Seele. »Nach Schwaben!« rufe ich; »nach Stuttgart! Doktor Nachtwächter ist ein Menschenfreund, er wird mir die Liebe erzeigen, und mich zu meiner Herstellung einige Zeit lang am Literaturblatte mitarbeiten lassen.« — Ich werde in Betten eingepackt, in den Wagen gesetzt, erreiche Stuttgart halbsterbend. Der Herausgeber des Literaturblattes kommt eben aus der Ständekammer, worin er von dem Drucke, unter dem die Kirche schmachte, redete, bei der Beratung der Kammer über das Moststeuergesetz. »Edler Mann«, sage ich, »Sie, aus dessen Antlitz Güte und Redlichkeit leuchten, Nachtwächter Sie Germaniens, der immer abtutet, wie hoch es an der Zeit sei, wenn die Stunde vorüber ist, so und so geht mir‘s.« Ich erzähle ihm den Kasus und trage ihm mein Anliegen vor. »Gern gewährt«, versetzt Nachtwächter, »was schiert mich die Literatur?« Er erteilt mir seine Instruktionen für einen Artikel des Blattes, ich fange danach an zu schreiben. Bei der ersten Seite verspüre ich schon Linderung, bei der zweiten Minderung, bei der dritten sammle ich Kräfte, bei der vierten bessern sich meine Säfte, mit der fünften kommt den abgemagerten Gliedern die vorige Rundheit, und die sechste schenkt mir die vollkommene Gesundheit, so daß ich nicht nötig hatte, von Autoren und Büchern, denen etwas versetzt werden sollte, weiter zu schreiben, und Nachtwächtern die Vollendung des Artikels überließ.

So half mir das Stuttgarter Literaturblatt homöopathisch von den durchschlagenden Wirkungen der Lüge. Nachtwächter muß in seiner Jugend keinen Rhabarber eingenommen haben, oder keine Imagination besitzen, sonst wäre er an seinem Blatte längst verschieden. Ich aber werde mich wohl hüten, zum zweitenmale gegen das Gesetz der Wahrhaftigkeit zu sündigen, denn Nachtwächter hilft mir nicht wieder, das weiß ich. Er schreit über Undank; ich hätte an seinem Herde gesessen, er hätte mich aufgenommen, gastfrei, wie der Capitain Rolando den Gil Blas in seiner Spelunke aufnahm, und doch wäre ich so pflichtvergessen gewesen, nicht weiter für ihn lügen zu wollen, als ich mich auskuriert hätte.

Auf diese und ähnliche Anklagen führt nun freilich ein alter Vers die Verteidigung, welche also lautet:

»Die Wahrheit nur verknüpft, die Lüge hält nicht Stich;

Betrügest du die Welt, betrügt der Lügner dich.«


Eine Korrespondenz des Herausgebers mit seinem Buchbinder

I. Der Herausgeber an den Buchbinder

»Aber, lieber Herr Buchbinder, was für Streiche machen Sie in jüngster Zeit! Neulich schicke ich Ihnen: »Zur Philosophie der Geschichte. Von Karl Gutzkow.« Sie aber setzen hinten auf den Titel: »Zur Philosophie der Geschichte von Karl Gutzkow«, so, als ob dieses Buch eine innere Geschichte des Autors enthalte, ungeachtet er doch darin von den toten Kräften und den natürlichen Voraussetzungen in der Geschichte, vom abstrakten und konkreten Menschen, von Mann und Weib, von der Leidenschaft, vom Staat, von Krieg und Frieden, von Übergangszeiten, von Revolutionen, und endlich vom Gott in der Geschichte handelt; mithin das ganze Gebiet des historischen Nachdenkens in seinem Werke durchwandert. Heute aber bekomme ich von Ihnen das erste Buch meiner Münchhausenschen Denkwürdigkeiten zurück, und da sehe ich, daß Sie die zehn ersten Kapitel gänzlich verheftet, sie hinter die Kapitel Eilf bis Fünfzehn gebracht haben. Ich ersuche Sie unter Rückgabe des Buches eine Umheftung vorzunehmen.

Der ich übrigens mit Achtung u.s.w.«

II. Der Buchbinder an den Herausgeber

»Ew. Wohlgeboren haben mir schmerzliche Vorwürfe gemacht, die ich so nicht auf mir sitzen lassen kann. Ich bin lange genug im Geschäft, und weiß, was es damit auf sich hat. Heutzutage muß, wenn der Autor sich verpudelt hat, ein ordentlicher Buchbinder ein bißchen auf das Verständnis wirken, durch Winke auf den Rückentiteln, oder, wo sie sonst sich anbringen lassen.

Die Schriftsteller sind etwas konfuse geworden. Die jungen Leute lesen und lernen zu wenig, aber unsereins, dem sozusagen, die ganze Literatur unter das Beschneidemesser kommt, und der alle die Nachrichten »für den Buchbinder« durchstudieren muß, deshalb aber genötigt ist, noch rechts und links von den Nachrichten sich umzuschauen, o der gewinnt ganz andre Übersichten. Da muß man denn helfen, so gut man kann, und oft läßt sich der rechte Gesichtspunkt für ein Buch feststellen, bloß dadurch, daß man einen Punkt oder ein Komma wegläßt, oder zusetzt, wie denn gerade die Sachen sich verhalten.

Bei dem Buche von Karl Gutzkow tat es die Weglassung des Punktes hinter »Geschichte«. Ew. Wohlgeboren! Ich habe Spittler eingebunden und Schlözer, und Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« sind mir wenigstens hundertmal unterm Falzbein gewesen, und jetzt binde ich Ranke viel ein — ich sage Ihnen, die Männer schrieben so schöne dicke Bücher, und so viele Noten und Zitate stehen in den Büchern, daß man sieht, wie die Verfasser sich‘s haben sauer werden lassen mit der Philosophie und der Geschichte — ich sage Ihnen, es ist rein unmöglich, daß man auf 305 Seiten, wie Karl Gutzkow getan, den Gott, und die Revolutionen und den Teufel und seine Großmutter in der Geschichte abhandeln kann. Aber das ist auch gar nicht seine Absicht gewesen, wie sich aus dem Vorworte ergibt, welches ich lesen mußte, weil ich einen Karton einzulegen hatte. Denn darin sagt der Autor, er habe keine anderen Quellen zur »Philosophie der Geschichte« benutzen können, als höchstens einige an die Wand gekritzelte Verwünschungen der Langenweile, oder einige in die Fensterscheiben geschnittne Wahlsprüche unbekannter Namensinschriften. Wenn er nun das Buch, was er vermutlich auch nur schrieb, um sich die Langeweile zu vertreiben, dennoch herausgab, so konnte das nur in der einzigen Absicht geschehen, Memoiren über seine schlechten und mangelhaftigen Studien zu liefern, und der Titel, wie ich ihn mit goldenen Lettern setzte, ist ganz richtig: »Zur Philosophie der Geschichte von Karl Gutzkow«.

Warum ich aber die letzten Kapitel Ihres Buches zu den ersten machte, das sollen Sie auch gleich vernehmen. Sie hatten die Münchhausenschen Geschichten wieder so schlicht angefangen, wie Ihre Manier ist: »In der deutschen Landschaft, worin ehemals das mächtige Fürstentum Hechelkram lag, erhebt sich eine Hochebene« u.s.w. hatten dann von dem Schlosse und seinen Bewohnern berichtet, und waren endlich nach und nach auf den Helden dieser Erzählungen gekommen.

Ew. Wohlgeboren, dieser Stylus mochte zu Cervantes Zeiten gut und ersprießlich sein, wo die Leser so sacht und gelind in eine Erzählung hineinkommen wollten, wie in eine Zaubergrotte, von der die Märlein singen, daß eine schöne Elfe davor sitzt, und den Ritter mit wunderleisen Klängen in die karfunkelleuchtenden Klüfte lockt. Sie stößt auch nicht in die Trompete, oder bläst die Baßposaune, oder macht Pizzicato, sondern sie hat eine kleine goldne Laute im Arm; aus deren Saiten quellen unschuldige, naive Töne, wie harmlose Kinder, die um den Ritter Blumenfesseln schlingen, und eh‘ er sich‘s versieht, ist er umsponnen und durch den Grotten-Eingang gezogen, und steht mitten in dem Reiche der Wunder, bevor er nur gemerkt hat, daß er aus der Welt da draußen hinweggegangen ist.

Aber heutzutage paßt die Magie eines solchen süßfesselnden Styls gar nicht mehr.

Ew. Wohlgeboren, heutzutage müssen Sie noch mehr tun, als die Baßposaune blasen, Sie müssen den Tam-Tam schlagen, und die Ratschen in Bewegung setzen, womit man in den Schlachtmusiken das Klein-Gewehrfeuer macht, oder falsche Quinten greifen, oder vor die Dissonanz die Konsonanz schieben, wenn Sie die Leute »packen« wollen, wie es genannt wird.

Ew. Wohlgeboren, die ordentliche Schreibart ist aus der Mode. Ein jeder Autor, der etwas vor sich bringen will, muß sich auf die unordentliche verlegen, dann entsteht die Spannung, die den Leser nicht zu Atem kommen läßt, und ihn par force bis zur letzten Seite jagt. Also nur alles wild durcheinander gestopft und geschoben, wie die Schollen beim Eisgange, Himmel und Erde weggeleugnet, Charaktere im Ofen gebacken, die nicht zu den Begebenheiten stimmen, und Begebenheiten ausgeheckt, die ohne Charaktere umherlaufen, wie Hunde, die den Herrn verloren haben! Mit einem Worte: Konfusion! Konfusion! — Ew. Wohlgeboren, glauben Sie mir, ohne Konfusion richten Sie heutzutage nichts mehr aus.

Ich habe, soweit ich vermochte, in diesem Stücke bei den Münchhausianis für Sie gesorgt, und ein bißchen Konfusion gestiftet, so viel es sich tun ließ, damit die benötigte Spannung entstehe. Sehen Sie, so wie jetzt das Heft gebunden ist, kann kein Mensch bisher erraten, woran er ist, wer der alte Baron ist, und das Fräulein und der Schulmeister, und wo sich die Sache zuträgt? Hat sich aber ein tüchtiger Leser erst durch einige Kapitel hindurchgewürgt, dann würgt er sich auch weiter, denn es geht den Leseleuten so, wie manchem Zuschauer in der Komödie. Er ärgert sich über das schlechte Stück, er gähnt, er möchte vor Ungeduld aus der Haut fahren, aber dennoch bleibt er sitzen, weil er einmal sein Entrée-Geld gegeben hat, und dafür auch seine drei Stunden absitzen will.

Also, Ew. Wohlgeboren, ich dächte, Sie ständen von dem Verlangen nach Umheftung ab. Der ich übrigens u.s.w.«

III. Der Herausgeber an den Buchbinder

»Lieber Herr Buchbinder, Sie haben mich überzeugt. Ach, ich lasse mir jetzt von jedermann raten in meinem Metier, selbst von Ihrem Jungen, wenn er mir etwa Vorschläge über das neue Buch machen kann. Es hat mir schon so mancher Junge Zurechtweisungen erteilt, und ich habe sie nicht befolgt und schwer darob büßen müssen.

Es soll also bei der Verheftung bleiben, und wenn Sie oder Ihr Junge in der Folge merken, daß ich wieder gegen die Spannung, oder die unordentliche Schreibart gesündigt habe, dann heften Sie nur nach Gutdünken die Kapitel durcheinander, und verbessern auf solche Weise das Buch. Ich glaube sogar, daß ich nicht der erste in solchem Verfahren bin; Herr Steffens hat gewiß bei seinen Novellen von Walseth und Leith und den vier Norwegern und Malcolm dem Buchbinder eine gleiche Vergünstigung eingeräumt.

Vor ein sieben, acht Jahren hätte mir noch keiner so etwas bieten dürfen, aber ich bin — —

— — müde geworden, hatte ich geschrieben, lieber Buchbinder, und recht im Vertrauen auseinandergesetzt, warum man in der Welt jetzt so müde werden kann.

Zwei Damen aber, denen ich den Brief vorlas, sagten, das dürfe durchaus nicht stehen bleiben; der müde und weinerliche Ton zieme sich platterdings nicht für mich.

Sie haben recht. Mag die Welt uns alles versagen, die Geschichte und die Natur kann sie uns nicht versperren. Ich will die Buben heulen und greinen lassen über das Elend, welches sie doch eben hauptsächlich machen helfen.

Nein, Herr Buchbinder, unsere Augen sollen wacker bleiben, und die Wunden sollen uns schön stehen.

Aber was halten Sie von dem Münchhausen, und was meinen Sie, das aus ihm werden wird?«

IV. Der Buchbinder an den Herausgeber

»Ew. Wohlgeboren, aus dem Münchhausen wird nichts; da Sie denn doch meine Meinung wissen wollen. Dieses tut indessen nichts. Ein Buch, aus dem nichts wird, mehr oder weniger in der Welt, verschlägt nichts. Und dann können wir den einzelnen Abschnitten doch noch in etwa nachhelfen. Für diesen ersten habe ich schon so ein Hausmittelchen in Gedanken. Der ich übrigens u.s.w.«

V. Der Herausgeber an den Buchbinder

»Welches Hausmittelchen, lieber Herr Buchbinder? Ich bin äußerst gespannt auf Ihre ferneren Mitteilungen. Mit Achtung u.s.w.«

VI. Der Buchbinder an den Herausgeber

»Ew. Wohlgeboren, Briefwechsel sind jetzt beliebt, wenn sie auch nur Nachrichten von Schnupfen- und Hustenanfällen der Korrespondenten enthalten. Lassen Sie unsern Briefwechsel im ersten Buche mit abdrucken; der hilft ihm auf.«

VII. Der Herausgeber an den Buchbinder

»Auch unsre letzten Zettel?«

VIII. Der Buchbinder an den Herausgeber

»Jawohl.«

IX. Der Herausgeber an den Buchbinder

»Wohl!«

X. Der Buchbinder an den Herausgeber

(Kuvert um die Briefe des Herausgebers.)

Münchhausen

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