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Kapitel 2

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Die Kriminalbeamtin Kate Delafield bog vom Olympic Boulevard ab, hielt ihren Plymouth an und sah die Merlin Street hinunter. Es war ihr immer merkwürdig vorgekommen, dass man in dieser modernen Stadt eine mehrspurige Durchgangsstraße verlassen und in eine Seitenstraße einbiegen konnte, die so schmal war, dass zwei Autos nur mit knapper Not aneinander vorbeikamen. Wie so viele andere Straßen war diese voller winziger, stuckverzierter Häuser, die gelb, braun, weiß und grün gestrichen waren, meistens gab es irgendwo dazwischen auch noch ein rosa Exemplar. Die Häuser hatten die üblichen roten Ziegeldächer und die üblichen spanischen Rundbogenfenster. Gehwege mit gesprungenen Platten grenzten an unscheinbare Rasenflächen, die von verschiedenen niedrigen kalifornischen Gewächsen mit dicken Blättern umgeben waren. Aber diese Straße war anders als die anderen. Hier gab es Bäume. Eichen. Sie sah die schwarzen knorrigen Zweige an, die sich gegen den Februarhimmel abhoben, und dachte sehnsüchtig an Anne und an die ausladenden grünen Bäume ihres Heimatstaates Michigan. Als sie ausstieg, bedauerte sie, dass dieser Mord nicht im Mai oder im Juni passiert war, wo sie diese Bäume in voller Schönheit hätte bewundern können.

Sie ging um das Becker-Gebäude herum. Ed Taylor war schon seit mehr als zwei Stunden am Tatort, und ein Ermittlungsteam arbeitete im 16. Stock, aber sie konnten auch noch etwas länger ohne sie auskommen. Es sparte den Steuerzahlern von Los Angeles Geld, wenn sie sich mit dem Terrain vertraut machte; das würde unnötige Fragen und falsche Vermutungen ausschließen. Ihre Gründlichkeit mochte bei ihren Mitarbeitern Ungeduld und Murren hervorrufen, aber die wichtigen Leute wussten sie zu schätzen. Eine von Kate Delafield durchgeführte Untersuchung war fundiert, exakt, gut belegt, ein logisches Mosaik von Fakten – es gab keine Schlampereien, keine offen gebliebenen Fragen, keine unangenehmen Überraschungen für den Bezirksstaatsanwalt, keins dieser Löcher, die so groß waren, dass ein Lastwagen durchgepasst hätte, und nie die Situation, dass der Richter den Fall voller Verachtung abwies, bevor die Geschworenen noch ihre Stühle anwärmen konnten.

Das Becker-Gebäude war 18 Stockwerke hoch, es hatte kleine Fenster zwischen weißem und grauem Mauerwerk und nahm die Hälfte eines kleineren Häuserblocks ein. Von bestimmten Blickwinkeln aus wirkte die Struktur pockennarbig. Nebenan befand sich ein niedriges Gebäude mit marineblauen und weißen Stuckverzierungen, in dem hauptsächlich Arztpraxen untergebracht waren. Auf der anderen Straßenseite verriet ein verblasstes Schild, dass es sich bei dem sandsteinfarbenen Gebäude, von dessen Vorderfront die Farbe abblätterte, um eine Fachschule für Computerprogrammierer handelte.

Kate ging die Zufahrt zur Tiefgarage des Becker-Gebäudes entlang, vorbei an einem Spruchband mit der Aufschrift Die monatlichen Parkgebühren sind jetzt fällig. Ein Parkwächter in einem blauen Uniformhemd mit Streifen an den Ärmeln und einer farblich nicht dazu passenden hellbraunen Hose ignorierte sie. Kate ging zu einer Treppe hinüber, sah hinunter und zählte drei Stockwerke. Von der Tiefgarage aus konnte man das Gebäude nur über die Treppe und durch die Tür zur Eingangshalle betreten. Sie nahm ein Notizbuch aus ihrer Schultertasche, zog den daran festgehakten Kugelschreiber heraus und machte sich kurze Notizen.

Was für eine Kontrolle, dachte sie. Ein Parkwächter, der nicht einmal aufsieht, wenn überall Streifenwagen geparkt sind und in einem Mordfall ermittelt wird. Überhaupt keine Sicherheit. Wenn ich für das Parken im Becker-Gebäude bezahlen müsste, würde ich lieber mein Glück drüben in der Merlin Street versuchen.

Sie versuchte, die Tür zu öffnen. Es war kein Schlüssel nötig, um in die Eingangshalle zu kommen. Sie nickte Hansen zu, der phlegmatisch neben den abgesperrten Fahrstühlen stand und bei ihrem Anblick mürrisch dreinsah. Der Fußboden der Eingangshalle war mit den kleinen, unebenen Mosaiksteinen gefliest, die sie so verabscheute. Die Steinchen bohrten sich durch ihre dünnen Sohlen.

Das Pult der Wachleute, ein niedriger, schlichter Schreibtisch, war unbesetzt. Sie ging um ihn herum. Es gab keine Monitore, aber in Schulterhöhe hing ein roter Telefonhörer, darüber leuchtete eine rote Glühbirne, offensichtlich ein Notrufsignal. Sie öffnete vier Schubfächer des Pultes, eins nach dem anderen. In der oberen Schublade waren Schokoladenriegel, Kaugummi, Pfefferminzbonbons und kleine Tüten Kartoffelchips. Eine unverbesserliche Naschkatze, oder ein armer Teufel, der versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen, vermutete sie. Das nächste Schubfach enthielt Bücher – drei Romane von Wambaugh und Verdammt in alle Ewigkeit. In der nächsten Schublade waren weitere Taschenbücher, alle von Harold Robbins, ein halbes Dutzend zerlesener Hustler-Hefte und ein Buch, das sie in die Hand nahm und nach einem Blick auf den grausigen Umschlag wieder fallen ließ.

»Einer von diesen Typen ist ein hochkarätiger Kretin«, murmelte sie.

Drei Männer in Nadelstreifenanzügen betraten die Halle durch die Tiefgarage, sahen Hansen an und blickten dann starr auf sie. Sie beachtete sie nicht. Nach kurzer Verhandlung gewährte Hansen den Männern Zutritt zu den Fahrstühlen.

Im untersten Schubfach fand sie ein Besucherbuch. Sie schloss aus den Eintragungen mehrerer Tage, dass die Wachleute die in das Gebäude kommenden Personen an Wochenenden, vor 7.00 Uhr und nach 19.00 Uhr überprüften. Sie schlug das Buch beim heutigen Datum auf, dem 8. Februar. In durch Linien unterteilte Spalten mussten die Besucher des Gebäudes ihren in Druckbuchstaben geschriebenen Namen, ihre Unterschrift, Datum und Uhrzeit eintragen, sowie später die Zeit, zu der sie das Gebäude wieder verließen. Es gab bereits zwölf Eintragungen für den heutigen Tag, die erste um 5.45 Uhr, aber erst eine Eintragung für den 16. Stock, eine verschnörkelte Unterschrift. Geduldig zeichnete sie sie mit dem Finger nach – Fergus Parker. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinen Namen wie verlangt in Druckbuchstaben zu schreiben. Fergus Parker hatte das Gebäude um 6.53 Uhr betreten. Sie prüfte, inwieweit die Wachleute von ihrem Platz aus die Halle überblicken konnten. Die Sicht auf die drei Fahrstühle und auf die beiden einzigen Ausgänge – die Tür zur Tiefgarage und die beiden gläsernen Doppeltüren, die auf den Olympic Boulevard hinausgingen – war unbehindert. Sie ließ das Hauptbuch auf dem Pult liegen, stand auf und ging, mit einem bösen Blick auf den Mosaikfußboden, um die Ecke herum zu der Firma, die sich wie die Eingangshalle im Erdgeschoss befand. Blasse Goldbuchstaben auf kostbar glänzenden Türen aus Walnussholz verkündeten:

Contemporary Life Insurance, Inc.

Geschäftszeiten Mo. – Sa., 9 – 18 Uhr

»Ralph«, sagte Kate, als sie zu den Fahrstühlen zurückkam, »kannst du mir eine Erklärung dafür geben, warum ein Beweisstück, das die Ankunftszeit des Opfers in diesem Gebäude feststellt, bisher von niemandem zur Kenntnis genommen worden ist?« Mit einer knappen Geste wies sie auf das auf dem Pult liegende Hauptbuch.

Hansen schüttelte unglücklich den Kopf. Kate betrat einen der Fahrstühle. Hansen steckte den Schlüssel ins Schloss, um den 16. Stock freizugeben, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Pete Johnson war dabei, auf Millimeterpapier eine Skizze der Vorhalle anzufertigen. Sie nickte ihm zu, während sie sich genau umsah, ohne aber die Inneneinrichtung zu beachten. Sie schätzte die Entfernung von den Türen zu den Fahrstühlen. Ihr fiel auf, dass es keine Treppe gab. Eine der Doppeltüren stand offen, was ungewöhnlich zu sein schien, nach dem Hefter zu urteilen, der als Türstopper verwendet wurde. Sie ging durch die Tür. Ein hölzerner Tischbock verstellte den Weg nach rechts. Sie folgte dem Gemurmel männlicher Stimmen auf der linken Seite, ging vorsichtig um die von einem Kreidekreis umgebenen Scherben einer gläsernen Kaffeekanne herum, die auf dem fleckigen Teppichboden verstreut waren, und betrat das Eckbüro.

Dort war die Spurensicherung tätig. Der für Fingerabdrücke zuständige Mann stand mit dem Rücken zu ihr und bepinselte vorsichtig den Rand des Ebenholzschreibtischs. Der Fotograf packte seine Sachen ein. Der Polizeiarzt, der für die Untersuchung der Todesursache zuständig war, unterhielt sich mit der gelangweilten Besatzung des Krankenwagens, zwei stämmige Schwarze, die wartend neben ihrer Bahre an der Wand lehnten. Kate betrachtete die Leiche, die mit ausgestreckten Armen dasaß. Die Hände steckten in Papiertüten, die an den Handgelenken zusammengebunden waren. Aus der Brust ragte ein Gegenstand mit einem Elfenbeingriff. Kate nickte den Männern zu, die sich in dem Raum zu schaffen machten.

Ed Taylor, der den Bleistift schreibbereit über seinem Notizblock gehalten hatte, gähnte zu Ende und schlenderte zu ihr herüber, wobei er die zahllosen Glassplitter und die Alkoholflecken auf dem Teppich sorgsam mied. Taylor beeilte sich niemals. Kate beobachtete missbilligend seine aufgeblähte, massige Gestalt. Nach achtzehn Jahren Polizeidienst war Taylor, groß, blond, gemächlich und humorvoll, längst kein engagierter Polizist mehr. Er hatte sich in die Dienstroutine ergeben und wartete auf die nach zwanzig Dienstjahren erfolgende Pensionierung. Aber Kate wäre jede Wette eingegangen, dass er sich nicht pensionieren lassen würde. Taylor würde immer Polizist bleiben.

»Fertig«, sagte der Fotograf.

»Haben Sie die Glassplitter aus allen Blickwinkeln aufgenommen?«, fragte Kate.

Der Fotograf drehte sich nicht um. »Hab ich. Verdammt, überprüfen Sie doch meine Aufzeichnungen. Ich hab alles.«

Die Sanitäter gingen auf die Leiche zu. Kate sah den Polizeiarzt an.

»Er ist erstochen worden«, sagte Everson.

Die Ermittlungsbeamten kicherten, Kate lächelte. Die Sanitäter, die gerade beginnen wollten, die Leiche auf die Tragbahre zu hieven, hielten inne und lachten schallend los.

»Er ist zwischen halb acht und acht Uhr gestorben«, sagte Everson grinsend.

»Blut auf der Kleidung des Täters?«

»Möglich. Sogar wahrscheinlich. Die Blutung war lokal begrenzt, aber es sind Blutflecken auf dem Schreibtisch, die – nach dem Eintrittswinkel der Waffe zu urteilen – beim Zustechen entstanden sind. Zumindest müsste die Hand oder der Ärmel des Täters etwas abgekriegt haben.«

»Saß das Opfer in dieser Haltung, als es ihn erwischte?«

Everson zögerte und fingerte an seinem bleistiftdünnen Schnurrbart herum. »Das ist eine merkwürdige Sache, Kate. Es ist eine Hundertachtzig-Grad-Wunde.« Er wies mit einer schnellen Bewegung seiner wohlmanikürten Hand auf die Leiche, und Kate ging hin, um sich das näher anzusehen. »In so gut wie allen Fällen verläuft ein Messerstich schräg nach unten, aber dieses Messer ist fast gerade eingedrungen. Das Opfer könnte gestanden haben, durch die Wucht des Stoßes zurückgeworfen worden und in den Sessel zurückgefallen sein. Oder er wollte gerade aufstehen. Die Waffe ist ein Prachtexemplar, nicht?« Kate hatte sich heruntergebeugt, um den gebogenen, fein geschnitzten Elfenbeingriff genauer anzusehen. »Zu viele Facetten, um Fingerabdrücke aufzunehmen.«

»Der Innendienstleiter hat die Leiche identifiziert«, sagte Taylor. »Er sagt, das sei der Brieföffner des Opfers. Breite Klinge, scharf wie ein Rasiermesser, sagt er.«

Kate trat einen Schritt zurück, und die beiden Schwarzen hievten die Leiche auf die Tragbahre. »Mit so einer Waffe hätte es auch ein Zweijähriger geschafft«, fuhr Everson fort. »Die Klinge hat dieses Walfett wie Butter durchschnitten.«

»Fettes Schwein«, ächzte einer der Sanitäter, als sie den Koloss auf der Tragbahre festschnallten und zudeckten.

Noch einmal betrachtete Kate den Schreibtisch, das zerschmetterte Glas. »Walt, könnte er sich die Wunde selbst beigebracht haben?«

»Kate«, sagte Taylor, »eine Zeugin hat jemanden gehört –«

»Walt?«, unterbrach Kate, ohne Taylor zu beachten.

Wieder zögerte Everson. »Das könnte das gerade Eindringen der Waffe erklären, und es gibt auch keine Schnittwunden, die darauf hinweisen, dass das Opfer sich gewehrt hätte. Aber es gibt keine Anzeichen für ein probeweises Zustechen, keinen sichtbaren Hinweis auf weitere Stichwunden auf der Haut. Das Hemd ist völlig heil, es gibt nirgends Schnitte, die auf einen zögernden vorherigen Versuch hindeuten. Und du weißt, wie sehr sie zögern, Kate, wie oft sie ihre Sachen ausziehen oder sie zumindest zur Seite schieben. Kein Anzeichen von Todeskrampf – keine feste Umklammerung der Waffe und keine unmittelbar eintretende Leichenstarre, was bei Selbstmord ja manchmal vorkommt.« Everson sah auf seine elegante Armbanduhr. »Es ist drei Stunden her, und es gibt immer noch keinerlei Anzeichen davon.«

»Aber möglich ist es trotzdem?«

»Ja. Wir werden uns beide sehr viel intensiver mit der Sache beschäftigen müssen.«

»Sicher.« Sie wandte sich Taylor zu. »Ed, wie viele Leute arbeiten in diesem Büro?«

Er konsultierte seine Notizen. »Einundvierzig.«

»Eine ganze Menge Befragungen, Walt.«

»Und wenn es Mord oder Totschlag ist«, sagte Taylor, »haben wir einen Haufen Leute am Hals, die wir nicht isolieren können, und es wird nicht lange dauern, bis sie unsere Anweisungen ignorieren und alles durchdiskutieren.«

»Du meinst, ihr wollt, dass die Autopsie sofort gemacht wird.« Everson schürzte die Lippen, streichelte wieder seinen Schnurrbart und warf einen flüchtigen Blick auf die Tragbahre. »Es sieht recht sauber und ordentlich aus. Und heute ist Dienstag, und dienstags ist nie viel los. Ich ruf sofort an, wenn wir fertig sind.«

Die Männer folgten den Sanitätern und der Tragbahre, verließen lachend und redend den Raum. Taylor blätterte in seinen Notizen, Kate setzte sich auf den Rand des niedrigen Bücherschranks aus Teakholz und zog ihr Notizbuch heraus. Ohne aufzublicken fragte sie: »Hast du schon davon gehört?«

»Ja, hab ich. Ich dachte mir schon, dass es eine inoffizielle Absprache geben würde, dass der Täter sich schuldig bekennen und dafür eine milde Strafe zugesichert bekommen würde, aber eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung – verdammt, Kate –«

Sie hörte nicht mehr hin, nahm den Raum noch einmal in allen Einzelheiten in sich auf, während Taylor seine Hetzrede gegen den Irrsinn des Rechtssystems hielt. Sie war am Morgen vor Gericht gewesen, um in einem Fall auszusagen. Der Fall war auf Mai vertagt worden. Das Opfer war erst siebzehn gewesen, der Mörder zweiundzwanzig. Er hatte ein ellenlanges Strafregister, hatte schon Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, als Kate noch für Jugendkriminalität zuständig gewesen war. Er war typisch für die heutigen Kriminellen – und das beunruhigte sie mehr als die inoffizielle Absprache und die milde Strafe. Jünger, sie schienen immer jünger zu werden, waren lange drogenabhängig gewesen und waren es noch, und ihre Verbrechen ließen sie völlig kalt. Ohne Skrupel und ohne lange Überlegung begingen sie die brutalsten Grausamkeiten. Zwar stimmte es, dass die weibliche Kriminalität ebenfalls zunahm, aber sie hatte Hochrechnungen gelesen, nach denen sehr bald drei von vier amerikanischen Männern wenigstens einmal in ihrem Leben ein Gewaltverbrechen begangen haben würden … Die dünne blaue Linie von Männern und Frauen, die ihr Bestes taten, die Gesellschaft zu schützen und ihr zu dienen – wie sollten sie es schaffen, eine derartige Grausamkeit noch viel länger im Zaum zu halten? Nun, sie machte ihre Arbeit, und das war alles, was sie tun konnte. »Ed«, sagte sie schließlich schroff, »das ist erledigt.«

Er seufzte und sah auf seine Notizen. »Das hier war kein Selbstmord, Kate. Das hab ich im Gefühl. Und die Leiche sah ausgesprochen erstaunt aus.«

»Das stimmt«, gab sie zu. »Was haben wir bis jetzt?«

»Code drei, alle Einheiten um sieben Uhr zweiundvierzig alarmiert.« Taylor las sachlich-nüchtern aus dem Polizeibericht und seinen Notizen vor. »Code eins-acht-sieben, ein Verdächtiger im Gebäude. Das Gebäude wurde gegen acht Uhr abgeriegelt. Wir haben eine Liste aller Personen, die sich nach der Abriegelung in den oberen Stockwerken des Gebäudes aufhielten –«

»Wird uns viel bringen«, warf Kate bissig ein.

Taylor sah kurz auf und fuhr dann fort: »Ellen Rose O’Neil betrat das Büro gegen sieben Uhr zwanzig, hörte ein Geräusch, fand das Opfer etwa um sieben Uhr vierzig. Hat den Täter nicht gesehen …«

Taylors Notizen waren immer sehr sachlich und ausführlich, und Kate hörte konzentriert zu. Die Untersuchung des Tatorts war so gut wie abgeschlossen: Fotografien waren gemacht, Skizzen, Messungen, Beschreibungen waren angefertigt und Fingerabdrücke genommen worden. Den Beschäftigten war erklärt worden, dass es notwendig sei, von allen Fingerabdrücke zu nehmen, und alle hatten ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt. Kate machte sich kurze Notizen.

»Haare ordentlich, Körper leicht verdreht, aber Haltung des Rumpfes normal«, leierte Taylor herunter. »Augen geöffnet. Diamantring, Armbanduhr von Cartier, dreihundert Dollar in der Schreibtischschublade. Keine Unordnung außer Blutspuren auf dem Schreibtisch, wo die Hände des Opfers abgerutscht sind. Blutspuren an der Bar, von der linken Hand des Opfers, wie es aussieht.«

Kate ging um den Schreibtisch herum und schätzte die Entfernung und die Winkel zwischen dem Schreibtisch, dem Sessel und der umgestürzten Bar.

Taylor zog eine Skizze zu Rate, die auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch ausgebreitet war. »Nach den Rollspuren zu urteilen, steht die fahrbare Bar normalerweise zwei Meter fünfundneunzig vom Schreibtisch entfernt; sie wurde auf einundsiebzig Zentimeter an ihn herangeschoben.«

Kate kniete sich neben der umgestürzten Bar hin, die mit Fingerabdruckpuder bedeckt war, klopfte mit ihrem Kugelschreiber ein wenig von dem Puder von den Griffen herunter und betrachtete die glänzenden, angetrockneten rotbraunen Blutspuren.

»An den Griffen sind Blutspuren«, sagte Taylor unnötigerweise. »Das weist darauf hin, dass das Opfer sich an der Bar festklammerte und sie dabei umriss.«

Sie nickte und rutschte auf den Knien weiter, untersuchte die Rollspuren im Teppich. Sie versenkte ihren Kugelschreiber in einem Paar tiefer Rillen. »Normalerweise steht die Bar genau an dieser Stelle. Wann wurde sie umgestellt? Warum? Warum steht die Bar um sieben Uhr morgens so dicht neben seinem Schreibtisch? Wir müssen die Putzfrauen fragen, wo die Bar gestern Abend stand.«

Taylor machte eine Notiz.

Sie stand auf, bürstete leicht über ihre graue Hose. »Ziemlich viele Fingerabdrücke auf der Bar.«

Taylor zuckte die Achseln. »Dutzende.«

»Was ist mit dem Inhalt des Schreibtisches?«

»Wir haben eine detaillierte Aufstellung gemacht. Nichts Ungewöhnliches dabei, außer dem Bargeld. Genauso im Schrank. Der Innendienstleiter sagt, es fehlt nichts. Allerdings ist er schwarz –«

»Noch was?«, fragte sie kurz. Taylors Rassismus, der bei jeder Gelegenheit zum Vorschein kam, war eine Quelle ständigen Ärgernisses für sie.

Taylor blätterte in seinen Notizen. »Zigarrenstummel und Asche. Zigarre scheint dem Opfer zu gehören, wir haben sie sichergestellt.«

Sie nickte und ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum wandern: über die cremefarbene Ledergarnitur, den Glastisch, auf dem eine abstrakte Silber-Skulptur stand, das Bücherbord, das eine Ansammlung von Plaketten und Trophäen enthielt. Ihr Blick blieb etwas länger auf dem beschmutzten hellen Teppich haften, richtete sich auf die dunkler werdenden, mit Kreide umrandeten Blutspuren auf dem Ebenholzschreibtisch, der mit Fingerabdruckpuder beschmiert und, abgesehen von zwei in einem Marmorständer stehenden Füllfederhaltern, völlig leer war, und auf den riesigen Ledersessel, auf dem der bisherige Besitzer nun nie wieder Platz nehmen würde. Sie ging langsam zu drei schwarzgerahmten und signierten Fotos an der Wand hinüber und betrachtete sie. Fergus Parker, der Lyndon Johnson, Barry Goldwater und Richard Nixon die Hand schüttelte. Sie ging weiter zu einem Familienfoto, das auf dem Schrank stand. »Sind die Angehörigen benachrichtigt worden?«

»Ja, seine Frau. Dritte Ehe. Ein elfjähriger Sohn, eine dreizehnjährige Tochter, sind beide im Internat an der Ostküste. Der Innendienstleiter ist zu der Frau gefahren. Bestand darauf. Hansen hat ihn hingefahren. Die Frau hat ein hübsches Alibi. War von halb sieben bis um acht bei einer Nachbarin. Und ich glaube nicht, dass sie einen Profikiller angeheuert hat.«

Kate nickte. »Ich auch nicht, nein. Er hätte seine eigene Waffe benutzt. Und auf vertrautem, berechenbarem Gelände zugeschlagen.« Sie studierte weiterhin das Foto von Fergus Parkers Familie.

Taylor sagte: »Bringen viel Zeit mit umgebundenen Lätzchen zu, wie? Alle drei richtige Mastschweine, so wie er.«

Musst du gerade sagen, dachte Kate. »Was ist mit der O’Neil?«

»Nette Person. Einunddreißig. Gelassen. Attraktiv, intelligent. Ruhiges und entschlossenes Verhalten.«

Taylor räusperte sich taktvoll. Kate, die plötzlich auf der Hut war, sah ihn an, aber sein Blick war auf die Berge von Santa Monica gerichtet, die klar und leuchtend in der Ferne zu sehen waren. »Eine Mitbewohnerin kam. Eine Freundin.«

Lesbisch, dachte sie. Oder zumindest hält er sie dafür.

»Blieb eine halbe Stunde bei ihr, wollte, dass sie nach Hause ging, bestand darauf. Als sie ging, kochte sie vor Wut.« Er sah Kate an. »Sie ist Dozentin an der Universität von Los Angeles. Wirtschaftswissenschaftlerin.«

Sie mögen lesbisch sein, dachte Kate amüsiert, gehören aber offensichtlich nicht zu den Lesben, die das offen zugeben. Sie fragte unverblümt: »Besteht Tatverdacht?«

Taylors Grinsen kam schnell und einschmeichelnd. »Dann müsste sie reichlich fix wütend geworden sein. Sie ist neu hier, zweiter Arbeitstag. Oder sie hatte ihre Tage.« Er grinste wieder, zuckte die Achseln, als Kate nicht lächelte. »Wir werden viel Freude an diesem Fall haben, Kate. Dieser Fergus Parker war so beliebt wie Hitler. Als die Leute hier hörten, dass er tot ist, dachte ich schon, sie würden gleich Ringelreihen tanzen und ›Ding Dong, die Hexe ist tot‹ singen. Die Einzige, die traurig aussah, war seine Sekretärin –« Taylor sah seine Notizen durch. »Billie Sullivan. Sehr seltsame Person. Hat einen Gang wie ein Krebs.«

Kate lachte. »Diesmal ist es ein bisschen anders als sonst, Ed. Eine Stütze der Gesellschaft, nicht das Übliche, so wie MacKenzie am Freitag.«

Taylor schob seine fleischigen Lippen vor. »Mrs. MacKenzie ruft neunmal am Tag an. Ihr Mann bekommt auf dem Parkplatz der May Company einen Schlag mit einem Schraubenschlüssel ab, es gibt keine Zeugen, sie kann nicht verstehen, warum wir noch niemanden festgenommen haben. Typisch für diese Leute. Ich erkläre ihr, dass der Parkplatz der May Company nicht gerade mit Spuren übersät war, sie wiederholt ständig, sie würde schließlich Steuern zahlen.«

Kate sagte ungeduldig: »Verschwende nicht noch mehr Zeit mit ihr, lass Lieutenant Bell mit ihr reden. Was ist mit den Angestellten, die hier beschäftigt sind?«

»Sind ziemlich mit den Nerven runter. Arbeiten aber alle. Mehr oder weniger.« Taylor fuhr mit der Hand durch sein strähniges blondes Haar, hielt inne, um sich die Kopfhaut zu kratzen. »Der schwarze Innendienstleiter scheint ziemlich auf Draht zu sein. Hat alle beruhigt. Hansen hat die Aussage dieser O’Neil aufgenommen, ich habe mit ihr gesprochen, aber sie konnte uns nicht viel sagen –«

»Moment«, sagte Kate. »Lies noch mal vor, wie sie das Opfer gefunden hat.«

Taylor blätterte zwei Seiten zurück. »Sie war in der Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Trat aus der Küche in den nördlichen Korridor, ging mit der Kaffeekanne in der Hand zum westlichen Korridor. Sie wollte Guy Adams welchen anbieten, der, wie sie dachte, im Haus sei. Hörte jemanden wegrennen, eine Tür schlug zu, die Geräusche kamen vom südwestlichen Teil des Korridors, dann hörte sie das Zerschmettern von Glas. Rannte den Korridor hinunter, sah das Opfer und ließ die Kaffeekanne fallen –«

»Gut«, sagte Kate. »Du sagtest, sie war in der Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Wer hat den Kaffee gekocht?«

»Sie, nehme ich –« Taylor unterbrach sich. »Ich habe keine Notiz darüber, Kate.«

»Ich will die Kaffeekanne. Und das Glas hier drin. Ich möchte, dass die Kaffeekanne auf Fingerabdrücke untersucht wird. Ich nehme an«, sagte sie, die Worte sarkastisch betonend, während Taylor eifrig schrieb, »dass niemand die Papierkörbe der anderen Büros auf Styroporbecher untersucht hat, dass niemand festgestellt hat, ob auf den Schreibtischen Tassen mit noch warmem Kaffee standen?«

Taylor trat von einem Fuß auf den anderen. »Der Papierkorb in diesem Büro war leer. Im Waschraum der leitenden Angestellten war kein Blut zu sehen, aber wir haben eine chemische Analyse durchgeführt. Wir haben einige benutzte Papierhandtücher sichergestellt –«

»Vielleicht vom Opfer benutzt«, sagte Kate kurz.

»Ja, stimmt.« Taylors breites Gesicht war leicht gerötet. »Ich selbst habe eine Kaffeetasse auf der Ablage in der Küche gesehen, mit einer bunten Jagdszene drauf. Sie war leer. Wir können den anderen Abfall immer noch einsacken, Kate.«

Vermutlich ist es schwer, mit mir zusammenzuarbeiten, dachte Kate, aber die Leute können so verdammt blöd sein. »Denk doch mal nach, Ed«, sagte sie kalt, »was um alles in der Welt soll das jetzt noch bringen?« Nach einer Weile bedrückend zunehmenden Schweigens fragte sie: »Was ist mit der Presse?«

Taylors Stimme klang steif. »Kovich hat das erledigt.«

»Ed, erinnerst du dich an den Fall vor drei Monaten? An den Typen, der sich seinen Weg aus der Bank of America rausgeschossen hat?«

»Ja, oh Gott, ja, der verrückte Garcia.« Taylors Feindseligkeit milderte sich bei der Erinnerung. »Gott, das Chaos. Gott, die Zeugen.« Seine blauen Augen verdrehten sich in schmerzlicher Erinnerung. »Gott, der Papierkrieg.«

»Hier sind auch eine Menge Leute, Ed. Wir müssen schnell einen Ansatzpunkt finden, ein Muster, Verdachtsmomente.«

Taylor nickte. »Der Personalchef hat uns im Konferenzraum untergebracht. Wenn man die Rollos runterzieht, ist es ein phantastischer Vernehmungsraum.«

»Irgendwelche Vorschläge?« Das war nur teilweise ein Versuch, Taylor versöhnlich zu stimmen. Sie leitete die Ermittlungen, und sie hatte oft mit Taylor – der vor neun Jahren zum Kriminalbeamten befördert worden und seitdem auf dieser Stufe stehen geblieben war – in einem Ermittlungsteam zusammengearbeitet.

»Du wirst mit Ellen O’Neil und dem Innendienstleiter reden wollen. Dieser Fall sollte uns nicht allzu lange in Anspruch nehmen, Kate. Wer auch immer es getan hat, kannte diesen Burschen – das ist ziemlich klar. Und das heißt, der Mörder war ein Amateur. Und das heißt, wir werden ihn kriegen. Also werden wir die Arbeit aufteilen, schnell vorgehen. Du übernimmst die leitenden Angestellten, sie sind mehr dein Stil. Ich übernehme die anderen Beschäftigten. Wir werden jeden verhören, der auch nur im Entferntesten etwas damit zu tun haben könnte.«

»Gut.« Sie war zufrieden. »Ich werde erst mal mit dem schwarzen Innendienstleiter reden. Hat er auch einen Namen?«

»Einen Frauennamen«, wich Taylor aus und blätterte in seinem Notizbuch. »Gail. Freeman. Momentan ist er mit den anderen leitenden Angestellten im Konferenzraum. Sie überlegen, wie sie den Laden leiten sollen, bis der Hauptsitz der Firma einen neuen Chef ernennt.«

Kate begleitete Taylor bis zu einer Tür mit dem Schild Konferenzraum. Durch die Tür war gedämpftes Gelächter zu hören. Sie sagte mit leichter Ironie: »Sie halten anscheinend nicht direkt eine Totenwache für Fergus Parker ab.«

Sie klopfte und öffnete die Tür. Eine Frau und fünf Männer, einer davon schwarz, starrten sie mit schnell ernst werdenden Gesichtern an. Taylor sagte ungezwungen: »Das ist meine Kollegin, Detective Delafield. Sie wird die Ermittlungsarbeiten koordinieren.«

Kate, die sich des psychologischen Wertes ihrer Dienstmarke wohl bewusst war, insbesondere bei einer Gruppe von Menschen, zog das Lederetui aus ihrer Schultertasche und öffnete es mit einer schnellen Bewegung, so dass sie alle einen Blick auf Dienstmarke und Polizeiausweis werfen konnten.

»Gail Freeman.« Der Schwarze war sofort aufgestanden und beugte sich über den breiten, glänzenden Tisch, um ihr die Hand zu geben.

Schnell nahm sie eine erste Einschätzung vor: Nicht sehr dunkle Haut, ungefähr eins fünfundsiebzig groß. Ende dreißig bis Anfang vierzig – möglicherweise älter. Aufrechte Haltung, gewandtes Auftreten. Einfacher dunkler Anzug, gestärktes beigefarbenes Hemd, gedämpfte Krawatte. Kurzes, gut geschnittenes Haar. Polierte Nägel, fester Händedruck.

Er begann, die anderen vorzustellen, sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Gruppe am Konferenztisch zu.

Fred Grayson, der ein grüngestreiftes Hemd und eine grüne Krawatte trug, rückte die Hornbrille über seinen eulenhaften haselnussbraunen Augen zurecht und stand auf, um ihr die Hand zu geben. Er nickte, sein Kopf eine Masse regelmäßiger Wellen dicken graubraunen Haars.

Harley Burton, dessen makellos weiße Hemdsärmel über starken, muskelbepackten Armen aufgekrempelt waren, ergriff ihre Hand und schüttelte sie herzhaft. Als er sich wieder setzte, zerrte er an einer schwarz-weiß gemusterten Krawatte und starrte sie mit stechenden dunklen Augen an.

Duane Fletcher fuhr mit der Hand ordnend über den dunklen Haarkranz, der seine kugelrunde Glatze umgab. Sein Händedruck war feucht, sein Lächeln schüchtern. Er trug ein leuchtend gelbes Hemd und eine Krawatte mit gelben und purpurroten Streifen.

Gretchen Phillips, dunkelhaarig, zierlich, sehr hübsch in einer hauchdünnen lila Bluse, nickte lächelnd. Ihre zarten Lippen waren mit blassem Lippenstift betont. Sie sah Kate mit kühlen blaugrauen Augen an, aufmerksam, abschätzend und neugierig.

Guy Adams’ Händedruck war warm und fest, und er hielt ihre Hand einige Sekunden länger als nötig. Sein Jackett und seine Krawatte waren creme-, sein Hemd kaffeefarben. Sie registrierte, dass er sein rötlich-blondes Haar sorgsam frisiert hatte, um zu kaschieren, wie dünn es war. Die grünen Augen blickten sie nicht direkt an. Er sieht aus wie aus einer Werbeanzeige der Brooks Brothers, dachte sie und versuchte erfolglos, eine spontane Abneigung zu unterdrücken.

Sie sagte: »Ich hoffe, dass Sie sich alle darüber im Klaren sind, wie wichtig es ist, dass Sie uns alle Informationen zugänglich machen und dass Sie sich nicht untereinander über den Fall austauschen, bis wir die Vernehmungen abgeschlossen haben. Jeder von Ihnen könnte eine Information von entscheidender Wichtigkeit –«

Ein scharfes Klopfen ertönte, und die Tür wurde aufgestoßen. Mit zunehmender Verblüffung starrte Kate die junge Frau an, die in den Raum geschlichen kam. Ein enger, wuscheliger, marineblauer Pullover bedeckte dünne, hängende Schultern und kaum wahrnehmbare Brüste. Nackte knochige Knie kamen unter einem zerknitterten Khakirock zum Vorschein, der die Umrisse spindeldürrer Oberschenkel erkennen ließ, die in ein hervortretendes Becken und einen vorgeschobenen Bauch übergingen. Ein spitzes Kinn ragte aggressiv nach vorn. Die Frau hatte einen Stoß Aktenordner achtlos unter den Arm geklemmt. Der Rauch einer Zigarette, die sie in der anderen Hand hielt, stieg nach oben.

»Detective Delafield, das ist Billie Sullivan«, sagte Gail Freeman mit ausdrucksloser Stimme. »Fergus Parkers Sekretärin.«

»Ein weiblicher Schnüffler«, krächzte Billie Sullivan und streckte ihre Hand aus. »Der Boss wäre verdammt sauer.«

Kate schaffte es, ein Lachen zu unterdrücken, aber lächeln musste sie trotzdem. Sie ergriff skelettdünne Finger, die sich wie trockene Zweige anfühlten. Vom Konferenztisch kam Gehüstel und Geräusper. Gretchen Phillips kicherte leise.

Billie Sullivan sagte: »Also, wie gefällt Ihnen die Modern Office-Methode, Beschäftigte loszuwerden?« Ihr Lachen klang wie das Zerspringen und Klirren von Glas.

Gretchen Phillips kicherte nochmals. Gail Freeman fragte streng: »Billie, haben Sie den Sonderbericht für Philadelphia fertiggestellt?«

»Fast. Den beschissenen Teil habe ich Ellie zum Tippen gegeben.« Sie fügte hinzu: »Die Büroidiotin, schreibt gerne Zahlen.« Diese letzte Bemerkung schien an Kate gerichtet gewesen zu sein, aber Billie Sullivans weit auseinanderstehende grünliche Augen sahen in zwei verschiedene Richtungen, und Kate war nicht ganz sicher. Billie schob ihr büscheliges, karottenfarbenes Haar aus der blassen, sommersprossigen Stirn und zog an ihrer Zigarette, ihre Wangen wirkten durch den Sog wie ausgehöhlt. Zischend stieß sie einen dünnen Rauchstrom aus.

»Billie, pass mit der Asche auf diesem hellen Teppich auf«, warnte Fred Grayson.

Sie warf einen Blick voll unverhüllter Verachtung auf Fred Grayson, deponierte die Aktenordner in einem unordentlichen Stapel auf dem Tisch des Konferenzraums und schnippte, ohne mit der Wimper zu zucken, zentimeterlange Asche in ihre Handfläche. Dann machte sie zwei lange abgehackte Schritte, wobei ihr skelettartiger Körper sich in Form eines Fragezeichens zusammenkrümmte, und schüttete die Asche aus ihrer Handfläche in den Papierkorb. Sie hob einen Fuß mit einer dicken Sandale daran und drückte ihre Zigarette an der Reliefsohle aus, wobei Funken kaskadenartig herabstürzten. Sie warf die geschwärzte Kippe in den Papierkorb.

»Um Himmels willen«, murmelte Fred Grayson.

»Danke, Billie.« Gail Freemans Stimme klang distanziert und förmlich. »Bitte bringen Sie mir den Bericht, sobald er fertiggestellt ist.«

»Sicher. Sir«, fügte sie hinzu und grinste, wobei sie ein gelbes Wolfsgebiss enthüllte. Ein blaues Augenlid senkte sich über ein auf nichts Bestimmtes gerichtetes Auge. Kate konnte nicht einmal erraten, wem das Zwinkern gegolten hatte. Billie Sullivan trottete zur Tür und drehte sich um. »Es war eine Freude, Sie kennenzulernen, Lady Cop.« Die Tür schloss sich, und wieder war ein Geräusch wie zerspringendes Glas zu hören – Billie Sullivans Lachen.

»Gail«, sagte Fred Grayson, »diese … diese Frau …«

»Einer der ersten Punkte auf unserer neuen Tagesordnung«, sagte Gail Freeman kurz. Er erhob sich. »Warum verlegen wir die Konferenz nicht in dein Büro, Fred? Ich habe der Polizei diesen Raum versprochen.«

Guy Adams erhob sich augenblicklich. Gretchen Phillips sammelte die Aktenordner ein, die auf dem Tisch lagen. »Wenn Sie bitte noch bleiben würden, Mr. Freeman«, sagte Kate.

Die leitenden Angestellten strömten davon. Duane Fletcher blickte nervös über seine Schulter, als sei Gail Freeman ein Opfer, dem ein ungewisses, aber zweifellos schreckliches Schicksal bevorstand.

»Eine hässliche Sache, Mr. Freeman«, sagte Kate ruhig.

»Gail.« Freeman verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie offen an. »Das Schlimmste, was ich je gesehen habe, war der Kerl, der ohne Kopf und mit herausquellenden Eingeweiden in den Schützengraben fiel, in dem ich saß.«

Kate sagte sanft: »Ich war in Da Nang. Marineinfanterie, Nachschubkorps. Aber so etwas habe ich erst gesehen, als ich zur Polizei ging.«

»Pusan«, sagte Freeman und grinste über ihre Verwirrung. »Ein anderer Krieg. Korea. Ich bin älter, als ich aussehe.«

»Dreiundfünfzig, Kate«, sagte Taylor.

Taylor verschwendet bereits Zeit, dachte sie irritiert. »Mr. Freeman, wäre es möglich, uns außer diesem noch einen weiteren Raum zur Verfügung zu stellen?«

»Luther Garrett ist gestern nach San Francisco gefahren. Sein Büro ist hinten neben der Textverarbeitung.«

»Ich werde sein Büro nehmen, Kate«, sagte Taylor. »Wenn du mich brauchst, ich bin da drin und vernehme die Angestellten.«

»Wir können Sie ausrufen lassen«, sagte Freeman.

»Gut.« Sie entließ Taylor mit einem Kopfnicken. »Mr. Freeman, soweit ich weiß, war das Opfer Geschäftsführer dieser Zweigniederlassung. Wer leitet den Betrieb jetzt?«

»Offiziell niemand. Diese Entscheidung wird von Philadelphia aus getroffen, vom Hauptsitz der Firma. Das kann ein paar Tage dauern.«

»Verständlich. Aber hat niemand Fergus Parker vertreten, wenn er geschäftlich unterwegs oder im Urlaub war?«

Freeman schüttelte den Kopf. »Er war immer telefonisch erreichbar. Allerdings, wenn er fand, dass es nicht dringend genug war, machte er einen zur Sau.«

Kate grinste. »Vor Jahren habe ich mal für so jemanden gearbeitet. Wir nannten ihn den Unberechenbaren Kollegen.«

»Ich würde Fergus Parker nicht unberechenbar nennen, paranoid vielleicht«, sagte Freeman trocken.

»Das klingt, als hätten Sie nicht viel für ihn übrig gehabt«, sagte sie beiläufig und beobachtete ihn.

Freeman sah sie fest an. »Lassen Sie es mich so ausdrücken. Ich habe die Leiche identifiziert. Ich fand, das Messer stand ihm ausgesprochen gut.«

Kate räusperte sich energisch, um ein Lachen zu unterdrücken. »Es scheint Sie nicht sehr zu kümmern, ob Sie der Tat verdächtigt werden oder nicht.«

Freeman lachte kurz. »Ich bin nur einer von vielen.«

»Wirklich?« Sie steckte ihr Notizbuch in ihre Schultertasche, um ihn zum Reden zu ermutigen. »Wer sonst würde Fergus Parker gern tot sehen?«

Freeman schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen den Tisch, Hände in den Hosentaschen. »Ich spreche nur für Gail Freeman. Ganz besonders unter den gegebenen Umständen. Ich höre zu, wenn geredet wird, aber ich verbreite keinen Klatsch.«

Sie erforschte sein strenges Gesicht mit den asketischen Wangenknochen. Sogar mit offenem Jackett und leicht verrutschter Krawatte bewahrte er eine gelassene Eleganz. Kühl sagte sie: »Wollen Sie nicht, dass der Mörder gefasst wird?«

Freeman zuckte die Achseln. »Sicher bin ich neugierig, wer es war, der ihm das Lebenslicht ausgeblasen hat.«

»Nicht unbedingt ein Er. Es könnte ebenso gut eine Frau gewesen sein.«

»Ja. Vergeben Sie mir meine vorurteilsbeladene und sexistische Bemerkung.«

Kate war amüsiert, aber sie sagte hart: »Mr. Freeman, ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich kooperativ zeigen, in vernünftigen Grenzen.«

»Das werde ich. In vernünftigen Grenzen.« Seine Stimme verriet auch nicht den leisesten Hauch von Sarkasmus.

»Ist Ihnen irgendein Grund bekannt, weswegen der Tote sich selbst etwas angetan haben könnte?«

»Sich selbst etwas angetan haben? Meinen Sie … Selbstmord?« Gail Freeman gluckste, dann begann er zu lachen, ein Lachen, das schnell immer lauter, volltönender und ansteckender wurde.

Kate erwischte sich beim Grinsen. »Ich nehme an, die Antwort ist nein.«

»Ganz entschieden nein. Der Mann war der Mittelpunkt seines Universums. Er liebte es, seine Macht zu gebrauchen und zu missbrauchen. Jemand hat’s ihm gegeben, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich etwas herumzuführen, damit ich ein Gefühl für die Aufteilung der Räume gewinne? Zuerst der Empfangsraum, denke ich.«

»Sicher.« Er hielt Kate die Tür auf und ging neben ihr den Flur entlang. »Eine Frage noch. Haben Sie etwas dagegen, dass ich Billie Sullivan entlasse?«

»Warum wollen Sie sie jetzt entlassen? Wollen Sie sie nicht behalten, wenn der neue Geschäftsführer kommt, wegen der Kontinuität?«

»Sie würde nichts Nützliches beitragen, nur Gift verspritzen.« Freemans Stimme hob sich, wurde eindringlich. »Sie leistet keine nennenswerte Arbeit. Und sie stört das Betriebsklima. Das bisschen Arbeit, das Parker ihr gegeben hat, hat sie immer an die anderen Sekretärinnen weitergegeben. Wenn ich sie deswegen zur Rede stellte, sagte Parker immer, sie hätte zu viel zu tun. Die anderen Angestellten verachten sie.«

»Ich kann die Situation sehr gut nachvollziehen«, sagte Kate. »Meiner … bei einer Freundin im Büro ging es ähnlich zu. Sie hat schließlich gekündigt. Aber ich möchte Sie bitten, noch ein wenig zu warten. Bis das Anfangsstadium der Ermittlung abgeschlossen ist. Aufgrund ihrer Tätigkeit in unmittelbarer Nähe des Opfers könnte sie wertvolle Informationen besitzen, von denen Sie nichts wissen.«

»Ihre Bitte hält sich in vertretbarem Rahmen.« Freeman deutete auf Fergus Parkers Büro. »Kann ich dieses Büro reinigen lassen? Riecht wie eine Kloake mit all dem verschütteten Schnaps.«

»Ich fürchte nicht. Der Tatort muss unverändert bleiben, solange die Prüfung unserer Berichte noch aussteht. Wir werden Sie dann benachrichtigen. Die Tür des Büros wird verschlossen und versiegelt. Der Korridor wird freigegeben, sobald die Spurensicherung fertig ist. All die Flaschen da drin – ich vermute, dass Fergus Parker ganz gerne mal etwas trank?«

»Meines Wissens nicht. Jedenfalls nicht während der Arbeitszeit. Wir hatten immer Eis für ihn im Kühlschrank, aber er brauchte es nur, wenn er Kundenbesuch hatte.«

Kate zog ihr Notizbuch heraus und skizzierte grob den Empfangsraum: die Fahrstühle, die Türen, den Empfangstisch. Gail Freeman bemerkte im Plauderton: »Es ist bestimmt eine Herausforderung, als Frau bei der Kriminalpolizei zu sein.«

Wie immer, wenn sie daran erinnert wurde, wie ungewöhnlich sie war, fühlte sie diese altbekannte schwere Verdrossenheit. Das ermüdende Wissen, dass sie sich immer von ihrer Umgebung abgehoben hatte. Immer.

Immer. Als Kind und als Jugendliche war sie größer, stärker und aggressiver gewesen als die anderen Mädchen, nach deren Maßstäben hoffnungslos unweiblich im Aussehen und im Verhalten. Die ebenso wie sie uniformierten Frauen im Marineinfanteriekorps hatten sie wegen ihrer ungewöhnlichen körperlichen Stärke und ihren außergewöhnlichen Führungsqualitäten abgelehnt. Sie war die einzige Frau, die in ihrer Abteilung der Polizeibehörde von Los Angeles widerstrebend immer weiter befördert worden war, als die Polizeiführung nach hartnäckigen Rückzugsgefechten den zunehmenden öffentlichen Forderungen nach personellen Veränderungen allmählich nachgegeben hatte.

Und immer hatte es diesen ganz entscheidenden Unterschied gegeben: Sie war eine Frau, die sich nur zu anderen Frauen hingezogen fühlte.

Dass sie mit ihrem Anderssein immer auffiel, hatte ihr nichts mehr ausgemacht, nachdem sie Anne getroffen hatte. Solange es Anne gegeben hatte, die sie mit ihrem ganzen Anderssein geliebt hatte …

Sie sah Gail Freeman an. Selbst wenn sie gern über dieses Thema gesprochen hätte, war dafür keine Zeit, und da Gail Freeman im Augenblick einer der Tatverdächtigen in einem Mordfall war, wäre das auch kaum angemessen gewesen. Sie sagte mit genau berechneter Distanz in Stimme und Gesichtsausdruck: »Es ist bestimmt eine Herausforderung, als Schwarzer Ihre Position zu bekleiden.«

Freeman gab keine Antwort. Er lehnte mit verschränkten Armen am Empfang und beobachtete sie.

Der Mann ist ein erstklassiger Schauspieler, entschied sie. Sie sagte: »Würden Sie die Empfangssekretärin bitten, herzukommen?«

»Sicher. Judy ist in der Buchhaltung und macht die Ablage.« Er hob den Hörer von der Kontrollkonsole hinter dem schwarzen Pult und wählte eine Nummer. Seine verstärkte Stimme ertönte aus dem Lautsprecher an der Decke, unterbrach die Hintergrundmusik. »Judy Markham bitte zum Empfang.«

Wenige Augenblicke später kam eine blauäugige, vollbusige junge Frau Anfang zwanzig, wie Kate schätzte, in den Empfangsraum, schob einen Zipfel ihrer weißen Seidenbluse in den roten Schottenrock und warf das lange glatte blonde Haar mit routiniertem Schwung aus dem Gesicht. Kate fand, dass es eine Freude war, sie anzusehen.

»Judy Markham, das ist Detective Delafield.«

Judy Markham sah sie bestürzt an. »Heißt das, ich kann immer noch nicht zurück an den Empfang? Akten ablegen ist echt ätzend.«

Manchen Leuten, dachte Kate traurig, sollte es nicht erlaubt werden, den Mund zu öffnen. Aber sie lächelte und sagte sanft: »Sicher würde Ihnen da jeder zustimmen. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Tätigkeit als Empfangssekretärin stellen. Würden Sie mir einige Fragen beantworten?«

»Sicher. Ich hab schon gehört, dass wir einen weiblichen Polizisten hierhaben, wirklich toll. Äh, wie werden Sie angeredet?« Sie sah Kate zweifelnd an.

»Detective«, sagte Gail Freeman.

»Oh.« Ihr Gesicht erhellte sich, und sie quietschte: »So wie Cagney und Lacey

»So ungefähr«, sagte Kate mit zusammengebissenen Zähnen.

»Judy«, sagte Gail Freeman grinsend, »hören Sie auf, die Zeit von Detective Delafield zu verschwenden. Beantworten Sie einfach ihre Fragen.«

Kate erfuhr, dass Judy Markham alle Besucher erst registrierte und dann anmeldete; dass die Türen auf beiden Seiten des Empfangsraums durch elektronische Schlösser gesichert waren. Judy Markham öffnete die Türen, indem sie eine zweistellige Codenummer in ihre Kontrollkonsole eingab. Nach einunddreißig Sekunden schnappten die Schlösser automatisch wieder zu. Die Beschäftigten hatten für die Zeit nach Dienstschluss ihre eigenen Schlüssel, aber tagsüber war es üblich, dass Judy Markham die Türen für sie öffnete.

»Also kann niemand vor oder nach der Arbeitszeit hereingelangen, der keinen Schlüssel hat«, sagte Kate.

»Nee.«

»Was ist mit ehemaligen Beschäftigten?«

»Ich ziehe ihre Schlüssel routinemäßig ein«, sagte Freeman. »Aus Sicherheitsgründen.«

Kate lächelte. »Haben Sie jemals die Schlösser ausgewechselt?«

Freeman schüttelte den Kopf, lachte reumütig. »Ich verstehe, was Sie meinen.«

Kate überprüfte das Besucherbuch. »Miss Markham, hat Mr. Parker kürzlich irgendwelche ungewöhnlichen Besucher empfangen?«

Judy Markham warf Gail Freeman einen schnellen Blick zu. »Was meinen Sie mit kürzlich?«

»In den letzten paar Wochen. Mr. Freeman«, sagte Kate beiläufig, »was halten Sie davon, wenn ich mich in ein paar Minuten wieder bei Ihnen melde, wenn ich hier fertig bin?«

»Sicher.« Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Gail Freeman davon und verließ den Empfangsraum durch die Tür am anderen Ende des Raums, die er mit seinem Schlüssel aufschloss.

Judy Markham tippte mit dem Finger auf einen Namen in dem Buch. »Dieser Widerling. Dieser glatzköpfige, schwitzende kleine Scheißkerl. Macht mich an. Ich hab ihm viermal gesagt, dass ich einen Freund hab. Er hat gesagt, El Grosso da –«, sie wies heftig in die Richtung von Fergus Parkers Büro, »erzählt rum, ich würde es ihm für Geld machen. Sooft er will. Er hat mir fünfzig Dollar geboten! Ich hoffe, El Grosso hat sechs Stunden gebraucht, um zu sterben!«

Kate sagte nüchtern, beeindruckt von ihrem wilden Zorn: »Hat Mr. Parker Sie jemals sexuell belästigt?«

»Mit seinem großen fetten verdammten Maul«, zischte sie. »Dreckige Reden, verstehen Sie? Er konnte nicht mal guten Tag sagen, ohne was über meine Titten zu sagen. ›Guten Morgen, Mr. Parker‹, ›Guten Morgen, Judy, was für ein hübscher Pullover, du siehst so appetitlich aus wie Eiscreme, hmm-hmmm.‹ Äh! Und wie er mich angesehen hat! Als würde er mich mit seinen Schweinsäuglein ficken!«

Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde, wie selbstverständlich junge Frauen diesen Slang verwenden, dachte Kate. »Sie wollten mir das nicht erzählen, als Mr. Freeman zuhörte. Warum nicht?«

»Er würde sich aufregen. Er ist ein netter Typ.«

»Miss Markham, es ist sein Job, sich über solche Dinge aufzuregen. Warum haben Sie sich nicht bei ihm beschwert?«

»Worüber hätt ich mich beschweren sollen?«

»Sexuelle Belästigung. In diesem Bundesstaat wird sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zunehmend mit harten Strafen geahndet.«

Judy Markham brach spöttisch in schallendes Gelächter aus. »Kommen Sie, Cagney. Sie wissen doch, wie das ist. Ich bin eine Blondine, eine Empfangsdame. Wenn ich mich beschwere, sitze ich bis zum Arsch in der Scheiße. Gesetze ändern da überhaupt nichts. Sie denken, ich lasse mir zu viel gefallen? Ich habe eine Freundin, Susie ist Stewardess. Flugbegleiterin nennen sie das jetzt. Sie sollten Susie mal hören. Die Typen denken, sie können sich alles erlauben. Nicht alle sind so wie El Grosso, aber solche Bemerkungen muss ich mir ständig anhören. Und Sie glauben doch nicht, dass es woanders anders wäre.«

»Ich weiß es wirklich nicht, Miss Markham«, sagte Kate sanft. »Ich weiß nur, dass Gesetze dazu da sind, die Menschen zu schützen.«

»Hey, Cagney, Sie sind wirklich nett.« Judy Markham schüttelte sich wieder die Haare aus dem Gesicht. Sie sah Kate mit naiven blauen Augen vieldeutig an. »Sie können mich Judy nennen.«

Kate bewahrte einen neutralen Gesichtsausdruck und sprach mit sorgsam ausdrucksloser Stimme. »Ich weiß das zu schätzen, Miss Markham. Würden Sie jetzt bitte Mr. Freeman ausrufen?«

»Oh, Scheiße. Ich soll zurückgehen und weiter Akten sortieren?«

»Es dauert nicht mehr lange, bis wir dieses Stockwerk wieder fürs Publikum freigeben können. Ich weiß Ihre Geduld zu schätzen.«

»Sicher, Cagney.« Wieder der vieldeutige Blick. Judy Markham schlenderte mit wiegenden Hüften aus dem Empfangsraum.

Kate, die mit intensiver Konzentration grobe Skizzen fertigte, ging schweigend durch die Korridore, ignorierte die neugierigen Gesichter, die sie anstarrten, notierte sich Namen, schritt die Entfernungen zum Treppenhaus und zum Empfangsraum ab. Gail Freeman schlenderte neben ihr her, die Hände in den Hosentaschen, und nannte lakonisch Namen und Titel. Wieder gingen sie am Tatort vorbei, an Billie Sullivan, die telefonierend an ihrem Schreibtisch saß und sich mit mageren, knochigen Händen durch ihr karottenrotes, strähniges Haar fuhr, und an einer Tür mit der Aufschrift Herren Privat.

»Der Waschraum der leitenden Angestellten«, sagte Gail Freeman. »Natürlich muss man einen Schlüssel haben, um da reinzukommen. Es gab einen ziemlichen Aufstand, als Gretchen Phillips zur Verkaufsleiterin ernannt wurde, aber keinen Zugang zum Waschraum erhielt. Ihr hätte es nicht egaler sein können, aber die anderen Frauen waren so wütend wie Hornissen.« Er lachte in sich hinein.

»Was haben Sie getan?«

»Nichts. Ich tue nur etwas, wenn ich etwas tun kann.« Er blieb vor der nächsten Tür stehen. »Zum Beispiel hier. Textverarbeitung. Ziemlicher Betrieb da drinnen.« Er schob die schwere Tür auf.

Ein unablässiges Tapper-tatap kam von den Tastaturen der Geräte, an denen eine Reihe Frauen mit Kopfhörern arbeitete. Weiße Schrift blinkte wild auf einem halben Dutzend leuchtend grüner Bildschirme. Eine winzige schwarze Frau stand auf, raste zu einem riesigen orangefarbenen Papierkorb, schleuderte eine Armvoll Papier hinein und raste zurück zu ihrem Computer. Zwei Fernschreiber spuckten unaufhörlich gelbes Papier aus. An einem Telefon gestikulierte eine orientalisch aussehende Frau in ausdrucksvoller Frustration. Ein Faxgerät surrte rhythmisch.

Kate betrachtete diesen Strudel von Aktivität. Ihr fiel auf, dass der Geräuschpegel doch noch relativ niedrig war. Die Decke und die Wände waren mit schallschluckendem porösem Kork bespannt. Der braune Teppich wirkte etwas unansehnlich durch seine vielen Löcher – die offensichtlich wegen häufigen Umbaus der elektrischen Anschlüsse entstanden waren – und er war ungewöhnlich dick. Vier oder fünf Frauen hatten aufgeblickt, als die Tür geöffnet wurde. Sie winkten Gail Freeman zu, der die Grüße mit einem Lächeln und dem Heben seiner Hand erwiderte. Er ließ die Tür zufallen, der Lärm hörte abrupt auf.

»Eine Fabrik«, sagte Kate.

»Ja. Und die Frauen da drin sind so gute Leute, sie arbeiten so hart … Sind Sie jemals in einer Fabrik gewesen?«

»Nein.« Langsam gingen sie weiter den Korridor entlang.

»Ich komme aus einer Fabrikarbeiterstadt. Toledo. Ich habe in einer Reifenfabrik gearbeitet. Der Lärm ließ einem fast das Trommelfell platzen. Genauso laut war es in dem Raum, den wir eben gesehen haben, bis ich es geschafft habe, die schallisolierenden Wände und den Teppich anzuschaffen. Aber ohne Guys Hilfe hätte ich diese Änderungen nie durchführen können.«

»Warum nicht, Mr. Freeman?«

»Firmenetat.« Er sagte das Wort in einem Ton, in dem sie andere Leute die übelsten Schimpfwörter hatte sagen hören. »Fergus Parker sagte mir, unser Etat würde eine derartige Ausgabe nicht erlauben. Aber sogar in dieser unsicheren Wirtschaftslage mit sinkendem Verkauf und sinkenden Löhnen fand Fergus Parker nichts dabei, die gesamte Vertriebsabteilung der Firma zu einer, ich zitiere, ›Geschäftskonferenz‹ nach San Francisco einzuladen. Das hat Tausende gekostet, alle Spesen wurden bezahlt, nichts war zu gut dafür. Und ich bin schon auf derartigen ›Konferenzen‹ gewesen und weiß, wie wenig das mit den sogenannten ›wichtigen Geschäften‹ zu tun hat. Aber der Etat erlaubte es nicht, die paar tausend Dollar auszugeben, die das Arbeiten in diesem Raum auch nur einigermaßen erträglich machen würde. Guy Adams sagte schließlich, ich solle es einfach machen lassen und ihm die Rechnungen geben, er würde das mit der Firma regeln.«

»Und woher nimmt Mr. Adams diese Vollmacht?«

»Nahm«, korrigierte Gail Freeman traurig. »Er ist ein Neffe des Firmeninhabers – aber der alte Guy Adams starb letztes Jahr, und seitdem wird die Firma reorganisiert.« Er blieb stehen. »Das ist Guys Büro. Ein bemerkenswertes Büro, nicht?«

Kate sah nicht das Büro an, sondern den Mann, der halb auf der Ecke seines Schreibtisches saß und telefonierte, mit dem Gesicht zum Fenster, ihnen den Rücken zugekehrt. Sie bekämpfte wieder eine spontan aufsteigende Abneigung, studierte die sorgsam frisierten rötlich-blonden Haare, die lässige Breite der Schultern, den schlanken Körper, die schmale, durch das perfekt geschnittene, cremefarbene Jackett noch betonte Taille. »Ich werde mich darum kümmern, betrachten Sie es als erledigt«, sagte Guy Adams gerade. Seine Stimme war weich und rauchig, sie erinnerte Kate an die Stimme eines Schauspielers aus einem alten Kriegsfilm, den sie in ihrer letzten schlaflosen Nacht im Spätprogramm gesehen hatte. Aldo Ray hieß der Schauspieler, fiel ihr zu ihrer Befriedigung ein. Dann legte Guy Adams den Hörer auf, drehte sich um und sah sie mit erschreckten, sich weitenden Augen an. Sie machte eine Bestandsaufnahme seiner Gesichtszüge: eine schmale gerade Nase, ein breiter Mund mit fein geschnittenen Lippen, ein schmales Gesicht, feiner Knochenbau. Das Gesicht eines Aristokraten. Sie nickte ihm zu und ging weiter.

Sie betrat die Küche, studierte die Aufteilung des Raums, ging weiter den Korridor hinunter. Vor der geschlossenen Tür von Gail Freemans Eckbüro blieb sie stehen. »Schließen alle leitenden Angestellten die Tür ab, wenn sie ihr Büro verlassen?«

»Normalerweise nur nach Feierabend. Ich schließe allerdings die Tür auch ab, wenn ich mal während der Arbeitszeit mein Büro verlasse, weil dort vertrauliche Personalunterlagen liegen. Wenn die anderen leitenden Angestellten an etwas Vertraulichem arbeiten, schließen sie natürlich ebenfalls die Tür ab, wenn sie ihr Büro verlassen.«

»Was könnte das zum Beispiel sein?«

»Oh, Gehaltsunterlagen, unter anderem. Ich glaube nicht, dass viele tatsächlich ihre Tür abschließen, wenn sie nach Hause gehen. Ich erinnere Guy ständig daran, dass er seine Tür zumachen und abschließen soll, gerade gestern habe ich ihn deswegen wieder zur Schnecke gemacht. Sein Büro ist das einzige, in dem es wirklich etwas Wertvolles gibt. Aber die Fahrstühle und das Treppenhaus sind nachts gesichert, und die Putzfrauen sind sehr zuverlässig, bis jetzt ist hier überhaupt noch nichts weggekommen.«

»Ich verstehe. Was –« Sie brach ab. In dem Büro, das neben Gail Freemans lag, sah sie eine Frau mit schulterlangen, welligen braunen Haaren. Sie hatte ihren Drehstuhl herumgedreht, ihr Blick war offenbar auf die grauen Hochhäuser der Innenstadt von Los Angeles gerichtet. Kate nahm Gail Freemans Arm und führte ihn ein paar Schritte den Korridor hinunter. »Wer war das?«

»Ellen O’Neil, meine neue Assistentin. Sie hat den – nun, das wissen Sie natürlich. Wie Sie sich vorstellen können, ist sie ziemlich durcheinander.«

»Ja. Detective Taylor erwähnte, dass Sie Mrs. Parker benachrichtigt haben. Wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«

Freeman räusperte sich. »Nun, es war natürlich ein Schock für sie.« Er sah Kate abschätzend an und sagte dann: »Sie sagte, das Erste, was sie machen würde, wäre, ihre Kinder anzurufen und sie nach Hause kommen zu lassen. Dann sagte sie, sie hätte haufenweise schwarze Sachen, seit ihrer Heirat mit Fergus Parker hätte sie hauptsächlich Schwarz getragen. Dann goss sie sich ein großes Glas Scotch ein, ohne Wasser, ohne Eis. Dann fragte die trauernde Witwe, wie hoch die Lebensversicherungssumme meiner Meinung nach sei.«

Kate schaffte es nicht, ihr Lächeln zu unterdrücken. »Und wie hoch ist sie?«

»Die Hauptverwaltung wird ihr die genaue Summe mitteilen. Aber bei seinem Gehalt müsste es automatisch mindestens eine Viertelmillion sein, würde ich sagen, wenn er eine der Zusatzversicherungen abgeschlossen hat, noch mehr. Die Witwe Parker müsste sorgenfrei leben können. Sie könnte sich vielleicht sogar ein rotes Kleid kaufen.«

»Tatsächlich. Mr. Freeman, ich möchte Sie bitten, uns eine vollständige Liste aller zurzeit bei Ihnen Beschäftigten mit Angabe der Adresse zur Verfügung zu stellen sowie eine Liste aller Beschäftigten, die innerhalb des Zeitraums, in dem das Opfer hier in diesem Büro gearbeitet hat, versetzt wurden oder gekündigt haben.«

»Wir können die Liste ohne Schwierigkeiten vom Computer ausdrucken lassen.«

»Sind die Personalakten hier oder in Philadelphia?«

»Hier.«

»Wir werden diese Akten einsehen müssen.«

Freeman runzelte leicht die Stirn. »Ich denke, da werde ich mich erst an unsere Anwälte in Philly wenden müssen.«

»Wie Sie wollen. Ich nehme an, ein einfacher Durchsuchungsbefehl wird ausreichen, um sie zufriedenzustellen. Springen Sie für Mr. Parker ein, da es ja noch keinen bestellten Nachfolger gibt?«

»Wir haben beschlossen, dass zwei von uns das machen werden. Ich und Fred Grayson.«

Kate zog ihre Skizze zu Rate. »Verkaufsleiter, südöstliches Eckbüro.«

»Das ist er. Von den leitenden Angestellten hat er die höchste Position. Alles, was mit der Administration des Büros und dem Personal zu tun hat, ist normalerweise mein Amtsbereich. Wenn Sie dazu Fragen haben, wenden Sie sich an mich.«

»Gut. Ich würde mich jetzt gern mit Miss O’Neil unterhalten. Würden Sie sie bitte in den Konferenzraum schicken?«

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