Читать книгу Adelsspross - Katharina Maier - Страница 6
STURMZEIT
ОглавлениеWenige Tage später war die Nachricht, die die Erste Dienerin meiner Mutter gebracht hatte, in aller Munde: Ktorram Asnuor war zum Obersten Priester gewählt. Das gesamte Reich summte vor Aufregung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Asnuor außerhalb des Tempels kaum von sich reden gemacht. Dass er ein Monowyist war, löste milde Konsternierung aus, aber hauptsächlich waren die Leute einfach zum Platzen neugierig auf ihr neues geistliches Oberhaupt. Von keiner Seite, weder aus den Reihen meiner Familie noch aus den Medien, hörte ich ein Echo des Entsetzens, das der Name Asnuor bei Mutter ausgelöst hatte, oder wenigstes von Vairrynns stirnrunzelnder Besorgnis. Was man jedoch sehr bald hören konnte, war Unmut, ja, Ärger. Ktorram Asnuor ließ sich denkbar viel Zeit mit der Terminbekanntgabe für seine Einführungszeremonie, und wir Nchrynnai – wie wir Singisen uns selbst nennen – tun nichts ohne eine Zeremonie. Die Leute, vom Freudenmädchen bis zum Parlamentsmitglied, fühlten sich durch Asnuors Zögern mehr als vor den Kopf gestoßen.
»Worauf wartet dieser Asnuor eigentlich?«, empörte sich mein Onkel Zernteyb, der jüngste Sohn des alten Neoly, einmal meinem Vater gegenüber. »Was glaubt er denn, wer er ist? Die Manifestation Wys, die ungeweihte Augen nicht schauen dürfen? Der soll sich nicht so aufführen, dieser eingebildete Monowyist! Wie konnten sie nur auf die hirnverbrannte Idee kommen, diesen Kerl zum Obersten Priester zu wählen? Ich glaube, diesem selbstgerechten Überflieger gehören die Flügel gestutzt! Was meinst du, Eftnek, wie lange Vater sich das Ganze noch anschaut?«
»So lange, wie es dauert«, entgegnete mein Vater. »Die Großen Alten haben sich noch nie in die Angelegenheiten der Geistlichkeit eingemischt, und Vater hält nichts davon, fremde Schlachten zu schlagen, das weißt du doch ganz genau.«
»Du glaubst also tatsächlich, dass der alte Ränkeschmied diesem Möchtegern-Priester das Feld überlassen wird?«, fragte Zernteyb.
»Sein Feld, ja«, meinte Vater, und so verloren die beiden sich in einer Diskussion über den Jemand, der sich allemal noch besser für die Lästereien der Neoly-Brüder eignete als der leutscheue Oberste Priester.
»Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte Vairrynn wenige Tage später Mutter. »Was hat dieser Asnuor vor?« Vairrynn kam mit solchen Fragen immer zu Mutter.
»Er will, dass man über ihn redet«, antwortete sie.
»Aber es bringt ihm doch nichts, wenn die Leute schon wütend auf ihn sind, bevor er sein Amt überhaupt angetreten hat.«
»Oh, er wird sich schon etwas einfallen lassen, um sie zu versöhnen. Wichtig ist, dass sein Name jetzt in aller Munde ist. Er heizt die Stimmung immer mehr an, ohne einen Finger zu rühren, und bereitet so die Bühne für seinen großen Auftritt.« Sie sagte das mit einem zynischen, fast bitteren Unterton. Vairrynn musterte sie mit schiefgelegtem Kopf.
»Woher weißt du eigentlich so viel über Ktorram Asnuor?«
Mutter zuckte zusammen, sagte dann aber leichthin: »Um diesen Mann zu durchschauen, muss man nicht viel über ihn wissen; das kann man sich an vier Fingern ausrechnen.«
Sogar mir war klar, dass das keine Antwort auf Vairrynns Frage war. Mein Bruder starrte Mutter einen Moment lang an, durchdringend, intensiv. Ich kannte diesen Ausdruck; Vairrynn trug ihn immer, wenn er spürte, dass jemand etwas verheimlichte. Der graue Blick wurde dann scharf und irgendwie hart, heller vielleicht, tiefer. Nicht immer angenehm. Selten angenehm.
Mutter wich diesem Blick jetzt aus. Vairrynn sagte nichts. Ich vergrub die Nase in einem meiner Bücher. Schon jetzt begann ich, eine intensive Abneigung gegen den Obersten Priester des Wy zu entwickeln. Alles brachte er durcheinander!
Es dauerte insgesamt eine ganze Lchnatta – eine ganze viertel Jahreszeit also – ehe der Termin für Asnuors Einführungszeremonie feststand. Heiligtümer im ganzen Reich, so ließ der Sprecher des Wytempels dann schließlich verlauten, würden überbordende Feste für die Kinder des Ersterschaffers ausrichten, damit dieser besondere Tag dem Reich lange in Erinnerung blieb. Diese Aussicht allein versöhnte bereits viele, aber es gab immer noch genug, die dem ersten Auftritt Ktorram Asnuors ziemlich skeptisch entgegenblickten. Entgehen lassen wollten sich das Spektakel jedoch die wenigsten. Vater beschloss kurzerhand, der Aufforderung des alten Neoly zu folgen und an dem großen Tag mit seiner Familie nach Murraptaam zu kommen, der altehrwürdigen Hauptstadt des Reiches, wo die Einführungszeremonie stattfinden würde. Mutter weigerte sich rundheraus, ihren Mann zu begleiten. Vater ließ ihr schließlich ihren Willen, und Mutter und ich blieben an dem Tag, an dem die gesamte singisische Bevölkerung auf den Beinen schien, zu Hause. Ein kleines Mädchen wie ich gehöre ohnehin nicht in eine Stadt wie Murraptaam, hatte Vater als offizielle Begründung erklärt, und damit war ein weiteres Mal verhindert, dass ich einen Fuß aus dem geruhsamen Naharmbra setzte.
Ich war mehr als nur ein wenig neidisch auf meine Brüder, die Vater begleiten durften, während es mir beschieden war, das Geschehen auf der Holographischen Wand zu verfolgen. Dagegen wenigstens hatte Mutter nichts. Wir sahen uns die Übertragung der Zeremonie gemeinsam an, Mutter mit zusammengekniffenem Mund und ich genauso gespannt wie der Rest des Reiches auf Ktorram Asnuor, Oberster Priester des Wy und Erster Streiter der Nchrynnai.
Und gespannt waren sie alle. Die Kamera flog über die engen Straßen der Hauptstadt, in denen sich Singisen aus allen Landstrichen und von allen Planeten des Reiches drängten. Die Stadt, geprägt durch hellbraunen Farkenn-Stein, glimmende Glasbauten und himmelstrebende Architektur, ertrank in einem wahren Farbenmeer. Es schien gegen die hohen Häuser zu branden, von denen bunte Banner wallten. Wie von den Winden der Sturmzeit getragen, wirbelte die Kamera über die Türme der Innenstadt, bis sie schließlich auf den Großen Platz hinabtauchte, das Zentrum Murraptaams, das Zentrum von Singis, das Zentrum unseres Reiches, des glorreichen und immerwährenden Memnáh. Ich glaube, wir alle hielten diesen Ort damals für das Zentrum des Universums.
In der Form eines riesigen Oktogons wird der Große Platz eingerahmt von dem vieltürmigen Palast der Berufenen, in dem das Parlament tagt und der Vorsteher des Reiches residiert, von dem Tempel der Göttlichen Einheit mit seinen unzähligen Nischen und Innenhöfen, dem Museum Glorreicher Geschichte und der gewaltigen Bibliothek der Planeten, die, so sagte man, das gesamte Wissen des Memnáh in ihren Mauern barg (und in ihren Datenbanken, aber das klang so unromantisch). Die Kamera ließ sich viel Zeit, die prunkvollen Fassaden abzufahren; wir Nchrynnai kosten jeden Moment ruhmgedenkender Selbstbespiegelung voll aus. Schließlich schwenkte sie über die wartenden Massen hin zum Gründerväterdenkmal vor dem Palast der Berufenen, neben dem eine hohe Tribüne errichtet worden war. Fanfaren begleiteten den Kameraschwenk, »Perfekte Regie«, kommentierte meine Mutter, und die gigantischen Flügeltüren des Palastes öffneten sich.
Heraus trat eine Prozession von Priestern in hellgrünen, goldgesäumten Roben, in deren Mitte ein Mann schritt, der in unauffälliges Dunkelgrün gekleidet war. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Einen Patriarchen mit wallendem Silberbart und der Imposanz meines Großvaters. Einen hünenhaften Recken wie die Manifestation von Wy selbst. Oder eine unheimlich-düstere Erscheinung, die mir Mutters Entsetzen auf den ersten Blick erklären würde. Der Mann in Dunkelgrün aber war nichts dergleichen. Er war weder groß noch klein, weder kräftig noch schlank, weder alt noch jung. Er war der unbeachtlichste Mann, den ich je gesehen hatte, aschenfarbenes Haar, aschenfarbener Bart, farblose Augen, die ein wenig zu schräg waren, aber nicht genug, um ungewöhnlich zu wirken. In der Tat war sein Gesicht so bar jeglichen interessanten Zuges, dass es fast ausdruckslos wirkte. Er war so unauffällig, dass es schwer war, sich überhaupt auf ihn zu konzentrieren, obwohl die Kamera ihn in Großaufnahme zeigte. Ein Mann, den man einfach vergaß. Schon nach seinem kurzen Weg vom Eingang des Palastes zur Tribüne langweilte mich sein Anblick.
Auf der Tribüne selbst wartete eine kleine Frau in einem erlesenen dunkelblauen Kleid, in dem schwere Silberfäden funkelten.
»Schau, Mutter, da ist Jorngiss!«, rief ich, aber irgendwie war es nicht Jorngiss, unsere alte Tante, die da stand. Es war die Erste Dienerin der Lchnadra, Verkörperung von Ihr, die uns dem Leben übergab. Das schneeweiße Haar wie eine Krone aufgesteckt, sah sie so alt aus wie die Zeit und genauso unfassbar. Neben ihr wirkte Ktorram Asnuor geradezu fehl am Platz.
In den Händen der Alten ruhte ein samtenes Kissen und darauf ein Schwert mit doppelter Klinge, dessen Heft dicht an dicht mit Juwelen besetzt war: Wys Zorn, die mächtige Waffe, mit der der Allerhöchste den Göttlichen Gegner einst zurück in die Schatten getrieben hatte. Die Kamera umschmeichelte das heilige Schwert so lange, dass sie nicht mehr rechtzeitig auf Asnuor schwenken konnte, und so stieß eine schmale, langgliedrige Hand in das Bild und hinunter auf das Schwert. Blasse Finger schlossen sich einer nach dem anderen in einer seltsam eckig-fließenden Bewegung um das prunkstrotzende Heft. Die Kamera entschied sich schnell für die Totale, und so hob Asnuor auf unserer Holographischen Wand unter Fanfarenschall den Zorn Wys in den Himmel Murraptaams, während die Menge auf dem Großen Platz in den rituellen Kniefall sank. Ich fand das Ganze nicht sehr eindrucksvoll; vielleicht lag es an der fehlenden Unmittelbarkeit der Holographischen Wand, aber ich hatte schon weitaus imposantere Zeremonien miterlebt.
Schon wollte ich mich abwenden und eine Frage an meine Mutter richten, da zoomte die Kamera auf das Gesicht des Obersten Priesters. Das Wort erstarb mir im Hals, denn Asnuor lächelte. Es war ein kleines, sattes Lächeln, und es veränderte seine unauffälligen Züge für einen Moment völlig, als würde dahinter ein anderer Mann durch die schrägen Augen blicken. Und dann begann Ktorram Asnuor zu sprechen. »Kinder Wys«, setzte er an, aber was er weiter sagte, nahm ich nicht wahr, so gefangen war ich vom Klang dieser Stimme, eine Stimme, so samtig und weich, dass man darin versinken konnte. Sie rührte etwas an in mir, von dem ich nichts gewusst hatte, umgarnte es, lockend, verheißungsvoll. Mit halb geöffneten Lippen trank ich die Stimme wie Wein, und sie sickerte hinein in mich wie in ausgedörrten Boden, und ich kam wirklich nicht auf die Idee, mich dagegen zu wehren.
Wenn Myn ihre Brüder beneidete, weil es ihnen erlaubt wurde, Naharmbra zu verlassen, so wünschte Vairrynn bald, er hätte zusammen mit seiner kleinen Schwester zu Hause bleiben können. Anfangs war er kaum weniger aufgeregt als Mudmal. Die Hauptstadt hatte ihn schon immer fasziniert. Es war, als hätte sich die Metropole am Murrap mit der Aura der Zeitalter umgeben wie mit einem Kleid, und sie schien Geschichte und Geschichten zu atmen. Ein Teil seiner selbst jedoch war jedes Mal zum Zerreißen angespannt, wenn er durch die engen Straßen ging. Murraptaam erinnerte Vairrynn unbehaglich an einen gigantischen Insektenbau, mit den vielfenstrigen Häuserkonglomeraten und den unzähligen Türmen, dünn wie Schwertklingen oft, als wollten sie den Wind zerschneiden, und mit all den gewundenen Straßen, die manchmal ins Nirgendwo führten, meistens jedoch irgendwann auf den Großen Platz mündeten.
An jenem Tag nun war der Vergleich mit einer Insektenkolonie noch angebrachter als sonst. Aus allen Winkeln des Reiches waren sie gekommen, in Festtagskleidung und Feierlaune und irgendwie lauter als gewöhnlich. Sie summten und surrten, aufgeregt wie buntgeflügelte Kje-Fliegen auf der Suche nach ihrer Königin, und es waren so viele. Um ihn herum wogten mehr Leute als er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, Pilger, Schaulustige, Straßenhändler und nicht wenige jener Frauen, deren Beruf zu ahnen er längst alt genug war. Es wurden immer mehr, je näher sie dem Großen Platz kamen, mehr und irgendwie … durchdringender. Ich selbst spürte ihre Aufregung bis in meine alten Gebeine. Etwas lag in der Luft wie Unausgegorenes, und ich ließ meine Knochenfinger klacken. Ich wusste nicht, was kommen würde, denn auch ich sehe nicht alles und nicht immer, aber ich wusste, auf wen sie warteten. Auf mich wiederum wartete viel Arbeit, wenn nicht heute, dann schon bald. Behutsam legte ich meinem Jungen die Hand auf die Schulter. Wie immer merkte er es nicht, nicht wirklich jedenfalls, doch er rückte näher an seinen Vater heran, sehr bedacht, ihn nicht zu verlieren. Er schämte sich deswegen ein wenig, aber das Gedröhn der Menge pochte einfach zu sehr in seinen Ohren. Schon in Naharmbra mit seinen weiten Straßen und hellen Hallen fühlte sich Vairrynn zuweilen und urplötzlich wie eingesperrt, und dann musste er raus auf die Steppe oder hinunter ans Meer, vorzugsweise auf dem Rücken eines Tygdul. Es gab einen Grund, warum ich ihn meinen Himmelsreiter nannte, aber natürlich wusste er nichts davon, weder von dem Namen noch von dem Grund.
Mudmal teilte das Unwohlsein seines großen Bruders nicht. Aufgekratzt wie ein kleiner Wchlach und genauso schwierig im Zaum zu halten, hüpfte er mal hierhin, mal dorthin, tauchte in der Menge unter, nur um ein paar Augenblicke später wieder mit glänzenden Augen zurückgespült zu werden. Er gab Eftnek Neoly genug zu tun, um den Holzsteinschnitzer die Beklemmung seines Ältesten übersehen zu lassen.
»Du musst mich daran erinnern, für Mud eine Leine zu besorgen«, sagte Eftnek schließlich entnervt zu Vairrynn, was diesem ein kleines Lächeln entlockte. Sein Vater benahm sich Mudmal gegenüber wie ein aufgeschrecktes Muttervieh. Dabei war der Kleine wie eines jener terranischen Katzentiere: Er landete immer auf den Füßen. Vairrynn wusste das seit einem Tag vor etwa zwei Jahren, an dem Mud in einem brüderlichen Streit, der sich in eine handfeste Prügelei entwickelt hatte, kopfüber die Treppe in der Eingangshalle hinuntergestürzt war. Einen furchtbaren Moment lang hatte Vairrynn damals geglaubt, sein kleiner Bruder wäre tot. Aber Mudmal war einfach wieder aufgesprungen, hatte sich ein paar Mal geschüttelt und keiner Sterbensseele von der ganzen Sache erzählt. Vairrynn jedoch hatte der Anblick von Muds regungslosem Körper am Fuße der Treppe bis ins Mark erschüttert, und er machte seitdem seinem Vater in puncto Übervorsichtigkeit mächtig Konkurrenz, wenn es um den Kleinen ging. An diesem Tag allerdings war er nicht in der Verfassung, seines Bruders Hüter zu spielen. Irgendwie wusste er, dass er das bunte Treiben genauso großäugig in sich hätte aufsaugen sollen wie Mud, aber das war gar nicht nötig; die brodelnde Menge lärmte ihren Weg von selbst in seinen Kopf und machte ihn schwindlig. Er war erleichtert, als sie endlich auf den Großen Platz geschoben wurden; wenigstens hatte er jetzt offenen Raum um sich herum, auch wenn der Platz vollgepackt war mit Nchrynnai, und er konnte den Himmel sehen, wo sich gigantische Wolkenberge türmten, die der Wind gen Westen jagte.
Für die Mitglieder der Großen Alten und der Runde der Berufenen waren Plätze direkt vor der Tribüne reserviert, auf der der Oberste Priester sich dem Volk zeigen würde, und für diesmal war Vairrynn froh, zu einer Elite zu gehören, deren Herrschaft zwar faktisch seit mehr als zwei Zeitaltern gebrochen war, der das singisische Traditionsbewusstsein jedoch einen hervorgehobenen Status sicherte, vermutlich bis ans Ende der Zeit. Selbst auf seinem Platz zwischen seinem Vater und dem alten Neoly glaubte er immer noch, die Masse in seinem Kopf zu spüren wie ein tiefes, rhythmisches Singen aus vielen Kehlen. Die Menge hatte ihren eigenen Geist, und der wartete, wartete auf den Fanfarenstoß und den Mann, der aus dem Palast der Berufenen trat, umgeben von grüngekleideten Wypriestern wie von Drohnen, der dann auf die Tribüne schritt und neben der Ersten Dienerin zum Stehen kam.
Vairrynn konnte die Enttäuschung der Menge körperlich spüren, als Asnuor das Schwert hob. Es gibt Männer, die wirken, als wären sie dazu geboren, ein Schwert zu halten; ich weiß es, ich habe derer zuhauf gesehen und zuhauf geholt. Ktorram Asnuor jedoch war keiner von ihnen.
Einen Moment lang war Vairrynn einfach erleichtert. Doch dann schaute er genauer hin, wie er es immer tat, und da war … nichts. Für gewöhnlich, wenn Vairrynn die Leute ansah, dann blickte er in sie hinein. Die Seelen breiteten sich vor ihm aus wie weite Landschaften, die er nach Belieben betreten konnte. Er tat das nicht absichtlich. Es passierte einfach. So manches innere Leben drängte sich ihm geradezu auf, und er konnte dann nicht anders, als bis auf den Grund zu gehen, ob er wollte oder nicht. Er kannte es gar nicht anders; noch nie hatte er jemanden angeblickt, ohne etwas von dem zu sehen, was darunter lag, Schicht um Schicht, Abgrund um Abgrund, Licht um Licht. Asnuor jedoch stand da vor ihm auf seiner Tribüne, und Vairrynn sah nichts. Gar nichts. Die Leere schlug ihn so in Bann, dass er den rituellen Kniefall völlig vergaß, was ihm einen finsteren Blick des alten Neoly eintrug. Vairrynn merkte es nicht, denn in diesem Moment begann der Oberste Priester zu sprechen, und aus dem Nichts, das Asnuor war, entquoll die Stimme, dunkel und sämig, und sie sagte: »Kinder Wys, seid willkommen in der altehrwürdigen Stadt, die unsere Vorväter geschaffen haben zum Ruhme des Allerhöchsten und ihrer Taten zum Gedenken. Seht euch um, ihr Nchrynnai! Ist sie nicht glorreich?« Und die Stimme sprach von Glanz und Herrlichkeit, von Ehre und Unsterblichkeit, und der Geist der Menge horchte auf. Sind wir groß?, fragte der Geist, und Ihr seid groß, beteuerte ihm die Stimme. Und dann sprach sie vom Grauen des Nichtseins und den Tücken des Göttlichen Gegners. Da klagte der Geist, Wir sind allein in der Dunkelheit, und die Stimme sagte: »Ich werde euch Feuer sein in der Finsternis und meine Flammen werden die Schatten des Widersachers ausbrennen.« Und die Stimme hatte sich über die Menge gelegt wie ein Zelt, und als das letzte Wort verklungen war, war die Kehle meines Himmelsreiters so eng, dass er meinte zu ersticken, aber die Menge sank in einen weiteren Kniefall, der nichts Zeremonielles mehr an sich hatte. Nur ein paar wenige blieben stehen, unter ihnen der alte Neoly, was seine drei Söhne zu spät bemerkten und so recht unbehaglich in einer halb vollendeten Verbeugung verharrten. Vairrynn aber stand da, den Blick unverwandt auf Ktorram Asnuor gerichtet. Ein verzehrendes Feuer loderte, wo das Nichts gewesen war, als der Oberste Priester das Schwert zum zweiten Mal vor einer knienden Menge in den wolkenbetürmten Himmel reckte. Vairrynn zitterte. Erkennen drängte sich an die Grenze der Bewusstheit, ein Schimmer nur, doch jede Faser seines Ichs sträubte sich dagegen. Sieh nicht hin, Kind, sagte ich, und endlich senkte Vairrynn seinen Blick.
Noch tagelang nach der Zeremonie befand sich so gut wie das ganze Reich in einem Taumel der Euphorie. Die Feiern zur Einsetzung des Obersten Priesters waren rauschend gewesen, und überall lobte man Asnuor in den höchsten Tönen, als hätte sich nicht noch kurz zuvor jeder über seinen Hochmut echauffiert. Viele führten das Schlagwort einer spirituellen Wende im Mund, die die Nchrynnai auf den Weg des Heils zurückführen würde, obwohl bis vor nicht allzu langer Zeit hauptsächlich von den Monowyisten zu hören gewesen war, dass wir diesen überhaupt verlassen hätten.
Meine kleine Familie hatte die fast allgegenwärtige Begeisterungswelle allerdings nicht ergriffen. Mutter wurde von Tag zu Tag blasser, ob vor Sorge oder Wut, wusste sie wohl selbst nicht genau. Vater kam von einer der berüchtigten Familienkonferenzen des alten Neoly in äußerst griesgrämiger Stimmung zurück, und die behielt er bei. Vai lief für ein paar Tage herum wie in Trance. Ich selbst wiederum wusste nicht, was ich denken sollte.
Ich konnte nichts wirklich Gefährliches finden an unserem neuen Obersten Priester. Andererseits wollte es mir nicht sonderlich gefallen, dass ich zwar den Klang seiner Stimme verflixt schwer wieder aus meinem Kopf bekam, mich aber an kein einziges seiner Worte erinnern konnte, wo doch so gut wie jeder die Weisheit seiner Rede rühmte. Ich saß oft und lange in unserem Garten in diesen Tagen und starrte hinunter in das aufgewühlte Meer, obwohl es allmählich empfindlich kalt wurde und der Sturmzeitwind mir das Haar ins Gesicht peitschte. Asnuors samtige Stimme hatte etwas aufgeweckt in mir, doch darüber redete ich noch nicht einmal mit Vairrynn.
Aber die Zeit schreitet fort, und während sich der Oberste Priester auf Initiationstour in den Kreisen der Reichen und Wichtigen begab, schickte sich der Alltag an, wieder Einzug zu halten – oder hätte es zumindest getan, hätte nicht meine Großmutter nach ihrer Schwiegertochter samt Kindern geschickt. Wie immer, wenn es darum ging, sich in die Höhle des Patriarchen zu wagen, wurden meine Brüder und ich fein herausgeputzt – was wir alle drei bis in die Zehenspitzen verabscheuten. Aber einem Ruf aus der Trutzburg – wie Vairrynn den Stammsitz der Neolys recht respektlos getauft hatte – widersetzte man sich nicht. Vater war schon vorausgeeilt, und wir stiefelten angemessen ausstaffiert hinterher.
Die Trutzburg war eines der ältesten und beeindruckendsten Gebäude in Naharmbra. Doch trotz aller Pracht sah sie ein wenig zusammengeflickt aus, ein Stück Archititekturgeschichte vom ersten Kapitel bis zum letzten, ein riesiger Gebäudekomplex, immer wieder erweitert und ausgebaut für Generationen über Generationen von Neolys. Die Treppen, die hinauf zum Eingang führten, waren gesäumt von den Statuen der Ruhmvollen aus der Familie: Tarmtabb der Hüne, Jayk und Humnem, beides Oberste Priester, daneben Gortonn der Gerechte, der einst Oligarch gewesen war, und all die anderen. So war der Besucher schon angemessen niedergedrückt vom Gewicht der Familiengeschichte, ehe er das Haus überhaupt betreten hatte. Manchmal fragte ich mich, ob sie wohl meinem Vater, dem im ganzen Reich bekannten Künstler, eines Tages auch so eine Statue aufstellen würden.
Die zukünftigen Neoly-Helden empfingen meine Mutter, meine Brüder und mich in Form einer Schar kreischender Kinder, die um meine genervte Tante Teggri herumsprangen und anscheinend eine Art Kriegstanz einstudierten. Ihr Geplärre hallte in der Empfangshalle der Trutzburg wieder, ein steinbewehrter Innengarten, über den sich eine Kuppel aus milchigem Glas spannte. Ein ganzer Schwung Neoly-Frauen hatte sich um den Brunnen im Zentrum des Hallengartens versammelt, der nur ganz leicht mit Grünspan überzogen war. Mittendrin thronte meine Großmutter, so breit wie hoch, mit backenkneifenden Fingern und Süßigkeiten in den Rocktaschen.
»Lys!«, rief sie aus, als sie unser gewahr wurde, und hüpfte uns entgegen (es gibt kein anderes Wort, um die Art zu beschreiben, wie meine Großmutter sich fortbewegte). »Der Einheit sei Dank, dass ihr es noch rechtzeitig geschafft habt!«
»Rechtzeitig wofür?«, fragte Mutter und wich geschickt einer von Großmutters berüchtigten Umarmungen aus, der stattdessen Mud und ich zum Opfer fielen.
»Na, für den Segen!«, rief Großmutter dabei. Ihre Stimme hüpfte auch. Das runde, rote Familiensiegel an ihrem Kropfband wackelte bei jedem Wort hin und her.
»Ein Geldsegen?«, fragte Mud hoffnungsvoll und erntete einen Klaps von Großmutters beringten Fingern.
»Sein Segen!«, rief sie aufgeregt. »Er ist gerade bei eurem Großvater, und er hat sich bereiterklärt, alle Kinder des Hauses zu segnen!«
Mutters Gesicht wurde hart wie Stein. »Er wer?«
»Der Oberste Priester natürlich! Ktorram Asnuor!«
»Nein!«, entfuhr es Mutter scharf. Schlagartig verstummten sämtliche Frauen um den Brunnen herum. Das Geschrei der Kinder versiegte etwas verzögert, von der sinkenden Stille verschluckt.
»Was meinst du mit ›nein‹?«, fragte Großmutter perplex.
»Mit ›nein‹ meine ich ›nein‹.«
Alle hörten den beiden jetzt zu. »Oh Mutter, bitte«, dachte ich flehentlich. Es ging nie gut aus, wenn sie eine Konfrontation mit den Bewohnern der Trutzburg suchte.
»Lys, was hast du …«
»Ich werde meine Kinder nicht von diesem Mann segnen lassen!«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Er wird alle Kinder segnen, da können die des Erstgeborenen doch nicht außen vor stehen! Lys, ich warne dich! Solltest du schon wieder …«
»Eher setze ich nie wieder einen Fuß in dieses Haus, als dass ich Ktorram Asnuor auch nur einen Finger an eines meiner Kinder legen lasse!« Die Worte fielen in den Hallengarten wie Steine in stilles Wasser. Niemand sagte etwas. Es dauerte einen Moment, bevor mir aufging, dass keiner mehr meine Mutter anstarrte. Mir strich es eiskalt die Ohren entlang und nur ganz vorsichtig wagte ich es, über meine Schulter zu schauen. An der Tür zur Empfangshalle stand der Oberste Priester des Wy, hinter ihm mein Großvater mit hochrotem Kopf und seine drei Söhne. Mein Vater sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.
»Lys …«, begann Großvater mit seiner Donnerstimme, doch die Hand des Obersten Priesters bedeutete ihm Verstummen. Der alte Neoly gehorchte. Klack, klack, klack, klack, schritt der Oberste Priester die vier Stufen hinunter, die in den Innengarten führten, und kam auf meine Mutter zu. Meine Finger krallten sich in ihren Rock. Vage war ich mir bewusst, wie sie versuchte, mich hinter sich zu schieben, aber ich rührte mich nicht. Direkt vor uns blieb der Oberste Priester stehen. Er war realiter nicht eindrucksvoller als auf der Holographischen Wand. Aber da war ja noch der Andere, der hinter seinen Augen wohnte, und der musterte meine Mutter von Kopf bis Fuß, als wäre sie Ungeziefer. Sein Mund zuckte.
»Nun, Frau, willst du uns nicht sagen, warum der Oberste Priester des Wy nicht würdig ist, deine Kinder zu segnen?« Die Samtstimme klang durchaus einnehmend und versprach Nachsichtigkeit. Ich blickte hoffnungsvoll zu meiner Mutter auf. Um ihren Mund arbeitete es. Es war, als wollte sie etwas herausschreien, was nicht heraus durfte, doch dann brach es sich Bahn, ein Wort, ein Wort nur: »Nchorr.«
Da hing es und zerplatzte, ein Wort, wie man es einem singisischen Mann kaum schlimmer an den Kopf werfen kann. Die ganze Halle hielt den Atem an und erschauerte. Und in Asnuors farblosen Augen sprang etwas auf und verdunkelte sie, Hass wie Feuer und Dolch und Schwert, und auch in mir war es dunkel, es war die Angst, und dann war da mein Vater, der sich zwischen den Obersten Priester und seine Familie schob und der sagte: »Verzeihen Sie meiner törichten Frau, Hoher Herr. Doch ihre Mutter liegt schwerkrank, und das arme Ding ist deswegen völlig außer sich. Sie weiß gar nicht, was sie sagt.« Es war eine glatte Lüge, und vermutlich wusste Asnuor das. Aber wenn ein zukünftiger Patriarch um einen Gefallen bittet, wie auch immer verdeckt, ist selbst ein Oberster Priester gut beraten, dieser Bitte nachzukommen. So pflegte es zumindest zu sein.
Es dauerte noch einen Moment, ehe Asnuor nickte. Sein Blick zuckte erst zu mir, dann zu Mudmal und schließlich zu Vairynnn. Dann lächelte er.
»Passen Sie gut auf Ihre kleine Familie auf, Eftnek Neoly«, sagte die Samtstimme. Es klang nicht wie eine Drohung. Ich hielt es trotzdem für eine. Dann wandte sich der Oberste Priester des Wy ab und verließ den Stammsitz der Neolys, ohne ein einziges Kind gesegnet zu haben.