Читать книгу Die neun Tage des Ekels. Der Hamburger Sülze-Aufstand 1919 und wie Elfriede Schwerdtfeger ihn von ihrem Fenster aus erlebte - Karsten Flohr - Страница 5
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Arthur, du weißt ja, dass ich oft schlecht träum und dass ich dann davon aufwach. Von dem Lärm in meinem Kopf. Der Lärm, von dem du mir bei deinem letzten Fronturlaub erzählt hast, der Kanonendonner und all das. Das Geschrei von den Verletzten, das Heulen von Granaten und so. Und wenn die Schützengräben einstürzen und die Männer unter sich begraben. Aber ich weiß, dass du da heil rausgekommen bist, mein Arthur, auch wenn sie mir das Gegenteil mitgeteilt haben in diesem Brief, diesem unseligen, in dem der Kaiser seine Trauer ausgedrückt hat, dieser schreckliche Kerl. »Ihr Sohn – heldenhaft – auf dem Feld der Ehre – Vaterland« und all so’n Tüdelüt. Ich weiß, dass du eines Tages vor meiner Wohnungstür stehst und mich fragst, ob die Suppe schon fertig ist. Wie du halt so bist, immer hungrig. So warst du schon als lütter Bengel. Genau wie dein Vater, Gott hab ihn selig. Oder auch nicht. Der Fresssack. Wenn er nicht so viel gefuttert hätte, wäre er jetzt vielleicht noch da. Dann hätte ich mehr als die dreißig Mark Witwenrente. Heute hätte er leben sollen, jetzt, wo’s nix zu futtern gibt! Das wär gesünder gewesen für ihn. Naja, hilft nix. Alle müssen sehen, wie sie über die Runden kommen.
Aber heute Morgen hab ich den Lärm nicht geträumt. Der Radau, von dem ich aufgewacht bin, war wirklich da. Erst dachte ich, ich dreh mich nochmal um und dann hört es auf. Hat es aber nicht. Das Geschrei war direkt vorm Haus, Fritzi saß schon auf der Fensterbank und hat rausgeguckt. Was schaust du denn da, hab ich gesagt, hast doch noch gar kein Futter gehabt. Aber sie hat sich nicht zu mir umgedreht, hat nur miaut und mit dem Schwanz hin und her geschlagen. Da muss was los sein vor der Tür, hab ich gedacht und bin raus aus dem Bett, barfuß. Du weißt ja, dass ich das gar nicht gerne mach, wegen den Splittern im Holz. Aber ich war neugierig und die Pantoffeln nirgends zu sehen. Fritzi schleppt sie nachts immer irgendwo hin und versteckt sie. Denkt wohl, das sind ihre Jungen.
Ich also zum Fenster, aufgemacht und rausgeguckt. Du glaubst es nicht: Da schrien mindestens hundert Leute auf der Straße rum und warfen Sachen gegen die Fabrik auf der anderen Straßenseite! Kleine Reichenstraße 15, weißt ja noch, dass da die Gerberei war, von dem Heil, dem Fabrikanten, der von gegenüber. Jacob Heil. Netter Mann. Jetzt, wo er Sülze herstellt, kriegen die Anwohner in den Nachbarhäusern umsonst was von ihm, wegen dem Gestank, als Entschädigung sozusagen. Ich auch. Kostenlose Sülze. Ich glaub, das macht er, weil welche sich beschwert haben. Es stinkt wirklich übel, muss man schon sagen, nicht immer, aber ein paarmal am Tag, wenn sie die Schlote anschmeißen. Wenn ich die Sülze nicht hätte, wüsste ich nicht, wie ich über die Runden käme. Aber egal. Jetzt schrien sie da unten: Heil du Schwein, komm raus!
Ich wusste natürlich nicht, was los war. Die Schümann von nebenan hat es mir dann später erzählt, die arbeitet ja da in der Buchhaltung. Um kurz vor sieben ist da ein Pferdefuhrwerk umgekippt, sagt sie, das bei Heil rauskam, aus seiner »Delikatess Fabrik«, und Fässer auf der Ladefläche hatte. Eins ist zerbrochen, und da sind lauter Kadaver rausgeschwappt. Ratten, Hunde und Katzen. Ganz schleimig und grün vergammelt. Und außerdem so ekelhaftes Zeug von Schweinen und Pferden. Schnauzen und Augen und sogar Geschlechtsteile, hat die Schümann gesagt. Musst du dir mal vorstellen! Also, das haben die Arbeiter gesehen, die gerade die Straße langgingen auf dem Weg zum Freihafen. Und im Nu waren ganz viele Leute da und haben dieses Geschrei gemacht. Ich muss mal eben kurz aufhören, da wird an der Tür geklopft.
Arthur, du glaubst es nicht! Arthur!! Viel schlimmer kann es bei euch an der Front auch nicht gewesen sein. Was hier los ist, Ogottogott! Also, das war eben der Lütte von nebenan, der da geklopft hat, Gerhard, der Junge von der Schümann. Weißt ja noch, bei deinem letzten Fronturlaub war er gerade zur Schule gekommen, jetzt ist er neun. Er hat geweint, wusste nicht, was er machen soll. Seine Mama ist nicht da. Sie haben sie mitgenommen, sagt er. Nun hat er Angst. Ich hab ihn erstmal hierbehalten, er guckt jetzt mit Fritzi aus dem Fenster, ob seine Mama wiederkommt.
Also jetzt ist es gleich elf und in den letzten Stunden waren immer mehr Leute auf der Straße und haben Radau gemacht. Und Polizei war auch da, aber nur ein ganz paar, die konnten gar nichts machen, als die Leute in die Fabrik gestürmt sind. Die Schümann war trotz dem Aufruhr zur Arbeit gegangen, muss sie ja, sie ist ja in der Buchhaltung, ich weiß gar nicht, wie sie da reingekommen ist, in das Gebäude, bei all den vielen Leuten. Und Gerhard ist hinter ihr hergelaufen. Und dann stürmten die Menschen in die Fabrikhalle, haben in alle Fässer und Kessel geguckt und immer mehr Radau gemacht. Anschließend haben sie alles kurz und klein gehauen und nach dem Heil gesucht. Der war noch nicht da, ist ja Fabrikant, die kommen später. Aber als er dann da war, haben sie ihn sich gleich gegriffen und verhauen. Und die Arbeiter in der Halle auch.
Und dann, hat Gerhard mir gesagt – er steht hier noch neben mir und zittert am ganzen Leib –, dann haben sie den Heil, seine Arbeiter und auch die Büroangestellten rausgeholt aus der Fabrik, die Polizei konnte nichts dagegen machen, es waren so viele. Und durch die Straßen getrieben haben sie die Leute und dabei immer wieder getreten und gehauen, mit Latten und Knüppeln. Bis zum Rathausmarkt. Und da kamen noch mehr Leute dazu und haben gejohlt und geschrien, wie sie den Heil bei den Arkaden in die Alster geschmissen haben. Da war der schon halb tot, sagt Gerhard, der hat das alles gesehen. Und er hat versucht, bei seiner Mutter zu bleiben, aber er wurde abgedrängt. Und dann hat er so ne Angst gekriegt, dass er nach Hause gelaufen ist. Zu mir. Jetzt weint er gerade nicht mehr, weil Fritzi mit ihm spielt, aber er weiß nicht, was mit seiner Mutter ist. Armer Jung. Irgendwie sieht er aus wie du, als du so alt warst, das macht wohl das blonde Haar. Ich muss mich jetzt mal um ihn kümmern, er hat bestimmt Hunger, und ich hab noch Sülze da. Ich wollte das nur schnell aufschreiben, damit ich es nicht vergesse, es ist so viel passiert. Du sollst ja schließlich alles erfahren, wenn du wieder bei mir bist. Normalerweise passiert in einem ganzen Monat nicht so viel wie heute Vormittag, mein Arthur, auch wenn ich immer mit Fritzi aus dem Fenster guck, ob du schon kommst. Du meine Güte, was die Leute alles machen! In die Alster geschmissen!
Du weißt ja, dass die Schümann einen Galan hat. Oder nicht? Sie ist ja Kriegerwitwe, ihr Mann ist gleich zu Beginn in Lüttich gefallen. Schon im September 1914. War ein hübscher Kerl, erinnerst du dich? Sie ja auch, wirklich eine schöne Frau. Wär was für dich, wenn du wiederkommst. Aber nun ist da der Bruno Birnatzky und macht ihr den Hof. Neulich hat sie mir erzählt, dass sie ihn nett findet und dass er klug ist und aus gutem Haus kommt, obwohl er Kommunist ist. Das war, als sie mir das Du angeboten hat. Sie war da ganz verwirrt an dem Tag, weil er ihr wohl allzu nahe gekommen ist, was sie noch nicht wollte. Sie ist ne Anständige, nicht so eine, die sich gleich hingibt. Die wär was für dich, wirklich. Und der Gerhard ist ja auch ein ganz Netter. Gut erzogen, der Junge.
Dieser Birnatzky kam heute Mittag, völlig atemlos, und fing fast an zu heulen vor Erleichterung, weil Gerhard bei mir war. Er hat ihn in den Arm genommen, als wenn es sein Junge wäre. Wo denn die Helga wär, wollte er wissen. Und da fing der Gerhard wieder an zu weinen und hat erzählt, dass sie auch zum Rathausmarkt mitgeschleppt worden ist. Oh Gott, sagte der Birnatzky, da bauen sie gerade einen Pranger auf für die Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Fabrik, wegen der Sauerei, die sie gemacht haben, und weil sie angeblich Schweigegeld bekommen haben vom Heil. Und da verprügeln sie die dann, an diesem Pranger, wie im Mittelalter, sagte er.
Quatsch, hab ich gesagt, das wüsste ich doch, davon hat sie mir nie erzählt. Die würde kein Schweigegeld nehmen, die nicht! Außerdem ist sie ja nur in der Buchhaltung. Die Büroleute dürfen gar nicht in die Fabrikation, hat sie mal gesagt. Sie wusste auch nichts von den Sauereien, die sie da machen. Absolut nichts, Arthur. Sonst hätte sie mir das erzählt. Die ist ne ehrliche Haut, wirklich.
Der Birnatzky war ganz verzweifelt. Das ist ein kleiner Drahtiger mit Brille, so ne lütte runde Brille aus Draht. Er wollte Gerhard nicht allein lassen, aber er wollte auch zum Rathausmarkt, um Helga da rauszuholen. Ich hab gesagt, ich kümmere mich um den Jungen, er soll gehen. Das hat er dann gemacht.
Kaum war er weg, war schon wieder Radau auf der Straße, da kamen wieder Leute angestürmt. Und rein in die Fabrik. Die paar Polizisten, die davorstanden, haben sie einfach beiseite geschubst. Ich konnte von meinem Fenster aus sehen, dass sie nun auch in den Büroräumen gegenüber alles kurz und klein hauten und Aktenschränke durchwühlten. Die suchten wohl nach Beweisen dafür, dass der Heil seine Sülze wirklich aus diesem Saukram herstellt. Und wie wir noch aus dem Fenster guckten, da kam der Birnatzky mit Helga an der Hand angerannt und rein in unseren Hauseingang.
Sie hat Rotz und Wasser geheult, aber zum Glück hatte sie nur ein paar blaue Flecke. Man hat ihr nichts Schlimmes getan. Aber anderen. Und ganz wild wurden die Leute, als die Polizei den Jacob Heil aus dem Wasser gefischt hat und zu seiner Sicherheit ins Rathaus brachte. Die Menge hat versucht, auch reinzukommen, erzählte sie. Da hat die Polizei ein paarmal in die Luft gefeuert, und dann haben sie aufgehört damit. Aber dafür haben sie umso wilder die armen Arbeiter verhauen. Und auf einmal kam ein Pferdewagen an, da war all solch Schweinkram drauf, wie es morgens von dem Fuhrwerk gefallen ist – das war übrigens der Fuhrmann Rüssau, den kennst du auch noch, mein Arthur, der war mal im Skatklub von Papa – und sie haben die Arbeiter gezwungen, davon zu essen. Zum Glück kam da Birnatzky und hat Helga einfach weggezerrt aus der Menschenmenge. Sonst hätte sie das auch essen müssen.
Und dann hat Birnatzky gesagt, er muss noch zu einer Parteisitzung im Oberhafen, es ginge darum, wie man die wütenden Leute am besten in Richtung Weltrevolution dirigieren könnte, das wäre jetzt ganz wichtig und eine gute Gelegenheit. Aber ich konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, wegzugehen. Helga hat immer wieder geweint, ich konnte das Entsetzen in ihren Augen sehen über das, was sie erlebt hat.
Da hab ich gesagt, sie und Gerhard können heute bei mir schlafen, wenn sie wollen. In deinem alten Bett, mein Arthur, ich hoffe, es ist dir recht. Da brauchen sie keine so große Angst zu haben, weil wir ja zu dritt sind, auch wenn ich mit meinen dicken Beinen natürlich nicht so beweglich bin, falls hier Eindringlinge kommen. Aber wer sollte schon kommen, bei uns im Haus wird ja keine Sülze gemacht. Und dann fiel mir ein, dass es nun wohl keine kostenlose Sülze mehr gibt. Woher denn auch, wenn da alles kaputt gehauen ist in der Fabrik? Dann werde ich wohl auch zur Suppenküche gehen müssen, wie so viele andere. Das fällt mir schwer, ich komm kaum die Treppen rauf und runter. Die Beine tun mir weh, die sind wirklich ein Problem. Aber wenn du erstmal wieder hier bist, wird alles gut. Ich geh jetzt auch schlafen, mein Arthur. Die Schümann und ihr Junge haben schon die Augen zu.