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Die Macht der Erzählung

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Alle erzählten Figuren sind Projektionen der Erzählenden. Dadurch, dass die Narrative jahrtausendelang überwiegend von männlichen Autoren geprägt waren, haben sich gewisse Traditionalitäten ergeben, die derzeit neu verhandelt werden. Aktuelle Diskussionen fordern mehr Diversität, mehr Zentralität auch für nicht-männliche Figuren. Häufig zitiert wird in diesen Kontexten der sogenannte Bechdel-Test, eine Reihe von Fragen, die die Autorin Alison Bechdel bereits 1985 an Erzählungen stellte: Gibt es darin mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen die Frauen miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? – Es ist nach wie vor beeindruckend, dass diese Fragen in den meisten traditionellen Produkten mit Nein beantwortet werden, während die Antwort, fragt man umgekehrt nach Männern, fast immer Ja lautet.

Die antiken Texte leisten zu dieser Debatte einen wichtigen Beitrag – eben dadurch, dass die Figuren häufig kollektiv von verschiedenen Stimmen geschaffen sind, in Erzählungen, die sich bis heute fortsetzen. Dadurch entstehen konträre Narrative, und dadurch zeigen sich erstaunliche Wandlungen im Blick auf weibliche Figuren.

Im Fall der Briseis sehen wir bei Homer und Ovid einen vergleichsweise ehrlichen Blick auf das elende Schicksal einer Kriegsgefangenen, die in einem modernen Narrativ nicht mehr existieren kann, ohne gleichzeitig den Fokus auf den Haupthelden Achilleus zu verändern. Netflix opfert lieber das Leid der Briseis, als auf Achilleus zu verzichten – andererseits wird Briseis nun zu einer selbstbestimmten Handelnden und bleibt nicht mehr nur bemitleidenswertes Opfer.

Bei Penelope sehen wir, wie sich die homerische Sicht auf die ‚Gattin des Odysseus‘ dauerhaft durchgesetzt und andere Perspektiven überlagert hat, die uns nur aus Fetzen der Überlieferung antiker Gelehrter bekannt sind. Es brauchte Margaret Atwood und vermutlich ein mythologisches Lexikon, um eine andere Geschichte der Penelope zu erzählen. Helena schließlich gelingt es, die männlich dominierten Narrative zu torpedieren. Sie nimmt vor allem bei den griechischen Autoren eine Sonderstellung ein, die ihrer kultischen persona entspricht: Kein Mann erzählt Helena, Helena erzählt sich selbst.

Die abgetrennte Zunge

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