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Über Berlin hatte früher immer ein Glanz gelegen. Es gab Häuser mit frisch gestrichenen Fassaden, Schaufenster, in denen Dinge lagen, nach denen sich Isabella Monate lang verzehrt hatte: Gewürzgurken, Jeans, Ketchup, Linsen, Acrylpullover. Sie liebte die Ausflugsdampfer auf den Flüssen, die breiten, dicht befahrenen Straßen, die Plätze, den einzigartigen Fernsehturm. Im Berlin ihrer Jugend war alles höher, weiter und schöner gewesen.

An diesem Novembertag wirkte die Stadt grau, verharrt in ihrer DDR-Schönheit, die niemand mehr bewundern wollte, auch Isabella nicht.

Im Schaufenster einer Bäckerei türmte sich eine Pyramide aus Pfannkuchen. Warum hießen sie eigentlich in anderen Städten Berliner, nur nicht in Berlin? Die Verkäuferin hinter der Ladentafel guckte missmutig zu Isabella hinaus auf die Straße. Isabella unterdrückte den Wunsch nach einem Kaffee. Sie hatte noch eine halbe Stunde Zeit. Sie wollte nicht zu früh kommen, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie wäre auf das Honorar angewiesen. Nur wer gut im Geschäft stand, bekam den Zuschlag für weitere Rollen.

Isabella lief in Richtung Alexanderplatz. Eine Touristengruppe marschierte hinter einer Stadtführerin über den Platz. An den zahlreichen Verkaufsständen wurden Souvenirs angeboten. Das Land war reduziert auf Rotarmistenmützen, Nationalmannschaft-Trikots und Ampelmännchen. Der Osten war über die Jahrzehnte hinweg in Mode gekommen. Aber jetzt im November wirkte der Platz noch trostloser, als er es ohnehin schon war. Das Wasser aus dem Brunnen der Völkerfreundschaft war abgelassen, niemand saß auf dem Rand. Auch das Rondell unter der Weltzeituhr war leer. Früher hatte Isabella sich hier mit ihren Freunden getroffen und sich die Wartezeit mit dem Lesen der Städtenamen verkürzt: Sydney, Casablanca, Kinshasa. Städte, die von Ostberlin aus gesehen jenseits jeder Zeitzone lagen. Doch sie waren Isabella durch das bloße Betrachten der Uhrzeit näher gerückt, und sie hatte sich vorgestellt, sie würde in London auf einen Freund warten oder in New York, je nachdem unter welchem Städtenamen sie gerade stand. Die Uhr hatte ihr das Gefühl gegeben, dieser Platz wäre der Mittelpunkt der Welt. Heute schämte sie sich für ihre Naivität, denn war es nicht ein unglaublicher Zynismus gewesen, mitten hinein in das eingemauerte Land eine Weltzeituhr zu bauen?

Wie immer wehte auf dem Platz ein scharfer Wind. »Hier zieht’s wie Hechtsuppe!«, hätte die Großmutter gesagt. Durch den Abriss der historischen Bebauung waren Windkanäle entstanden, die sich durch die Neubauten noch verstärkt hatten. Alles sollte anders werden. Alles musste anders werden. Während ihrer Schulzeit war Isabella mit ihrer Klasse nach Berlin gefahren, um auf dem Alexanderplatz DAS Wunderwerk sozialistischer Baukunst zu bestaunen: den Fernsehturm. Er war das höchste Gebäude im ganzen Land. Und ausnahmsweise wurde zu diesem Vergleich das gesamte Deutschland herangezogen, denn der Fernsehturm überragte mit seinen 365 Metern auch alle Gebäude des Klassenfeindes. 365 Meter, nie würde Isabella die Zahl vergessen, für jeden Tag des Jahres einen Meter. So hatte es Walter Ulbricht vor dem Bau angeordnet, damit es sich alle Kinder im Land merken konnten.

Jetzt war nichts mehr zu spüren von den ehemaligen Visionen. Der Platz wirkte wie ein zu oft gewaschenes Kleidungsstück, dem auch mit neuen Knöpfen kein neuer Glanz zu geben war. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb sie ihn einmal schön gefunden hatte.

Vielleicht war es die Vorfreude gewesen. Die Vorfreude auf die Abende, denn für Isabellas Berlin-Reisen gab es damals nur einen Grund: das Theater. Sie kannte die Spielpläne vom Deutschen Theater, der Volksbühne und dem Maxim Gorki Theater auswendig. Ob Barlachs »Der Blaue Boll«, Horváths »Glaube, Liebe, Hoffnung« oder Heiner Müllers »Hamlet«, das Theater war für Isabella der wahre Glanz von Berlin. Es war eine Welt, nach der sie süchtig war.

Das Theater war eine Mitgift der anderen Großmutter gewesen. Magda Kaiser, die Staatsschauspielerin, die bei Todesstrafe nicht Großmutter genannt werden wollte und erst recht nicht Oma. »Welch Verhöhnung einer Dame!«

Isabella lief durch Berlin und versuchte, an Naturjoghurt zu denken. Sie musste sich in eine gesundheitsbewusste Mutter verwandeln. »Für meine Familie nur das Beste!« Sie stellte sich einen gedeckten Frühstückstisch vor, an dem ein zeitungslesender Mann und drei ordentlich gekämmte Halbwüchsige saßen, denen sie lächelnd die Schälchen mit dem Joghurt reichte. Sie prüfte ihr liebevolles Muttergesicht in einem Schaufenster. Obwohl sie mit ihren fast fünfzig Jahren jünger wirkte und ihre Agentur bei dem Geburtsdatum geschummelt hatte, würde sich Isabella nicht mehr lange im Mutter-Fach halten können. »Großmütter sind das Ende der Karriere« lautete einer von Frau Magdas Grundsätzen.

Die Studioadresse lag nicht weit vom Alexanderplatz entfernt. Es war ein Haus mit großer Toreinfahrt. Ein Treppenaufgang links, ein Treppenaufgang rechts. Durch die geöffnete Hoftür sah Isabella das Hinterhaus. Früher hatten ihr diese gepflasterten Innenhöfe gefallen. Jetzt erschien ihr alles zu eng. Jeder konnte jeden vom Balkon aus beobachten. Es war eine Nähe, die Isabella erdrückt hätte.

Neben den Briefkästen hing ein mit Klebestreifen befestigtes Schild:

»Global-Movie-Production«. Der Pfeil zeigte zurück auf die Straße. Sie hatte es übersehen. »Molkerei Max Barthold« stand über dem Schaufenster. Zwischen der Scheibe und der wahrscheinlich vor Jahren heruntergelassenen Jalousie lagen tote Fliegen.

Isabella stieg die drei Stufen zur Ladentür nach oben. Vorsichtig drückte sie die Türklinke und zuckte unter der lauten Ladenglocke zusammen.

Von irgendwo rief eine Stimme: »Hi!«

Und Isabella antwortete: »Hi!«

»Stell dich schon mal hin!«, rief die Stimme. »Wo ist denn schon wieder der Assistent?«

Hinter der Ladentafel tauchte eine Frau auf. »Ich habe gesagt, du sollst dich schon mal hinstellen!«

Verängstigt stellte sich Isabella an die Wand gegenüber der Kamera.

»Mehr nach rechts! Muss man euch denn alles sagen?«

Isabella lehnte mit dem Rücken an der Wand. Der Assistent kam. Er sah aus wie die meisten Kameraassistenten: Lederhosen, kurzgeschorene Haare, Ohrring. Um das rechte Handgelenk hatte er ein Tuch gebunden.

Er guckte in den Sucher, dann auf den Monitor und stöhnte leise auf, dann stellte er das Stativ tiefer.

»Reg mich nicht auf!«, schrie die Aufnahmeleiterin. »Reg mich nicht auf!«

Und zu Isabella gewandt: »Fang schon mal an: Name, Vorname, Profil, Profil, Hände, Hände!«

»Läuft!«, sagte der Assistent.

»Hast du nicht verstanden? Name, Vorname, Profil, Profil, Hände, Hände!«

Isabella war geneigt zu sagen: »Krause, Isabella, Profil, Profil, Hände, Hände.« Aber was ergab das für einen Sinn? In solchen Momenten war es klüger zu schweigen.

»Wohl zum ersten Mal beim Casting?« Die Aufnahmeleiterin drehte demonstrativ ihren Kopf nach links »Profil«, dann nach rechts »Profil« und wendete die Hände vor der Kamera. »Ist das so schwer?«

Isabella sagte brav ihren Namen, sah nach rechts auf die Wand, an der ein Werbeplakat hing: »Leben wie im Mittelalter«, dann auf die linke Wand: »Wild-Ost – So war die DDR wirklich«, und hielt ihre Hände der Kamera entgegen. Vielleicht hätte sie vorher zur Maniküre gehen sollen?

»Was soll denn das?«, fragte der Kameramann, der unbemerkt den Raum betreten hatte. »Sind wir hier in der Sesamstraße?«

Erst jetzt sah Isabella den Einkaufswagen mit den aufgetürmten Joghurtbechern.

Früher waren die Einkaufswagen niedriger gewesen. Früher! Jetzt waren sie so hoch, dass Isabella wie eine Zwergenmutter hinter dem Wagen stand und über die Becher spähte.

»Auch ich habe mich in meinem Leben entschieden! Und für meine Familie entscheide ich gleich mit!«

»Mal was anderes«, sagte der Assistent. »Und jetzt den Wagen auf die Kamera zuschieben!«

»Stopp!« rief der Kameramann. »Akku leer!«

»Noch mal!«

Wieder und wieder schob Isabella den Wagen auf die Kamera zu. Es gab kein Entrinnen. Sie war gefangen in einem Ostberliner Molkereigeschäft. Gekettet an einen Einkaufswagen mit Joghurtbecherattrappen.

Früher war Joghurt etwas Besonderes gewesen: Erdbeergeschmack, Pfirsichgeschmack, Pflaumengeschmack. Himbeergeschmack war immer zuerst vergriffen. Doch es gab noch eine Steigerung: Trinkjoghurt aus der Dreiecktüte. Eine weißliche Flüssigkeit, die in ihrer Konsistenz an geleimte Wandfarbe erinnerte. Als es die ersten Joghurttüten im volkseigenen Handel gab, hatten die Menschen angestanden. Und obwohl Isabella Joghurt nicht mochte, hatte sie gleich vor dem Laden eine Ecke von der Papptüte abgebissen und den Joghurt bis auf den letzten Tropfen durch die aufgeweichten Ränder gesaugt. Wer Joghurt aus der Tüte trank, war unbesiegbar.

Jetzt türmten sich vor Isabella buntbedruckte Becher. Sie war sicher, dass sich die Folie ohne Anstrengung von dem Deckeln lösen lassen würde.

Es muss ein Ende haben, dachte Isabella. Wollte sie diese Bühne mit Würde verlassen, musste sie selbst die Initiative ergreifen. Es galt, sich aus eigenem Willen von diesem Casting zu verabschieden. Wenn sie sich schon blamierte, dann wenigstens mit Absicht. Isabella verzog ihr Gesicht zu einem dümmlichen Lächeln und schob den Einkaufswagen auf die Kamera zu.

»Ooch isch habbe misch in meim Läbn endschiedn! Un föhr meine Familschä endscheide isch gleisch midd.«

»Wunderbar«, schrie der Assistent mit Tränen in den Augen. »Wunderbar!«

»Du bist aus dem Ooo … oh Entschuldigung, aus den neuen Bundesländern?«, fragte die Aufnahmeleiterin.

»Sag ruhig Osten«, sagte Isabella, »wir haben immer Osten gesagt.«

»Kennst du viele Leute?«, fragte die Aufnahmeleiterin. »Ich meine im … Osten?«

»Zwangsläufig!«, sagte Isabella.

»Wir hätten da vielleicht einen Auftrag für dich. Kannst du ein Stündchen warten? Der Chef ist noch auf dem Rückflug von einer Besprechung in Zürich. Die Sekretärin sagt dir dann Bescheid!«

»Gut«, sagte Isabella und dachte, schlimmer kann es nicht werden. »Ich gehe einen Kaffee trinken!«

Als sie den Laden verließ, kam ihr die nächste Casting-Kandidatin entgegen: eine junge Blondine auf High Heels. Und Isabella hörte, wie der Assistent anerkennend pfiff.

Der einzige Triumph, den Isabella hatte, war die Gewissheit, dass so keine Mutter auszusehen hatte, zumindest nicht im deutschen Fernsehen. Die Blondine hätte für Autos, Cognac oder sich auf einem Fell räkelnd für Kaminöfen werben können, aber nicht für die gesunde Ernährung ihrer Familie. Eine Mutter war eine Beschützerin, die jederzeit ausstrahlen musste, dass sie in der Lage war, sich um ihr Kind zu kümmern. Das war auch schon in Isabellas Kindheit so gewesen.

»Das ist deine Mutter?«, hatte ein Schulkamerad entsetzt gerufen, als Isabella von ihrer Mutter von der Schule abgeholt worden war. Eine treusorgende Mutter trug keinen breitkrempigen Hut und schminkte sich nicht. Schuld an dieser »Verkleidung«, wie es die Großmutter nannte, war Isabellas Vater, der Hallodri, der wünschte, dass seine Frau eine Dame wäre. Er entstammte einer Tanzschulen-Dynastie, deren verblichener Werbespruch auch noch in Isabellas Kindheit auf einem Schild an der Fassade zu lesen war: »Tanzschule Kaiser – Bei uns lernen Könige tanzen!«

In der DDR hatte sich diese Zielgruppe etwas verschoben. Statt auf Königen lag der Fokus vor allem auf pubertierenden Jugendlichen, die größtenteils nicht freiwillig kamen, sondern von ihren Eltern gezwungen wurden, einen Kurs zu belegen.

Besitzer der Tanzschule war Theodor Kaiser, der schöne Theo, eine stattliche Erscheinung, der allerdings in Gegenwart seiner Frau fast hager wirkte. Er nannte die füllige Frau Magda »meine Elfe«, was bei Isabella Zweifel an den Bildern in ihrem Märchenbuch aufkommen ließ, auf denen Elfen und Feen schwebende Wesen waren. Im Gegensatz zur schwermütig wirkenden Frau Magda war der schöne Theo immer heiter und wollte, dass alle Menschen um ihn herum Spaß hatten. Sein Sohn, der Hallodri, hatte dieses Wesen geerbt, und so wurde im Hause Kaiser nicht nur getanzt, sondern viel gelacht, gesungen und selbstverständlich auch getrunken. Vielleicht war es die Unbeschwertheit, die Isabella dazu verleitet hatte, sich nach einem Beruf zu sehnen, für den sie wahrscheinlich nicht bestimmt war. Und auch Frau Magda hatte zu der Fehlentscheidung beigetragen, indem sie nie einen Zweifel über die Vererbung ihrer »Theater-Gene« aufkommen ließ.

Und immer häufiger stellte sich Isabella die Frage, ob sie als Schuhverkäuferin nicht glücklicher geworden wäre? Aber wer träumte mit sechzehn Jahren schon davon, Schuhverkäuferin zu werden?

Mittenhinein in diesen Grundsatzgedanken klingelte ihr Telefon. »Der Chief wäre jetzt da«, sagte die Sekretärin, Isabella solle sich beeilen! Sie hatte tatsächlich Chief gesagt, und Isabella überlegte, ob sie, statt ihm die Hand zu reichen, salutieren sollte.

Der Einkaufswagen mit den Joghurtbechern stand noch immer neben der Ladentafel. Isabella wartete, bis die Sekretärin kam und sie in den Versammlungsraum begleitete. »Isabella Krause«, sagte Isabella Krause und nickte drei Männern zu, die bereits am Tisch saßen und sich unterhielten. Sie blickten kurz auf und redeten dann weiter. Die Firma war größer, als es der Eingang des Molkereiladens vermuten ließ. Nüchterne Backsteinwände, sichtbar verlegte Stromleitungen. Alles war auf das Nötigste reduziert und hatte den aufpolierten Charme einer alten Fabrik.

Der Chef oder besser der Chief betrat den Raum, begrüßte die drei Männer freundschaftlich und rief dann: »Sie sind sicher Frau Krause?«, und als Isabella nickte, »hat Ihnen denn niemand Bescheid gegeben, dass Sie später kommen sollen?«. Er gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Wir möchten zuerst einige wichtige Dinge besprechen, dazu benötigen wir Sie noch nicht.«

»Vor allem die Honorare«, rief einer der drei Männer.

»Ich kann mich hier einfach still hinsetzen«, sagte Isabella. Sie bemerkte, wie der Mann zusammenzuckte und dem Chief ein Zeichen gab.

»Besser ist, Sie setzen sich so lange in die Küche«, sagte der Chief, »dort steht auch eine Kaffeemaschine, Sie können sich einen Kaffee nehmen, und wir rufen Sie dann.«

Da saß sie nun mit einer Tasse lauwarmem Kaffee. Es hätte nur noch gefehlt, er hätte gesagt, Sie können sich eine Tasse Bohnenkaffee nehmen. Isabella kam sich vor wie ein Kind, das zwar adoptiert worden war, aber trotzdem auf Abstand gehalten wurde. Zuerst kam die Bescherung der eigenen Kinder, erst dann folgten die anderen.

Isabella stand am Küchenfenster und blickte nach draußen, auf eine ungepflegte Grünfläche. War hier schon Sperrgebiet gewesen?

Bei ihrem ersten Berlin-Besuch hatte Isabella mit ihrer Schulklasse auch das Brandenburger Tor besucht. Weit vor dem Tor gab es einen halbhohen Metallzaun, dahinter, in sichtbarer Entfernung, standen Soldaten mit Maschinenpistolen. Sie schützten eine Betonfläche, die links und rechts von Rasen und Blumenkübeln gesäumt war. Isabella und ihre Schulfreundinnen hatten ihnen zugewinkt und Grimassen gezogen, aber die Gesichter der Soldaten waren wie versteinert geblieben. Nicht einmal ein Zwinkern war zu erkennen gewesen.

Niemand wunderte sich, dass die Soldaten nicht in Richtung des Brandenburger Tores guckten, durch das der Feind kommen und angreifen würde.

Was war das für eine Grenze gewesen, an der die Soldaten das Gesicht dem eigenen Volk zuwandten und dem Feind den Rücken?

Es dauerte fast eine Stunde, bis Isabella wieder ins Zimmer gerufen wurde. Jetzt waren zehn Personen um den Tisch versammelt, die ihr alle erwartungsvoll entgegensahen.

»Ja, Frau Krause, schön, dass Sie da sind!«, sagte der Chief lauter als nötig und machte eine Geste, als erwartete er von Isabella, dass sie sich verbeugte.

Isabella fühlte, wie sie sich verkrampfte.

»Aber setzen Sie sich doch. Wollen Sie einen Kaffee?«

»Ich hatte schon zwei«, sagte Isabella.

Der Chief wirkte wie aufgezogen. Er wippte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und vermittelte den Eindruck, als hinge er an einem Gummiband und würde in wenigen Minuten nach oben gezogen, um zurück nach Zürich zu fliegen.

»Darf ich Ihnen Ihre Kollegen vorstellen: Herrn Fuchs aus Köln, er ist der Autor und, wie der Name sagt, ein Fuchs.« Der Chief lachte meckernd über seinen Witz, während der Fuchs eine abwiegelnde Geste machte, die weder auf Zustimmung noch auf Ablehnung schließen ließ. Der Fuchs hatte passend zu seinem Namen rote Haare. Der Chief setzte fort: »Das ist Frau Glaubitz, die auch für das Casting zuständig ist. Herr Becker, Herr Krake …« Die Namen von Kameramännern, Tonassistenten, Cuttern, Praktikanten zogen an Isabella vorüber. Sie nickte immer nur kurz, als müsse sie die Personalien bestätigen.

»Und was sind Sie von Beruf?«, fragte der Fuchs.

»Schauspielerin«, sagte Isabella.

Der Fuchs verzog seinen Mund zu einem milden Lächeln. Und betrachtete Isabella, so wie man ein Kind ansah, das gerade bei einer Lüge ertappt wurde, die aber so offensichtlich schien, dass es nicht der Mühe wert war, sie aufzudecken.

»Machen wir es kurz«, sagte der Chief, »wir bereiten da gerade eine Serie vor, sechs Folgen, Primetime.« Er zeigte auf das Plakat, das Isabella schon kannte: »Wild-Ost«. »Ein bedeutendes Projekt in unserer Fernsehserienwelt«, sagte der Chief. »Und wir geben Ihnen die Möglichkeit, daran mitzuwirken.«

Isabella schwieg.

»Ich sehe, Sie sind beeindruckt«, sagte der Chief. »Drehbeginn wird bereits nächste Woche sein. Es eilt also. Menschen, die uns erzählen werden, wie es wirklich war. Das ganz normale Leben in den Familien und den Betrieben, die kämpferischen Frauen, die den Alltag organsiert haben. Und die politischen Aspekte nicht vergessen: die Mangelwirtschaft und die Bevormundung durch den Staat. Sie wissen schon.«

»Ja«, sagte Isabella gedehnt.

»Ich sehe, wir verstehen uns!« Der Chief nahm eine Mappe in die Hand. »Das Konzept ist klar. Die Inhalte stehen fest. Meine Sekretärin wird Ihnen die Schwerpunkte kopieren. Das Enzige, was uns jetzt noch fehlt, sind die Menschen. Das wäre dann Ihre Aufgabe. Sie sind doch geboren im O… oh …?«

»Osten«, sagte Isabella.

»Na, sehen Sie, dann dürfte es doch für Sie kein Problem sein. Sagen wir fünf bis zehn Protagonisten bis Ende des Monats?«

»Tot oder lebendig?«, fragte Isabella.

Der Chief lachte verstört.

»Ach so«, sagte er, »was haben Sie sich denn so vorgestellt, ich meine als Honorar?«

Isabella zuckte mit den Schultern.

»Sagen wir 500?«

»Pro Kopf?«

»Allerdings nur, wenn sie wirklich genommen werden«, rief der Fuchs. »Und maximal 3000«, sagte der Chief.

»Kennen Sie Tele-Lotto?«, fragte Isabella.

Der Chief schüttelte den Kopf.

»Das war ein Durchläufer, Herr Rohr!«

Isabella genoss die Irritation.

»Nehmen Sie nun den Auftrag an?«, fragte der Chief.

Und Isabella dachte an die 3000 Euro und an die offene Rechnung im Pflegeheim ihrer Mutter und nickte.

Während sie zurück zum Bahnhof lief, war sie sich nicht mehr sicher, ob dieser Tag wirklich ein Glückstag war.

Wie Frau Krause die DDR erfand

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