Читать книгу Marie - Wenn es stürmt in deinem Herzen - Kaspar Hofmann - Страница 8
ОглавлениеZweite Eröffnung
Noch lauter geschrien als Marie hat Charlotte. Halt, bevor Sie jetzt mit der Annahme weiterlesen, zwischen Charlotte und mir ›wäre etwas gewesen‹: Nein, da war nichts. Aber Charlotte schreit mich tatsächlich so an, wie man sich sonst eigentlich nur in Beziehungen anfaucht. Alle auf dem Bahnsteig hören sie, drehen sich nach uns um, wollen mitbekommen, was los ist. Charlotte steht vor mir. Ihren Rollkoffer hält sie mit beiden Händen am Teleskopgriff zwischen uns. Sie schreit: »›Bist du schon wach?‹ ›Bist du schon wach?!‹ Warum fragst du mich das, wenn du mich abholst?! Natürlich bin ich schon wach! Wenn wir sechs Uhr ausgemacht haben, dann bin ich um sechs Uhr fertig! Warum bleibst du vor der Tür stehen?! Du hast doch gesehen, dass ich sie angelehnt habe. Warum bist du nicht reingekommen? Du stehst da und wartest und wartest!« Charlotte brüllt und rast. Jeden Moment der letzten Woche findet sie auf einmal zum Kotzen. Sie schreit über Dinge, über die man eigentlich nicht schreien kann: »Warum fragst du, ob ich eine Pause brauche? Was soll das?! Ich weiß selbst, wenn ich eine Pause brauche, dazu brauche ich dich nicht!« Charlottes Zug kommt, hält; sie dreht sich um, steigt ein und ist weg.
Aus allen Wolken gefallen bleibe ich einige Atemzüge lang auf dem Bahnsteig stehen. »Es gibt tatsächlich Momente, da denkst du noch nicht einmal«, denke ich. Später, ich bin eine Zeit lang wie betäubt einfach nur gegangen, denke ich daran, was ich von unseren Tagen in Prag hätte erzählen können, wenn diese Szene gerade nicht passiert wäre: »Wirklich schöne Tage haben wir gehabt. Alles war leicht, manchmal fast spielerisch, und das trotz der vielen Arbeit. O. k., einmal habe ich während einer Präsentation in ihre Grafik Pfeile gezeichnet, das war wohl nicht so toll. Sonst aber: alles super. Und wir haben zusammen wunderbare Menschen kennengelernt.« Anstatt das später zuhause in Berlin zu erzählen, frage ich alle: »Hast du eine Idee, was da mit mir und Charlotte passiert sein könnte? Irgendetwas muss doch gewesen sein.« Wenn etwas passiert und ich habe keine Ahnung, warum und wieso, dann lässt mich das nicht los. Ich schreibe Charlotte verzweifelt und frage, ob wir reden können. Nach sechs Wochen meldet sie sich. Wir machen ab, uns zu treffen. Café Kant am Cottbusser Damm.
Jeder bestellt für sich das Frühstück »Kant am Meer«. Wir reden über Heilbutt (gilt als stark gefährdet), Lachs und Zwiebeln (im Salat haben Zwiebeln etwas weniger Schärfe, wenn man sie kurz gekocht hat), über Hunde, über unsere Arbeit nur zögernd, und dann sind wir bei der Szene am Bahnhof. Charlotte schaut an die Decke. »Mein Traum war immer: ein Mann und vier Kinder«, sagt sie unvermittelt. »Und dann hat mich einmal ein Mann fast umgebracht!« Sie zieht den Ausschnitt ihres T-Shirts zur Seite. »Zehn Jahre hat das Arschloch dafür gekriegt.« Ich sehe unter ihrem rechten Schlüsselbein eine rot-weiß ausgefranste Linie. »Ein Klappmesser!«, sagt sie. »Das gibt es gleich achtmal an mir.« Sie zögert: »Danach habe ich es mit keinem Mann mehr ausgehalten und auch kein Mann mehr mit mir!« Es ist plötzlich still am Tisch. Mir kommt es vor, als ob es nun nichts mehr zu sagen gäbe, aber Charlotte spricht weiter: »Und dann fahre ich mit dir stundenlang im Auto und wir reden und reden, und es klappt auch noch mit uns bei der Arbeit. So was habe ich mir eigentlich immer gewünscht.« Wieder herrscht Stille. Charlotte blickt mich an: »Und dann ist das ganze Unheil wieder hochgekommen.« Und wieder unterbricht sie ihr Sprechen. Die Stille ist schrecklich laut. »Alle diese Wünsche und die Sehnsucht und die Schmerzen, alles ist auf einmal wieder da. Und ich hatte gedacht: Damit bin ich fertig, ich kann endlich wieder mein eigenes Leben leben!«
Tastend nehme ich ihre Hände. Ich tue das zum ersten Mal. Ich komme mir lächerlich naiv vor wegen allem, was ich in den vergangenen Wochen über Charlotte und die Situation auf dem Bahnsteig gedacht und erzählt habe. Ich bin berührt und erleichtert, und ich freue mich und weiß nicht, ob man sich nach solchen Sätzen freuen darf. So etwas Großes und Wahres kann ich nicht sagen. Irgendwo habe ich einmal aufgeschnappt, was in solchen Momenten passend sein könnte: »Danke, dass du das mit mir teilst und mir vertraust.« Das sage ich in die Stille hinein, dann sage ich noch: »Schrecklich, was du erlebt hast.« Dann schweige ich.
Nach einer Weile blickt Charlotte mich an. »Gut, dass wir uns jetzt wieder vertragen haben.« Ich denke an meine Brüder. Nach einem Streit um irgendwelche Dinge, den Hammer, den Flaschenverschluss, oder nach ausdauernden gegenseitigen Beschimpfungen: »Du bist doof!« »Nein, du bist doof!« hat einer von uns immer irgendwann gesagt: »Vertragen?«, und nach einigen Sekunden Zögern hat der andere jedes Mal geantwortet: »O. k., vertragen!« Und damit war es dann wieder gut.
»Vertragen ist schön«, denke ich still neben Charlotte. Nach einer Weile stehen wir auf, stellen das Geschirr zusammen, gehen damit zum Tresen und bezahlen. Jeder zahlt für sich. Ich halte ihr die Tür auf. Zum Abschied umarmen wir uns vorsichtig. Alles hat jetzt eine Bedeutung.
Und Marie, warum geht das nicht mit Marie? Reden, nur einmal reden, verstehen, was passiert sein könnte und uns dann wieder vertragen?