Читать книгу Mücken im Niemandsland - Kathrin Degen - Страница 6

Оглавление

VORWORT

Warum seid ihr geflohen, so kurz vor der Wende? War das Ende denn nicht absehbar? Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, wenn ich davon erzähle, dass meine Eltern und ich im August 1989 über Ungarn nach Österreich geflohen sind, um die DDR zu verlassen. Für immer. 30 Jahre ist es her, dass wir diesen Weg gegangen sind, dass meine Eltern diesen Weg für mich gewählt haben, denn ich war damals erst 13 Jahre alt. Diese Entscheidung hätte ich nie treffen können. Ich war ein Kind, ein Teenager, mit Flausen im Kopf, und doch habe ich diese Entscheidung mitgetragen. Mehr als mir damals bewusst war. Unzählige Male habe ich Freunden, Bekannten, Kollegen meine Geschichte erzählt, wie das so war mit dieser Flucht, die bei meinem Gegenüber oft ungläubiges Staunen auslöst, meist Respekt und immer Neugier. Im Nachhinein weiß ich, es war nur eine Flucht von vielen tausenden, die andere zeitgleich gewagt haben. Es machte mir nie etwas aus, darüber zu sprechen, Details zu beschreiben, den Krimi meines Lebens zu erzählen, wie er war, ungeschönt, echt.

Doch bei einem dieser Gespräche wurde mir eine Frage gestellt, die zuvor niemand stellte: »Warst Du nochmal da?« fragte mich eine Schülerin, die ein Referat über den Mauerfall vor 30

Jahren halten wollte. Genau genommen über mich, mich als Zeitzeugin sozusagen. »Warst Du nochmal da?« hallte es in meinem Kopf wider. Nein. Nie wieder. An dem Punkt, der mein Leben und das meiner Eltern vor 30 Jahren so einschneidend und für immer änderte, waren wir nie wieder. Dabei habe ich vieles so klar vor Augen – soweit ich damals bei Nacht etwas sehen konnte. Ich könnte Details zeichnen, so präsent kommen sie mir vor, sobald ich davon erzähle. Sequenzen werden dann vor meinem geistigen Auge zum Leben erweckt, so als hätten sich manche Bilder wie ein Dia auf meiner Netzhaut eingebrannt. So, wie wenn man früher den Fernseher zu lange anließ und nach dem Ausschalten das letzte Bild noch lange auf der Mattscheibe zu sehen war, bevor es schwächer und schwächer wurde und schließlich ganz verblich.

Nein, ich war nie wieder dort. Die Neugier danach war unterbewusst schon lange da. Nur hatte ich sie ignoriert. Ich hatte sie überhört, meine innere Stimme, die fragte: Wie sieht es wohl bei Tag aus? Wo ist die Stelle, an der wir uns auf den Weg machten? Auf den Weg ins Ungewisse? Auf den Weg in ein neues, in ein freies Leben - unser zweites Leben.

Jetzt konnte ich die Stimme nicht mehr überhören. Die Idee pochte von innen an meine Schläfen. Wie eine Lawine überrollte mich der Wunsch, diesen ungewöhnlichen Zeitsprung zu wagen. Einen Zeitsprung ins Jahr 1989. Ich wollte unseren Fluchtweg noch einmal begehen. Die Idee kam auch in meiner Redaktion gut an. So bekam ich den Auftrag, daraus eine Reportage zu drehen. Ich zögerte kurz und dann ließ ich mich ein auf ein ungewöhnliches Experiment, auf mein kleines Abenteuer, von dem ich nicht ahnte, was es mit mir machen würde.

Mücken im Niemandsland

Подняться наверх