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I.

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Er ist grün. Ein altes, verbeultes Ungetüm von der Größe eines Einfamilienhauses. Sein Lack ist schäbig und an vielen Stellen abgeplatzt, von unzähligen braunschwarzen Rostflecken durchsetzt. Er ist laut, so ohrenbetäubend laut brüllt und tobt er mit wütender Kraft vor sich hin, dass einem der Atem stockt. Und er walzt alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt. Mit seinen riesigen, meterhohen Rädern hinterlässt er tiefe Furchen, kratertiefe Spuren auf jedem Untergrund. Er ist rücksichtslos, wahllos, ziellos in seiner Zerstörungswut. Und ich weiß nicht, warum er es ausgerechnet auf mich abgesehen hat.

Jeden Morgen erwache ich mit stets dem gleichen Gefühl: Ich gehöre mir nicht mehr. Ich gehöre dem Traktor, der jede Nacht zu mir kommt, von dem ich jede verdammte Nacht träume. Ich liege auf der bloßen Erde, einem armseligen, vertrockneten Stück Acker irgendwo am Ende der Welt, und spüre, wie mich seine schweren Räder immer tiefer hinab drücken. Meine Knochen zerbersten, mein Kopf wird zermalmt, meine Haut flach gewalzt wie ein Stück Papier. Ich werde zu Lehm, löse mich auf. Ich versuche zu schreien, doch mein Mund ist voller Steine. Vielleicht sind es auch meine Zähne. Ich spüre nur Schmerzen. Brennende, schneidende, bohrende Schmerzen, die sich in meinem Körper ausbreiten wie ein Feuersturm. Und die nach dem Aufwachen immer noch da sind, in jedem Knochen, in jeder Zelle, jeden verfluchten Morgen.

Jan schläft schon seit mehreren Monaten nicht mehr neben mir. Ich ertrage es nicht, ihn morgens aufwachen zu sehen, ausgeschlafen und voller Energie für den bevorstehenden Tag. Ich brauche eine halbe Stunde, um nacheinander beide Augen zu öffnen und an meinem Körper Stellen zu orten, die nicht schmerzen. Davon gibt es nicht viele. Ich betrachte die Tapete an der Wand und versuche, in ihrem Muster einen Sinn zu erkennen, eine Erklärung für das, was mit mir passiert. Dann schäle ich mich langsam unter meiner Decke hervor und krieche ins Bad. Schaue in mein fahles Gesicht mit den zerstörten Augen. Lasse heißes Wasser über meine Haut laufen, stundenlang. Suche die Abdrücke des Reifenprofils auf meinen Armen, Beinen, Brüsten. Doch da sind keine. Nur die Kissen und Decken haben mir tiefe Furchen ins Gesicht gegraben, die sehr langsam verblassen.


Jan frühstückt bereits, wenn ich danach in die Küche geschlichen komme. Vor ihm stehen ein Teller mit den Resten seines Wurstbrotes und eine Tasse Kaffee mit zwei gestrichenen Teelöffeln Zucker und einem kleinen Schuss Milch. Er ist ein Gewohnheitsmensch, steht jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit auf, auch wenn er keinen Termin hat, zieht sich dann seine Hose an und frische Socken, schlurft in die Küche und setzt den Teekessel auf. In der Zeit, die das Wasser zum Kochen braucht, schmiert er sich sein Brot und setzt sich an den Tisch. Wenn er das Brot zur Hälfte gegessen hat, bereitet er sich seinen Kaffee zu. Trinkt ihn dann in kleinen Schlucken, bei denen er die Mundwinkel leicht hochzieht, weil die heiße Flüssigkeit seinen empfindlichen Zähnen schmerzt.

Früher habe ich es geliebt, ihm bei diesen morgendlichen Verrichtungen zuzusehen, ihm ist auch heute noch anzumerken, wie intensiv ihn seine Eltern zu Zuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl erzogen haben, und auch wenn er ihre Lebensweise verabscheut, ihr Reihenhaus, das samstägliche Rasenmähen, der immer gleiche Ferienort, ist sie ihm eingeprägt, wie eine tief in die Haut implantierte Tätowierung. Ich mochte seine Mischung aus Schrulligkeit und Verlässlichkeit von Anfang an, sie amüsierte mich zwar und ließ mich immer neue zärtliche Sticheleien erfinden, aber flößte mir gleichzeitig grenzenlose Sicherheit ein. Heute frage ich mich, ob seine Erziehung auch erklären kann, dass er immer noch hier in unserer Küche sitzt, warum er nicht schon längst verschwunden ist. Schließlich kauert ihm gegenüber ein stummer Haufen alter Knochen, der sich nur in die Küche geschleppt hat, um einen letzten Rest von Normalität aufrecht zu erhalten.

Ich sehe Jan an, dass er mich nicht versteht. Nicht meine Müdigkeit, nicht meine Erschöpfung, nicht meine Schmerzen. Nicht die Leere, die Dumpfheit in mir. Und dann wieder die unendliche Genervtheit über eine Winzigkeit. Seine dunklen, forschenden Augen betrachten mich mit äußerster Vorsicht über den Küchentisch hinweg, als sei ich ein totes, zerquetschtes Insekt unter dem Mikroskop, sie versuchen zu orten, welche Stimmung bei mir gerade vorherrschend ist. Dabei ist es jeden Morgen die gleiche, nur manchmal habe ich mich ein bisschen besser unter Kontrolle. Ich spreche wenig, nur das Allernötigste, und den Rest der Zeit versuche ich, meine Knochen in die anatomisch vorgesehene Position zu bringen. Oder ich starre vor mich auf die Tischplatte, um nicht Jans verlegenes und aufmunternd gemeintes Lächeln sehen zu müssen. Das ich nicht ertragen kann, denn es sorgt dafür, dass meine innere Lähmung noch größer wird, weil ich diesem Lächeln nichts entgegen zu setzen habe. Es höhlt mich von innen aus, dieses Lächeln.


Jan nimmt seine Tasche und drückt mir einen zaghaften Kuss auf die Wange. Dann geht er und lässt mich zurück.

Ich lege mich wieder auf mein Bett. Langsam, weil mir jede Bewegung Schmerzen verursacht. Ich denke an Jan. Jetzt geht er die Treppe hinunter, jetzt öffnet er die Haustür, jetzt geht er die Straße hinunter bis zur Ecke, sieht erst nach links, dann nach rechts, dann noch einmal nach links, seine zutiefst gewissenhaften Eltern waren auch Meister der Verkehrserziehung. Jetzt geht er über die Kreuzung, jetzt geht er zu Faruks Kiosk, kauft sich ein Croissant für später, jetzt geht er weiter, jetzt kommt er bei seinem Büro an. Es ist nicht weit entfernt, er hat sich einen Schreibtisch in einer Bürogemeinschaft für selbständige Randexistenzen gemietet, um seine Projekte durchzuführen, weil er der Meinung ist, dass wir nicht beide gleichzeitig zuhause arbeiten können. Wahrscheinlich hat er grundsätzlich Recht.

Ich bin mir gerade aber nicht einmal sicher, ob er zuhause bleiben würde, wenn er wüsste, dass ich gar nicht mehr arbeite.


Ich weiß nicht, was dieses Mal der Auslöser dafür gewesen ist. Ich kenne diese Zustände bereits, ich kenne sie seit meiner Jugend, aber kein einziges Mal war es so schlimm wie jetzt. Bisher hat es geholfen, sich einfach ein paar Tage tot zu stellen, viel zu schlafen und sich auszuruhen, zu vergessen. Diesmal ist es anders. Ich zermartere mir jeden Tag das Hirn, was ich übersehen haben könnte, in meinem Kopf läuft ein endloses Tonband, das immer wieder die gleichen Fragen stellt, alle möglichen Gedanken taumeln in meinem Kopf hin und her. Doch ich komme auf keine Lösung.


Fast jeden Vormittag ruft meine Mutter an. Ich habe ihr irgendetwas von Rückenschmerzen erzählt, als sie mich eines Tages wie eine alte Frau durch die Gegend wanken sah. Doch sie kennt mich, sie weiß genau, wann ich lüge. Dennoch spielt sie das Spiel mit, ruft wieder und wieder an und erkundigt sich nach meinem Befinden, gibt mir Tipps, welche Hausmittel ich ausprobieren solle, Bäder, Sauna, Franzbranntwein, ihre Schwester habe gesagt, dass auch Fußreflexzonenmassage in solchen Fällen außerordentlich hilfreich sei. Ich murmele meine Zustimmung und tue doch nichts davon. Du arbeitest zu viel, sagt sie, du musst dich auch mal ausruhen, fahr doch einfach mal ein paar Tage alleine weg. Ich sage ihr nicht, dass schon die Vorstellung, in einen Zug steigen zu müssen, zu viel für mich ist. Und schaff dir endlich einen neuen Stuhl an, mahnt sie, ich sag dir schon lange, dass man auf deinem nicht lange sitzen kann, ich mache mir solche Sorgen um dich, was kann das nur sein mit deinem Rücken, ich liege jede Nacht wach und denke darüber nach, was es sein könnte, was sagt denn der Arzt? Sie hat sich vor längerer Zeit angewöhnt, jede meiner Krankheiten zu ihrer zu machen, so dass ich nicht nur unter meinen Symptomen leide, sondern auch unter den Schuldgefühlen, und jede ihrer Zuwendungen packt eine zusätzliche Last auf meine Schultern. Jetzt erwidere ich, dass ich noch nicht dort war, ich hoffe immer noch, dass das nicht nötig sein wird. Aber vielleicht solltest du doch mal hingehen, raunt meine Mutter, vielleicht hat es auch mit Jan zu tun, ist zwischen euch alles in Ordnung, flüstert sie. Hör auf damit, stöhne ich, zwischen uns ist alles gut, ich spreche mit meiner Mutter nicht mehr über meine Beziehungen, seit sie es geschafft hat, meine letzte vollständig zu vergiften, mit ihrem ständigen Raunen hat sie solange Zweifel in mir gesät, dass ich die Beziehung beendet habe. Zumindest in dieser Hinsicht bin ich heute weiter als früher.

Warum gehst du nur immer ans Telefon, wenn sie anruft, hat mich Jan lange Zeit gefragt. Wahrscheinlich, weil es kein Entrinnen vor ihr gibt. Wenn ich den Anruf gleich beantworte, lässt sie mich danach für den Rest des Tages vielleicht in Ruhe. Wenn ich es nicht tue, kann es passieren, dass mein Festnetztelefon und mein Handy gleichzeitig klingeln, sie bohrt solange nach, bis ich preisgegeben habe, was mit mir los ist. Sie ist wie ein Splitter, den man sich ins Fleisch gerammt hat, zuerst versucht man, ihn zu ziehen, doch er sitzt so tief drin, dass man nicht richtig drankommt, so sehr man auch mit der Nadel herumbohrt. Schließlich hofft man, dass Haut darüber wachsen wird und man damit leben kann, aber immer wieder fängt die Stelle an zu pochen. Als ich während meines Studiums einige Semester in einer anderen Stadt absolvierte und eines Samstags aus verschiedenen Gründen keine Lust hatte, ans Telefon zu gehen, stand meine Mutter am nächsten Morgen vor meiner Tür. Sie hatte sich sofort in den Zug gesetzt und war zu mir gefahren, obwohl die Reise zehn Stunden dauerte. Es gibt kein Entkommen. Das hat Jan seltsamerweise noch nicht verstanden, obwohl wir uns schon so lange kennen.


Früher waren wir beide ein ganz normales Pärchen. Wir lernten uns mit Mitte Zwanzig bei einem seltsamen Praktikum kennen, einem mehrtägigen Kurzfilmdreh im Schlosspark eines kleinen ostdeutschen Kaffs kurze Zeit nach der Wende. Während Jan als Fahrer arbeitete, war ich „Mädchen für alles“. In dieser Funktion kroch ich jeden Morgen über die Schlosswiese und fing Wespen, die in dem Film eine tragende Rolle spielten. Mit einem Einmachglas bewaffnet lockte ich sie mit Obststückchen und genoss den Triumph, den Schraubdeckel über ihnen zuzudrehen. Damals glaubte ich noch, solche Aktionen würden mich irgendwohin bringen. Untergebracht waren wir in einem ehemaligen Landschulheim, einem Plattenbau mit metallenen, viel zu kurzen Doppelstockbetten, über dessen Hof sich jeden Abend rechtsradikale Musik erbrach. Das Klischee reizte uns zum Lachen und schweißte uns zusammen.

Nach dem Praktikum und zurück in Berlin zogen wir zusammen durch die Nächte, lachten über unser gemeinsames Abenteuer in der ostdeutschen Provinz und hofften auf weitere. Wir liebten das Unerwartete, das damals die Stadt beherrschte, das Unfertige. Überall illegale Bars in Ruinen und Kellern, lächerliche Alkoholpreise, spontane Aktionen. Wir suchten das Ungewöhnliche, ließen uns gerne gemeinsam treiben, hierhin und dorthin, ohne festes Ziel. Wir verbrachten die Zeit bis zum Morgengrauen in zufällig entdeckten Cafés, lästerten über die Gäste und Passanten, ergötzten uns an unserer eigenen Überheblichkeit. Und tanzten bis zur Bewusstlosigkeit in neuen Clubs, besuchten provisorische Galerien, diskutierten unsere Zukunft und unsere Erwartungen. Alles schien uns möglich.

Wir studierten, bekamen unsere Zeugnisse. Wir machten weiterhin unzählige Praktika, bekamen schließlich unsere ersten Stellen, natürlich befristet. Wir arbeiteten uns trotzdem langsam nach vorne. Jan betreute wechselnde IT-Projekte, ich Drehbücher fürs Fernsehen. Wir hatten das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein.

Unser Alltag wurde geregelter, aber wir liefen immer noch am Wochenende gemeinsam durch die Stadt. Die illegalen Bars existierten nicht mehr, auch nicht die provisorischen Galerien. Der Osten wurde jetzt vom Westen bewohnt, doch auch darin fanden wir noch das Absurde. Wir wussten immer noch, welche Filme im Kino liefen, und welche Ausstellung man gesehen haben sollte. Auch wenn beides nun Eintritt kostet. Wir zogen abends immer noch um die Häuser. Auch wenn wir inzwischen früher müde wurden und nicht mehr die letzten waren. Oder die ersten, die morgens den Joggern entgegen taumelten. Irgendwann spürten wir, dass auch wir älter wurden und nicht länger unsterblich waren.

Schließlich zogen wir zusammen. In einen Altbau mit zwei Balkonen, abbröckelndem Stuck und maroden Elektroleitungen in einem der inzwischen heruntergekommenen Westbezirke. Eine Wohnung, wie sie jeder von unseren Freunden gerne hätte, weil sie einem ganz bestimmten Bild entspricht. Das man gerne von sich haben möchte.

Wir wurden ein Paar, das zusammen wohnt. Das sich nicht mehr verabreden muss, um sich zu sehen. Das die Nähe genießt, die sich dadurch ergibt. Und manchmal flucht, weil es kein Alleinsein mehr gibt. Weil lieb gewonnene und hart erarbeitete Rituale sich plötzlich abgenutzt anfühlen, weil sie nun immer möglich sind. Als Paar, das zusammen wohnt, freut man sich irgendwann nicht mehr mit derselben Innigkeit über den anderen, weil man sich sowieso jeden Tag sieht. Das ist alles normal und vorhersehbar, dennoch hatten wir geglaubt, dass wir dieser Regel entgehen würden. Falsch gedacht.


Schon der bloße Gedanke an eine körperliche Berührung verursacht mir gerade Schmerzen, als sei meine Haut offen und gebe darunter schimmerndes Fleisch frei. Wir haben uns deshalb schon längere Zeit nicht mehr berührt geschweige denn miteinander geschlafen. Aber ich kann mich noch an unser letztes Mal vor einigen Monaten erinnern. Es war Sonntag, der letzte Sex war einige Wochen her, und dieser Gedanke trieb mich in seine Arme. Früher waren es andere Gedanken – oder, besser gesagt, überhaupt keine.

Wir küssten uns ein wenig, unsere Finger beschritten die bekannten Pfade, die wohl recht ausgetreten wirkten, würde man sie kartografieren. Es existierten einmal auch andere Wege, doch wir gehen sie inzwischen nicht mehr, ob aus Bequemlichkeit oder aus Angst, vermag ich nicht zu sagen. Seine Haut war kühl und trocken, und während ich mit den Fingerkuppen über seinen Körper fuhr, bemerkte ich, dass sich auf dem Kopfkissen eingetrocknete Flecken befanden. Ich versuchte, woanders hinzusehen, hinauf zu seinem Gesicht, doch aus meiner Perspektive wirkten seine Züge seltsam verzerrt, seine rechte Wange hing ein bisschen herab, und ich fragte mich, ob sie das im letzten Jahr auch schon getan habe. Und im Jahr davor? Ich zwang mich, mich wieder zu konzentrieren, Nachdruck in meine Hand zu geben, Variabilität, Mitgefühl. Doch es nützte nichts, ich erkenne seine Haut nicht mehr, früher war sie wie ein Buch, das ich oft gelesen habe, wie ein Spiel, dessen Regeln ich kenne, heute spricht sie nicht mehr zu mir. Sein Gesicht gab nicht preis, ob er den Unterschied bemerkte, aber ich fragte mich: Liegt es an mir? Oder an ihm?

Schließlich setzte ich mich auf ihn. Ich war noch nicht feucht genug, schob ihn mir aber trotzdem zwischen die Beine. Es dauerte ja auch nicht lange. Dann rollte ich mich neben ihn, wir lagen noch eine Anstandsviertelstunde nebeneinander, die Augen fest geschlossen. Wurden schließlich vom Telefon erlöst, Jan stürzte mit einer nachlässig gemurmelten Entschuldigung hinaus.

Es ist sicher nicht so, dass wir uns nicht mehr lieben. Aber wir kommen nicht einmal mehr ins Schwitzen, wenn wir miteinander schlafen, es ist wie ein Glas Milch, das man ab und zu trinkt, weil irgendjemand mal gesagt hat, dass das Calcium gut für die Knochen sei.


Trotzdem haben wir natürlich über Kinder gesprochen. Klammheimlich haben die meisten unserer Freunde inzwischen welche bekommen. Am Anfang lästerten wir noch, wenn wir von irgendwelchen Treffen kamen, auf denen frischgebackene Eltern von den neuen Fähigkeiten ihrer Sprösslinge schwärmten, wir standen sprachlos daneben, als eine Freundin von ihrem Zweijährigen erzählte, der auf dem Spielplatz zwei kopulierende Käfer beobachtet und daraufhin gemeint hatte, die beiden spielten „Anhänger“. Alle lachten lauthals und schienen die Pointe zu verstehen – nur wir nicht.

Doch irgendwann wurden wir nachdenklich. Und je älter wir wurden, desto stärker wurde auch bei uns der Wunsch nach einem Kind. Ist das biologisch? Haben wir alle einen unsichtbaren Schalter eingebaut, der zu einem genetisch festgelegten Zeitpunkt plötzlich umspringt und diesen Wunsch gebärt? Oder ist es das Leben, das seine Spuren hinterlässt und einem einflüstert, es müsse doch noch etwas anderes geben als Überlebenskampf und Langeweile? Jan war sich auf jeden Fall sicher, dass er Nachwuchs wollte. Mit mir.

Ich war mir das eigentlich auch. Aber zur gleichen Zeit wuchs irgendwo in mir ein Geschwür heran, dunkelrot und schimmernd. Es blähte sich auf wie ein riesiges Furunkel, und wenn ich manchmal nachts wach lag, flüsterte es mir sogar hässliche Worte zu. Sein Name sei Zweifel. Und dieser Zweifel nagte an mir. Konnte ich wirklich eine Mutter sein?


Meine Mutter sah mir sofort an, dass etwas nicht stimmte, sie spürt jede kleinste Veränderung in meiner Seismografie, immer schon. Diese Kunst wurde ihr in den Jahren meines Lebens allmählich zur Passion, sie hat sie zur Perfektion gebracht, denn auf diese Weise muss sie nicht über ihr eigenes verpfuschtes Leben nachdenken, sie kann es ganz der Erforschung ihrer Tochter widmen. Als sie mir in unserem Stammcafé gegenüber saß, trug sie wieder ihre Mädchenklamotten, die mich wie ihre ältere Schwester aussehen lassen, und betrachtete mich prüfend, was hast du denn, mein Schatz, irgendetwas stimmt doch nicht mit dir, hast du dir was eingefangen, bist du etwa wieder ohne Mütze raus gegangen, ich habe dir doch gesagt, dass es jetzt kälter wird, oder ist etwas mit deinem Job, haben sie dir das Geld immer noch nicht gezahlt? Ich zögerte, und dieses kleine Abwarten meinerseits provozierte sie, wie geht es denn Jan, fragte sie scheinheilig, mit gezwungen demütig gesenktem Blick. Gut, danke, erwiderte ich mit unschuldiger Miene, aber trotz all meiner Bemühungen gab es auch diesmal kein Entkommen. Sie hat sich einfach zu tief unter meine Haut gebohrt.

Und schließlich erzählte ich ihr von dem Furunkel, das mich nicht schlafen ließ, von seinen Einflüsterungen. Davon, dass ich über ein Kind nachdachte. Es haben wollte. Dann wieder nicht. Ich hätte wissen müssen, dass meine Mutter der denkbar schlechteste Ansprechpartner für dieses Thema ist, denn sie hat nie nach Enkeln gefragt wie andere Mütter, war immer voller gedankenlosem Desinteresse gegenüber einer möglichen Großmutterrolle, aber ich war müde und einen kurzen Augenblick nachlässig, manchmal habe selbst ich noch die Vision einer von Blumenranken umflorten Mutter-Tochter-Beziehung, in der man nicht ständig sein Visier oben haben muss. In der man etwas über sich erzählen kann.

Schätzchen, mach dir nicht so viele Gedanken, meine Mutter schüttelte nachsichtig den Kopf, du machst dir immer so viele Sorgen, aber das Leben ist ganz anders, als man es sich immer vorstellt, ich weiß, dass alle deine Freundinnen gerade Kinder bekommen, aber das bedeutet nichts, ich kann verstehen, dass dich das verunsichert, aber nicht alle müssen Kinder kriegen, weißt du. Wie meinst du das, erwiderte ich irritiert, nicht alle MÜSSEN - aber wenn man es doch WILL? Meine Mutter sah zweifelnd aus, nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino, um sich ein wenig Bedenkzeit zu verschaffen, verschluckte sich dabei und fing an zu würgen, das passiert immer, wenn sie nervös wird, ein Kind zu haben, ist sehr anstrengend, weißt du, wisperte sie dann, mit um den Hals gelegten Händen, als wolle sie sich selbst erdrosseln, und dir geht es ja manchmal nicht so gut, ich will damit nur sagen, dass so etwas gut überlegt sein muss. Meinst du, das tue ich nicht, schrie ich auf einmal, habe ich dir nicht gerade erzählt, dass ich schon monatelang darüber nachdenke und zu keiner Lösung komme? Jetzt reg dich doch nicht so auf, Kleines, raunte meine Mutter daraufhin und sah sich unruhig um, um sich zu vergewissern, ob wir schon die Blicke der anderen Gäste auf uns zogen, die ersehnte Verwirklichung eines harmonischen Nachmittags ließ wieder einmal auf sich warten. Ich rege mich so viel auf, wie ich will, heulte ich, ich hätte wissen müssen, dass ich mit dir nicht darüber reden kann, verdammt noch mal, wieso musst du immer nur von dir reden, nur weil du mich nicht gewollt hast, muss das doch nicht auch auf alle anderen zutreffen?

Wie gesagt: Wir können nicht gut miteinander reden.


Meine Eltern lernten sich mit ungefähr 18 Jahren kennen, also sehr jung. Meine Mutter ist ein Jahr älter als mein Vater, was erklärt, dass sie schon damals ein gutes Stück reifer und durchtriebener war als er. Es folgte die übliche Romanze zwischen Frischverliebten, aber die beiden mussten sich oft heimlich treffen, weil ihre Eltern möglichst wenig davon mitbekommen sollten, deshalb verließ meine Mutter ihr Jungmädchenzimmer häufig nachts, indem sie durchs Fenster kletterte und von dort auf die Garage sprang. Ihr eigener Vater war streng und verprügelte sie und ihre Geschwister in ihrer Kindheit fast täglich mit dem Gummischlauch, allerdings bekamen die Mädchen dabei seltsamerweise immer mehr Prügel als die Jungen. Die Anlässe waren nichtig: ein paar verspritzte Tropfen im Bad, ein nicht abgeräumter Teller. Die Mutter meiner Mutter schwieg dazu und versteckte sich in der Küche, mein Großvater war der erste Mann in ihrem Leben und sollte auch der einzige bleiben. (Perfiderweise starb sie vor einigen Jahren kurz nach ihm, verwirrt und allein. Wie die meisten Frauen ihrer Generation bekam sie keine Chance auf ein paar Momente selbst bestimmten Lebens.)

Die Mutter meines Vaters war zu dieser Zeit schon zum zweiten Mal verheiratet und arbeitete fünf Tage die Woche als Vertreterin für Kristall. Sie war eine der wenigen Frauen, die zu jener Zeit einen Führerschein besaß und selbständig arbeitete, war aber dadurch den Großteil der Woche unterwegs. Mein Vater wurde daher den Großteil seiner Kindheit und Jugend von Kindermädchen und Köchinnen groß gezogen, ein Leben in bescheidenem Luxus, aber dafür ohne Mutter in unmittelbarer Reichweite. (Meine Eltern hatten somit beide eine eher auf Abwesenheit gründende Beziehung zu ihrer Mutter, denn es ist wohl egal, ob sich die Mutter in der Küche versteckt oder mit dem Auto durch halb Deutschland fährt. Jedoch ist die Kränkung im ersteren Fall wahrscheinlich sogar größer.)

Irgendwann scheiterte die erste Romanze meiner Eltern, vielleicht waren sie zu unreif, vielleicht war auch das ewige Versteckspiel auf Dauer zu anstrengend. Beide gingen daraufhin in verschiedene Städte: mein Vater, um zu studieren, meine Mutter, um als Sekretärin zu arbeiten. Sie verloren sich aus den Augen. Was mein Vater in dieser Zeit getrieben hat, weiß ich nicht, er hat mir gegenüber immer nur sehr vage Andeutungen gemacht, wenn ich ihn danach gefragt habe. Was ich nicht oft getan habe, denn unser Verhältnis hat solche Fragen selten zugelassen.

Was meine Mutter gemacht hat, weiß ich dafür umso präziser, denn sie hat mir diese Geschichten wieder und wieder erzählt. Bei jedem Mal wurde sie dabei detaillierter, die Ausschmückungen gerieten immer farbenfroher, sie genoss das Erzählen sichtlich, ging geradezu darin auf. Zwischendurch lächelte sie immer verschmitzt, spielte Verlegenheit, die ich ihr nicht abnahm. Schon als Kind nicht. Denn ich kenne sie, ihr war und ist nichts davon je peinlich gewesen.

Zu der Zeit war es einfach, Arbeit zu bekommen, und meine Mutter wechselte ein paar Mal die Arbeitsstätte. Gewöhnlich bestand ihre erste Arbeitsleistung im neuen Job darin, ihren Chef flach zu legen. Ob in seinem Büro, im Auto, in ihrer eigenen Wohnung, der Ort war egal. Drohte die Sache aufzufliegen oder gab es gar Probleme mit der Ehefrau des Chefs, kündigte sie einfach und fing woanders an. Eine glorreiche Zeit, möchte man meinen, man musste sich keine Gedanken machen. Um nichts und niemanden. Und man musste sich nicht verbiegen, um seine Arbeit oder seine Beziehung zu behalten, sondern man fing einfach wieder von vorne an.

Einer dieser Chefs war so spendabel, dass er meiner Mutter eine Wohnung finanzierte. Eine kleine Dachgeschosswohnung mit teuren Möbeln und einigen Finessen. Bei dieser Arbeitsstelle blieb meine Mutter etwas länger, genoss die Großzügigkeiten und warf sich im Gegenzug abends ins Nachtleben. Brachte Männer mit nach Hause. Viele. Verschiedene. Manche blieben eine Nacht, andere ein paar Wochen. Letztere entwickelten manchmal eine Besitzgier, die sie an die Wohnungstür meiner Mutter treten und ihr Gewalt androhen ließen. Ihr Pech war, dass sie diesmal nicht aus dem Fenster klettern und davon laufen konnte. So kam es wohl einige Male zu recht dramatischen Szenen.

Doch meistens war alles vergnügt. Einer ihrer Freunde fuhr sie stundenlang mit seinem Cabrio durch die Stadt oder sang ihr Lieder auf der Gitarre vor, ein anderer besaß ein kleines Schloss in der Nähe und badete sie in seiner Wanne in Champagner und Kaviarhäppchen. Ein einziges, nicht enden wollendes Fest von Begehren und Begehrt-Werden, ein ständiger Reigen von Personen, die im Endeffekt wohl austauschbar waren.

Komischerweise gibt es keine Fotos meiner Mutter aus dieser Zeit. Entweder hat sie diese ganz tief in einer Kiste versteckt (was ich nicht glaube, denn dazu genoss sie das Erzählen zu sehr) oder diese Zeit war einfach auf Flüchtigkeit angelegt. Wie gewonnen, so zerrinnt.

Ich weiß nicht, ob es die nachglühende Stimmung der 68-er war, die meine Mutter zu diesem Lebensstil getrieben hat, oder die diebische Freude über die gelungene Flucht aus ihrem spießigen und lebensfeindlichen Elternhaus. Vielleicht beides ein bisschen. Irgendwann jedoch erinnerte sich meine Mutter wieder an meinen Vater. Der lebte inzwischen sein eigenes Leben, hatte einen gut bezahlten Job in einer Werbeagentur und wollte nichts mehr von ihr wissen. Und dann begann eine Episode, die ich bis heute nicht verstehe. Meine Mutter reiste immer wieder zu ihm, legte sich heulend vor seine Tür. Ließ sich ihre Nase mittels einer zutiefst mittelalterlichen Prozedur operieren, weil sie glaubte, ihm dadurch mehr zu gefallen. Plötzlich wurde ihre Geschichte zu einer Leidensgeschichte, sie war plötzlich nicht mehr die ewige Verführerin, sondern nur noch eine verstoßene Magd. Vielleicht kannte sie diese Rolle im Endeffekt besser, denn schließlich wurde sie schon in ihrer Jugend von ihren Eltern zum Arbeiten als Telefonistin geschickt, während ihre Brüder studieren durften. Oder es war nur das Nicht-Mehr-Begehrt-Werden durch meinen Vater, das ihre Eroberungslust anstachelte.

Aus mir ebenso unerfindlichen Gründen erhörte mein Vater irgendwann ihr Flehen. Obwohl seine eigene Mutter ihm davon abriet, weil sie sich wohl eine anständigere Schwiegertochter gewünscht hatte, heiratete er meine Mutter. Auf den Fotos von der Trauung trägt sie ein knielanges weißes Kleid und einen breitkrempigen Hut. Sie sitzt im Standesamt neben meinem Vater und sieht den Beamten an wie den Heiligen Vater höchstpersönlich, mit einem fast als unschuldig durchgehenden Augenaufschlag. Vielleicht wusste sie, dass ihre Zeit der Selbstbestimmung so nicht ewig hätte weitergehen können, ohne in Mord und Totschlag zu enden, vielleicht bekam sie auch nur Angst vor der eigenen Chuzpe. Ich weiß es nicht.

Die offiziellen Fotos vom Brautpaar stellen diesen Eindruck jedoch seltsamerweise wieder infrage. Meine Eltern strahlen darauf um die Wette, sie mit einem leicht ironischen Klein-Mädchen-Lächeln und er mit einer fetten Zigarre im Mundwinkel, sie kokettieren mit ihrem Geschlecht, ihrer Rolle, als wüssten sie genau, was von ihnen erwartet wurde, und versuchten gleichzeitig, sich darüber lustig zu machen. Diesen kurzen Anflug von Selbstironie haben sie jedoch nicht in ihren Alltag retten können.

Ein paar Jahre später wurde meine Mutter mit mir schwanger. Sie behauptet bis heute, es erst sehr spät gemerkt zu haben, da sie weiterhin ihre Tage bekam, zu dem Zeitpunkt sei es für einen Abbruch schon zu spät gewesen. Sie habe darüber nachgedacht, weil mein Vater eigentlich keine Kinder gewollt habe. Eine Aussage, die ich ihr bis heute übel nehme, denn egal, ob sie der Wahrheit entspricht oder nicht, es gibt Dinge, die man seinen Kindern besser verschweigen sollte. Aber Taktgefühl war noch nie eine ihrer großen Stärken. Außerdem glaube ich bis heute, dass sie eigentlich von sich gesprochen hat.

Meine Mutter behauptet außerdem, während der Schwangerschaft keine großen Probleme gehabt zu haben. Keine Übelkeit, keine Müdigkeit, kaum Gewichtszunahme. Sie habe auch ganz am Ende immer noch in ihre alten Hosen gepasst. Ein kleines Wunder. Ein Kind, das kaum an Größe zulegt. Eine unsichtbare Schwangerschaft. Sollte sie sich patentieren lassen. (Auch von dieser Zeit gibt es keine Fotos, so dass ich lange Zeit dachte, adoptiert worden zu sein. Eine tröstliche Kinderphantasie, irgendwann, so hoffte ich, würden meine wahren Eltern auftauchen und mich abholen. Ich habe das Warten dann schließlich aufgegeben.)

Einige Wochen vor dem Entbindungstermin zogen meine Eltern um. Während mein Vater arbeiten ging, packte und schleppte meine Mutter bis zum Umfallen. Noch am Tag meiner Geburt putzte und schrubbte sie und schleppte schwere Tüten nach Hause, obwohl sie schon erste Wehen hatte, dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Wehen wurden rasch stärker, sie rief meinen Vater an, der zunächst nicht kommen wollte, weil er das Ganze für falschen Alarm hielt, und sie schließlich doch ins Krankenhaus fuhr. Wenig später war ich auf der Welt, zwei Wochen zu früh, geboren am 7. August 1974 in einem gewöhnlichen, nach Essensresten und Desinfektionsmitteln stinkenden, mitteldeutschen Krankenhaus in dumpfem Graublau.

Kein großes Drama, hätte aber auch besser laufen können. So kam meine Mutter nach drei Tagen Klinikaufenthalt in eine neue Wohnung, in der nur unausgepackte Kisten standen und das Chaos regierte. Mein Vater ging weiterhin arbeiten, während sich meine Mutter mit der neuen Situation zu arrangieren versuchte. Schöne, kleine Elternwelt.


Erst viel später, als ich ungefähr acht oder neun Jahre alt war, habe ich erfahren, was noch an meinem Geburtstag passiert ist. An diesem Morgen gingen die Menschen wie immer und überall auf der Welt zur Arbeit, so auch in New York City. Sie waren müde, sie waren erschöpft, denn ein Tag wie jeder andere wartete auf sie, in einem Büro, das aussah wie alle anderen, sie trugen ihre Aktentaschen, sie sahen zu Boden, um etwaigem Müll auszuweichen, sie verfluchten ihr Leben. Doch plötzlich stand vor ihnen eine Frau, mitten auf dem Bürgersteig, mit verzückter Miene, eine junge Frau mit langen Haaren deutete mit ihrem Zeigefinger nach oben, in den Himmel, als wolle sie darauf hinweisen, dass in diesem Augenblick der jüngste Tag anbreche und ihre Erlösung unmittelbar bevorstehe. Die Leute blieben stehen, in New York ist man zwar Verrückte gewohnt, aber diese Frau wirkte so überzeugend in ihrer Begeisterung, dass sie alle an deren Ursache teilhaben wollten. Zunächst sahen sie kaum etwas, denn der Tag war etwas diesig, zwischen den Wolkenkratzern hingen Nebelschwaden, vor allem zwischen den noch im Bau befindlichen Türmen des World Trade Centers, aber dann erahnten sie doch etwas, eine zarte Linie, einen dünnen Strich, der sich zwischen den beiden Türmen abzeichnete, und darauf ein winziger Punkt, der sich bewegte, was war das, doch nicht etwa ein Mensch?

Philippe Petit hatte diese Aktion mehrere Jahre lang geplant, immer wieder war er nach New York geflogen, um den Fortgang des Baus zu beobachten, um seine Möglichkeiten genauestens zu eruieren, um Helfer zu finden, die ihn bei seinen Vorbereitungen unterstützen sollten, aber er wählte sich exakt meinen Geburtstag, den 7. August 1974, um seinen Drahtseilakt auszuführen. 45 Minuten schwebte er dort oben auf 417 Metern Höhe, tanzte auf dem Seil hin und her, kniete nieder und verbeugte sich, legte sich sogar in seiner ganzen Länge darauf, als wolle er ein Nickerchen machen, während die Zuschauer auf der Straße ihren Augen zuerst nicht trauen und dann ihren Blick überhaupt nicht mehr lösen konnten von diesem Zauber zwischen den Wolken, von diesem Wunder, das sie plötzlich alles vergessen machte, ihren Alltag, ihr Leben, ihre Angst.

Als ich das erste Mal Fotos von Petit sah, dort oben zwischen den Türmen, konnte auch ich es nicht glauben. Wie konnte ein Mensch dies schaffen, wie konnte er in dieser Höhe über ein nur fingerdickes Seil laufen, wie gelang es ihm, von seiner Furcht nicht so übermannt zu werden, dass er in die Tiefe stürzte? Ich begriff es nicht, es ist mir bis heute ein Rätsel. Aber irgendwie hatte ich als Kind immer das Gefühl, dass das kein Zufall sein konnte, sein Drahtseilakt zwischen den Türmen und mein Geburtstag, sie waren in mir auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft, als sei auch ich dazu auserwählt, irgendwann einmal etwas so Wundervolles zu vollbringen.

Später glaubte ich das nicht mehr, irgendwann verlor ich diese Gewissheit. Und am 11. September 2001 konnte ich, wie die meisten Menschen um mich herum, wie all die Menschen auf der ganzen Welt, die den Zusammenbruch der Türme im Fernsehen live mitverfolgten, nicht begreifen, was dort gerade passierte, dass sie tatsächlich in sich zusammen fielen, zu grauem Staub, diese angeblich unzerstörbaren Riesen, und dabei Tausende von Menschen unter sich begruben, zu Kleinstteilen zermalmten. Dieses Ereignis machte mich fassungslos, es pulverisierte mein bisheriges Vorstellungsvermögen. Aber es erinnerte mich auch daran, dass diese Türme einmal mein Versprechen gewesen waren, meine Verheißung, und auch deshalb weinte ich schließlich.


Früher konnte ich mich, wenn mich meine Zustände überfielen, in meine Arbeit flüchten. Ich bin ein ausgezeichneter Strukturalist, vielleicht habe ich es deshalb geschafft, in der Fernsehserienbranche so erfolgreich zu sein. Dort geht es nicht um Originalität oder Spritzigkeit, sondern um das Vermögen, sich in bestehende Strukturen einpassen zu können, das konnte ich schon immer gut, ich bin ein Meister der Unsichtbarkeit.

Schon in meiner Kindheit hasste ich nichts mehr als das Chaos. Ich liebte es, mein Spielzeug zu sortieren, in verschiedene Kästen und Schubladen, und dabei Prinzipien zu finden, nach welchen die Dinge sortiert werden sollten, um am Ende eine Lösung zu finden, die mich beruhigte. Weil alles seinen Platz hatte. Ganz im Gegensatz zu mir wahrscheinlich.

Meine Geschichten fand ich stets auf ähnliche Weise: Ich baute sie an einer Grundidee entlang, systematisch und geradlinig, wie eine mathematische Gleichung. Das gerät selten verblüffend, aber das ist auch nicht gefordert, im Endeffekt möchte keiner gerne überrascht werden, sondern doch immer nur das sehen, was er schon kennt. Alles andere wäre wohl zu verunsichernd.

Als ich noch studierte, hatte ich die Vision, Filme zu schreiben, die berühren. Ich beschäftigte mich monatelang mit der Psyche meiner Figuren, dachte mir Hunderte von Plots aus - und verwarf sie wieder. Ich war wie elektrisiert von all den Möglichkeiten, den Bildern in meinem Kopf und den Dialogen, die ich zu hören glaubte, ich schrieb Stories über mystische Reiter, schicksalsträchtige Enthüllungen, überwundene Kindheitstraumen, kein Thema war mir zu abstrus, keine Anstrengung zu mühselig. Doch irgendwann musste ich erkennen, dass sich niemand für meine Geschichten interessierte, von Filmhochschulen und Förderungen kamen stets nur Absagen. Deshalb bewarb ich mich irgendwann bei einer Produktionsfirma und wurde nach einer endlosen Zeit als unbezahlte Praktikantin Dramaturgin für eine Krimiserie, deren inhaltliche Geistlosigkeit mich an den Rand des Wahnsinns trieb. Zwei Jahre hielt ich es aus, dann warf ich erschöpft das Handtuch. War mehrere Monate arbeitslos, zunehmend verzweifelt. Und nahm deshalb schließlich das Angebot an, als selbständige Autorin für eben diese Serie zu schreiben, schließlich kannte ich sie besser als jeder andere. Immerhin wieder ein Job – wenn er auch nicht im Entferntesten mit meinen Vorstellungen von früher zu tun hat. Aber funktionieren konnte ich schon immer ganz ausgezeichnet. Bis vor kurzem.


In den letzten Monaten habe ich an einem Buch für eine neue Krimiserie gearbeitet, deren erste Staffel gerade ausgestrahlt wird. Erst freute ich mich über diesen Auftrag, weil er viel Geld bedeutete und ich mich dadurch erst einmal nicht mehr um weitere bemühen musste. Doch bald merkte ich, dass es diesmal noch konfuser und chaotischer zu werden drohte als sonst, da weder die Produktionsfirma noch die Redaktion sich einig waren, welche inhaltliche Richtung die zweite Staffel nehmen sollte. Ich schrieb eine Fassung nach der anderen, und jedes Mal ereilten mich neue Anmerkungen. Mal sollte der Verdächtige geändert werden, mal der komplette Bogen der Ermittlungen, mal sollte sich der Hauptkommissar in die Täterin verlieben, dann wieder nicht. Ich arbeitete die Geschichte jedes Mal nach den geforderten Richtlinien um, verlor aber immer mehr den Bezug dazu, das Warum erhielt keine Antwort mehr, ich kam mir zunehmend vor wie ein Spielball des Irrsinns.

Irgendwann konnte ich nicht mehr auf die Emails der Produzentin antworten, ließ sie ungelesen im virtuellen Papierkorb verenden. Und dann brach die Stille über mich herein, zunächst wie eine Verheißung. Bis sie zur Bedrohung wurde und sich das Magma meines Inneren glühend über mich ergoss.


Manchmal senken sich all die sich drehenden, taumelnden Gedanken in meinem Kopf wie ein Schleier herab, und ich tauche ins Dunkel, ins tröstende Federweich meiner Kissen. Bis ich wieder hochschrecke, geschüttelt von dem Geräusch des Traktors, der sich langsam nähert, erbarmungslos brüllend. Ab und zu sitzt dann Jan an meinem Bett, er ist von mir unbemerkt nach Hause gekommen und sieht mit einer Mischung aus Irritation und Zärtlichkeit auf mich herunter, doch ich kann diesen Blick nicht ertragen und schäle mich aus meinen zerwühlten Decken, murmele, dass ich mich nur kurz hingelegt habe und dabei wohl eingenickt sei. Ich setze mich vor meinen Laptop und tue beschäftigt, rufe Dokumente auf, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr geöffnet habe, und Jan trollt sich, fürs erste, mit unbefriedigtem Blick.

Deshalb kommt er später noch einmal unter irgendeinem Vorwand in mein Zimmer, schleicht um meinen Schreibtisch herum. Er hat schon mehrfach in unserer Beziehung mitbekommen, dass ich in einen solchen Zustand gleite wie jetzt, doch gewöhnlich waren diese nach ein paar Tagen wieder vorbei. Nun ist er verunsichert, schlenkert wie ein Kind mit den Armen und will von mir wissen, ob er etwas einkaufen soll, was ich essen möchte, ob ich den und den Artikel schon gelesen habe, voreinander die Wahrheit auszusprechen, scheuen wir uns schon immer, als ließe sie sich dadurch aussperren. Doch ich weiß keine Antworten auf seine vielen Fragen, ich kann mir keine Gedanken über leere Kühlschränke machen, und eine Zeitung habe ich schon seit Wochen nicht mehr angefasst, ich weiche seinen forschenden Augen aus, nagele meinen Blick am Bildschirm fest und gebe einsilbige Antworten, dennoch quält mich Jans verzweifelte Bemühung, einen normalen Alltag aufrecht zu erhalten, mit Gesprächen, Übereinkünften, Einkaufslisten.

Schließlich gibt er auf, verlässt aber trotzdem nicht das Zimmer, sondern drückt sich an meinem Bücherregal herum, nimmt das eine oder andere Buch heraus und blättert darin, ich beobachte ihn dabei verstohlen über meine Tastatur hinweg, seinen schmalen Rücken, seinen Nacken, den ich so liebe. Oder geliebt habe? Wenn wir früher miteinander schliefen, verbiss ich mich gerne in seinem Nacken, bis Jan den Schmerz nicht mehr ertrug und mich von sich abschälte wie ein hartnäckiges Insekt, jetzt würde es mir reichen, ihn nur vorsichtig mit den Fingern zu berühren, um zu sehen, wie es sich anfühlt, um zu spüren, ob dieser Kontakt etwas in mir auslöst, was mich vielleicht an eine frühere Empfindung erinnert. Doch es gibt keine simplen Berührungen, nirgendwo, denn sie können nie nur für sich stehen, immer wird ihnen eine ganz bestimmte Bedeutung verliehen oder sie gelten als Zeichen für irgendetwas anderes, ich darf Jan nicht einfach nur berühren, ohne Gefahr zu laufen, selbst berührt zu werden, obwohl ich schon die Vorstellung gerade nicht ertrage. Aber ihm das zu erklären, übersteigt meine momentanen Möglichkeiten, also bleibe ich still auf meinem Stuhl sitzen, schweige und beobachte ihn, der sich ein weiteres Buch genommen hat, zwischen seine Augen ist eine Konzentrationsfalte gestiegen, weil er sich so bemüht, nicht aufzufallen in meinem Zimmer, er will zu einem Teil des Inventars werden, um nicht hinausgeschickt zu werden.

Doch plötzlich dreht er sich um, ich sehe an seinem Blick, dass er für den Moment vergessen hat, warum er hier ist, was für eine Situation gerade zwischen uns herrscht, er ist einen Augenblick lang der Jan von früher, ohne Angst vor meinen Launen. Wann hast du zum letzten Mal dieses Buch gelesen, das ist ja unglaublich, jubelt er und trägt mir ein paar Absätze vor, ich kann mich kaum auf das konzentrieren, was er da vorliest, aber ich genieße kurz seine Begeisterung, sein Leuchten. Früher haben wir ganze Vormittage im Bett verbracht und uns gegenseitig Stellen aus unseren Lieblingsbüchern vorgelesen, Sätze, die unseren Atem stocken ließen vor Schönheit oder Prägnanz, mit dieser Beschäftigung konnten wir Stunden verbringen, versunken in uns selbst und unserer Freude. Heute sind wir nur noch fliehende Schatten in unserer eigenen Wohnung.


Schließlich werden die Nächte schlimmer. Ich kann nicht mehr einschlafen, sondern liege im Bett und verfolge wie gebannt die Wanderungen der Autoscheinwerfer auf der Wand, als müsste ich nur ihre Botschaft verstehen, um wieder schlafen zu können, oder laufe stundenlang wie ein Geist durch die dunkle Wohnung, die immer gleichen Wege - von meinem Zimmer durch den Flur in die Küche, ins Wohnzimmer, vor Jans Tür, durch die sanftes, genüssliches Röcheln dringt, ich möchte an seine Tür hämmern und vor Wut schreien, ich möchte an sein Bett gehen und ihn schütteln, warum kann er vergessen und ich nicht? Das ist eine Frage, auf die es nur Antworten gibt, die ich nicht hören möchte, deshalb setze ich mich auf den Balkon, zittere in der kühlen Nachtluft und lausche den Geräuschen der Stadt, jede Nacht das gleiche Spiel, bis ich schließlich körperlich so erschöpft bin, dass ich anfange zu weinen, ich knie vor meinem Bett und schlage mit dem Kopf auf den Boden, als wolle ich mich bewusstlos schlagen, eine Verzweiflung, die ich gut kenne. Doch der Schlaf, der kommt nicht.


Ich werde hohlwangig und immer gereizter, und sogar Jan hält es schließlich nicht mehr länger aus mit mir, du solltest zum Arzt gehen, das ist doch nicht normal, so lange nicht schlafen zu können, beginnt er vorsichtig. Fängst du jetzt auch noch an, meine Mutter nervt mich schon seit Wochen mit nichts anderem, stöhne ich und verdrehe die Augen. Normalerweise will er nichts weniger, als mit meiner Mutter gleichgesetzt zu werden, und gibt dann meistens auf, aber diesmal bleibt er hartnäckig, ich meine es ernst, sieh dich doch mal an, ich mache mir wirklich Sorgen um dich, wenn du es schon nicht für dich tust, dann tue es wenigstens für mich. Alle Achtung, er ist meiner Mutter tatsächlich ähnlicher, als er wahrhaben will, emotionale Erpressung ist ihr Steckenpferd.

Aber ich tue ihm schließlich den Gefallen und gehe zum Arzt. Der ist hager und ungefähr mein Alter, was mich kurzzeitig verunsichert, früher hat einen das Alter von Fachleuten noch irgendwie beruhigt, wenn sie älter waren als man selbst, mussten sie doch auch mehr wissen, heute sitzt man vor Gleichaltrigen oder, noch schlimmer, Jüngeren und weiß nicht, wohin man seinen Blick wenden soll. Aber vielleicht gibt er mir eine Diagnose, die mich entlastet, deshalb schildere ich ihm meine Beschwerden und sehe ihn erwartungsvoll an, ich will nicht, dass wahr ist, was ich glaube, dass sich immer alles wiederholt, dass ich wieder nicht entkomme.

Ich bekomme Blut abgenommen, pinkele in einen Becher und fülle endlose Fragebögen aus. Ob ich diese Symptome schon einmal gehabt habe? Ja, kreuze ich an, ich kenne sie seit über zwanzig Jahren, sie gehören zu mir wie der Leberfleck an meinem Kinn, sie überfallen mich immer wieder, aber meistens vergehen sie nach einigen Tagen. Diesmal ist es anders, stärker, finsterer. Ob ich einen Auslöser ausmachen könne? Nein, kann ich nicht, andere verkraften das Leben ja auch, warum ich nicht? Dann sitze ich wieder vor dem Arzt, der noch hagerer zu sein scheint als bei unserem ersten Gespräch und mich über seinen Schreibtisch hinweg ernst ansieht. Ob ich schon einmal über eine Therapie nachgedacht habe? Ich lache heiser, ich habe bereits die dritte hinter mir, die letzte liegt jedoch schon über zwei Jahre zurück. Phantastisch, jubiliert der Arzt, dann ist es einfach, nun eine neue zu beantragen, er scheint froh zu sein, mich mit einem Häkchen versehen zu können. Als ich aus der Praxis wanke, weine ich.


Alle paar Tage kommt meine Mutter vorbei, zu Zeiten, bei denen sie sicher sein kann, dass Jan nicht zuhause ist. Sie bringt mir Obst, Vitamintabletten, Zeitschriften, als mache sie einen Besuch im Krankenhaus, sie trägt wieder ihre bunten und viel zu kurzen Kleinmädchenklamotten, in denen man sie häufig für meine Schwester hält, und auch jetzt wirken wir wie Schwestern, allerdings durch eine andere Äußerlichkeit vereint, denn uns beide scheint durch einen seltsamen Zufall dieselbe Krankheit ereilt zu haben, auch sie wirkt müde und erschöpft, ihr Blick leer. Ich ertrage es nicht mehr lange, wie es dir geht, kannst du nicht endlich mal etwas dagegen tun, ich laufe nachts auch nur noch durch die Wohnung und kriege keine Luft, ich reiße die Fenster auf, aber es hilft nicht, außerdem stinkt diese Stadt so grässlich, man müsste aufs Land ziehen, vielleicht würde man dann endlich zur Ruhe kommen.

Ich sitze ihr stumm gegenüber, während sie mir die Ergebnisse ihrer nächtlichen Wanderungen präsentierte, die Ursachen für meine Schlaflosigkeit und meine angeblichen Rückenschmerzen herunter betet, du bist einfach zu ernst, das bist du immer schon gewesen, schon als kleines Mädchen warst du so ernst und nie mal richtig albern, immer wolltest du allein für dich sein, nie durfte ich dir Kinder einladen, und so bist du heute noch, alles willst du mit dir selbst abmachen, warum redest du nicht einfach mal mit mir, ich bin doch deine Mutter, verdammt noch mal. Doch ich schweige, koche frischen Tee, den ich wie einen Schutzwall zwischen uns auf den Tisch stelle, und erzähle ihr nichts von meinem Arztbesuch und der alten, neuen Diagnose, denn ich ahne, was sie darauf sagen würde: Ich weiß wirklich nicht, woher du das hast, mein Kind, du hast doch immer alles gehabt, alles bekommen, was du wolltest, vielleicht kommt das ja von der Seite deines Vaters, das ist natürlich möglich, da gibt es ja so einiges, was ich bis heute nicht verstehe.

Sie hat es sich immer ziemlich einfach gemacht, während ich lange Zeit mit großer Akribie und Hingabe in meinen Wunden herumgestochert habe. Wenn sie zu verschorfen drohten, habe ich solange weitergekratzt, bis ein hässliches Geflecht entstand, auf das ich dann starren konnte und das mir Rechtfertigung bot, warum es mir so ging. Ich habe Jahre damit verbracht, in meinen Therapien meine Kindheit aufzurollen, die Beziehung zu meinen Eltern zu durchleuchten, mich innerlich zu umarmen, doch die Zustände kamen immer wieder, keiner der Therapeuten schien den Schlüssel dazu wirklich gefunden zu haben. Irgendwann beschloss ich, dass ich nicht länger über früher reden, sondern endlich leben wollte, vielleicht war das ständige Stochern Teil des Problems, vielleicht würde ich endlich zur Ruhe kommen, wenn ich alles hinter mir ließe? Falsch gedacht. Nun sitze ich wieder zuhause, mit einem Überweisungsschein in der Hand, auf dem in dünnen Lettern die Diagnose steht: rezidivierende depressive Störung. Ich reiße das Blatt in kleine Fetzen, die der Wind vor meinem Fenster mit sich trägt.

Schuld ist etwas, das man nur bedingt abarbeiten kann, wenn jede Zelle des eigenen Körpers davon durchdrungen ist.


Kurz bevor ich in den Kindergarten komme, ziehen wir um, in ein kleines Dorf mit Einfamilienhäusern. Hessisches Hinterland mit rasierten Vorgärten, eine enge Straße, in der die inländischen Autosorten dicht an dicht stehen, mit glitzerndem Lack, sie spiegeln den moderaten Wohlstand der Siebziger Jahre, in denen für viele die Geschäfte gut laufen und man sich Dinge leisten kann. Mein Vater hat sich vor kurzem mit einer eigenen Werbeagentur selbständig gemacht und kann sich vor Aufträgen nicht retten, und da er den Mythos des deutschen Bürgertums verinnerlicht hat, ist es für ihn ein natürlicher Vorgang, nun von einer Stadtwohnung in ein Haus auf dem Land zu ziehen, während meine Mutter bei dieser Aussicht innerlich zusammen schrumpft, sich plötzlich wieder findet im Lebenstraum ihrer eigenen Eltern, in dem viel zu kleinen Glück, das sie selbst immer abgelehnt hat.

Doch eines Tages, als meine Mutter und ich zum Einkaufen gehen, wird neue Hoffnung für sie sichtbar, und gleichzeitig verändert sich plötzlich das Leben, das ich bisher kannte. Wir stehen gerade beim griechischen Gemüsehändler an der Kasse und bezahlen, als sich irgendetwas um mich herum zusammen zieht. Ich kann es selbst heute nicht besser beschreiben, was damals passierte, doch ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, das ich damals hatte. Als habe ich mit einem Mal weniger Luft zum Atmen und sei in einem seltsamen Kokon gefangen, der durchsichtig und dennoch undurchdringlich ist, ich will mich bewegen, aber meine Arme und Beine gehorchen mir nicht, ich blicke meine Mutter an, will etwas zu ihr sagen, doch sie sieht nicht zu mir, sondern zu einem Mann, der gerade den Laden betritt und sich suchend umblickt, die bis zum Bersten gefüllten Regale mustert. Als er dabei zufällig meine Mutter ins Visier bekommt, runzelt er irritiert die Stirn, doch auf ihr Gesicht ist bereits ein Strahlen getreten, sie sieht aus, als leuchte sie von innen, mit weit aufgerissenen Augen wandert sie mit der Zungenspitze über ihre leicht geöffneten Lippen, fährt sich kurz und zielsicher mit der Hand durch die Haare und zerwühlt sie ein wenig, geht dann auf den Mann zu, während ich immer noch bewegungsunfähig neben dem alten Griechen stehe. Der glotzt irritiert auf mich herunter und fragt mich etwas, aber ich kann ihm nicht antworten, ich kann nur mit ansehen, wie meine Mutter mit diesem fremden Mann redet, sie lacht und wirft dabei den Kopf in den Nacken, ich erkenne sie nicht wieder, und doch kann ich nicht woanders hinsehen, ich kann mich, meinen Körper nicht bewegen, ich bin zu Eis erstarrt. Und unsichtbar. Ich - bin – unsichtbar, während meine Mutter und der fremde Mann verlegen umeinander herum tänzeln, nicht die anderen Kunden beachten, die sich mühsam einen Weg um sie herum bahnen müssen, sie existieren in einem anderen Universum, einer anderen Galaxie, Sternschnuppen fallen vom Himmel herab und verglühen zwischen den Orangenkisten, Welten entstehen und vergehen, erst Tausende von Lichtjahren später verabschiedet sich der Mann und verlässt den Laden wieder, ohne etwas gekauft zu haben, er hat es wohl vergessen. Meine Mutter scheint in diesem Moment ein Stück in sich zusammen zu sacken, als habe sie plötzlich den notwendigen Fixpunkt zur aufrechten Haltung verloren, ein gewöhnlicher Planet benötigt nun einmal eine Sonne, um die er sich drehen kann, dann wendet sie sich mit einem abwesenden, leicht verwirrt wirkenden Ausdruck zu mir um und nimmt mich an der Hand, zerrt mich und unsere Einkaufstüten nach draußen. Ich kann mich nun seltsamerweise wieder bewegen, stolpere hinter ihr her, frage sie, wer dieser Mann gewesen sei, aber sie zögert, will mir erst nicht antworten, dann erwidert sie ausweichend, ich solle Papa nichts davon erzählen, sie kenne den Mann von früher. Ich verstehe damals noch nicht, was das bedeutet. Erst später begreife ich, dass sie damit wohl auf die freie Phase vor ihrer Ehe angespielt hat. Und damit beginnt sie, die Zeit der Unsichtbarkeit. Und der Geheimnisse.


Es wohnen viele Kinder in unserer Straße, und manchmal spiele ich mit ihnen. Nicht sehr oft, denn am liebsten bin ich allein in meinem Zimmer, doch meine Mutter schickt mich immer wieder nach draußen, damit ich „Freunde finde“. Als ich in die Grundschule komme, habe ich schließlich einen besten Freund. Er heißt Hendrik, ist über vier Jahre älter als ich und hat mich aus unerfindlichen Gründen unter seine Fittiche genommen. Ich weiß bis heute nicht, wieso, aber er schleppt mich überall hin und zeigt mir alles, und ich schaue zu ihm auf und genieße seine Aufmerksamkeit. Oft sind wir in seinem Garten, der ein paar Häuser von unserem entfernt liegt, und spielen mit seinen Kaninchen, die dort ihren Stall haben. Seine Eltern sind auch sehr nett, außerdem hat er noch eine jüngere Schwester, mit der ich mich ebenfalls ganz gut verstehe, und eine Zeitlang gehe ich in ihrem Haus ein und aus. Es ist ein neues Gefühl für mich, bei anderen Leuten so willkommen zu sein, ich liebe es.

Auch meine Eltern bauen die neue Bekanntschaft stetig aus, an manchen Wochenenden grillen wir bei Hendriks Eltern, an anderen kommen sie zu uns herüber und sitzen bis spät abends auf unserer Terrasse. Eines Sonntags, mein Vater ist gerade kurz in den Keller gegangen, um neue Getränke zu holen, und Hendriks Mutter auf der Toilette, spüre ich, dass das Gefühl wieder kommt, sich drohend nähert wie ein bissiges Tier. Der Kokon. Ich kriege sofort Angst, aber sitze wie angewurzelt auf der Schaukel und kann nichts anderes tun, als zu meiner Mutter herüber zu starren, die Hendriks Vater gerade Salat auf den Teller häuft, dabei streift sie wie zufällig mehrmals seine Hand, lächelt, öffnet ihre Lippen, das strahlende Sonnenlicht bringt ihre Haare zum Funkeln, ich zittere, will zu ihr laufen, aber ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Körper, kann mich keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Plötzlich steht Hendrik neben mir, er will mich anstoßen, damit ich wieder in Schwung komme, doch als ich ihn davon abhalten will, merke ich, dass mein Mund wie zugewachsen ist, so kommt es, dass er mir einen Schubs gibt und ich herunter stürze, weil meine Hände mir nicht mehr gehorchen, ich mich nicht mehr festhalten kann, ich falle auf mein rechtes Knie und schreie vor Schmerz auf, aber plötzlich ist der Kokon weg und meine Mutter an meiner Seite, sie befühlt mein blutendes Knie und tröstet mich, während Hendriks Vater auf seinen Sohn einschimpft, dass er besser habe aufpassen sollen, ich will ihn in Schutz nehmen, aber ich kann nur weinen und den Kopf im Schoß meiner Mutter vergraben.

Als ich einige Wochen später aus der Schule komme, sehe ich meine Mutter das Gartentörchen von Hendriks Elternhaus hinter sich schließen. Ich laufe zu ihr, um sie zu begrüßen, um sie nach den Kaninchen zu fragen, aber sie wirkt seltsam in sich gekehrt, lächelt vor sich hin mit ihren zerzausten Haaren, und im ersten Moment scheint sie mich nicht zu erkennen, ihre Umarmung ist fahrig und unsicher. Wir gehen nach Hause, und sie kocht einsilbig Mittagessen, hört sich abwesend meine Geschichten aus der Schule an, erklärt sich nicht.

Ein paar Tage später klingelt es mitten in der Nacht an unserer Haustür, ich wache auf, horche und höre die Stimme von Hendriks Mutter, sie scheint über irgendetwas sehr aufgebracht zu sein, sie schreit und weint, untröstlich, dann fällt die Tür mit einem lauten Krachen wieder ins Schloss. Am nächsten Morgen eröffnet mir mein Vater am Frühstückstisch, dass ich künftig nicht mehr zu Hendrik gehen dürfe, und obwohl ich bettele und flehe, den Grund dafür wissen will, bleibt er hart, und ich blicke zu meiner Mutter, die ihre Lippen zusammen presst, mir ausweicht, aus ihren Augen ist das Leuchten erst einmal verschwunden, sie wirken nun wie kleine, dunkle Steine.

Beim nächsten Mal ist meine Mutter vorsichtiger. Eines Tages komme ich von der Schule nach Hause und merke schon an der Türschwelle, dass etwas anders ist, dass der Kokon sich wieder über mich stülpen will. Unser Nachbar von gegenüber steht in unserem Wohnzimmer, ich kenne ihn nur flüchtig vom Sehen, weil er Pilot und selten zu Hause ist. Ich mag ihn nicht, denn er ist viel älter als meine Eltern, und seine Haare sind grau und so kurz, dass sie kaum mehr sichtbar sind. Ich stehe stocksteif vor ihm und bekomme keine Luft mehr, während meine Mutter flötet, Herr Vogler hat dir etwas mitgebracht, Schätzchen, und im nächsten Moment hält er mir auch schon eine Papiertüte entgegen, doch ich kann sie nicht nehmen, meine Arme hängen wie Stöcke an mir herunter. Mach sie doch mal auf, säuselt meine Mutter, nun nimm doch mal die Tüte, und da merke ich plötzlich, wie ich den Kokon aufbrechen kann, ich muss mich innen nur ganz kalt machen, so wie ich das immer mache, wenn wir zum Zahnarzt gehen, dann tue ich immer so, als spüre ich gar nichts mehr, als sei ich für die Dauer des Besuches einfach gar nicht vorhanden. Das klappt auch in diesem Moment, ich kann plötzlich wieder meine Hände bewegen, die Tüte nehmen und sie öffnen, darin ist ein Namensschild mit meinem Namen drauf, daneben ist eine Micky Maus abgebildet, war gar nicht schwer, das in Amerika zu finden, brummt Herr Vogler, schließlich ist dein Name sehr amerikanisch. Das willst du doch bestimmt gleich an deine Tür kleben, flüstert meine Mutter, und ich nicke nur und gehe nach oben, doch die beiden folgen mir, stehen mit mir vor meiner Zimmertür und warten, hier wäre es doch schön, Schätzchen, oder, meine Mutter deutet auf einen freien Platz auf meiner mit Aufklebern gespickten Tür, und ich löse folgsam den Klebestreifen auf der Rückseite des Schildes und klebe es auf die genannte Stelle. Dort wird es so lange hängen, wie wir in diesem Haus wohnen, als ewiges Zeichen meiner Niederlage, ein dreifaches Hoch auf den amerikanischen Klebstoff, dennoch fragte mein Vater mich nie, woher ich dieses Schild habe.


Im Rückblick scheint es, als sei dieses Mitbringsel aus Übersee schon eine Art Vorbote gewesen für das, was danach kam, Amerika erwies sich in vielerlei Hinsicht als hartnäckig, als sehr hartnäckig. Als Herr Vogler irgendwann eine seiner Stewardessen heiratete, war die Affäre mit meiner Mutter beendet. Ich weiß noch, wie ich einmal mit ihr zum Einkaufen ging und unser Nachbar mit seiner frisch angetrauten Ehefrau gegenüber sein Haus verließ, wäre meine Mutter ein Pfeil gewesen, sie wären beide auf der Stelle tot gewesen. Vielleicht hatte sie tatsächlich ernsthafte Hoffnungen gehegt, dass dieser alternde Flugkapitän sie aus unserer Einfamilienhaussiedlung entführt, indem er einfach seine Maschine in der Mitte unserer Straße landet, die Gangway herunter lässt und sie galant ins Cockpit geleitet, und dann fliegen die beiden überglücklich ans andere Ende der Welt. Ihr Pech war nur, dass er nichts anderes zu wollen schien als unser Dorfleben.

Doch es findet sich schnell ein neues Opfer. Auf dem Geburtstag meines Opas lernt meine Mutter einen entfernten Cousin meines Vaters kennen, er heißt Steffen, nennt sich aber Steven, hat schütteres, braunes Haar und einen sorgfältig gestutzten Bart und ist Holzhändler irgendwo im tiefsten Mittelamerika. Wie reich man damit werden kann, scheint meine Mutter erst zu begreifen, als sie seinen knallroten Porsche vor der Tür stehen sieht. Steven lädt meine Eltern und mich zu einer Probefahrt ein, und so kurven wir vier durch die Gegend, eingepfercht in dem viel zu kleinen und viel zu schnellen Wagen, meine Mutter lacht wieder zu laut und öffnet das Fenster, so dass ihr die Haare ins Gesicht wehen, während die Männer auf den Vordersitzen über die Einzelheiten des Motors fachsimpeln und Steven erzählt, dass er in Amerika noch einen Porsche habe und diesen hier nur nutze, wenn er mal wieder in Deutschland sei. Mir ist es zu eng in dem Auto, und ich merke, wie mir leicht übel wird, ich bin froh, als wir wieder vor dem Haus meiner Großeltern halten.

Wenige Wochen später steht der rote Porsche vor unserem Haus. Und wieder. Und wieder. Ich begreife bis heute nicht, warum mein Vater nichts davon mitbekommen hat, sicherlich haben die Nachbarn getuschelt, Porsche waren in unserer Gegend trotz allem etwas extrem Seltenes, die Leute mit solchen Autos wohnten woanders, bei uns fuhr man VW oder BMW, aber ich verstehe so vieles nicht, und ich kann meinen Vater heute nicht mehr fragen.

Manchmal machen meine Mutter, Steven und ich Ausflüge mit dem Porsche, wir fahren dann zum Baggersee in der Nähe und laufen dort ein bisschen herum. Einmal machen wir ein Picknick, als meine Mutter plötzlich anfängt, Steven mit Gummibärchen zu bewerfen, den kleinen roten, er macht sich einen Spaß daraus zu versuchen, sie mit dem Mund aufzufangen, und so sitzen sie nebeneinander auf der Wolldecke, völlig versunken in ihr Spiel. Ich stehe auf und will zum See herunter gehen, doch meine Mutter ruft mich zurück, versuch es doch auch mal, Schätzchen, fordert sie mich auf, ich stehe vor ihnen und greife schließlich nach der Tüte mit den Gummibärchen, mache mich innerlich ganz kalt und werfe, während meine Mutter lacht und Fotos von uns macht und Steven mich anspornt, lauthals. Dann treffe ich. Direkt in seinen weit aufgerissenen Mund.


Bald kommen immer öfter Pakete bei uns an, Pakete mit unzähligen Luftpost-Aufklebern und mir unverständlichen Aufschriften. Meine Mutter wartet mit dem Öffnen, bis ich nach Hause gekommen bin, dann fischt sie Süßigkeiten und kleine Geschenke für mich heraus und für sich Fotos von Stevens Haus in Amerika und Kassetten, unzählige schwarz glänzende, von ihm selbst besprochene Kassetten, die wir uns dann zusammen anhören, ich verstehe zwar viele Dinge nicht, die Steven darauf meiner Mutter erzählt, aber höre trotzdem weiter zu. Auf einer Kassette beschreibt er minutiös das Innere seines Hauses, die Details jedes Zimmers, in seinem Haus scheint es unzählige Räume zu geben, mehrere Schlaf- und Badezimmer, und von einigen kann man direkt auf einen See blicken, der an sein Grundstück grenzt. Es gibt sogar einen Kamin in seinem Haus, und er malt sich aus, wie es sein würde, dort mit meiner Mutter zu sitzen. Vor dem Kamin. Auf einem Bärenfell. Im Nachhinein ist es absurd, wie klischeereich das Ganze war, aber damals lausche ich gebannt, als höre ich eine von meinen Hörspielkassetten und müsse unbedingt erfahren, wie die Geschichte ausgeht. Danach beschwört mich meine Mutter jedes Mal, nur ja nichts davon meinem Vater zu erzählen, aber das müsste sie inzwischen nicht mehr sagen, ich weiß intuitiv, dass er von diesen Kassetten besser nichts wissen sollte.

Bald kommt es auch zu Telefonaten, langen Gesprächen zu seltsamen Zeiten. Das mit der Zeitverschiebung verstehe ich damals noch nicht richtig, ich wundere mich nur, warum Steven immer so spät anruft, manchmal ist mein Vater währenddessen oben im Arbeitszimmer, und meine Mutter flüstert deshalb in den Hörer. Irgendwann werden die Anrufe häufiger, drängender, meine Mutter lächelt nun nicht mehr, wenn sie mit Steven spricht, sondern redet beschwörend auf ihn ein und schickt mich aus dem Zimmer, ich versuche, an der Tür zu lauschen, aber verstehe nicht genug, um mir einen Reim darauf machen zu können.

Eines Abends sitzt sie weinend im Wohnzimmer. Steven will mich heiraten, schluchzt sie, ich soll mit ihm in dem Haus am See wohnen, mit dem Kamin, und er will, dass du mitkommst, dort die Schule besuchst, aber das kann ich doch nicht tun, ich kann dich doch nicht einfach deinem Vater entreißen und nach Amerika mitschleppen, ich weiß nicht, was ich tun soll, ich liebe ihn doch, aber er setzt mich so unter Druck, er will bald eine Antwort von mir, was soll ich denn um Gottes Willen nur machen. Ich starre meine Mutter an, in mir ist plötzlich ein riesiger Eisklumpen, der wächst und wächst, ich will nicht nach Amerika, aber ich will auch nicht, dass meine Mutter weint, trotz allem, an meinen Vater denke ich in diesem Moment nicht. Schließlich stottere ich, dann mach das doch, wenn du das willst. Nein, das kann ich nicht, erwidert meine Mutter, ihre Wimperntusche ist verlaufen und malt schwarze, schmierige Streifen in ihr sonst so gepflegtes Gesicht, ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn das schief geht, und ich habe dich mitgeschleppt. Da fange ich auch an zu heulen, und so sitzen wir beide dort auf dem Sofa und wissen nicht, was wir tun sollen.

Irgendwann kommen keine Anrufe mehr. Und keine Pakete. Doch manchmal finde ich meine Mutter im Wohnzimmer, wie sie die alten Kassetten hört und weint, in solchen Momenten fühle ich mich ganz schlecht und wünsche mich weit weg. Dorthin, wo es kein Amerika gibt. Und keine Entscheidungen, die anscheinend immer nur falsch sein können.

Nach dieser Episode wird es eine Zeitlang ruhiger um meine Mutter. Sie wirkt oft in sich gekehrt und abwesend, und sie fährt sich nur noch selten durch die Haare, ich versuche, sie aufzuheitern, doch es gelingt mir nicht oft, meistens sieht sie mich nur ernst und sehr nachdenklich an, und wenn ich sie dann frage, was sie gerade denkt, antwortet sie mir nicht. Ich spüre ihre Enttäuschung und Qual, aber ich weiß nicht, wie ich sie lindern soll. Und sprechen darf ich darüber natürlich mit niemandem.

Irgendwann wird sie krank, kann nichts mehr essen, sondern sitzt nur noch auf ihrem Platz in der Küche und drückt sich ihren Arm gegen den Bauch. Geht zum Arzt, zu noch einem Arzt, der ihr rosafarbene Tabletten verschreibt, doch es ändert sich nichts, die Schmerzen bleiben. Wenn ich mittags vor ihr sitze und esse, fühle ich mich ganz schlecht, weil ich etwas runter bekomme und sie nicht, das Ticken der Küchenuhr klingt überlaut in meinen Ohren, denn meine Mutter redet auch fast nicht mehr, nur das Nötigste, und das mit einer gepressten Stimme, selbst das Sprechen scheint ihr Schmerzen zu bereiten, deshalb sitzt sie nur noch regungslos auf ihrem Stuhl, mit dem Arm über ihrem Bauch, als sei er eine Art Gürtel, und betrachtet mich. Ich weiß nicht, was ihr dabei durch den Kopf geht, aber ich mag diese Blicke nicht, sie scheinen irgendetwas aus mir herauszulösen, und ich fühle mich seltsam leer, wenn ich die Küche verlasse und auf mein Zimmer gehe, dort ist es auch still, und selbst wenn ich spiele, tue ich dies schweigend, weil ich dann das Gefühl habe, gar nicht da zu sein, und wenn ich nicht da bin, hat meine Mutter vielleicht keine Bauchschmerzen mehr und kann nach Amerika gehen. Als ich damals den Kokon das erste Mal spürte, fühlte ich mich unsichtbar, jetzt versuche ich, unsichtbar zu werden. Und es gelingt mir, Stück für Stück ein bisschen mehr, bis ich irgendwann gar nichts mehr spüre. Ich teste das immer wieder, und irgendwann gelingt es mir, mich tief mit der Rasierklinge meines Vaters zu schneiden, ohne dass es weh tut. Doch es blutet sehr heftig, und weil ich nicht weiß, was ich dagegen tun soll, rufe ich verwirrt nach meiner Mutter, als sie kommt, sieht sie erschrocken aus, greift dann beherzt zum Erste-Hilfe-Kasten und verbindet meinen Finger. Für den Moment scheint sie keine Schmerzen mehr zu haben, und das ist gut.

Aber ich werde keine Ritzerin auf Dauer, denn meine Mutter scheint meine Taktik zu durchschauen, und ihre Besorgnis nimmt wieder ab. Bis ich krank werde, immer wieder und immer wieder, trotz aller Anstrengung schaffe ich es nicht, mich tatsächlich in Luft aufzulösen, denn habe ich die eine Erkältung gerade hinter mir, erreicht mich die nächste schwere Bronchitis. Mein Glück ist, dass ich eine gute Schülerin bin und mir die vielen Fehlzeiten nichts ausmachen, sonst wäre ich wahrscheinlich woanders gelandet als da, wo ich heute bin.

Meine Mutter kocht literweise Tee, Hühnersuppe, liest mir Geschichten vor, sitzt mit mir stundenlang in Wartezimmern, an meinem Bett, tagelang, nächtelang. Ich sei kränklich, erzählt sie unseren Nachbarn, ich weiß nicht, was das Kind hat, aber der leiseste Windstoß scheint sie umzuhauen, von wem hat sie das bloß, oder ist das normal, ich mache mir solche Sorgen, ich weiß gar nicht, was ich noch machen soll, meine Mutter wird darüber noch dünner, und auf ihrer Stirn bilden sich tiefe Falten, die nicht mehr vergehen.

Manchmal, wenn ich mit fiebrig heißem Kopf im Bett liege, mache ich mir Vorwürfe. Ich bin immer noch sichtbar, also wird meine Mutter für immer hier bleiben müssen. Aber manchmal, wenn es mir besonders schlecht geht und ich nur noch vor mich hindämmere, habe ich auch für kurze Zeit das Gefühl, dass alles normal ist. Ein krankes Kind, eine besorgte Mutter. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihr Kleines, und das wird schließlich wieder gesund, und alles ist gut, so ist es doch in den Büchern, den Filmen, die ich kenne, das ist normal, so soll es sein. Oder nicht?

Oft bringt mir meine Mutter Geschenke ans Bett, neues Spielzeug, Tonnen an Büchern, Plüschtieren, und um mich herum baut sich ein riesiger Wall auf, es ist so viel Zeug, dass ich kaum mehr Platz auf meiner Matratze habe. Pflichtschuldig spiele ich mit den Sachen, obwohl sie mich mit Ekel erfüllen, weil es mir eigentlich unangenehm ist, etwas geschenkt zu bekommen, denn jedes Ding, das ich besitze, zeigt, dass es mich gibt, und ich wünsche mir weiterhin nichts mehr, als dass es nicht so ist. Aber meine Mutter scheint zu hoffen, dass ich durch den ganzen Kram wieder gesund werde, als sei Krankheit etwas, das man abbezahlen müsse, ein wucherndes Gebilde, dem man nur durch magische Mittel beikommen kann.

An meinen Vater erinnere ich mich kaum, er ist in dieser Zeit so gut wie nicht vorhanden, er kommt nie an mein Bett, als habe er panische Ängste, sich bei mir anzustecken, aber manchmal höre ich ihn, wenn ich nachts vor Durst aufwache, dann dringen die Stimmen meiner Eltern plötzlich von unten zu mir herauf, lautstark. Eines Nachts macht meine Mutter meinem Vater wieder Vorwürfe, dieselben wie immer, du kümmerst dich gar nicht um sie, ist dir eigentlich egal, wie es ihr geht, du hast eine Familie, schon vergessen, ich mache seit Wochen nichts anderes, als sie zu pflegen, aber du kommst weiterhin nach Hause, wann es dir passt, ich kann nicht mehr, verstehst du, ist dir das überhaupt klar? Mein Vater brummelt daraufhin nur etwas Unverständliches, was dafür sorgt, dass die Tirade meiner Mutter neue Höhen erklimmen, sie fängt an zu weinen und schreit noch lauter als vorher, ich habe es total satt mit dir, am liebsten würde ich dich verlassen, wenn das Kind nicht wäre, hätte ich es schon getan, da sei dir sicher, ich wäre schon längst woanders, wenn du wüsstest, glaub ja nicht, dass ich dich nötig habe, jetzt sagt mein Vater nichts mehr, wahrscheinlich hat er seine undurchdringliche Miene aufgesetzt.

Schließlich kommt meine Mutter die Treppe herauf und setzt sich im Dunkeln an mein Bett. Als sie bemerkt, dass ich wach bin, schnieft sie laut, dem habe ich aber mal die Meinung gesagt, es kann doch nicht sein, dass er sich hier um nichts kümmert, er ist doch dein Vater, aber du scheinst ihm völlig egal zu sein, das war von Anfang an so, ich kann mich noch erinnern, als du geboren wurdest, da ist er auch ins Büro gefahren, weil er mir nicht glaubte, dass ich Wehen habe. Sie lacht kurz und bitter auf, und durch die Bewegung ihres Kopfes fällt plötzlich das Flurlicht auf ihr Gesicht, sie sieht verweint aus, aufgelöst, aber auf eine seltsame Weise auch irgendwie dankbar, dass ich ihr durch mein Kranksein eine Rechtfertigung gegeben habe, meinem Vater endlich einmal alles zu sagen. Fast alles.


Irgendwann fängt sich meine Mutter wieder. Und irgendwann steht wieder ein Mann in unserem Wohnzimmer, ich habe ihn schon vorher einmal gesehen, aber ich kann mich nicht erinnern, wo. Er ist um einiges älter als meine Mutter, seine Haare oben auf dem Kopf sehen anders aus als an den Seiten, und er hat ein falsches Lächeln, unbeholfen tätschelt er mir auf dem Kopf herum, und ich bin froh, als meine Mutter sagt, ich dürfe nach oben gehen. Ich schließe meine Zimmertür, doch ich höre trotzdem ihr Lachen zu mir dringen, Jochen, sagt meine Mutter, du bist wirklich ein Charmeur.

Ich bin vor kurzem zehn Jahre alt geworden und gehe nun aufs Gymnasium. Es ist ein unüberschaubares Gebäude mit unzähligen Treppen, Fluren und Klassenzimmern, mit Tausenden von Kinderaugen, die mich prüfend musternd, sie merken sofort, dass ich nicht so bin wie sie, und anders als meine Mitschüler auf der Grundschule sind sie erbarmungslos deutlich in ihrem Urteil, ich verstecke mich vor ihnen während der Pause auf dem Klo und drücke mir die Hände auf die Ohren, um ihr hämisches Kichern nicht zu hören, trotzdem bekomme ich jeden Tag heftige Bauchschmerzen. Da sich diese neue Schule in einer zwanzig Kilometer von unserem Dorf entfernten Stadt befindet, fährt mich meine Mutter jeden Morgen dorthin und holt mich mittags wieder ab, das ist mühsam, für uns beide, denn sie ist eine sehr unsichere Fahrerin, und die Strecke über die Autobahn überfordert sie jedes Mal sichtlich, sie flucht und schreit und kriegt Schweißausbrüche, wenn sich ihrem kleinen Auto von hinten ein Lastwagen nähert, ich hasse diese Fahrten mit ihr.

Vielleicht aus diesem Grund, vielleicht aber auch, weil meine Eltern das Dorfleben inzwischen satt haben, beschließen sie eines Tages, in die Stadt zu ziehen, in eine Wohnung, die meiner Schule genau gegenüber liegt. Doch als mir meine Eltern von dem bevorstehenden Umzug erzählen, fange ich an zu weinen, ich liebe unser Haus, trotz allem habe ich gerne hier gewohnt, in meinem Zimmer hatte ich immer meine Ruhe, weil meine Eltern sich meistens im unteren Stockwerk aufhielten, in der neuen Wohnung wird alles auf einer Ebene sein, und ich werde nie mehr ungestört sein, das ahne ich schon so früh.

Aber meine Eltern haben ihre Entscheidung gefällt und außerdem beschlossen, dass ich während der Einpackerei nicht anwesend sein soll, sie kann doch ein paar Tage bei Jochen verbringen, schlägt meine Mutter vor, und da fällt mir plötzlich ein, woher ich ihn kenne: Er war einmal bei uns zum Essen eingeladen, er ist ein Geschäftspartner meines Vaters. Ja, warum nicht, brummt mein Vater ahnungslos, und so fährt er mich ein paar Tage vor dem geplanten Umzugstermin dorthin, ich weine und flehe, als ich im Auto sitze, aber mein Vater sieht mich nur genervt an, stell dich nicht so an, es sind doch nur drei Tage, und wenn ich dich dann abhole, ist dein neues Zimmer schon fertig eingerichtet. Doch ich will das nicht, ich will meine Sachen selbst ein- und wieder auspacken, ich will nicht umziehen, ich will nicht zu Jochen. Der hat auch eine Tochter, erwidert mein Vater, Anna, die ist acht, ihr könnt sicher schön miteinander spielen. Ich erstarre, wieso hat der auch eine Familie, das wusste ich nicht, davon hat mir vorher keiner etwas gesagt, den Rest der Fahrt über sitze ich stocksteif in meinem Sitz und kann nicht verstehen, was mit mir passiert, ich weiß nur, dass mir niemand Zeit gegeben hat, mich von meinem Zimmer, dem Haus, dem Garten zu verabschieden, und ich werde all das niemals wieder sehen, die Trauer darüber schnürt mir die Kehle zu, noch heute.

In einem riesigen Einfamilienhaus mit steif geschnittenen Rabatten davor nimmt mich kurze Zeit später eine resolute Frau in Empfang und zeigt mir die hallenähnlichen Räume, sie ist Jochens Frau, und ich habe sie noch nie zuvor gesehen, hinter ihr versteckt sich ihre Tochter, ein mageres, stummes Wesen mit großen, dunklen Augen. Nein, entgegen der Hoffnung meines Vaters können wir nicht miteinander spielen, wir sind beide gestörte Wesen, die das Spielen mit einem Gegenüber verlernt oder nie gelernt haben, deshalb sitzen wir kurze Zeit später schweigend in ihrem voll gestopften Kinderzimmer, umgeben von kreischend buntem Plastikschrott, und starren uns an. Viele Stunden später kommt Jochen nach Hause, der einzige Mensch in diesem Haus, den ich kenne, doch er begrüßt mich nur flüchtig, und während wir an einem monströsen Glastisch zusammen Abendbrot essen, weicht er meinem Blick aus, als habe er panische Angst, ich könne im nächsten Moment erzählen, dass er der Liebhaber meiner Mutter ist, doch das habe ich nicht vor, in meinem Bauch sitzt ein eisiger Klumpen, und ich bin unsichtbar, die Nacht verbringe ich schlaflos im Gästezimmer.

Am nächsten Morgen sehe ich, wie Jochens Frau Annas Bett frisch bezieht, sie scheint in der Nacht ins Bett gemacht zu haben, mit acht Jahren. Ich verbringe noch zwei wortlose Tage in diesem Haus, jeden Abend ruft meine Mutter an, die gestresst klingt, aber trotzdem noch unbedingt kurz mit Jochen sprechen möchte, und ich reiche den Hörer weiter und gehe zurück in Annas Zimmer. Als mein Vater mich schließlich wieder abholt, lächelt sie zum ersten Mal, und ich lächele zurück, wir scheinen beide erst in diesem Moment zu begreifen, dass wir ein ähnliches Schicksal teilen.

Im Auto frage ich meinen Vater, ob wir noch einmal an unserem alten Haus vorbei fahren können, doch er will keinen Umweg machen. Er fährt den Weg, den ich bisher immer zur Schule gefahren wurde, das ist seltsam, weil ich dadurch irgendwie das Gefühl bekomme, aus der Zeit gefallen zu sein, es ist Wochenende, ich muss jetzt nicht zur Schule, aber ich fahre trotzdem dorthin, und als wir in die Straße einbiegen und ich das verhasste Gebäude sehe, bekomme ich heftige Bauchschmerzen. Als ich die neue Wohnung das erste Mal betrete, verstärkt sich die Irritation, denn natürlich stehen dort alle Möbel, hängen dort alle Bilder, die ich kenne, aber ich kann sie nicht mit den Räumen in Verbindung bringen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, es ist wie in einem Alptraum, ich bin zuhause und bin es doch nicht. Wo bin ich dann?

In der Tür meines neuen Zimmers steht meine Mutter und lächelt breit, sichtlich stolz, dass sie es geschafft hat, alles rechtzeitig einzurichten. Doch ich erkenne meine Sachen nicht mehr, sie sind mir fremd, sie existieren nun in einer fremden Ordnung, die ich nicht durchschaue, und so sitze ich wieder schweigend in einem Kinderzimmer, das nicht mein eigenes ist. Und fange an zu weinen.


Ich weiß bis heute nicht, warum meine Mutter all das getan hat. Warum sie oft so gedankenlos war mir gegenüber, warum sie von einem Mann zum anderen jagte, warum ihr das Leben mit uns nicht gereicht hat. Liebte sie meinen Vater doch nicht oder nicht genug, langweilte sie sich so sehr in ihrem Mutterdasein oder brauchte sie schlicht das ständige Begehrt-Werden als Lebenselixier? Ich habe sie das des Öfteren gefragt, aber sie hat mir nie eine Antwort gegeben. Vielleicht weiß sie auch selbst keine.

Auf jeden Fall explodiert die ganze Blase aus Versteckspiel und Geheimnissen ein paar Jahre später, irgendwann hält wohl keiner der beiden mehr die permanenten Lügen aus, Lügen dem anderen und vor allem sich selbst gegenüber, und meine Eltern trennen sich, als ich 13 bin, mein Vater bezieht ein kleines Apartment am anderen Ende der Stadt. Ich sehe ihn kaum noch, aber wir hatten schon vorher kaum Kontakt, deshalb trifft mich sein Auszug nicht besonders, er konnte mich sowieso nie schützen. Ich habe inzwischen erfahren, dass meine Angst vor der neuen Wohnung nicht unbegründet war, denn ich habe tatsächlich keinen Rückzugsort mehr, die verhasste Schule liegt direkt gegenüber, und jedes Mal, wenn ich aus meinem Fenster blicke, werde ich an ihre Existenz erinnert, außerdem liegt mein Zimmer zwischen dem Schlafzimmer meiner Mutter und dem Wohnzimmer, und ich bekomme jedes Wort mit, jede Berührung, zwischen ihr und dem anderen, oder meine Tür öffnet sich, und jemand kommt herein, besticht mich mit Spielzeug, streicht mir linkisch über den Kopf, will mit mir reden, ich verstumme dadurch immer mehr, bin nur eine Besucherin in meinem eigenen Zimmer. Und wenig später beginnen meine Zustände.


Der Teppich in meinem Zimmer ist hell, mit einigen dunklen Flecken durchsetzt, er ist aus Naturwolle und mein bester Freund, denn ich kenne ihn gut, ich kenne jede Faser seiner Schlaufen, jede Abweichung in der Struktur, ich kenne seinen Geruch, ein bisschen dumpf, fast muffig, ich kenne das Gefühl seiner Wolle auf meiner Haut, ich liege oft auf ihm und betrachte ihn, niemals zuvor (und niemals wieder) bin ich einem Ding so nahe gekommen wie ihm. Sobald ich aus der Schule komme und meine Aufgaben erledigt habe, lege ich mich auf den Boden, ich kann nicht mehr länger sitzen, ich bin müde, und der Bauch tut mir weh, doch ins Bett kann ich auch nicht gehen, denn dann würde meine Mutter mir die Hand auf die Stirn legen und den Arzt rufen, ich kann nur hier unten liegen, mit ein paar Büchern in Reichweite, falls jemand herein kommt, kann ich so tun, als lese ich, das sieht ja gemütlich aus, Schätzchen, soll ich dir vielleicht ein paar Kekse bringen und etwas zu trinken? Nein, Mama, lass nur, es ist alles in Ordnung, wenn ich etwas möchte, hole ich es mir schon, und so schließt sich die Tür wieder, und ich bin wieder allein mit den wolligen Schlaufen.

In der Schule schreibe ich weiterhin gute Noten, weiche weiterhin stoisch den höhnischen Rufen und zweifelnden Blicken meiner Mitschüler aus, nach außen hin ist keine Veränderung zu bemerken, das Funktionieren bin ich gewöhnt, doch alles andere ist mir inzwischen gleichgültig geworden, ich schaue mir meine Bücher nicht mehr an, spiele nicht mehr mit meinen Spielsachen, ich tue nur noch das, was von mir erwartet wird, zur Schule gehen, essen trinken schlafen, ansonsten starre ich auf meinen Teppich.

Irgendwann wird es noch schlimmer. Die Blicke meiner Mitschüler werden drängender, ihr Lästern unüberhörbar, irgendetwas stimmt doch nicht mit ihr, sie hat schon wieder eine Eins geschrieben, macht die eigentlich noch was anderes als Lernen, die ist doch nicht ganz normal, wisst ihr schon, dass ihr Vater ihre Mutter verlassen hat, vielleicht ist sie darüber plemplem geworden, ich versuche, ungerührt an ihnen vorbei zu gehen, ihre viel sagenden Gesten zu übersehen, doch das Nagen in mir wird größer, lauter, bis ich mich völlig ausgehöhlt fühle. Ich schwänze die Schule, um ihnen zumindest einen Tag zu entgehen, doch zuhause ist meine Mutter und irgendein Mann, und ich habe keine Wahl, als unsichtbar zu werden, ein Staubkorn in den flauschigen Untiefen meines Teppichs, dort unten liege ich und schlage den Kopf gegen den Boden, immer härter, immer fester, ohne dass es jemand hört, die Wolle dämpft jedes Geräusch.

Meine Mutter hat sich in den letzten Jahren zunehmend angewöhnt, sich meine Krankheiten anzueignen, jedes Mal zusammen mit mir krank zu werden, vielleicht lenkte sie das von ihren eigenen Schmerzen das Leben betreffend ab. Wenn ich hustete, bekam sie fast eine Lungenentzündung, wenn ich Bauchschmerzen hatte, plagte sie ein Magengeschwür, wenn ich Kopfschmerzen hatte, drohte ihr eine Hirnhautentzündung, immer jammerte sie lauter, immer ging es ihr schlechter als mir, sie pflegte mich trotzdem, aber stets mit einer solchen Leidensmiene, dass ich am liebsten das Bett verlassen hätte, wenn es mir nicht gerade so mies gegangen wäre. Doch nun, als ich immer desinteressierter an allem werde, geradezu stumpf, bleibt sie seltsam unbeteiligt, passiv, aber vielleicht ist ihr Verhalten auch in dieser Hinsicht im Endeffekt nichts anderes als eine Spiegelung, vielleicht weiß sie insgeheim, dass Hühnersuppe oder Wadenwickel bei dieser Krankheit nicht helfen, und andere Möglichkeiten kennt sie nun einmal nicht.

Als ich schließlich gar nicht mehr weiter weiß, nehme ich mir eines Mittags ein langes Seil, lege es um meinen Hals und ziehe zu. Meine Mutter ist einkaufen, ich habe den Schlüssel von innen in die Wohnungstür gesteckt, um ungestört zu sein, zu bleiben, und ich spüre, wie sich der Druck um meinen Hals immer mehr verstärkt und ich gleichzeitig innerlich immer kälter werde. Ich sehe mein Zimmer, ich sehe meine Bücher, meine Stofftiere, meine Spielsachen, meine Schulbücher, meine Möbel, ich sehe das alles, und es bedeutet mir nichts, nichts davon gehört mir noch, ich bin nur noch ein glückliches, atemloses Schweben in luftleerer Stille. Dennoch gibt es irgendwann einen Widerstand in mir, irgendetwas lässt mich plötzlich nicht weiterziehen, sondern nachgeben, das Seil wieder lösen, ich verstehe es nicht, ich bereue mein Schwanken und fange an zu weinen, weil ich es vollenden will und nicht kann, was bin ich nur für eine elende Versagerin.

Als ich in den Spiegel sehe, in mein verweintes, gerötetes Gesicht, erschrecke ich, um meine Augen und meinen Hals haben sich rot gesprenkelte Spuren hineingefressen, ich sehe aus wie die Trägerin einer seltenen Krankheit. Doch bevor ich etwas dagegen unternehmen kann, klingelt es bereits, meine Mutter steht vor der Tür, irritiert darüber, dass sie nicht herein kommt, drückt sie ihren Finger auf die Klingel, bis ich schließlich öffne. Sie kommt herein, schwer beladen mit ihren Tüten und Taschen, und erst als sie alles abgestellt hat, fallen ihr die Verfärbungen in meinem Gesicht auf, was hast du denn gemacht, was ist das denn, sie drückt an meinen Lidern herum, das sieht aus wie eine Allergie, hast du etwas Falsches gegessen? Ich schüttele den Kopf, ich weiß auch nicht, was es ist, aber es wird schon wieder weggehen, wispere ich, ich werde alles tun, aber nicht auch noch ihr gegenüber meine Schmach eingestehen, dass ich es nicht geschafft habe, ich will in mein Zimmer gehen, die Tür hinter mir schließen, weinen, doch meine Mutter insistiert, wir müssen zu einem Arzt, bevor es schlimmer wird, sofort.

Und so sitzen wir wenig später vor einem Hautarzt, der sich mein Gesicht genau ansieht, ratlos ist, bei der Frage nach einer Diagnose nur die Schultern zuckt und eine Salbe aufschreibt, dreimal täglich, obwohl die Flecken vollkommen offensichtlich sind, kleine Blutergüsse unter der Haut, und nichts anderes illustrieren können als meinen hilflosen Versuch, mir das Leben zu nehmen, mit einem erbärmlichen Strick aus der Abstellkammer. Meine Mutter ist unzufrieden, als wir die Praxis verlassen, was sollte denn das, wieso hat der nicht gesagt, was es sein könnte, der hatte ja überhaupt keine Ahnung, und sie zerrt mich ins nächste Wartezimmer, unter das nächste Vergrößerungsglas. Als der zweite Arzt sich nach der Untersuchung wieder hinter seinen Schreibtisch setzt, sieht er meine Mutter ernst an, eine Salbe hilft hier nicht, das wissen Sie wahrscheinlich selbst, wenn ich ehrlich bin, sollten Sie dringend mit Ihrer Tochter sprechen, so bald wie möglich, sein Blick liegt wie festgenagelt auf meiner Mutter, obwohl ich keinen Meter von ihr entfernt sitze, sieht er mich kein einziges Mal an. Meine Mutter nickt, sie wirkt, als habe sie verstanden, und dann nimmt sie mich an der Hand und tritt mit mir auf die Straße, aber wir gehen nach Hause, ohne ein Wort zu wechseln, und so vergeht der Rest des Tages, wir essen schweigend zu Abend, wir gehen stumm zu Bett, wir sprechen nicht über die Worte des Arztes, reden Sie mit Ihrer Tochter, schnellstens, nein, wir erwähnen unseren Besuch bei ihm mit keiner Silbe, weder an diesem Tag noch an einem anderen, nie mehr, kein einziges Mal, und als die Flecken in meinem Gesicht irgendwann heller werden und schließlich ganz verblassen, ist es, als habe es ihn nie gegeben.


Plazenta, -18°

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