Читать книгу Vier Pfoten für Julia - Flockenwirbel (Tierärztin Julia Weihnachtsgeschichte) - Katja Martens - Страница 6

1. Kapitel

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Es ist also mal wieder so weit. Lucas Hartensen kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und ließ den Blick über die zahllosen Lichter in den Vorgärten und Fenstern des Stralsunder Nordens schweifen. Obwohl Lucas die Heizung seines Chevys voll aufgedreht hatte, fror er. Die Dezemberkälte in Stralsund war ein Schock nach den angenehmen sechsundzwanzig Grad bei seinem Abflug aus Dubai. Er wünschte, er könnte wieder in den Flieger steigen und zurückkehren. In den vergangenen beiden Wochen war er dort unterwegs gewesen, um Aufnahmen von mehreren Fünf-Sterne-Hotelanlagen anzufertigen. Damit konnten sich interessierte Gäste schon vor der Buchung im Internet einen aussagekräftigen Eindruck von den Häusern verschaffen.

Die weihnachtliche Beleuchtung in den Häusern des Wohnviertels raubte ihm die Fassung. Grundgütiger! Die Leute übertrieben es wirklich! Es sah so aus, als würde ein einsamer Junge namens Kevin jeden Augenblick um die Ecke biegen, um einer Truppe Einbrechern einzuheizen. Doch gegen die dekorierfreudigen Bewohner der Vorstadt wirkten die Regisseure Hollywoods wie blutige Anfänger.

Ein weißer Bungalow stach aus dem Lichtermeer besonders hervor: sein Zuhause.

Jennifer hatte einen lebensgroßen, beleuchteten Weihnachtsmann an der Hauswand angebracht, der an einem Seil zu ihrem Schlafzimmer hinaufzuklettern schien. Im verschneiten Garten waren Solarlaternen verteilt, die zusammen den Schriftzug Frohe Weihnachten bildeten. In jedem Fenster hing ein Stern, und die Dachrinne war ebenfalls mit Lichterketten geschmückt. Das Haus war vermutlich bis ins Weltall zu erkennen.

»Das war ja klar«, murmelte Lucas vor sich hin. In ihm breitete sich das Gefühl von Abscheu aus wie ein Säureteppich. Er hasste Weihnachten.

Sein persönlicher Albtraum! In der Tat hätte er sich am ersten Dezember liebend gern für vier Wochen in einen künstlichen Tiefschlaf versetzen lassen, wenn das so einfach möglich gewesen wäre.

Lucas stoppte den Wagen vor der Auffahrt. Er stieg aus und holte die Reisetasche vom Rücksitz. Schnee knirschte unter seinen Boots, als er auf das Haus zustapfte. Auch die Veranda war weihnachtlich dekoriert. Natürlich. Stechpalmenzweige schmückten die beleuchteten Geschenkpakete neben der Gartenbank. Etwas passte jedoch nicht zu dem weihnachtlichen Ambiente: Unter dem Vordach standen zwei Koffer sowie mehrere übereinandergestapelte Umzugskartons. Der Anblick ließ ihn stutzen, denn diese Koffer kannte er. Sie gehörten … ihm. Er hatte sie länger nicht benutzt, weil Trolleys moderner und praktischer waren, aber in seiner Jugendzeit war er mit diesen Koffern durch ganz England gereist. Wieso standen sie nun hier draußen auf der Terrasse?

Lucas brachte die letzten Meter bis zur Haustür hinter sich, kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel und fand ihn nicht. Er stieß einen gedämpften Fluch aus und presste kurzerhand den Daumen auf die Türklingel. Sekunden später waren Schritte zu hören, dann schwang die Tür auf und Jennifer stand vor ihm. Ihr roter Norwegerpullover und die Jeans betonten ihre schlanke Figur, die blonden Haare fielen seidig auf ihre Schultern herab und schienen ihn regelrecht einzuladen, damit zu spielen.

Jennifer und er hatten sich während des Studiums kennengelernt und sofort ineinander verliebt. Ihm war zuerst ihr Lächeln aufgefallen. Dieses Lächeln, welches selbst die dunkelste Nacht zu erhellen schien. An diesem Nachmittag jedoch presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur ein Strich in ihrem hübschen Gesicht waren. Ihre Augen wirkten kühl und abweisend.

»Da bist du also wieder«, stellte sie leise fest.

Das war nicht gerade die Begrüßung, die er nach zweiwöchiger Abwesenheit erwartet hatte. In seiner Brust bildete sich plötzlich ein Knoten. »Hey, Jen.« Er stellte sein Gepäck ab und machte einen Schritt auf seine Freundin zu, um sie zur Begrüßung zu küssen, aber sie drehte ihren Kopf weg, sodass sein Mund nur ihre Wange streifte. Er stutzte. »Ist alles okay?«

»Bei mir schon, ja.«

»Was ist denn los? Und woher kommt der ganze Kram hier? War bei Santa Ausverkauf?« Lucas lächelte verunsichert und deutete auf die Illumination. »Ich dachte, wir wollten in diesem Jahr nicht so viel dekorieren.«

»Ich habe mich anders entschieden. Nicht nur, was die Deko angeht.« Sie reckte das Kinn, als wollte sie ihn herausfordern.

Er trat einen Schritt zurück. »Was soll das, Jen?«

»Dass du das nicht weißt, ist Teil des Problems.«

»Problem? Welches Problem denn?«

»Das mit uns. Mit dir und mir.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie ihn auf Abstand halten. »Es funktioniert nicht, Lucas. Ich wollte es lange Zeit nicht wahrhaben, aber jetzt musste ich es mir eingestehen. Ich will so nicht mehr. Ich möchte, dass du ausziehst. Ich will die Trennung.« Jennifer deutete auf seine Koffer.

Lucas schaute auf sein Gepäck, dann zu seiner Freundin. »Moment mal! Die Trennung?« Er wünschte sich, er könnte etwas anderes sagen, als nur ihre Worte zu wiederholen wie ein Echo, aber sein Kopf schien mit einem Mal wie leergefegt zu sein. »Hast du etwa einen anderen?«

»Was? Nein! Natürlich nicht! Es gibt keinen anderen Mann.«

»Warum stehen wir dann hier draußen in der Kälte herum und reden von Trennung? Kannst du mir das erklären? Als ich abgeflogen bin, war doch noch alles in Ordnung!«

»Das war es eben nicht. Ich wollte mit dir darüber reden, aber du hast mir nicht zugehört. Das tust du nie.«

Alles in ihm sträubte sich gegen ihren Vorwurf, aber er zwang sich, ruhig zu bleiben. Es würde nichts nutzen, ihr vorzuhalten, dass er ihr durchaus zuhörte. Jetzt zum Beispiel. Er war müde nach dem langen Flug und sehnte sich nach einer Dusche – und bestimmt nicht danach, in der Kälte mit ihr zu diskutieren. Er holte tief Luft. »Also schön. Ich höre dir zu, Jen. Erklär‘ es mir. Bitte.«

Jennifer sah ihn sekundenlang schweigend an. In ihrem Blick lag so viel Distanz, dass er kaum noch atmen konnte. »Du bist drei Viertel des Jahres unterwegs«, sagte sie schließlich. »Du vergisst nicht nur meinen Geburtstag, sondern auch deinen eigenen. Wenn wir von Freunden eingeladen werden, muss ich mir immer eine Erklärung einfallen lassen, warum ich schon wieder alleine auftauche. Die Leute glauben, wir hätten uns längst getrennt.«

»Lass sie doch reden. Was kümmert es uns?«

»Mich kümmert es. Sie haben nämlich recht! Ich sehe dich seltener als den Mechaniker, der mein Auto repariert. Und ich weiß mehr über das Liebesleben der Verkäuferin aus der Bäckerei als über mein eigenes. So möchte ich nicht mehr leben, Lucas.«

»Was soll ich denn machen? Ich bin Fotograf. Ich verdiene mit diesen Reisen mein Geld. Das wusstest du doch vorher.«

»Ja, das wusste ich, aber es genügt mir nicht. Ich möchte mehr vom Leben, Lucas, und ich weiß, dass du dazu nicht bereit bist. Ich will dich zu nichts zwingen, das du nicht selbst auch willst. Es ist also nur fair, wenn wir getrennte Wege gehen, damit jeder von uns die Möglichkeit hat, seinen Lebenswunsch zu verwirklichen.«

Ihre Worte trafen ihn wie ein Tritt in die Magengrube. »Das kannst du nicht allein entscheiden.«

»Doch, Lucas. Ich musste es sogar allein entscheiden, weil du wieder einmal nicht da warst. Du hältst dich von jeder Art fester Beziehung fern.«

»So ein Unsinn. Wir wohnen zusammen, Jen. Wenn das keine feste Beziehung ist, was ist es dann?«

»Nicht viel mehr als eine Affäre, so selten, wie wir uns sehen.«

Lucas fuhr sich durch die Haare. Damit hatte er nicht gerechnet. Ihre Vorhaltungen erwischten ihn komplett unerwartet. »Woher kommt das so plötzlich?«, hakte er nach.

»Nicht plötzlich.« Mit einem Mal schien ein Schatten auf ihr Gesicht zu fallen, und sie wirkte unendlich traurig. »Das brodelt schon lange in mir, aber wenn ich versucht habe, mit dir darüber zu reden, warst du schon wieder auf dem Sprung.«

»Und da stellst du mir einfach die Koffer vor die Tür? Hätten wir das nicht in Ruhe besprechen können? Drinnen?«

»Das hätte nichts geändert, Lucas. Ich wünschte, es wäre anders, aber wir beide passen nicht zusammen. Du brauchst deine Freiheit, aber ich wünsche mir eine richtige Familie. Kinder. Ein Weihnachtsfest mit all meinen Lieben.«

Weihnachten. Da war es wieder. Das Wort, das wie Salzsäure auf sein Herz tropfte und es aufzulösen schien. Er hätte sich lieber Nägel in beide Knie gerammt und wäre damit einen Marathon gelaufen, als dieses Fest zu feiern.

»Ich habe deine Sachen schon gepackt«, erklärte Jennifer ihm und deutete auf die Kartons. Dabei schimmerten ihre Augen verräterisch. »Alles Gute, Lucas. Das wünsche ich dir wirklich.« Sie trat zurück und schlug die Haustür zu, ehe er antworten konnte. Sie sperrte ihn aus ihrem Haus aus.

Und aus ihrem Leben.

Fassungslos starrte Lucas auf das Türholz. Der Adventskranz baumelte noch eine Weile hin und her. Das war es also? Das war seine Heimkehr?

Jennifer hatte jedes recht, ihn rauszuwerfen. Und dennoch ... Er konnte es nicht fassen. Sie hatte ihn eiskalt überrumpelt. Er wollte schreien, kämpfen, seine Faust gegen die Tür rammen, aber was hätte das geändert? Die Antwort auf diese Frage war ebenso einfach wie niederschmetternd: gar nichts.

Hatte es wirklich Anzeichen gegeben? Warum war ihm nicht früher aufgefallen, dass Jen nicht glücklich mit ihm war?

Er legte eine Hand auf das Türholz. Sekundenlang ließ er sie dort liegen und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sollte er klingeln und versuchen, Jennifer umzustimmen? Er konnte das doch nicht so hinnehmen. Aber ihr Entschluss schien sorgfältig überlegt und endgültig zu sein. Jen tat nie etwas, ohne gründlich darüber nachzudenken. Das war eines der vielen Dinge, die er an ihr liebte. Ja, er liebte sie, aber das schien nicht mehr genug zu sein. Nicht einmal annähernd.

Oh, verdammt! Seine Augen begannen zu brennen. Er stieß sich von der Tür ab und konzentrierte sich auf das Nächstliegende: Er trug die Kartons und Koffer zu seinem Auto und verstaute sie darin. Den letzten Karton musste er auf dem Beifahrersitz abstellen und mit dem Gurt sichern. Bei seinem letzten Blick auf das Haus konnte er nichts als die einsamen Lichter in den Fenstern entdecken. Lucas hoffte inständig, Jennifer an einem der Fenster stehen zu sehen – weil sie doch noch etwas für ihn empfand und ihre Entscheidung vielleicht bereute. Doch niemand war zu sehen.

Er stieß einen tiefen Atemzug aus und setzte sich hinter das Lenkrad, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wo er jetzt hinsollte.

Morgen war Weihnachten – und er war gerade obdachlos geworden.

Vier Pfoten für Julia - Flockenwirbel (Tierärztin Julia Weihnachtsgeschichte)

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