Читать книгу Håkon, ich und das tiefgefrorene Rentier (P.S. Fröhliche Weihnachten) - Katie Volckx - Страница 5
Drei
Оглавление»Seit dem Abendessen hat er sich nicht mehr bei mir gemeldet«, beklagte ich mich tags darauf via Handy bei Mailin im Flüsterton. Sie war meine Herzensfreundin und die Einzige, vor der ich keine Geheimnisse hatte. »Und als wäre das nicht schon traurig genug, verspätet er sich heute auch noch ganz zufällig.« Genauer gesagt war er drei Stunden über die Zeit. Das war ihm noch nie passiert.
»Du bewertest das über. Warum nimmst du das so persönlich? Ich meine, er ist viel zu verantwortungsbewusst und würde das Berufliche niemals unter seine privaten Angelegenheiten stellen, ganz egal, ob er sich davor scheut, dir über den Weg zu laufen. Und auch dafür gibt es ja keinen Grund. Erinnerst du dich denn etwa nicht mehr? Alles verlief reibungslos bei eurem Abendessen.«
»Natürlich erinnere ich mich noch daran.«
»Na bitte!«
Ich warf einen kurzen prüfenden Blick auf meine Armbanduhr, um das Ende meiner zehnminütigen Pause nicht zu verschlafen. Ich hatte mich auf der Toilette verbarrikadiert, weil das der einzige Ort war, an dem man Ruhe und Privatsphäre fand. Es war nicht einmal unappetitlich, denn nicht nur im Laden, auch hier hing dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr die weihnachtliche Duftmischung aus Zimt und Zitrusfrüchten in der Luft statt der beißende Geruch von Klostein und Urin.
»Und wenn er nur höflich sein und mir nicht sagen wollte, dass er sich mit mir zu Tode gelangweilt hat?«
»Gütiger Himmel, Linnéa! Manchmal glaube ich wirklich, du machst das mit voller Absicht.«
»Was meinst du damit?«
»Dass du, kaum nähert ihr euch an, Gründe suchst, wieder zu mauern.«
»Irrtum! Ich freue mich über jeden Schritt nach vorn.«
»Dann gewöhn es dir ab, ihm Dinge zu unterstellen. Du weißt ganz genau, dass er perfekt ist. Aus diesem Grund hast du auch Feuer gefangen.«
Exakt, er war perfekt. Aber niemand war perfekt. Und erst recht kein Mann. Ausgenommen wenn er homosexuell war. Oder mein Vater. Doch egal wie oft ich es drehte und wendete, ich konnte einfach nichts Übles an Håkon finden. Er war alles, was sich eine Frau nur wünschen konnte.
Neben in sich ruhend, humorvoll, pünktlich und charmant, war er auch kommunikativ, intelligent, galant, verständnisvoll, spontan und lebensfroh. Obendrein hatte er ein unverkennbares Erscheinungsbild. Es war weniger adonisch als vielmehr apart. Seine hellgrauen Augen zogen mich wie eine Spirale in sich hinein und umklammerten mich fest, sodass es kein Entkommen gab. Darum vermied ich es, ihm allzu oft direkt hineinzublicken. Zwar fielen sie leicht ab, doch es lag so viel Wärme in seinem Blick, dass es mich an manchen Tagen richtig schmerzte, weil ich ihn nicht Mein nennen durfte. Und sein Lächeln war einzigartig. Genau genommen glich es eher einem Schmunzeln. In vielen Fällen wirkte er verlegen dabei. Für ihn war das Fluch und Segen zugleich. So konnte er Frauen, die ihm gefielen, leicht um den Finger wickeln, doch Frauen die ihm nicht gefielen, missinterpretierten den Gesichtszug am laufenden Band. So wie ich!
Wenigstens war ich trotz blonder Haarpracht kein kleines Dummchen und mir dessen bewusst. Also litt in mich hinein, statt ihm schamlos auf den Pelz zu rücken. Nun, über ein bisschen Würde verfügte ich schon noch!
»Ich sollte aufhören, mir Hoffnungen zu machen. Er erwidert meine Gefühle nicht. Und wenn er es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tut, wird er es niemals tun.«
»Mach dir doch nichts vor, Süße. Solange du Gefühle für ihn hast, wirst du die Hoffnung nicht aufgeben können. Das ist quasi miteinander verknüpft.«
»Dann sollte ich schleunigst dafür sorgen, dass sich das ändert. Wollen wir uns am Samstag amüsieren und Jungs aufreißen gehen? Für mich, meine ich?« Denn Mailin war ja längst in festen Händen. Nicht nur das, auch Mutter einer zuckersüßen Tochter.
Mailin räusperte sich. »Bist du dir sicher?«
»Ja, das bin ich! Ich werde nicht jünger und möchte noch in diesem Leben heiraten und Sex und Kinder haben.«
»Ganz ehrlich, Linnéa«, sie seufzte schwer, »würdest du bloß auf deine Prinzipien pfeifen, dann würdest auch du an Sex Gefallen finden.« Sie lachte hell auf.
Woher meine Prinzipien zu diesem Thema kamen, hatte ich bis heute nicht herausfinden können. Ich war nicht besonders religiös und war Sex nicht im Geringsten abgeneigt. Für mich war Sex schlicht und ergreifend ein derart intimes Ereignis, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, ihn mit jeder dahergelaufenen Niete zu praktizieren. Meinen Körper musste ein Mann sich noch verdienen. Wie sonst sollte er ihn zu schätzen wissen, statt ihn nur abzufertigen wie billiges, wesenloses Fleisch? Hinter meinen Prinzipien steckten offenbar bloße Wertvorstellungen, die rein gar nichts mit Ethik, sondern allein mit Selbstwertgefühl zu tun hatten.
Ich vernahm, dass plötzlich jemand die Tür zur Toilette öffnete. Daraufhin machte sich meine Chefin barsch bemerkbar. »Fräulein Lysefjord?«
Ich erschrak heftig und bekam einen roten Kopf, fühlte mich wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Nun war ich mehr als glücklich, dass ich mich zuvor in eine der Kabinen eingeschlossen hatte und sie mich so nicht zu Gesicht bekam. Ich machte auch keine Anstalten, zu ihr herauszukommen.
»Ja?«, rief ich zögerlich.
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das Telefonat beenden und sich zu mir herausbequemen würden.«
»Ich muss Schluss machen«, raunte ich ins Mikrofon und drückte Mailin eilig fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich wusste, dass es sie nicht verärgern würde, denn ein jähes Gesprächsende wie dieses war sie längst gewohnt. Noch ehe ich die Kabinentür ganz geöffnet hatte, stellte ich klar: »Ich habe noch zwei Minuten, Frau Hæreid.«
»Herr Ertsås kann sich seine Pausen auch nicht aussuchen. Nun gehen Sie schon und helfen ihm freundlicherweise dabei, die Wacholderbäumchen hereinzutragen.«
Håkon war da? Warum hatte sie das nicht gleich gesagt? Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen. »Das ist durchaus ein schlagendes Argument, Frau Hæreid.«
Trotz Eile vergaß ich dieses Mal nicht, mir meinen Mantel überzuziehen und den Schal umzubinden. Auf die Handschuhe, die mich beim Schleppen ohnehin nur behindern würden, und die Mütze verzichtete ich. Als ich den Kleintransporter erreichte, war weit und breit keine Spur von Håkon zu sehen. Ich ging einmal ganz um das Fahrzeug herum, stellte mich auf die Zehenspitzen und reckte meinen Hals, um durch das Beifahrerfenster einen Blick in die Fahrerkabine zu werfen. Doch auch dort hielt er sich nicht auf.
Gerade, als ich wieder in den Laden zurückgehen und dort nach ihm suchen wollte, um ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, dass ich die Ware heute nicht wieder allein in den Laden befördern würde und nicht seine livrierte Dienerin war, traf mich plötzlich etwas hart am Hinterkopf.
Ich schrie: »Aua!«, packte mir an die Stelle, an der es schmerzte, und wandte mich um.
Es war Håkon. Er lugte hinter einem dicken Baum hervor und lachte sich ins Fäustchen. Dann bückte er sich, nahm Schnee auf, formte ihn zu einem Ball und schmetterte ihn ein weiteres Mal in meine Richtung. Doch dieses Mal verfehlte er mich um Haaresbreite und der Schneeball flog über meine linke Schulter hinweg.
»Håkon!«, ermahnte ich ihn gackernd und ließ es mir nicht nehmen, es ihm heimzuzahlen. Auch ich nahm eine reichliche Menge Schnee auf, formte eine einigermaßen runde Kugel daraus und warf sie nach ihm. Mir war bewusst, dass meine Chance, ihn zu treffen, gleich null war, solange er sich hinter diesem Baum aufhielt. Darum stakste ich so schnell es mir eben möglich war durch den hohen Schnee auf einer großen Rasenfläche zu ihm. Währenddessen formte ich bereits den zweiten Schneeball. »Du Angsthase, komm hervor und stell dich mir verdammt nochmal wie ein Mann!«
Er ließ sich nicht lange bitten, stürzte hinter dem Baum hervor und eröffnete das Feuer. Dieser Mistkerl! Er hatte die Zeit, die ich gebraucht hatte, um mich ihm zu nähern, genutzt, um zahlreiche Schneebälle vorzuformen. Nicht ein einziger verfehlte mich. Doch wenn er geglaubt hatte, er könnte mich mit dieser Aktion einschüchtern, hatte er sich mächtig getäuscht. Mit den Armen schirmte ich mein Gesicht grob vor den harten Bällen ab, während ich ihm die letzten Meter entgegenlief. Mein Entschluss, ihn mit meinem Schneeball zu liquidieren, war viel zu groß, um nun die Waffen zu strecken.
Als ich ihn beinahe erreicht hatte, lief er die letzten Meter mit erhobenen Händen auf mich zu. »Ich ergebe mich«, wollte er mir ernsthaft weismachen.
»Der Schneeball in deiner Rechten spricht eindeutig dagegen«, ließ ich mich nicht irreführen. »Lass ihn fallen!«
Er zögerte.
»Ich sagte, lass ihn fallen!« Ich hob meine Hand, in welcher ich meinen Schneeball hielt, und kündigte seinen Niedergang an.
Noch immer trennte er sich nicht von seinem geliebten Ball und brach stattdessen in Gelächter aus. Das ließ ich mir nicht bieten und feuerte meinen Ball auf ihn ab, der ihn mitten auf der Brust traf. Sein Lachen erlosch abrupt und er setzte ein schockiertes Gesicht auf. Seinen Schneeball ließ er locker aus der Hand fallen, fasste sich theatralisch an die angeblich verwundete Stelle und begann, wie ein von einer Kugel Getroffener vor und zurück und wieder vor zu taumeln. Es dauerte lang, bis er schlussendlich vor mir auf seine Knie, dann rücklings in die hohe weiße Masse stürzte und sich tot stellte. Doch statt in Tränen auszubrechen, hüpfte und tanzte ich vor Freude über meinen Sieg wie Rumpelstilzchen um sein Feuer.
Aber meine Freude währte nicht lang, denn Håkon war kein guter Verlierer, schoss mit dem Oberkörper hoch, riss mich an meinem Arm zu sich auf den Boden und seifte mein Gesicht mit einer Handvoll Schnee ein.
Ich rief: »Hör auf!« und bog mich vor Lachen. Ich schlug gegen seine Arme und Schultern. »Stooopp!«
Endlich ließ er von mir ab und rollte sich wieder auf den Rücken zurück. Erschöpft, aber glückstrahlend lagen wir nebeneinander. Wir rührten uns so lange nicht von der Stelle, bis wir wieder zu Atem gekommen waren.
Mit schwerfälligen Bewegungen richtete er sich wieder auf und stellte sich auf die Füße. Dann streckte er mir seine helfende Hand entgegen: »Komm, bevor du dir einen Schnupfen holst.«
Dankend nahm ich seine Hand in Empfang. Mit spielerischer Leichtigkeit brachte er mich in die aufrechte Position. Durch ihn fühlte ich mich leicht wie ein Schmetterling, obwohl ich wegen diverser Naschorgien, die in der Weihnachtszeit sogar monströse Ausmaße annahmen, stolze sechs Pfund zugenommen hatte.
Ich war mir sicher, dass Frau Hæreid uns beobachtet hatte, doch ich wusste auch, dass sie vor Håkon niemals außer sich geraten und mich anherrschen würde.
Auf dem Weg zum Transporter wagte ich die Frage, die mir unter den Nägeln brannte, zu stellen: »Warum bist du heute so spät dran?« Da er nun hier war, wurde offenbar, dass es nichts mit mir zu tun hatte. Dennoch wollte ich den letzten noch so kleinen Zweifel ausräumen.
Er winkte ab. »Auf den Straßen ist die Hölle los. Als wäre das Schneechaos nicht genug, musste es auch noch eine Massenkarambolage auf der E39 geben. Es hat Stunden gedauert, bis die Fahrzeuge, die glücklicherweise nicht davon betroffen waren, dort endlich herauskamen. Durch die Verspätung bin ich heute noch nicht ein einziges Mal zu Atem gekommen.«
»Das ist ja schrecklich!«
Håkon öffnete die Flügeltüren des Kleintransporters. Sofort schlug uns der Duft von frischem Wacholder entgegen. Ich inhalierte diesen und schloss einen Moment lang schwelgerisch die Augen, während Håkon in den Wagen hineinkletterte.
»Das ist es«, pflichtete er mir bei und löste die ein oder andere Fixierung. »Aber weißt du, was noch schrecklicher ist?«
»Was ist denn noch schrecklicher als eine Massenkarambolage mit zig Toten?«
»Nun, na ja«, er räusperte sich ausgiebig, was ganz unmissverständlich auf Gewissensbisse hindeutete, »dass wir unseren innigst geliebten Kaffee heute abermals ausfallen lassen müssen.«
»Oh!«, machte ich. Es versetzte mir einen heftigen Stich ins Herz. Doch er hatte mich noch lange nicht so weit, dass ich mich vergessen würde. Auch heute würde ich ihm keine Szene machen. Dafür hatte er mir eine lustige Schneeballschlacht geschenkt. Womöglich war ihm gar nicht aufgefallen, dass er mir trotz Zeitknappheit bereits einige wertvolle Minuten gewidmet hatte. War mir doch schnuppe, wie wir die Zeit miteinander verbrachten, am Ende zählte nur, dass wir sie miteinander verbrachten. »Wird das zur Gewohnheit?« Ich versuchte, kess zu wirken und streckte ihm die Zunge heraus.
»Im Augenblick ist es wie verhext. Dabei genieße ich diesen Teil des Tages immer am meisten.«
»Du bist so ein Süßholzraspler!«
»Nur, dass ich es wirklich ernst meine. Wenn es um unsere heilige Kaffeezeit geht, verstehe ich keinen Spaß.«
»Wirklich mitgenommen siehst du aber nicht aus!«
»Das ist Tarnung. In meinem Job muss man seriös wirken.«
»Ach ja? Seit wann das denn?« Ich kicherte.
»Du Biest, du!«
»Du redest hoffentlich nicht mit mir?«
»Nein, nein, nur mit dem kleinen Teufel auf deiner rechten Schulter, Zuckerpuppe.«
»Na gut, dann kommst du noch mal glücklich davon«, näselte ich überheblich und mit einem Auge zwinkernd.
»Hey, flirtest du mit mir?«
Ich lachte exaltiert, um meine Verlegenheit zu verbergen. »Wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was.«
»Das ist aber jammerschade, denn ich wollte dich gerade nach deiner Handynummer fragen.«
Mir blieb der Atem stehen. Mir war, als säße ich in einer Achterbahn, die am höchsten Punkt des Lifthills angekommen war und kurz davor war, die Abfahrt hinunterzustürzen. »Ähm … ja … klar … wenn du sie … ähm … haben willst«, stotterte ich.
»Na, und ob! Würde ich dich dann danach fragen? Nur dich scheint das etwas – nun ja – nervös zu machen?«
»Es kommt nur so überraschend.«
»Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Erinnerst du dich noch an Montag, als wir uns am Abend im Café verabredet haben? Wir hatten vergessen, vorab eine Uhrzeit zu vereinbaren. Ich musste dich dann im Laden anrufen, konnte jedoch nicht mehr sicher sein, dass du noch dort bist. Ich habe mir wirklich Vorwürfe gemacht. Was, wenn du enttäuscht nach Hause gefahren und sauer auf mich gewesen wärst? Und da fiel mir auf, wie umständlich das alles ist und dass uns das nicht passiert wäre, wenn wir längst unsere Telefonnummern ausgetauscht hätten.«
»Stimmt, nach drei Monaten Freundschaft hätten wir das längst tun können.« Da wir nur in der Dienstzeit miteinander in Verbindung standen, hatte ich angenommen, dass ihm das Ladentelefon als Kommunikationsmittel genügen würde.
»Prima, dann lass uns endlich die Bäumchen in den Laden bringen, die Nummern austauschen und heute Abend ein wenig texten, einverstanden?«
Die Worte klangen wie Musik in meinen Ohren, denn nun waren wir schon einen zweiten Schritt weiter. Und der fühlte sich sogar noch schöner an als der erste. Wie konnte ich meine Freude da noch in Schach halten? Sollte das so weitergehen, würde ich bald explodieren.
Den restlichen Tag hatte ich auf den Abend hingefiebert, hatte mich auf nichts weiter als auf diesen einen Augenblick vorbereitet. Nun flegelte ich in meinem Bett, tief eingekuschelt in die Bettdecke, und lauschte weihnachtlichen Klängen, die das Radio spielte. Sogar einen Teller gefüllt mit allerlei Kleingebäck hatte ich neben mir auf die Matratze gestellt, an dem ich mich blind mit der einen Hand bediente, während die andere das Handy, von dem ich meinen Blick nicht einen Augenblick wenden konnte, fest umklammerte. Ich betete inständig, dass die Initiative von ihm ausginge. Zum einen, um sein Interesse an mir unter Beweis zu stellen, zum anderen, weil mir keine einführenden Worte einfallen wollten. Die Sorge davor, dass ich mich bis auf die Knochen blamieren würde, war zu groß, um es einfach zu riskieren.
Und dann ließ er endlich von sich hören. Einfach und gelassen. Darauf hätte ich nun auch kommen können!
- Was machst du gerade, Zuckerpuppe?
Meine Hand, in der ich das Handy hielt, zitterte vor Nervosität. Liebend gern hätte ich sofort darauf geantwortet, doch ein wenig Zeit gab ich mir dann doch, schließlich wollte ich nicht verzweifelt rüberkommen.
- Nicht das, was Männer gemeinhin annehmen, was Frauen um diese Uhrzeit tun.
- Du meinst, schlafen?
- Hahahaha. Genau das!
- Stattdessen tust du nun was?
- Wachliegen und mit dir schreiben, Håkon!
- Warum kannst du nicht schlafen?
- Woher willst du wissen, dass ich nicht schlafen kann?
- Du liegst wach! Das schließe ich daraus.
- Ich bin eigentlich wahnsinnig müde. Aber ich habe viel zu viel im Kopf, das ich sortieren muss.
- Das klingt, als wärst du voll im Weihnachtsstress?
- Du denn nicht?
- Nein, überhaupt nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass mich nicht besonders viel erwartet, abgesehen von einer mit Äpfeln gefüllten Weihnachtsgans an Heiligabend bei meiner Mutter und dem Rest der Familie.
- Du bist ja ein Pascha!
- Nein, wohl eher ein Glückspilz. Und du platzt vor Neid.
- Erwischt!
- Aber das musst du nicht – also vor Neid platzen.
- Nicht? Wieso?
- Weil ich zum ersten Mal ohne Begleitung da sein werde. Jeder wird mit den Ehepartnern und Kindern dort aufkreuzen, nur ich, der arme Wicht, mit niemandem.
- Ich würde mich dem armen Wicht ja gern zur Verfügung stellen, damit er sich nicht so ausgeliefert fühlt, aber leider (oder nicht leider, denn ich liebe es in der Tat) wird auch meine gesamte Familie zusammenkommen.
- Du bist die Einzige, die ihre Familie mag.
- Haha. Schande über die, die es nicht tun!
- Ich mag meine Familie auch!!!!!!!!!!
- Das sagst du doch jetzt nur, weil du sonst in die Hölle kommst.
- Also gut, ich mag fünfundneunzig Prozent meiner Familie.
- Sind denn die anderen fünf Prozent deiner Familie, die du nicht magst, verurteilte Mörder?
- Äh, nein!
- Betrüger?
- Nein!!
- Lügner?
- Neiiin!!! Nichts von all dem.
- Was gibt es dann für einen Grund, sie nicht zu mögen?
- Sie nerven einfach!
- Du machst Witze?
- Ach, komm schon, Linnéa, als würdest du alle Menschen mögen, solange sie nur nichts verbrochen haben.
- Die Rede war nicht von allen Menschen, sondern von der Familie. Lies zurück!
- Könnte sein.
- Könnte?
- Hm. Linnéa?
- Hier.
- Ich hätte da ein Anliegen.
- Und das wäre?
- Es könnte sein, dass das, um was ich dich bitten möchte, ein bisschen zu viel verlangt ist.
- Könnte?
- Hm. LOL.
- Håkon, trau dich!
- Frau Hæreid verlangt, dass ich am Sonntag eine Lieferung nach Oslo bringe.
- Warum nicht auf normalem Postweg?
- Weil sie sicherstellen will, dass die Lieferung im Ganzen, doch vor allem pünktlich bei dem Kunden ankommt.
- Und wie kann ich dir dabei behilflich sein?
- Es kommen beachtliche sieben Stunden Fahrt auf mich zu. Das heißt, wenn alles glatt läuft.
- Pro Fahrt!
- Exakt!
- Und?
- Würdest du mich begleiten?
- Öhm. In Ordnung, ich rede mit Frau Hæreid. Wenn sie mir am Montag frei gibt, erweise ich dir gern den Gefallen.
- Wirklich? Du nimmst mich aufs Korn!
- Warum sollte ich?
- Es könnte etwas stressig werden.
- Könnte?
- Ich halte mir gerade den Bauch vor Lachen.
- Das würde ich zu gern sehen.
- Hier.
- Du schickst mir ein Bild von deiner Hand, wie sie deinen Bauch hält? Jetzt halte ich mir den Bauch vor Lachen.
- Lass sehen.
- Hier.
- Linnéa, du bist zu gut für diese Welt.
- Wunschdenken. Aber danke.
- Ich kenne dich lange genug, um das beurteilen zu können.
- Lass uns zur Ruhe kommen und schlafen. Es ist 23:43 Uhr. Und morgen früh um fünf klingelt mein Wecker.
- Dein Wille geschehe!
- So etwas hört Frau nur zu gern. Hahaha.
- LOL. Ich weiß! Na dann, Gute Nacht. Träum süß. <3
- Gute Nacht. Du auch.