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Kapitel I

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Es ist März, in ein paar Tagen werde ich 44 Jahre alt. Ich, Martina, habe wie immer viel zu tun auf der Arbeit und überlege, wie ich trotz alledem meinem Kollegen Jens einen Krankenbesuch abstatten könnte. Als ich nämlich vor reichlich einem Jahr nach einer Operation sieben Wochen krank war, stand er auch eines Tages mit einem Blumenstrauß vor meiner Tür. Wir kennen uns schon jahrelang und unterhalten uns auch schon mal über Privates. Er ist ein ruhiger Typ, ganz anders als ich, aber einer der wenigen, mit denen man sich sowohl dienstlich als auch privat einigermaßen vernünftig unterhalten kann. Die ständigen Strukturänderungen in den Verwaltungen zerren an den Nerven und stiften seit Längerem Unfrieden, sodass das Arbeitsklima sich von Jahr zu Jahr verschlechtert. Egoismus und Neid sind an die Stelle von Kollegialität und Fairness getreten.

Obwohl Jens auf mich sehr zurückhaltend wirkt, wird ihm ein Verhältnis mit einer Kollegin nachgesagt. Auf solchen Klatsch höre ich jedoch nicht, zumal ihm auch noch angedichtet wird, dass er mir hinterhersteigt, nur weil wir uns gut verstehen. Darüber kann ich nur verständnislos den Kopf schütteln.

Jens war bisher noch nie krank gewesen, doch diesmal beutelte ihn eine verschleppte Bronchitis. Mit meinem Gegenbesuch wollte ich ihm eine Freude bereiten. Ich rief ihn an, sagte, dass ich nach einem dienstlichen Ortstermin um die Mittagszeit mal vorbeikommen könnte, worauf er mir freudig den Weg zu seinem Eigenheim beschrieb. Weil ich denke, dass Männer sich über Blumen nicht so sehr freuen, nahm ich ein paar Pralinen mit. Als er die Tür öffnete, war ich etwas irritiert, er empfing mich im Jogging-Anzug, nicht zu fassen, zumal ich mich angekündigt hatte! Aber gut, letztlich ging mich das nichts an.

Wir saßen uns im Wohnzimmer gegenüber, ich berichtete ihm das Neuste aus der Dienststelle und er erzählte mir von seiner Tochter, die an diesem Tag 18 Jahre alt geworden war. Außerdem klagte er, dass es so furchtbar langweilig sei, den ganzen Tag zu Hause zu sein. Dann sprachen wir über den Lehrgang, für den wir uns beide angemeldet hatten. Es wäre das erste Mal, dass ich mit ihm zum Lehrgang fahren würde, und zwar für zwei Tage, also mit Übernachtung. Erst hatte ich ablehnen wollen, es mir aber dann anders überlegt. Warum sollte ich mir nicht auch mal einen zweitägigen Lehrgang gönnen? Und mit Jens würde es doch bestimmt Spaß machen. Vielleicht könnte man abends sogar mal ein Gläschen Wein trinken gehen?

Nun war aber der Kurs vorverlegt worden und sollte jetzt während seiner Krankheit stattfinden, anstatt im Sommer. Ich hatte bereits abgesagt und mich für den nächsten Termin neu angemeldet, da mir wegen meines Geburtstages dieses kurzfristige Datum auch nicht passte. All das erzählte ich ihm jetzt.

Er setzte sich währenddessen neben mich auf die Couch und rückte unmerklich näher und näher. Zunächst bemerkte ich es gar nicht, dann konnte ich das Verhalten nicht einordnen und begriff nicht, was das bedeutete. Auf einmal legte er zärtlich seinen Arm um meine Schulter und versuchte, mich zu küssen. Ich ließ es geschehen, war vor lauter Scham wie erstarrt. Mir war, als würde mein Herz zerspringen und ich bekam keine Luft. Was war denn DAS?!

Ich war so erschrocken, hätte niemals damit gerechnet, dass mir so etwas geschehen könnte. Noch dazu bei ihm, dem Schüchternen. Ich schnappte nach Luft und polterte los: „He, was soll das? Ich bin verheiratet! Ich habe dieses Jahr Silberhochzeit!“

Er wurde verlegen und meinte, dass er die von mir gezeigte Sympathie als Interesse an ihm verstanden habe. Wir waren schließlich beide verwirrt und fühlten uns mit der Situation überfordert. Ich wollte nur noch weg und dachte: „Ab jetzt ist alles anders, wie soll ich mich denn nun im Büro ihm gegenüber verhalten? Soll ich etwa so tun, als ob nichts gewesen wäre? Oder soll ich gekränkt sein?“ Ich war so durcheinander und so enttäuscht von ihm, ich hatte doch nur freundlich sein wollen! Mir fielen wieder die Gerüchte über ihn ein: „Was ist eigentlich zwischen Sonja und dir? Stimmt es also doch, dass du mit ihr eine Affäre hast?“ Er antwortete ganz ruhig: „Jetzt geht es um uns und Sonja ist Nebensache.“

Ich verstand das alles nicht und beendete rasch den Krankenbesuch. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr zurück in meine Dienststelle. Ich konnte nicht denken, alles schien so unwirklich. Meine Bezinanzeige ging auf Null, ich fuhr an die Tankstelle, stand vor der Tanksäule und wusste nicht, welchen Sprit ich einfüllen musste. Während der Fahrt grübelte ich unablässig darüber nach, ob ich tatsächlich zweideutig auf Männer wirke. „Ich wollte doch wirklich nur einen Krankenbesuch machen, eine freundschaftliche Geste, nicht mehr. Schickt es sich etwa nicht, einen Mann zu besuchen?“ Ich arbeite mit so vielen Männern zusammen, verstehe mich mit allen gut, sehe unser Verhältnis als kollegial an oder freundschaftlich, mit manchen ist es etwas vertrauter, mit anderen weniger. Ich bin offen, jedenfalls nicht besonders zurückhaltend, bin damit aber immer gut gefahren. Natürlich werden auch mal Komplimente ausgesprochen oder „flirtende“ Bemerkungen gemacht. Da ich oft Außendienste habe und mit vielen Menschen zusammenkomme, ist auch mal ein gemeinsames Essen dabei gewesen. Doch bin ich nie auf die Idee gekommen, dass dies von den Männern anders gesehen werden könnte als kameradschaftlich.

Als ich wieder an meinem Schreibtisch saß, hatte ich nur noch die Bilder in diesem Wohnzimmer vor mir. Plötzlich fiel mir meine Silberhochzeit ein, die ich in fünf Monaten feiern wollte und für die ich schon jetzt eine ganz tolle Überraschung, als Geschenk für meinen Mann Holger, geplant hatte. Im Februar waren wir in Ägypten gewesen, das war unsere vorgezogene Silberhochzeitsreise. Das erste Mal hatten wir ohne unsere Freunde Urlaub gemacht, nur unser 16-jähriger Sohn war mit. Es war eine völlig neue Erfahrung gewesen, mal alleine zu verreisen, da sich sonst immer Freunde fanden, die mitkamen. Leider hatte mein Mann dort einen Durchfall erlitten, der zur lebensbedrohlichen Gefahr geworden war, weil er aus Angst tagelang kaum getrunken und gegessen hatte. Einen Tag vor der Abreise starb dann auch noch seine Mutter. Sie war krebskrank gewesen, wir hatten schon lange mit ihrem Tod gerechnet. Als wir wieder zu Hause waren, musste Holger eine Woche ins Krankenhaus: akuter Flüssigkeitsmangel. Ich hatte die Gunst der Stunde genutzt und während seiner Abwesenheit eine Präsentation für die Silberhochzeit vorbereitet.

All diese Gedanken gingen mir jetzt durch den Kopf und ich wollte nicht wahrhaben, was gerade passiert war. Eigentlich war ja gar nichts passiert. Mein Gott, ein Kollege hatte versucht, mich zu küssen und wenn ich drauf eingegangen wäre, wären wir vielleicht noch in seinem Bett gelandet. So etwas gibt es doch bestimmt tagtäglich auf dieser Welt … Doch ich war dem nicht gewachsen. Einfach mal ein bisschen Spaß haben, das kann ich nicht. Wie man ohne Liebe Sex haben kann, verstehe ich nicht. Ich bin zwar nicht prüde, aber ich habe zu diesem Thema feste Prinzipien. Hier und jetzt ging es zwar um eine relativ vertraute Person, aber das änderte nichts an meinen Grundsätzen.

Trotzdem fiel mir das Denken schwer und ich konnte mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ich musste noch etwas vorbereiten für eine wichtige Beratung am nächsten Tag, aber es ging nicht. Irgendwann nahm ich mein Handy und schrieb Jens eine SMS mit den ersten Worten eines Liedes, das mir seit ein paar Stunden nicht mehr aus dem Kopf ging:

„Die Gefühle spielen verrückt … Kennst du das Lied? Was heute passiert ist, können wir nicht mehr rückgängig machen, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Am nächsten Tag brachte Jens seinen Krankenschein zur Sekretärin und schaute natürlich auch zu mir rein. Er hatte Tränen in den Augen und entschuldigte sich wortreich bei mir. Er hatte mir eine halbe Ananas mitgebracht und meinte, dass die andere Hälfte zwar die Vollendung einer glücklichen Beziehung wäre, dass es die aber leider nie geben könnte. Ich versuchte, gelassen zu wirken, aber tatsächlich konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, obwohl er mir schon öfter Ananas mitgebracht hatte.

Jens ging mir nicht mehr aus dem Kopf, er hatte irgendetwas in mir ausgelöst, dass mich verwirrte und durcheinander gebracht hatte. Ich arbeitete meine dienstlichen Termine ab wie im Traum und fühlte mich wie in einer Warteposition. Was hatte er mir mit der Ananas sagen wollen? Dass er mit mir glücklich sein wollte? Nur mal kurz? Oder eine Affäre beginnen?

Er war ja nun nicht unbedingt mein „Traumtyp“. Aber er ist groß und schlank. Dass er sich vor einiger Zeit von seinem Seitenscheitel getrennt hatte und sein Haar sich nun ein bisschen „igelte“, gereichte ihm unbedingt zum Vorteil. Von all den Männern, die ich durch meine Arbeit kannte, schnitt er schon mit am besten ab. Aber das hing auch mit Sympathie zusammen. Ich hatte mir ja früher nie Gedanken gemacht, ob er hübsch oder hässlich ist. Wenn er aus dem Urlaub kam, war er schön gebräunt. Auch das gefiel mir recht gut. – Ich überlegte und überlegte, warum ich das Erlebte nicht abschütteln konnte und dieser Mann mir einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Ich war doch schon von anderen angebaggert worden und gelassen geblieben, denn es berührte mein Innerstes nicht sonderlich! Vielleicht, weil ich Jens am wenigsten diesen plumpen Annäherungsversuch zugetraut hatte?

Nun hatte ich Geburtstag, und Jens war immer noch krank. Ich wusste, dass er mich anrufen würde, um zu gratulieren. Ich konnte diesen Anruf kaum erwarten, war aufgeregt wie ein Teenager. Wir telefonierten eine viertel Stunde. Aber es kam mir vor wie ein paar Minuten, die Zeit verflog im Nu, dabei hätte ich am liebsten gar nicht mehr auflegen wollen. Jens ging mir nun gar nicht mehr aus dem Kopf. Der Vorfall auf seiner Couch entfachte keine Enttäuschung mehr in mir, was war denn bloß los mit mir?

Um meine Geburtstagsfeier vorzubereiten, hatte ich den nächsten Tag Urlaub genommen. Jens hatte mir zugesagt, mich zu Hause anzurufen. Dieses Gespräch dauerte nun schon eine ganze Stunde und es kam mir vor wie fünf Minuten. Seit diesem unheiligen Kuss waren gerade vier Tage vergangen und ich hatte seitdem nichts mehr essen können und drei Kilogramm abgenommen. Ich spürte immer so einen Kloß im Hals. Auf der einen Seite freute ich mich zwar über den Gewichtsverlust, doch erschrak ich auch, ich hatte noch nie so schnell abgenommen.

Unsere Geburtstagsfeiern verteilten wir meist auf zwei Termine, eine Feier mit den Freunden, die laut, lustig, alkoholintensiv ist und lange dauert. Und eine mit der Verwandtschaft, die sehr viel ruhiger verläuft. Schon während der Fete im Freundeskreis spürte ich, dass ich wohl krank werden würde und war froh, als der letzte Gast das Haus verlassen hatte. Am darauffolgenden Tag war klar, was ich ausgebrütet hatte: eine Angina! Ich fühlte mich so schlapp und konnte kaum noch schlucken, deshalb ging ich freiwillig zum Notdienst. Ich wollte schnell wieder arbeiten gehen, um Jens sehen zu können. Trotzdem musste ich eine Woche zu Hause bleiben.

„Warum bekomme ich grad jetzt eine Angina, ich werde mich doch nicht bei diesem Kuss an Jens’ Bronchitis angesteckt haben?“ Ich war sehr unglücklich, dass ich krank zu Hause bleiben musste und wollte dies so schnell wie möglich Jens mitteilen, der war nun wieder gesundgeschrieben. So schrieb ich an diesem Tag das erste Mal in meinem Leben eine „heimliche“ SMS, eine, von der mein Mann nichts mitbekommen sollte. Es war aber genau der Tag nach der Zeitumstellung, deshalb funktionierte es nicht richtig, sodass ich die SMS nicht senden konnte. Da unsere Handys für alle sichtbar zu Hause rumliegen, bekam ich Angst, löschte alles wieder und musste das Mobiltelefon sogar in die Grundeinstellung zurücksetzen, damit es wieder ging. Bis ich dies raus hatte, war das Wochenende vorbei und ich hatte Jens nicht informiert.

Mein Mann kümmerte sich fürsorglich um mich und ich hatte so ein schlechtes Gewissen. Trotzdem brannte in mir der Wunsch, endlich Jens wiederzusehen und ich hatte auch schon eine Idee. Da während meiner Abwesenheit meine Arbeit liegenblieb, war es üblich, dass ich mich zwischendurch mal sehen ließ oder jemand mir wichtige Dinge nach Hause brachte. Da gerade in dieser Woche meine Krankschreibung sehr ungelegen kam, war mein Chef froh, als ich mich anbot, für ein paar Stunden reinzukommen. Aufgrund der starken Medikamente wollte er mich sogar abholen lassen. Mein erster Gedanke war, dass dies Jens tun könnte, auch wenn er nicht als Kraftfahrer angestellt war. – Es hatte sich inzwischen eingebürgert, dass wir täglich telefonierten und ich bemerkte, dass Jens sich genauso nach mir sehnte wie ich nach ihm, obwohl es keiner aussprach. Ich sagte ihm nun, dass ich mich freuen würde, wenn er mit dem Auto käme. Aber er antwortete: „Sei vernünftig, das geht nicht, man redet doch sowieso schon über uns. Das wäre Wasser auf die Mühle. Es holt dich unser Fahrer ab.“

Er hatte recht, das Gerede unserer Kollegen war wirklich schlimm. Es hatte sogar schon Aussprachen deswegen gegeben. – Und nun stimmte es auf einmal? Ein halber Kuss – und ich schmolz dahin? Auch noch mit dem Mann, mit dem man mir etwas nachsagte? Das konnte doch alles nicht wahr sein! Es war gerade eine Woche her und schon kam ich mit meinem Alltag nicht mehr klar. Ich bekam den Krankenbesuch nicht mehr aus dem Kopf.

Aber es beschäftigte mich auch eine Frage, nämlich die nach seinem Verhältnis zu Sonja. Zwar sah man sie oft miteinander reden, doch war ich immer davon ausgegangen, dass nichts dabei war und es sich um Freundschaft handelte. Zumal Jens wirklich kein „Weiberheld“ war, er machte nie anzügliche Bemerkungen, das „Du“ mussten wir Frauen ihm fast aufnötigen, zu einer Weihnachtsfeier verweigerte er sogar das Tanzen. Sollte an diesem Gerede denn wirklich etwas dran sein? Er hatte mir damals nicht geantwortet, war ausgewichen. Aber konnte er denn mir gegenüber Gefühle entwickeln und nebenbei noch eine andere haben? Dieser Gedanke quälte mich so sehr, dass ich ihn schließlich am Telefon zur Rede stellte. Er hatte gerade Mittagspause und war auf dem Weg zum Bratwurststand. Wieder wich er aus, ich ließ nicht locker, bis er anfing zu weinen. Ich hatte ihn noch nie weinend erlebt, er kam mir auf einmal so hilflos und traurig vor. Doch dann glaubte ich, im Erdboden versinken zu müssen als er sagte: „Ja, Martina, der Tratsch ist berechtigt, ich habe mit Sonja ein Verhältnis und es tut mir so leid, was ich dir jetzt angetan habe. Aber glaube mir, ich empfinde für dich genauso wie du für mich. Das mit Sonja ist etwas anderes. Ich arbeite mit ihr fast 30 Jahre zusammen, wir verstanden uns immer gut und so hat sich diese Beziehung entwickelt. Für meine Lebensgefährtin Petra empfinde ich nichts mehr, wir leben wie in einer WG. Aber ich will mich auch nicht von ihr trennen, wegen meiner Tochter und dem Haus, das weiß Sonja. Aber jetzt habe ich Gefühle für dich, die ich noch nie erlebt habe und mir geht es genauso wie dir, dass ich mit meiner Welt nicht mehr zurechtkomme. Wenn du morgen hierher kommst, lass es uns beenden, bevor es richtig begonnen hat. Ich will dir dein Leben nicht kaputt machen. Es tut mir so leid.“

Ich war geschockt, und maßlos enttäuscht, mir war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich saß vor meinem Computer und hatte eigentlich fix meine Steuererklärung fertigmachen wollen, bevor ich zum Arzt musste. Aber nun war ich völlig unfähig. Ich schmiss diesen elenden Papierkram zur Seite.

Beim Arzt saß ich wie geistesabwesend. Es ging um die Auswertung meines EKGs, da ich öfters unter Herzrasen litt. Natürlich war wieder nichts gefunden worden und wenn, wäre es mir in diesem Augenblick auch egal gewesen. Ich war so gekränkt. „Wie soll es nun weitergehen? Jetzt ist alles noch schlimmer als vor einer Woche. Dieses Schwein! Wollte nur eine Abwechslung und dachte, ich sei leicht ins Bett zu kriegen? Er tanzt auf mehreren Hochzeiten und kostet sein Männerdasein in vollen Zügen aus! Ist das wirklich der Jens, den ich so schätze?“ Vom Arzt zurück, setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr ziellos durch die Gegend. Das hatte ich noch nie alleine gemacht, obwohl wir mitten im Grünen wohnen. Ich versuchte, die Natur zu genießen. „Ich muss doch bescheuert sein, falle auf so einen Typen rein! Ich habe alles, was man sich wünschen kann: eine wunderbare Familie, einen gutaussehenden, großen, stattlichen, fleißigen, hilfsbereiten und fürsorglichen Mann.“

Holger ist etwa so groß wie Jens, keiner glaubt, dass er schon 50 wird. Früher wurden wir manchmal für Geschwister gehalten, vielleicht weil wir beide dunkelblonde Haare haben. Klar könnte er ein paar Kilo abspecken, und weil sein Bauch immer größer wird, führt dies öfters mal zu Streit. Den gibt es auch schon mal wegen der Kindererziehung oder seines Mäkelns beim Essen oder wenn er bei einer Feier oder beim Tanz zu viel trinkt. Aber wir unternehmen auch viel gemeinsam, fast zu viel, und sind im Großen und Ganzen ein harmonisches Paar. Für Zärtlichkeiten müsste man sich mehr Zeit nehmen, aber meist steht die Arbeit vornan, und dann ist man froh, endlich ins Bett fallen zu können, anstatt mal ein Glas Wein gemeinsam zu genießen. Der Große würde dieses Jahr sein Studium abschließen und nicht mehr nach Hause zurückkommen. Der Kleine besuchte die 10. Klasse, nach seinem Abi würde auch er nicht in der Heimat studieren. Der Gedanke, dass beide Kinder mal weg sein würden, machte mich zwar traurig, doch ich hoffte auch, dass ich dann weniger Stress und Verpflichtungen hätte. So war das Eheleben bisher verlaufen. Wir hatten ein schönes Haus inmitten der Natur, liebe und fleißige Söhne und kaum Geldsorgen. Wir machten wunderschöne Urlaube und ich konnte mit ruhigem Gewissen behaupten, unsere Kinder hatten eine wunderbare Kindheit gehabt. – Und nun das! Warum war ich bloß auf so einen Kerl reingefallen und setzte das alles aufs Spiel? „Wenn ich morgen auf Arbeit bin, werde ich ihm nicht in die Augen sehen können, sondern nur noch heulen. Mittags will er mit mir reden, was soll das werden?“

Der Fahrer stand pünktlich vor der Tür und während wir uns der Arbeitsstelle näherten, wurde ich von Kilometer zu Kilometer aufgeregter. Jens und ich begrüßten uns nur kurz und dann konzentrierte ich mich auf meine Arbeit und meine Kollegen. Trotzdem konnte ich kaum erwarten, dass es Mittag wurde.

Wir fuhren mit seinem Auto drei Straßen weiter und er überreichte mir nachträglich zum Geburtstag sein „Abschiedsgeschenk“: eine CD von Rosenstolz. Er weinte bitterlich, drückte mich ein letztes Mal und bat nochmals um Verzeihung für das, was er mir angetan hatte. Wir weinten beide haltlos und ich konnte ihm einfach nicht mehr böse sein, es war doch so endlos traurig. Er wollte mich zum Abschied noch einmal küssen, doch ich entzog mich ihm mit der Begründung, dass ich ihn nicht anstecken wollte. Ich hätte ihn gern geküsst, aber die Vernunft siegte.

Als ich nach Hause kam, war ich noch allein und hörte mir gleich die CD an. Ich kannte Rosenstolz nur flüchtig und achte sonst meist mehr auf die Musik. Nun konzentrierte ich mich völlig auf die Texte und verstand bei jedem Titel mehr, was Jens mir damit sagen wollte. Ich weinte und weinte. Da klingelte das Telefon. Meine beste Freundin, sie heißt auch Martina, war am Apparat.

Wir kennen uns seit dem Studium, unsere Männer verstanden sich gut und unsere Kinder wuchsen mit dieser Freundschaft auf. Aber das Schicksal beutelte sie, Martinas Mann starb ganz plötzlich an einem Aneurysma. Ich bewunderte sie für ihre Stärke und wie sie das alles ausgehalten hatte. Seit Kurzem gab es wieder einen Mann in ihrem Leben, ich freute mich, dass sie wieder glücklich war. Ausgerechnet sie erwischte mich nun zum ungünstigsten Zeitpunkt und merkte natürlich sofort, wie traurig ich war. Ich erzählte ihr, was in den letzten zehn Tagen abgelaufen war. Dass ich meine Gefühle nicht in Griff bekam und darüber nachdachte, meinem Mann alles zu offenbaren.

Martina tröstete mich. Sie wusste, dass Gefühle einen beherrschen können und fragte mich, was ich denn meinem Mann sagen wollte? Dass ich mich von einem Kollegen hatte küssen lassen, der aber noch eine andere habe, weswegen ich traurig sei? Was ich denn damit erreichen wollte, wo Holger doch so eifersüchtig sei? Ja, sie hatte recht. Ich wusste wirklich nicht, was ich meinem Mann erklären wollte und hätte wahrscheinlich nur unnützen Streit vom Zaun gebrochen. Diese Gefühle würden schon wieder vergehen! – Das Gespräch mit ihr hat mir sehr gut getan.

Bald ging es mir mit meiner Angina besser und ich suchte mir zu Hause Arbeit, um mich abzulenken. Jeden Tag telefonierte ich mit Jens. Er wusste, wann und wie lange die „Luft rein“ war und wir vereinbarten Anrufzeiten. Er hatte sich zwar von mir mit seinem Rosenstolz-Geschenk „verabschiedet“, aber jeder wartete trotzdem auf das tägliche Telefonat.

Am ersten Arbeitstag wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir machten uns aus, uns am nächsten Tag in der Mittagspause doch noch mal zu treffen und darüber zu reden, wie es jetzt weiter gehen sollte.

Als er auf mich zu kam, fiel mir seine Jeansjacke auf, die er trug. Ich war eine andere Kleidungsordnung gewöhnt von Männern Mitte vierzig. Es gefiel mir auch nicht und ich redete mir ein: „Wir passen ja gar nicht zusammen, so wie der rumrennt.“ So wollte ich mich zwingen, Abstand zu ihm zu gewinnen. Als wir im Auto saßen, damit uns keiner sah, sagte ich ihm, dass ich niemals eine Nebenbei-Beziehung eingehen würde, denn in meinem Leben gäbe es so etwas nicht, hopp oder topp. Er erklärte mir, dass ein Wechsel von einer Affäre in eine andere nicht in Frage käme, er dieses Versteckspiel zu Hause und die Suche nach Alibis leid sei. Außerdem sähe er, dass meine Ehe in Ordnung sei und wolle sich nicht reindrängen. Zum Schluss fragte er mich, ob ich einen letzten Kuss zulassen würde, da ich dies beim letzten Mal wegen der Ansteckungsgefahr verweigert hätte. Ja, ich ließ es zu. – Und dann war es wieder so vertraut und innig, als ob wir schon jahrelang zusammen wären …

Das war am Dienstag in der Karwoche, für Gründonnerstag hatte ich Urlaub eingereicht. Wir hatten uns zwar mit klaren Worten im Auto verabschiedet, doch keiner hielt sich an diese Abmachung. Jeder suchte ein Bewerbchen, um dem anderen nah zu sein. So telefonierten wir auch am Gründonnerstag, an dem er sich nachmittags mit Sonja treffen würde, wie sie es jedes Jahr taten. Dieses Gespräch tat mir sehr weh, es war gemischt von Sehnsucht, Eifersucht, Verletztheit. Später bekam ich dann eine SMS von ihm:

„Liebe Martina, ich habe mit Sonja gesprochen. Ich werde bei ihr bleiben. Es tut mir alles leid und ich wünsche dir viel Glück für deine Zukunft.“

Ich las immer und immer wieder diese Zeilen und konnte es nicht fassen, was passiert war. „Mittags war doch alles noch ganz anderes gewesen? Und jetzt dies?“ Ich wollte es nicht wahrhaben, obwohl ich ja wusste, dass es mit uns nichts werden konnte. Ich arbeitete wie eine Besessene und war froh, dass ich den anderen aus dem Weg gehen konnte.

Ostersamstag wollten wir wie jedes Jahr tanzen gehen. Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Ich konnte mit keinem reden und durfte mir nichts anmerken lassen. Ich war als die lebensfrohe Martina bekannt, alle warteten drauf, dass ich lustig wurde. Es forderte viel Kraft, sich so zu verstellen. Das erste Mal war auch Roberto mit seiner Frau Karin dabei. Doch das rauschte alles an mir vorbei, ich bekam Jens einfach nicht aus dem Kopf.

Am anderen Tag zählte ich die Stunden, bis Ostern endlich vorbei war, obwohl es auf Arbeit nicht besser werden würde, zumal Jens in einer Woche in Urlaub ging. Er wollte im Nachbarhotel von Sonja wohnen, die ebenfalls dort ein Zimmer gebucht hatte, zufällig, angeblich. Ich wusste nicht, ob ich das glauben sollte. Gab es so viel Zufall? Es wurde sogar schon getuschelt, dass er mit seiner Mätresse nun schon gemeinsam Urlaub mache und vor nichts zurückschrecke. Eigentlich schämte ich mich für ihn, als ich das hörte.

Immer wenn ich mich über Ostern unbeobachtet fühlte, schrieb ich an einem Brief für Jens, den ich ihm nach den Feiertagen geben wollte. Es sollte die Antwort auf seine SMS sein, ein Abschied. Ich schrieb alles auf: Wie ich mich seit dem ersten Kuss fühlte, wie vertraut er mir geworden war, meine Gefühle aufgewühlt hatte. Ich öffnete mich ihm mit Worten, die ich noch nie vorher geschrieben hatte. Ich wollte diesen Abschied per SMS einfach nicht hinnehmen und ertränkte allen Schmerz in meinen eigenen Abschiedszeilen.

Endlich war Ostern vorbei und ich konnte endlich wieder arbeiten gehen, sofort verabredete ich mich mit Jens für die Mittagspause. Meinen Brief hatte ich ihm gleich früh auf den Tisch gelegt, sodass er Zeit hatte, ihn bis mittags zu lesen. Wir trafen uns an einem Teich, im Grunde idyllisch, doch ich fror, wohl aus Angst und Enttäuschung. Jens gab mir den Brief zurück und meinte, es täte ihm leid. Er könne sich nicht von Sonja trennen, sie sei fast zusammengebrochen, weil sie ihn liebe. Das hätte sie ihm noch nie so deutlich gesagt und gefordert, dass er mit mir Schluss mache. Meinen Brief wollte er mit mir gemeinsam zerreißen und wegwerfen, denn er konnte ihn nicht aufbewahren. Unter Tränen vollzogen wir diese Zeremonie und verabschiedeten uns. Dann gingen wir uns bis zu seinem Urlaub so gut es ging aus dem Weg und ich schwor mir, ihm nie mehr hinterherzulaufen.

Zu Hause war ich gereizt, sodass Holger immer öfter zu den Kindern sagte: „Lasst eure Mutter in Ruhe, sie hat schon wieder schlechte Laune.“

Ich suchte mir Arbeit im Haus, um so oft wie möglich für mich alleine zu sein. Holger war auch unzufrieden, mit seiner Arbeit und mit seinem Chef. Er wollte wieder mal alles hinschmeißen. Ich tröstete ihn, dass er den Job schon viele Jahre machen würde, noch nie arbeitslos gewesen war und immer pünktlich sein Geld bekäme. Die Abstände, dass er mit seiner Arbeit so unzufrieden war, wurden immer kürzer.

Von Jens hörte ich den ganzen Urlaub nichts. Ich weinte häufig, konnte kein Radio mehr hören, sobald ein schönes Lied kam. Da bekam ich einen Termin in seinem Wohnort. Ich wusste, dass er seinen vorletzten Urlaubstag allein zu Hause verbringen wollte. Es kostete mich viel Überwindung, nicht einfach hinzufahren und zu klingeln. Mein Termin dauerte bis Mittag, mein Auto hatte ich auf einem Parkplatz beim Supermarkt abgestellt. Als ich zu meinem Auto zurückkam, stand auf einmal Jens vor mir. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass es einen Termin gab, bei dem ich dabei sein würde und hat mich gesucht und auf mich gewartet. Das Gefühl, das mich durchströmte, als ich ihn so vor mir sah, kann ich kaum beschreiben: Glück, Wärme, Frieden, Ruhe …

Er war braungebrannt und schaute mich traurig und zugleich glücklich an. Wir setzten uns in sein Auto, um nicht gesehen zu werden. Er hatte schon eine Stunde gewartet und nur noch wenig Zeit, weil er zum Arzt musste. Er sah, wie dünn ich geworden war, mittlerweile hatte ich fast elf Kilo in knapp sieben Wochen verloren. Er sagte, auch Sonja habe sieben Kilo abgenommen. Das gab mir sofort einen Stich ins Herz und brachte mich zur Realität zurück. „Sie ist ja noch im Urlaub, deshalb kann er sich also so frei bewegen? Warum zeigt er mir seine Gefühle und seine starke Sehnsucht, wenn ihm im gleichen Atemzug Sonja durch den Kopf geht? Spielt er mit mir?“ Trotzdem ließ ich alles geschehen und sagte nichts.

Meine Freundin Martina hatte mich, als ich sie damals eingeweihte, darauf hingewiesen, was sie als Krebsschaden in meiner Ehe vermutete, wie sie es seit vielen Jahren sah: Immer nur Arbeit, kein Staubkorn im Haus, kein Unkraut im Garten, ständig Leute um uns herum, keine Zweisamkeit. Sie sagte damals: „Du musst ab und zu mal einen Höhepunkt schaffen in deiner Ehe, das schweißt zusammen.“

Diese Weisheit wollte ich umsetzen. Am Wochenende hatte Holger Geburtstag. Ich schenkte ihm einen Gutschein für eine Kahnfahrt. Anstatt aber nur für uns beide, organisierte ich diese Fahrt mit „Begleitung“. Roberto und ein anderes Pärchen sollten ebenfalls mitkommen. Das ging natürlich daneben. Holger war keineswegs erfreut von dem Gutschein und weigerte sich mitzukommen. Ich war enttäuscht. Außerdem schenkte ich ihm eine CD von Andrea Berg. Das war seine Musik, ich fand sie nicht so besonders, wollte ihm aber diese Freude machen, auch wenn mich der Kauf Überwindung gekostet hatte. Doch auch dieses Geschenk begeisterte ihn nicht. Da dachte ich das erste Mal: „Du bist doch selbst schuld, wenn ich Gefühle für einen anderen Mann entwickle.“ Kurzzeitig verschwand sogar mein schlechtes Gewissen.

Die Feier mit der Clique ging mit viel Alkohol und großer Lautstärke über die Bühne, es widerte mich alles an. Ich wollte diese Feierei einfach nicht mehr, die mir so endlos erschien bis mitten in die Nacht hinein. Jeder übertrumpfte sich von Mal zu Mal mit den Vorbereitungen, das Essen wurde immer mehr, damit auch die Reste. Vom Aufräumen am nächsten Tag ganz zu schweigen.

Es war Jens’ erster Arbeitstag. Sonja war noch im Urlaub. Wie würde er sich verhalten? Ich hatte mir die letzten Tage etwas überlegt und wollte einen endgültigen Abschied hinbekommen. Darum bat ich ihn um ein Treffen mittags, wieder am Teich. Er sagte: „Ja, das geht, Sonja ist ja noch im Urlaub.“

Das ärgerte mich so sehr, trotzdem schaffte ich es nicht, ihn in den Hintern zu treten. „Warum komme ich von diesem Mann nicht los, was ist bloß in mich gefahren? Wieso nehme ich seine Verletzungen einfach hin, ich renne ihm ja regelrecht hinterher?“

Mittags regnete es wie aus Kannen und wir saßen dieses Mal in meinem Auto. Ich sagte ihm, dass ich meine Vorhaben immer mit einem Datum verbinde, zum Beispiel: Ab dem 1.1. fange ich an abzunehmen; oder bis zu meinem Geburtstag muss ich das und das fertig haben … So sei es auch jetzt, ich hätte mir vorgenommen, bis Monatsende von ihm loszukommen und mit ihm einen „Abschied“ zu erleben, um das Kapitel beenden zu können. Ich bat ihn, uns an diesem Tag etwas Zeit zu nehmen und über alles zu reden. Ich wollte sowieso Überstunden abfeiern, zu Hause würde ich sagen, dass ich ab Mittag frei hätte. Er willigte ein, auch wenn er diese Art Abschied nicht verstand und nicht wusste, wie das funktionieren sollte. Wo und wie wir uns treffen wollten, dazu traute sich keiner etwas zu äußern. Wir lagen uns schließlich weinend in den Armen, es war alles so traurig und aussichtslos.

Mit diesem Gespräch begann mein eigentliches und abgebrühtes Fremdgehen, wenn es auch zunächst nur beim Küssen blieb. Ich hatte gezielt ein Treffen geplant, welches weit über eine Mittagspause hinausgehen würde. Einerseits war ich glücklich, dass ich das Ende mit Jens hinausschieben konnte, andererseits war ich über mich selbst erschrocken, wozu ich fähig war. Mir wurde erst viel später bewusst, dass ich damit meine Unfähigkeit „Entscheidungen zu treffen“ ins Leben gerufen habe. Ich war immer ein Mensch gewesen, der in schwierigen Situationen nur kurz überlegen musste und dann entscheiden konnte, wie es weitergeht. Wenn ich dann etwas beschlossen hatte, zog ich es durch bis zum Ende, motivierte auch andere, die unentschlossen waren. Ich hatte nie nach Ausreden gesucht, um etwas nicht zu Ende zu bringen. Und auch Unehrlichkeit war untypisch für mich.

Nun begannen auch die Telefonate während der Autofahrten und obwohl es verboten war, war das Handy von meinem Ohr beim Fahren nicht mehr wegzudenken. Ich war traurig, wenn die Fahrt beendet war und rettete mich mit meiner Sehnsucht von einem Telefonat zum nächsten. Wir sprachen über Gott und die Welt, planten unsere paar Stunden, vermieden es aber, über die Zukunft zu reden. Wir wussten, dass unsere Zuneigung kein Ziel hatte, versuchten gegenseitig Vernunft zu zeigen und klammerten gleichzeitig am anderen, wünschten ihn in der Nähe und Verbindung zu ihm. Ich wollte meine Ehe retten, Jens wollte bei Sonja bleiben. Keiner schaffte es, dies konsequent umzusetzen. Sondern wir fieberten unseren kurzen geheimen Treffen entgegen, die von Tränen und Küssen erfüllt waren und den Versprechen, einander freizugeben und das Verhältnis endlich zu beenden.

Eines Tages machte Jens den Vorschlag, nicht „nur durch den Wald zu latschen“, sondern uns näher zu kommen, also mehr als nur zu küssen. Damit wurde das Unausgesprochene zur Wirklichkeit, wir wussten beide, was passieren würde. Ich war glücklich über diesen Vorschlag, zumal es ihm offenbar nicht nur ums Bett ging, sondern viel mehr Leidenschaft dahinter steckte als bloßer Sex. Wir wollten es beide, seine Gefühle konnte keiner mehr verbergen, wir konnten uns noch so bemühen. Einerseits konnte ich es kaum erwarten, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ihn endlich für mich zu haben, ihn zu berühren und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn mochte. Andererseits hoffte ich, dass es vielleicht für uns beide eine Enttäuschung werden würde und wir so feststellten, dass wir doch nicht zusammenpassten, sodass alles ein Ende finden konnte. Ich würde ihn vergessen und vielleicht zu Hause auch „beichten“ und dann wäre alles wieder gut … Doch zunächst gab es für mich nur noch den letzten Tag des Monats, es war ein Donnerstag. Weiter konnte und wollte ich nicht denken. Alles danach war in meinem Kopf ein schwarzes Loch.

Dann war der heiß ersehnte Tag endlich da. Ich hatte Holger erzählt, dass ich einen Außentermin hätte und telefonisch nicht erreichbar sei. Das war nun die größte Lüge seit Beginn meiner Beziehung zu Jens, aber es sollte auch die letzte sein! – Mit Jens war ausgemacht, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz stehen lasse und wir mit seinem weiterfahren würden, an eine Stelle, wo wir ungestört sein konnten. Als ich in meinem Auto saß, war die ganze Vorfreude wie weggeblasen, die Gefühle für Jens waren so unwirklich. Ich wollte nicht drüber nachdenken, was mich jetzt erwartete. Mein Herz raste wie vor einer Prüfung. Er stand bereits auf dem Parkplatz und in dem Moment als wir uns begrüßten, klingelte mein Telefon. Es war Holger. „Bist du schon im Büro? Ich bin beim Korbmacher und hole dein Tablett ab, brauchst du also nicht mehr hinfahren.“

Ich war wie versteinert. Es war nicht das erste Mal, dass uns Holger „begleitete“. Wir fuhren vom Parkplatz, es herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Keiner wusste, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten soll. Als wir uns endlich gegenüber saßen, unbeobachtet, vertraut, und doch so fremd, konnten wir uns nicht rühren, saßen einfach nur da, ohne Gesprächsstoff, ohne Zärtlichkeiten, wie erstarrt. So verstrich die Zeit. Ich fragte mich, wofür ich eigentlich diesen Aufwand betrieben hatte. Wir überlegten laut, ob wir alles abbrechen und zurück zum Auto gehen sollten. Das war wohl der Moment, als das Eis brach. Die Scham wechselte zu Vertrautheit. Wir verlebten die schönsten Stunden seit dem Anfang unserer Beziehung. Der erhoffte Reinfall stellte sich nicht ein. Die Zeit verflog im Nu. Beide wollten wir, dass das der Abschied war. So gingen wir auseinander, weinend, verzweifelt.

Ich fuhr mit dem Auto in die Stadt und schaute mich erstmalig nach einem Kleid für die Silberhochzeit um. Holger drängelte schon lange, ihm war es wichtig, dass ich was Schönes fand. Doch gleich schämte ich mich, was für ein abgebrühter Mensch ich war. Vor einer Stunde war ich noch fremdgegangen und nun beschäftigte ich mich mit meiner Silberhochzeit. Was war bloß aus mir geworden? Und ich hatte keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. „Wie wird sich Jens jetzt verhalten? Geht er mir aus dem Weg? Reden wir nicht mehr miteinander? Wird er sich seiner Sonja jetzt besonders widmen? Kämpft er genauso mit seinen Gefühlen? Komme ich tatsächlich von ihm los? Kann ich ihn ignorieren?“ Zu kündigen und einfach woanders anzufangen, war auf dem aktuellen Arbeitsmarkt illusorisch und es war schade um die Zeit, darüber nachzudenken. Ich hatte einen gutbezahlten Job, der mich ausfüllte und mir Spaß machte, kam mit vielen Leuten zusammen und man respektierte mich. Oft war es anstrengend, aber ich behielt den Überblick. Das aufzugeben ging einfach nicht, obwohl es mir in den letzten Wochen immer schwerer fiel, die Termine zu organisieren und etwas voranzutreiben. Ich musste mich wieder in den Griff kriegen, bevor es andere merkten!

Zu Hause angekommen, klingelte bereits das Telefon. Es war Jens. Die Trennung hatte gerade mal drei Stunden angehalten. Danach stürzte ich mich in meine Haus- und Gartenarbeit und pflanzte Stauden. Holger hatte nicht gefragt, wie mein Tag gewesen war und ich war froh, dass ich nicht noch mehr lügen musste. Weil ich aber so verschlossen und ruhig war, wollte er wissen, was mit mir los wäre. Jetzt kam alles auf einmal: morgens das einschneidende Erlebnis mit Jens und abends das Ausweichen beim Ehepartner. Ich hatte nur noch Angst und funktionierte wie eine Maschine. Ich fühlte mich so schäbig. Aber Holger merkte nichts, ich konnte meine wahren Gefühle tatsächlich verbergen. Wieso war ich dazu in der Lage? Aus Angst versagt zu haben, aus Angst, dass er ausflippen würde, aus Scham vor mir selbst und vor den anderen? Aus der Hoffnung heraus, es würde alles wieder gut werden? Aus Mitleid gegenüber Holger, weil er das nicht verdient hatte? Dieses schäbige Gefühl verfolgte mich die ganze Nacht hindurch.

Die nächste Zeit verlief mit Jens wie vorher, wir redeten. Auf meine Arbeit konnte ich mich nicht mehr richtig konzentrieren und war froh, wenn nicht so viele Leute um mich herum waren. Mit Jens war es so unwirklich, was passiert war. Jeder suchte die Nähe des anderen, keiner sprach das Thema „Abschied“ an. Wir verabredeten uns sogar noch mal nach Feierabend für eine halbe Stunde. Das ging solange gut, bis Sonja merkte, dass Jens von mir nicht lassen konnte und psychisch zusammenbrach. Jens zog sofort die Konsequenzen. Er ließ mich eiskalt im Regen stehen. Ich fühlte mich so allein und benutzt. Die folgenden Wochen waren die Hölle. Wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen, die Tränen zu verbergen.

Eines Tages musste ich für unseren Chef zum Geburtstag Blumen besorgen. Sie sollten im kühlen Raum versteckt werden, zu dem nur zwei Leute einen Schlüssel hatten, einer davon war Jens. Er sollte mir die Blumen am Hintereingang abnehmen und verstecken. Ich war so aufgeregt, die Chance zu haben, nach Wochen mit ihm mal kurz alleine sein zu können und hatte aber zugleich Angst davor, dass wir uns streiten könnten. Als ich ihm die Blumen brachte, wusste er nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Ich sagte: „Jens, ich halte diesen Zustand nicht mehr aus. Lass uns noch mal reden.“

Er antwortete nicht und drängte mich zur Tür hinaus, damit uns Sonja nicht entdeckte. Ich war so wütend, gekränkt, gedemütigt, obwohl ich ja diejenige gewesen war, die sich so siegessicher war, mit ihm abschließen zu können.

Zu Hause wurde ich zunehmend unausgeglichener, blubberte meine Kinder wegen Kleinigkeiten an und ging Holger aus dem Weg. Holger „quälte“ sich ebenfalls durch seinen Alltag, war unzufrieden mit seiner Arbeit, bemerkte aber dadurch wahrscheinlich meine Veränderungen nicht. Er war auch immer so hektisch und malte alles schwarz. Er zeigte keinerlei Trauer bezüglich seiner Mutter und ich dachte, dass er es recht gut und schnell verkraftet hätte. Wir hatten sie ja monatelang leiden gesehen, für sie war es sicher erlösend, als diese Quälerei ein Ende hatte. Vielleicht dachte er auch so und war deshalb so schnell drüber weggekommen?

Der Termin der Silberhochzeit rückte immer näher, ich hätte mich schon längst um die Vorbereitungen kümmern müssen, aber ich schob es immer wieder hinaus. Das Einzige, was ich erledigt hatte, war mein Kleid. Ein Kleid nach meinem Geschmack, im Stil der Rock’n’Roll-Zeit, weil ich so viel abgenommen hatte, freute ich mich, wie gut es mir stand. Als nächstes wollte ich die Tischkarten kaufen, aber ich hatte keinen Elan. „Was mache ich nur? Lasse ich doch die Silberhochzeit platzen? Rede ich mit Holger? Wird er dann zum Stier und schmeißt mich raus?“ Mein Vater hatte früher oft gesagt: „Wehe, du hast mal einen anderen, Holger bringt den Kerl um und sprengt das Haus in die Luft.“

Er war schon immer eifersüchtig gewesen, war aber in den letzten Jahren vertrauensvoller geworden. Wenn ich jetzt ehrlich zu ihm war und er mich tatsächlich rausschmiss, ließe ich mich scheiden und dann? Egal, dann würde ich eben alleine dastehen, aber war wenigstens ehrlich. Ich fragte meine Freundin Martina, was sie davon hielt. Sie sagte: „Sei doch vernünftig. Was hast du dann gekonnt? Du machst deine Familie unglücklich und dich selbst ebenfalls. Was willst du denn Holger sagen? Dass du einen anderen Mann liebst, der dich aber nicht will? Das ist lächerlich. Warte ab, wie sich alles entwickelt, vielleicht schaffst du es, zu Holger zurückzufinden. Ich habe oft überlegt, was besser wäre, ihm die Wahrheit zu sagen oder es ein Leben lang als Geheimnis zu hüten. Wie ich Holger kenne, wirst du sicher mit dem Schweigen besser fahren. Er würde dir nicht verzeihen und dir die Ehe zur Hölle machen, dir keinen Freiraum mehr lassen. Eure Ehe könnte daran zerbrechen. Denk auch an deine Kinder und deine Eltern.“

Ich hatte lange über diese Worte nachgedacht und hin und her überlegt. In ein paar Tagen würde mein Großer mit dem Studium fertig sein. Informatiker! Ich konnte doch stolz sein. War ich ja auch. Aber das stolze Muttergefühl konnte nicht meinen „heiligen“ Familiensinn wieder beleben. Der Abschlussball stand an und ich wollte noch abwarten und meinem Sohn dieses Ereignis nicht verderben. Mein Kleiner würde dann ins Ferienlager fahren und es wäre eine günstige Gelegenheit, den Rest der Familie erst einmal schonend damit zu konfrontieren. Dieses Datum brannte sich in meinen Kopf ein und ich wurde jeden Tag unruhiger und unsicherer. „Was werde ich machen? Ist es wirklich richtig, alles aufs Spiel zu setzen, alle zu enttäuschen, Leid erzeugen?“ – Also entschied ich mich für die von Martina vorgeschlagene Variante des Schweigens und hoffte, dass mein Leben wieder in die richtigen Bahnen kommen würde. Ich brauchte mich nun vor keinem zu rechtfertigen, brauchte die Gäste nicht auszuladen, musste mich nur ein wenig verstellen. Und schon war das Leben wieder perfekt. Aber diese Schauspielerei musste erst einmal gelernt sein, ich war auf dem besten Weg dahin. Was war bloß aus mir geworden?

Ich wollte mich in der Mittagspause wieder mit Jens treffen. Die Vorfreude auf diese paar Minuten ließ kurzzeitig alles andere in den Schatten treten. Wir saßen auf einer Bank und keiner konnte seine Gefühle verbergen, dann liefen wir ein Stück. Jens versuchte mir näherzukommen. Ich war entsetzt. Am helllichten Tage, wo jeden Augenblick Spaziergänger auftauchen können. Gereizt fuhr ich ihn an: „Jens, für so etwas bin ich die Falsche. Ich brauche Zärtlichkeit und Zeit.“ Er ließ mich los und antwortete wütend: „Ich bin auch nur ein Mann. Zeit haben wir nie und Zärtlichkeit musst du dir zu Hause holen.“

Nach diesen Worten hätte ich ihm am liebsten eine geknallt. Dieser Satz hatte gesessen und ich versuchte, ihn zu hassen. Ich empfand Wut und wollte so schnell wie möglich in mein Auto. Er war ebenfalls wütend, entschuldigte sich nicht einmal. Aber ich schaffte es wieder nicht, ihn fallen zu lassen. Am nächsten Tag bemühte sich jeder, so vorsichtig und freundlich zu dem anderen zu sein, wie es nur ging. Doch der Satz hatte sich in mein Gehirn eingebrannt und tat so weh. Ich brauchte sehr lange, bis ich das vergessen konnte.

Die Wochen verstrichen, die Silberhochzeit rückte näher. Viele Leute nahmen an den Vorbereitungen meiner Feier indirekt teil. Und ich fühlte mich immer mehr hinterlistig und falsch. Auch gesundheitlich ging es mir nicht gut. Doch vergingen die Schmerzen meist wieder schnell und ich verdrängte das Erlebnis. Das Herzrasen kam in unterschiedlichen Abständen und Stärken. Dabei bekam ich Atemnot und das Herz tat am nächsten Tag noch weh, wie bei einem Muskelkater. Ständig plagten mich Bauchkrämpfe wie bei einer Gallenkolik. Als Jens einmal mitbekam, dass ich mich im benachbarten Raum auf die Stühle legen musste, um die Schmerzen auszuhalten, wurde er regelrecht panisch. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er telefonierte mir sogar hinterher, ob ich heil zu Hause angekommen wäre. Da merkte ich, wie wichtig ich ihm war. Aber sein Drängen, endlich zum Arzt zu gehen, ignorierte ich. Was alleine kommt, geht auch wieder alleine! Für eine Gallenoperation hatte ich derzeit keine Nerven, vielleicht kamen die Schmerzen auch nur von der ganzen Hektik. Außerdem ging es mir schon viele Jahre so.

Meinen Urlaub legte ich so, dass ich solange wie möglich arbeiten gehen konnte, trotzdem hatte ich fast drei Wochen frei. Mit Jens wollte ich mich vorher noch einmal treffen, um mal wieder aufzutanken, weiter denken wollte ich einfach nicht. Wie immer hatten wir wenig Zeit. Wir mussten uns verstecken und es war alles andere als romantisch. Mit der Uhr im Nacken suchten wir Nähe und versuchten, all die traurigen Tatsachen zu verdrängen. Auf der einen Seite hoffte ich, dass die Gefühle verschwinden würden, andererseits tat ich aber auch nichts dafür, um von ihm loszukommen. Ich war so hilflos und leer. Ich sah nur, dass es galt, die nächsten drei Wochen abzuarbeiten. Doch wenn ich wieder zurück sein würde, dauerte es nicht lange, bis Jens in Urlaub fuhr. Diese Aussichtslosigkeit erdrückte mich beinahe.

Der Tag unserer Silberhochzeit war herangerückt. Natürlich hielt Holger sich nicht daran, dass wir uns nur eine Kleinigkeit schenken wollten. Ich bekam 25 riesengroße rote Rosen und eine Lederreisetasche, weil ich nichts hätte, wenn ich zum Lehrgang müsste. Mir blieb fast das Herz stehen. Ja, der Lehrgang war verschoben worden auf „ungewiss“. Ich klammerte mich an diese zwei Tage, an denen ich mit Jens alleine sein würde. Und Holger schenkte mir nichtsahnend noch eine Tasche dafür …

Die Eltern schenkten wie immer Geld und ich fühlte mich schuldig, es anzunehmen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Meine Mutter hatte unser Hochzeitsbild in einen silbernen Rahmen gebastelt. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben und war so ahnungslos. In ihren Augen verlief die Ehe perfekt: Uns ging es gut, Streit bekam sie nicht mit, die Kinder waren versorgt, wir unternahmen viel, alle waren fleißig und hilfsbereit, sozusagen rundherum trautes Familienglück. Wie sollte ich ihr jemals erklären, dass ich auf „Abwege“ geraten war? Viel mehr Angst hatte ich aber vor meinem Vater. Holger kannte er nur fleißig und hilfsbereit. Wie könnte ich so einem guten Mann so etwas antun? Ich würde es ihm nicht erklären können. Und ich wollte es ja Holger auch gar nicht antun. Aber ich kriegte Jens nicht aus meinem Kopf raus, keinen Tag, keine Stunde, fast schon keine Minute mehr.

Nach dem Essen wurden alle fürs Fotoalbum verewigt und weil ich krank war und Holger am nächsten Tag arbeiten musste, war die Feierei relativ schnell beendet. Ich war froh, im Bett liegen zu können und hoffte, dass die Tabletten rasch wirkten. Das war er also, der große Tag nach 25 Ehejahren! Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, als hätten wir Geburtstag gefeiert. Nun denn, gut so, ich hätte mich ohnehin über nichts besonders gefreut. Es stand sowieso noch die Feier mit unserer Clique bevor.

Die nächsten zwei Tage konnte ich mit Jens telefonieren, wir wussten beide, dass mit dem Beginn von Holgers Urlaub dieser Kontakt beendet wäre. Sicherlich könnte ich ab und zu eine SMS schreiben, aber zum Antworten war es eigentlich schon zu gefährlich. Mein Handy war im Urlaub das „Familientelefon“, ich würde es nie und nimmer wie eine Glucke ständig bewachen können.

Die letzten Vorbereitungen für unsere Feier ließen die Zeit schnell vergehen und kein großes Grübeln aufkommen. 18 Uhr sollte das Fest beginnen. Es war Holgers erster Urlaubstag. Wir hatten Schlafgäste, die schon nachmittags eintreffen sollten, sie trudelten auch nach und nach ein. Die Silberhochzeit fand in unserem Dorfgasthof statt, in dem wir schon unseren Polterabend gefeiert hatten. Als alle saßen, stand Holger auf und begrüßte die Gäste, bedankte sich, stellte alle vor und sprach über den organisatorischen Ablauf. Er war aufgeregt, machte es aber gut. Dann ging ich zur Bühne und begann, meine Reime vorzutragen. Sie stammten aus der Zeit, als die Welt noch in Ordnung war. Mittlerweile waren viele Zeilen davon Hohn geworden. Aber in diesem Moment verdrängte ich alles und redete mir ein, dass das traute Familienglück durch meinem Vortrag irgendwann wieder eintreten würde. Martina warf mir einen aufmunternden Blick zu und ich las meine Verse.

Der Abend verging durch Spiele und Tänze recht schnell und kurz vor Mitternacht gab es noch mal Kaffee und Kuchen. Als Überraschung trug meine Mutter ihre selbstgebackene Kirschtorte in den Saal, auf der sie ein Silberbrautpaar platziert hatte. Dieses rutschte just in dem Moment von der Torte und fiel auf den Fußboden. Von dem Bräutigam brach der Kopf ab. Sie war so entsetzt und brach in Tränen aus: „Der Kopf ist ab, das bringt Unglück!“

Weil meine Mutter so aufgelöst war, brachte ich diesen Vorfall nicht mit meiner Situation in Verbindung, sondern tat es ab als sinnlosen Aberglauben. Um halb vier Uhr früh lagen wir endlich im Bett, das heißt auf der Couch im Wohnzimmer, denn die Betten waren ja vergeben an unsere Gäste. Ich war zu müde, um zu grübeln und hatte nur noch den kommenden Ablauf im Kopf: Frühstück im Garten, Reste holen aus der Gaststätte, Sachen packen für den Urlaub, das Haus „urlaubsfertig“ machen … Bettina und Mario fuhren gleich von uns aus mit in den Urlaub. Jens hatte ich versprochen, eine SMS zu schreiben, wie die Feier abgelaufen war. Ich kam erst spät dazu, als alle im Bett waren. Holger schlief schon und ich schrieb im Wohnzimmer heimlich meine Zeilen. Die Vorstellung, nun lange von ihm nichts mehr zu hören und nicht zu wissen, wie es ihm geht, stimmte mich traurig und ängstlich. Der Gedanke, mich im Urlaub um meine Ehe zu bemühen, kam mir nicht. Denn es gab dafür nichts zu tun, ich musste mich nicht bemühen, für Holger war die Welt in Ordnung, er merkte nicht, was in mir vorging.

Die Urlaubstage vergingen schleppend und ich sehnte mich dem Ende entgegen. Am Montag würden Jens und ich miteinander telefonieren. Solange musste ich noch ausharren. Ich zählte die Stunden, und sorgte mich. Vor allem beschäftigte mich die Frage, was in der Zwischenzeit mit Sonja gelaufen war. Die Ungewissheit zermürbte mich. Mit Herzklopfen und Tränen begannen die ersten Minuten des Telefonats. Dann sagte Jens, dass er mich nicht belügen wollte und dass es mich sehr schmerzen würde. Ich hielt den Atem an, ich wusste, dass etwas im Zusammenhang mit Sonja kommen würde: „Als du verreist warst, habe ich mit Sonja einen Tag Urlaub verbracht. Ich hatte es ihr versprochen. Der Tag verlief harmonisch, bis zu dem Zeitpunkt, als das Thema auf dich kam. Sie sprach abfällig von dir und ich verteidigte dich instinktiv. Sie merkte dadurch, wie nahe wir uns immer noch sind.“

Ich merkte, wie ich innerlich zusammenrutschte. Warum tat er so etwas? Warum spielte er mit mir? Und warum war er andererseits so ehrlich und verheimlicht mir nichts? Ich war so verletzt, aber mir fehlte einfach der Stolz, diesen Menschen zur Hölle zu schicken. Ich sah nur wieder das Gute an ihm, schätzte seine Ehrlichkeit und Offenheit. Aber ich konnte es nicht begreifen. Das Datum seines „gemeinsamen Tages“ hat sich später so in mein Gehirn gebrannt und es war einer der allergrößten seelischen Schmerzen, die er mir je zugefügt hat. Trotzdem kam ich nicht von ihm los.

Zu all diesem Durcheinander kam etwas Neues, Erfreuliches hinzu. Tommi, unser Großer, hatte sich verliebt. Einerseits war ich froh für ihn, andererseits rollte etwas auf mich zu, was mich sprachlos und unbeholfen machte. Er offenbarte uns am Telefon, dass er seit zwei Wochen eine Freundin habe, eine ehemalige Kumpeline, die sich von ihrem Freund getrennt hatte und die er am Wochenende mitbringen würde. Dies kam so geballt und ganz anders, als ich es von meinem Sohn gewohnt war. Er stellte uns vor vollendete Tatsachen.

Aufgrund meiner eigenen Probleme dachte ich gar nicht groß darüber nach. Am Freitag war schönes Wetter und wir grillten zum Abendbrot. Alle waren ein wenig aufgeregt. Jana war ein unscheinbares blondes Mädchen von 21 Jahren. Beide blieben nicht lange, wollten noch ausgehen. Ab diesem Sonnabend hatte ich ab sofort drei Kinder. Das Gästezimmer im Keller wurde zu ihrer Behausung, Tommis Kinderzimmer diente als Abstell- und Kleiderkammer.

Nun war ich an den Wochenenden noch mehr gefordert, ein Partner des Kindes bleibt trotzdem die erste Zeit wie Besuch. Man kann sich nicht mehr so frei bewegen, gibt sich mehr Mühe bei den Mahlzeiten und so weiter. Aber ich improvisierte und keiner konnte meine Gedanken lesen, ich gab mir Mühe mit meiner Hausfrauenaufgabe.

Jens’ Abwesenheit ertrug ich nur schwer, obwohl wir uns ab und zu SMS schickten und er sogar anrufen konnte. Aber seine Zeilen waren nichtssagend, ich konnte nicht deuten, wie er fühlte. Dann begann die Woche, in der Jens Donnerstag wieder da sein sollte. An dem Tag würde ich aber Überstunden abfeiern und zu Hause sein, ich hoffte deshalb auf ein Telefonat mit ihm.

Als ich Montagmorgen kaum im Büro saß, rief mich meine Kollegin von zu Hause an und meldete sich krank. Sie würde sich schon seit Längerem nicht wohl fühlen. Ich empfahl ihr, sich Zeit zu nehmen und sich auszukurieren, auch wenn ich dadurch die nächsten Tage mehr zu tun hätte.

Donnerstag klingelte bei mir zu Hause das Telefon, mein Chef war dran: „Es ist was ganz Schreckliches passiert! Unsere Kollegin, Frau Brummer, hat sich das Leben genommen. Sie wurde in der Nähe unserer Dienststelle in einer Gartenanlage gefunden. Die Kripo war grad hier.“

Ich konnte das gar nicht glauben, wir hatten doch alles ganz ruhig besprochen. Mein Chef weinte, war völlig fassungslos. Die Polizei hatte ihm gesagt, dass sie bereits am Montagabend mit dem Zug in Richtung Arbeit gefahren wäre. Dann hätte sie sich mit über 100 Tabletten vergiftet, die sie vermutlich über lange Zeit gesammelt hatte. – Nach diesem Gespräch stürzte ich mich wie wild in die Arbeit. Ich wollte nicht darüber nachgrübeln und doch stürzten die Gedanken auf mich ein. „Gerade hat sie sich so gut eingearbeitet. Warum hat sie sich, verdammt noch mal, nicht helfen lassen? Wir haben doch so oft über ihre Depressionen gesprochen?“ – Da klingelte wieder das Telefon. Jens wollte mich trösten. Es riefen an diesem Tag noch mehrere an und ich schaffte nicht, was ich mir vorgenommen hatte und es blieb vieles liegen.

Am nächsten Tag hatte sich mein Chef wieder gefangen und tröstete mich damit, dass er mir eine Nachbesetzung vorschlug: Sonja war die Auserwählte. Schlimmer konnte es nicht kommen! Später erklärte mir die Personalchefin, dass diese Variante allen helfen würde, denn da, wo Sonja jetzt sei, gäbe es nur Knatsch. Bei mir könne sie beweisen, was sie wirklich drauf habe.

Roberto und Karin wollten am Wochenende mit uns Essen gehen. Die Freundschaft zu beiden bestand noch nicht lange. Roberto hatte sowohl mit Holger als auch mit mir schon viele Jahre geschäftlich zu tun, seine Frau kannten wir erst eineinhalb Jahre. Da sie nicht sehr kontaktfreudig war, wurden Holger und ich regelmäßig angewiesen, sie anzurufen und ihr weiszumachen, der jeweilige Besuch wäre unsere Idee gewesen und auf alle Fälle nicht die von Roberto. Nur so konnte man sie „rumkriegen“, Einladungen anzunehmen. Wir spielten ihm zuliebe mit, aber dieser Affentanz ging uns auch gegen den Strich. Doch wir waren zu feige, ihm dies ins Gesicht zu sagen.

In der Gaststätte war viel Betrieb und alles dauerte ewig. Ich hatte wieder meinen Kloß im Hals und obwohl ich nur Gemüse bestellte, war es mir zu viel. Nach dem Essen machten wir mit Robertos neuem Auto eine Rundreise. Doch meine Gedanken waren schon beim nächsten Tag. Die Tasche musste ich noch packen. Oh je, Holgers Silberhochzeitsgeschenk, die teure Lederreisetasche, sollte eingeweiht werden. Da legte er großen Wert drauf. „Ich fahre mit dem Geschenk meines Mannes zum Liebhaber“, dachte ich und es war mir so gruselig und ekelhaft. Bloß gut, dass keiner Gedanken lesen kann! In der Nacht war ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Holger fing um fünf an zu arbeiten, Benni fuhr kurz nach sechs in die Schule, kurz danach wollte Jens da sein. Theoretisch dürften sie sich nicht begegnen. Jens wollte ich noch einen Cappuccino machen, ein paar Minuten Zeit würden wir ja haben.

Als mein Kleiner sein Fahrrad aus der Garage holte, fuhr Jens gerade auf den Hof. Es war dunkel, ich sah es nicht, hörte nur, wie sie sich begrüßten, dann klingelte Jens. Wir standen uns wie Fremde gegenüber. Ich bat ihn ins Wohnzimmer und brachte ihm Cappuccino und etwas Kuchen. Da sah er mich ganz traurig an und sagte: „Martina, ich weiß nicht, ob du mit mir zum Lehrgang fahren willst, wenn du jetzt hörst, was ich dir zu sagen habe. Fahren müssen wir sicherlich, sonst bekommen wir Ärger mit unseren Vorgesetzten. Aber du musst dort mit mir nicht schlafen, ich bringe dich auch heute Abend nach Hause und hole dich morgen früh wieder ab.“ Entsetzt antwortete ich: „Was soll der Quatsch? Was ist los mit dir? Ich verstehe nur Bahnhof.“

Dann erzählte er mir schluchzend, dass er eine schlimme Auseinandersetzung mit Sonja zum Feierabend hatte. Sie habe ihn zur Rede gestellt wegen des Lehrgangs, sei dann hysterisch geworden, habe ihn fürchterlich angeschrien, was auch andere gehört hätten. Schließlich sei sie wie ohnmächtig zusammengebrochen. Daraufhin hatte er ihr versprochen, sich für sie zu entscheiden. Nun liege es an mir, ob dieser Lehrgang unser „Abschied“ würde oder ob ich gleich sagte, er solle verschwinden.

Erst dachte ich, er mache einen Witz. Aber dafür war unsere Situation viel zu ernst. Ich war hilflos. Wie sollten nun die beiden Tag ablaufen? Gedanklich spielte ich durch, was ich Holger sagen würde, wenn ich abends wieder vor der Tür stand: „Hallo, ich hab es mir anders überlegt, will doch lieber zu Hause sein über Nacht?“, oder: „Ich wollte dich betrügen zum Lehrgang, aber der andere Mann will mich nicht mehr?“ Ich konnte auf gar keinen Fall nach Hause. Ich würde mich abends in meinem Zimmer verkriechen und mir die Augen ausheulen … Ich konnte nicht zu Ende denken. Ich musste mich aber schnell entscheiden. Jens hatte Angst vor meiner Reaktion. Ich schaffte es jedoch nicht, ihn zu verstoßen oder abzuschütteln. Ich sah in diesem Moment nur, dass wir uns so sehr auf diese Tage gefreut hatten und nun alles umsonst gewesen war. Würden wir jemals wieder die Gelegenheit haben, uns so nah sein zu dürfen? Mir ging der Film „Die Dornenvögel“ durch den Kopf. Auch eine aussichtslose und verbotene Liebe. Sie wussten, dass ihre Liebe keine Zukunft haben durfte und hielten sich daran. Nur ganz begrenzt ließen sie ihren Gefühlen ihren Lauf. An diesem Vergleich hielt ich mich jetzt fest und sagte: „Jens, lass es unser Abschied sein, auch wenn wir das ‚Danach‘ noch schmerzlicher empfinden werden.“

Nach diesen Worten war alles auf einmal wieder so vertraut und harmonisch, als ob es nie Streit gegeben hätte und wir mussten los, damit wir nicht zu spät kamen.

Vor Lehrgangsbeginn wurden uns die Zimmer zugewiesen. Beide waren wir auf einer Etage, aber jeder an einer anderen Ecke. In der Mittagspause wurden wir gefragt, ob wir Lust hätten, abends gemeinsam etwas zu unternehmen. Ich antwortete gar nicht und überließ es Jens. Er lehnte dankend ab. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wollte Jens für mich alleine haben, ganz alleine, ohne Angst, dass jemand kommt oder uns die Zeit wegläuft. Wir standen auf dem Hof und schauten uns an. Ich sagte: „Dann werde ich mal meine Tasche in mein Zimmer bringen, und mit Holger muss ich auch noch telefonieren.“

Aber wir kamen nur bis in Jens’ Zimmer. Dies war der Moment des unkontrollierten Alleinseins, auf den wir so sehnsüchtig gewartet hatten. Wir mussten uns nicht verstecken oder auf die Uhr schauen. Aber es war alles so neu und anders. Dennoch war es vertraut, als ob jeder den anderen schon jahrelang vom Kopf bis in die Zehenspitze kannte. Wir überlegten, ob wir essen fahren oder es ausfallen ließen und entschieden uns, auch dieses gemeinsame Erlebnis genießen zu wollen. Es würde das erste und letzte Mal sein. Doch ich bekam wieder keinen Bissen runter. Mir ging die Zukunft durch den Kopf, dieser Abschied kam mir vor wie zu sterben. Uns liefen die Tränen, vor den anderen Gästen, mitten in diesem Raum.

Dann gingen wir in mein Zimmer. Kaum fiel die Tür hinter uns ins Schloss, klebten wir aneinander. So verbrachten wir die nächsten Stunden. Wir waren so vertraut, keiner wollte den anderen loslassen. Die ganze Aufregung und Erschöpfung der letzten Tage machte sich nun bemerkbar und wir schliefen schnell ein. – Gegen Mitternacht sah ich, dass mein Handy leuchtete. Ich hatte es lautlos gestellt und vergessen zu aktivieren. Mit Holger hatte ich gesprochen und mich bis zum nächsten Tag verabschiedet, also hätte er nicht anrufen müssen. Aber er war es. Mein Herz schlug bis in den Hals, ich wollte nicht rangehen. Er versuchte es immer wieder und ich wurde immer aufgeregter. „Er steht bestimmt vor der Tür, er weiß alles, er sucht mich“, jammerte ich. Jens forderte mich auf: „Geh ran, er ist zu Hause, wo soll er dich denn suchen?“

Da nahm ich das Gespräch an. Er war so wütend, fragte, wo ich sei. Ich sagte, ich hätte schon geschlafen und vergessen das Handy laut zu stellen. Er glaubte mir nicht, billigte es aber schließlich. Ich fragte, was denn los wäre. Meine Eltern würden später aus dem Urlaub kommen, weil das Flugzeug defekt sei. Er sagte noch, dass er Angst um mich gehabt habe und ich ihm das nie mehr antun sollte, er wäre zu mir gekommen, wenn er gewusst hätte, wo ich wäre. Aber er kenne ja die Adresse nicht. Warum eigentlich nicht? Ich konnte ihm nichts darauf erwidern und wünschte ihm gute Nacht. Er polterte: „Soll das ein Hohn sein? Ich konnte bisher nicht schlafen und werde auch jetzt vor Aufregung kein Auge zumachen. Danke, was du mir angetan hast.“

Ich war so niedergeschlagen und hatte große Schuldgefühle. Dann piepte Jens’ Handy. Es war eine SMS von Sonja:

„Hallo Jens! Warum meldest du dich nicht wie versprochen?“

Jens meinte, er hätte für diesen, unseren Tag ihr nichts versprochen. Wahrscheinlich machte sie ähnliche Qualen durch wie Holger, nur mit dem Unterschied, dass Holger ahnungslos war. Da es unser Abschied war, nahm ich mir vor, mit Holger ins Reine zu kommen. Ich würde es schaffen, nur wie, wusste ich nicht.

Die Lehrgangsstunden quälten sich dahin, ich konnte und wollte nicht zuhören. Als das Seminar endlich zu Ende war, fuhren wir gedrückt nach Hause. Ohne viel zu reden verkroch ich mich gleich hinter der Hausarbeit. Holger machte mir keine Vorwürfe mehr und es war gut, dass die Kinder da waren und ich unangenehmen Gesprächen entging. Beim Abendessen zwang ich mich, ein paar Bissen runterzukriegen und kämpfte gegen die Tränen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Den Abend verkürzte ich mit der Begründung, dass ich müde sei. Es war ja auch so, Schlaf hatte es so gut wie keinen gegeben, die Ereignisse hatten sich überschlagen, ich fühlte mich wie ausgelaugt. Ich war froh, allein im Bett zu liegen und weinte mich in den Schlaf.

Am Montag war die Nacht wie immer um vier zu Ende, ich fühlte mich immer noch zerschlagen und abgespannt. Ich wusste, dass Jens später als sonst kommen würde, weil Sonja ihn zu einer Aussprache aufgefordert hatte. Es hätte mir egal sein sollen, ich hatte schließlich vorige Woche den „Abschied“ angekündigt. Aber es tat doch weh, dass er auf zwei Hochzeiten tanzte. Obwohl ich dies ja mittlerweile selbst tat. Als er endlich zum Guten-Morgen-Wunsch erschien, sah er gequält aus. Er sagte, dass Sonja ihm sehr böse sei, weil er trotzdem den Lehrgang besucht hatte. Er habe ihr versprechen müssen, die Finger von mir zu lassen. „Warum steht er hier wie ein kleiner Junge? Warum lässt er mich nicht in Ruhe? Warum greife ich nach jedem Strohhalm? Warum ertrage ich diese Demütigungen? Ich kann doch sonst so gut in meinem Leben alles ordnen und einen Rundumschlag machen, damit es weitergeht! Warum nicht jetzt und hier?“

Am nächsten Tag rief Jens mich an, ob ich nicht mal zu ihm kommen könne, also zwei Türen weiter. Sonja wolle mit mir reden wegen der Arbeitsstelle. Widerwillig betrat ich das Büro. Bei dem Gespräch war Sonja aufgeregt, wie ich sie noch nie erlebt hatte, ihr Hals war rot angelaufen. Jens saß hilflos da wie ein begossener Pudel. Er ließ sie reden. Sie gab mir zu verstehen, dass aufgrund der Beziehung zwischen ihr und Jens es nicht gut wäre, wenn ich ihre Chefin würde. Zu meiner Beruhigung ließ sie mich wissen, dass sie die Stelle ablehnen würde. Selbstverständlich mit einer anderen Begründung. Sie erklärte mir, dass sie zu Jens gehöre und er ließ es geschehen. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien, für wen er welche Gefühle hege? Aber ich hörte nur zu und wollte aus diesem verdammten Zimmer wieder raus. Dieser feige Kerl, lässt sich einlullen und ich gehe daran kaputt. Ich verließ deprimiert und wütend sein Zimmer. Danach gingen wir uns mehrere Tage aus dem Weg.

Nun beschäftigte mich unsere neue Struktur. Wir mussten uns entscheiden, ob wir die Arbeitsstelle wechseln wollten und in welchen Ort. Von den Arbeitsaufgaben her war es klar, dass Jens und ich die gleiche Stelle angeben mussten. Darüber hatten wir schon oft gesprochen. Aber es war uns auch klar, dass es, wenn wir weiter Büro an Büro sitzen würden und verstritten wären, nicht gut gehen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich für den näheren Arbeitsort zu entscheiden. Meine Familie wusste das schon lange, ich hätte keine Begründung gefunden, es auf einmal nicht mehr zu tun. Aber Jens’ Arbeitsweg würde länger werden. Er fragte mich um Rat. Wir diskutierten lange und auch sehr vernünftig. Unsere jetzige Arbeit machte uns beiden Spaß. Wenn wir den Antrag nicht abgaben, müssten wir vielleicht Arbeiten erledigen, die uns nicht lagen. Sonja würde sicherlich nicht zwangsversetzt werden. Wir redeten über alle Eventualitäten, bis wir letztendlich für die fachliche Entscheidungsfindung unseren früheren Chef fragten, der die Strukturänderung betreute. Er gab uns den Rat: „Das Personal geht mit seinen Aufgaben. Was gibt es groß zu überlegen, folgen Sie Ihren Aufgaben, wenn Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht.“

Daraufhin gaben wir beide unseren Wunschort ab und würden wahrscheinlich weiterhin eng zusammensitzen. In diesem Moment fühlte ich mich mit Jens wieder verbunden, freute mich, ihn vielleicht doch nicht verlieren zu müssen, obwohl noch nicht die letzte Entscheidung gefallen war. Es ging vorerst nur um Anträge, die konkreten Personalentscheidungen dauerten noch mindesten ein halbes Jahr.

So wie wir zum Lehrgang unseren Abschied und Abstand besiegelt hatten, kam es natürlich nicht. Wir redeten und gingen sehr einfühlsam miteinander um. Körperliche Nähe gab es allerdings nicht mehr, wie vereinbart. Aber jeder versuchte, mit dem belanglosesten Grund den anderen in ein Gespräch zu verwickeln, um in seiner Nähe sein zu können. Es war trotzdem zermürbend und ich fühlte mich immer noch wie auf dem Pulverfass.

Zu Hause zog ich mich noch mehr zurück, aber Holger merkte es immer noch nicht. Ich konnte nicht mehr schlafen und mein Herz raste ständig. Als Holger an einer Konstruktion für das neue Küchenradio bastelte, krochen wieder Schuldgefühle in mir hoch. Er bemühte sich mit allem so sehr und ich war mit Geist und Seele völlig woanders. Er tat mir leid. Aber Stunden später konnte ich das Mitleid schon wieder abschütteln. Holger lag auf der Couch und hatte in der Zeit, in der ich Kuchen gebacken und die Bügelwäsche erledigt hatte, eine ganze Flasche Kräuterlikör geleert. Er hielt sich nicht für einen Trinker, hatte strenge Prinzipien: Null-Promille beim Autofahren und auch an den Wochentagen keinen Tropfen Alkohol. Aber wenn die Zeit es zuließ, war eine Flasche Schnaps ziemlich schnell leer. Das hasste ich wie die Pest. Es war ihm nicht möglich, gemeinsam mal ein Glas Wein zu trinken. Aber mittlerweile war ich froh, dass es so lief. Ich konnte zu ihm Abstand halten und fand für mich eine Entschuldigung, dass ich Jens nicht aus meinem Herzen bekam.

Es standen viele Termine an, zu denen ich „Friede, Freude, Eierkuchen“ spielen musste. So fuhren wir mit Roberto und Karin zum ABBA-Konzert. Es fand in einer Mehrzweckhalle statt, 40 Kilometer entfernt. Obwohl ich die Musik mochte und die Sänger es gut nachahmten, empfand ich diese Stunden als Qual. Viele Titel brachte ich mit früheren Zeiten in Erinnerung und die Tränen kullerten. Ich war todmüde, hatte schlecht geschlafen, dazu die harten Stühle, die vielen Menschen und die Musik, die ich als viel zu laut empfand, das alles vermieste mir den Abend. Diese Nacht war nun noch kürzer als sonst, ich versuchte, das Erlebnis aus meinem Gedächtnis schnell zu streichen.

Zu Hause spielte sich immer mehr Routine ein. Die Woche über gingen wir uns aus dem Weg und versteckten uns hinter Erschöpftheit von der Arbeit und an den Wochenenden hatten wir „Besuch“, denn regelmäßig kam mein Großer dann mit seiner Freundin zu uns. Ich „bediente“ und versorgte die Familie und für alle war es selbstverständlich, dass es so ablief. Einerseits freute ich mich für ihn, dass er nicht mehr alleine war. Andererseits fiel es mir schwer, jedes Wochenende zu „funktionieren“. Jana hatte ihre Eltern zwar ganz in unserer Nähe, aber dort war es angeblich nicht möglich, länger zu bleiben. Also konzentrierten sich die Mahlzeiten, die Übernachtung, die Wäsche und so was auf uns. Sicher war ich nicht ganz unschuldig daran, dass meinen Kindern das „Hotel Mama“ so gut gefiel, aber diese Verpflichtungen wurden mir allmählich zur Last, weil sie eben so regelmäßig und selbstverständlich geworden waren. Ich lebte ihnen eine perfekte Familie vor und alle waren glücklich, aber es gab keine Freiräume mehr, alles musste jedes Wochenende durchorganisiert sein, weil man ja die Woche über auch keine Zeit hatte, sich um Haus und Hof zu kümmern. Die Wochenenden bestanden aus kochen, waschen, sauber machen, Gartenarbeit und dann schnell noch irgendeine Fete oder ein Tanzabend mit Freunden, obwohl man eigentlich total fertig war. Nach außen sah es ganz wunderbar aus, wie wir das alles so auf die Reihe bekamen, aber ich fühlte mich ausgebrannt. Holger gab es selten zu, obwohl er seine Kinder noch mehr bediente als ich. Ich rutschte immer mehr in die Zwickmühle. Wenn meine Ehe tatsächlich nicht mehr zu retten war, wie sollte ich das meinen Kindern erklären? Sie sahen doch gar keine Schattenseiten! Im Moment kam mir das zwar zugute, ich versteckte mich hinter der Arbeit, aber andererseits wurde der Abstand zu Holger immer größer. Doch ich war viel zu sehr mit meiner verzweifelten Lage beschäftigt, als darüber nachdenken zu können. Ich ließ es einfach geschehen.

Sonja war nun krankgeschrieben und Jens wirkte irgendwie lockerer und offener. Ich wusste, dass er fast täglich mit ihr telefonierte und auch, wann er das tat. Jedes Mal schnürte es mir die Kehle zu, bis es vorbei war. Wir nutzten aber natürlich ihre Abwesenheit, um uns wieder zu nähern. Wir organisierten ein paar Überstunden, um für uns allein sein zu können. Wir genossen die Zweisamkeit und jeder offenbarte dem anderen, dass seine über Wochen unerfüllte Sehnsucht nun endlich gestillt würde. Das waren die Augenblicke, in denen ich Schuldgefühle, Eifersucht, Angst vor der Zukunft einfach vergessen konnte. Es war wie ein „Auftanken“ für die nächsten Katastrophen, die ja vorhersehbar waren. Ich nahm das Risiko in Kauf erwischt zu werden und erhielt dafür Augenblicke der Zweisamkeit und das Gefühl, dass jemand mich auffängt aus einem scheinbar unlösbaren Zustand.

Wir freuten uns auf die bevorstehende Weihnachtsfeier, nicht wegen der Kollegen, sondern weil wir uns entfernen wollten, um eine Stunde zusammen zu sein. Wir wussten, dass wir in dieser Zeit nur im Auto sitzen konnten, denn draußen war es bitterkalt. Die Feier begann mit Bowling und ich versuchte lustig zu sein, wie man mich halt kannte, hatte aber ständig Jens im Blick. Beide warteten wir nur darauf, dass es endlich vorbei war. Beim Abendessen saßen wir uns schräg gegenüber, die Zeit verging einfach nicht. Einige Kollegen tranken, weil sie nicht mit dem Auto da waren, und es wurde lustiger und lauter. Jens war der erste, der bezahlte. Nun musste ich eine viertel Stunde warten, so war es vereinbart. Ob jemand was ahnte und wir uns nur einbildeten, unentdeckt ein „Verhältnis“ zu haben, überlegte ich nicht, es war mir derzeit alles egal. Als ich draußen war, rief ich ihn an, damit er mir den Weg beschrieb, wo ich hinkommen sollte.

Dann saßen wir endlich in seinem Auto. Er musste den Motor laufen lassen, denn es war bitterkalt. Im Radio liefen die herrlichsten Liebeslieder, traurig und schön. Uns kamen automatisch Tränen. Diese Stunde, die wir für uns allein hatten, verging viel zu schnell. Wir benahmen uns wie unerfahrene Teenager und jeder hatte Angst, etwas falsch zu machen. Wir wussten nicht, wie es mit uns weiter gehen würde, waren aber so froh darüber, den anderen bei sich zu haben. Dieses Mal lag nicht nur ein einsames Wochenende vor uns, wir würden uns auch am Montag nicht sehen können, denn ich musste zu einer Schulung. Wir besprachen, wie und wann wir miteinander telefonieren könnten. Es fiel mir dann so schwer, nach Hause zu fahren und ich weinte bis fast vor die Haustür. Holger lag schon im Bett und ich war froh, dass er mich nur im Dunkeln zu sehen bekam. Er fragte, ob alle solange wie ich da gewesen wären, denn es wäre schon mächtig spät. Ich war so selten alleine weg und immer machte er mir Vorwürfe, wenn es später wurde, obwohl ich weit vor Mitternacht zu Hause war. Für mich begann eine weitere Nacht voller Grübeleien.

Im Dezember standen auch Familienfeiern an. Erst war mein Kleiner dran, er wurde 17, dann kam der runde Geburtstag meines Vaters, der 70. Ich hatte dafür eine kleine Show organisiert. Ein Ehepaar, das auf lustige Art die Sängerin Andrea Berg nachstellte. Da Holger bei diesen Titeln besonders gern tanzte, tat ich ihm immer öfter den Gefallen und tanzte mit ihm. Holger hatte schon seit längerer Zeit den Hang zur Volksmusik entdeckt. Er drehte dann immer die Lautstärke auf und freute sich, wenn mir das auf den Wecker fiel. Aber dann hörte ich Andrea Berg und später auch Helene Fischer und fand, dass sie besser sangen. Sogar mein Kleiner tanzte gern dazu. Aber auch „Schwarze Rose“, den Sänger kannte ich nicht einmal, fand mein Kind ganz toll und ich konnte mit ihm zu diesem Titel besonders gut tanzen. Holger war froh, dass ich auch mal einen deutschen Titel gut fand. Deshalb wurde „Schwarze Rose“ fast zum Familien-Klassiker. Zum Geburtstag war nun das „Andrea-Berg-Double“ bestellt als Geburtstagsgeschenk, weil mir absolut nichts Besseres eingefallen war. Ich hatte bei der Musik mit den Tränen zu kämpfen, weil mich mittlerweile die Textinhalte immer mehr berührten und ich das raushörte, was für mich zutraf. Alle meine Gedanken waren nur bei Jens und ich sorgte mich, wie das alles einmal enden würde.

Am Vorabend des Heiligabends wollte ich Jens anrufen. Ich grübelte, wie ich es wohl hinkriegen könnte. Dann erledigte es sich fast von ganz allein. Wider Erwarten war Holger müde und ging schon um acht zu Bett. Die Kinder schauten Fernsehen und ich verzog mich in den Keller an den Computer mit der Begründung, Bilder zu sortieren. Gegen neun Uhr kam der heiß ersehnte Anruf zustande. Es war laut im Hintergrund, Jens feierte in einer Kneipe. Die Situation war angespannt, wir wussten uns nicht viel zu sagen. Nach einer Weile erklärte Jens, dass sein Essen kalt werden würde. Damit fand das Gespräch ein jähes Ende. Ich war enttäuscht und fühlte mich ausgebrannt. Nun hieß es, die nächsten Tage zu überstehen.

Heiligabend feiern wir gewöhnlich mit den Eltern und Schwiegereltern. So auch dieses Jahr. Meine Schwiegermutter war nun das zweite Mal nicht mehr dabei, aber sonst verlief alles genauso wie bisher. Erst gab es Abendessen, dann kam der Weihnachtsmann. Die Kinder bekamen dieses Mal „Kultur“ geschenkt, genau zu meinem Geburtstag fand ein Musical statt. Mein Geburtstag fiel mit Ostern zusammen und Bettina und Mario wollten kommen und mit uns auch zu der Show fahren. Also hatte ich insgesamt sieben Karten besorgt. Damit stand auch schon der nächste Termin des trauten Familienglücks fest, mein Drang, für „das Wohl der Familie zu funktionieren“, zwang mich, still zu sein und mir nichts anmerken zu lassen.

Am ersten Feiertag war es mittlerweile zum Ritus geworden, mittags in gleicher Runde in immer derselben asiatischen Gaststätte zu essen. Wenn der Gaststättenbesuch beendet war, fanden auch die Weihnachtsverpflichtungen meist ein Ende. Die Kinder beschäftigten sich mit sich selbst oder mit Freunden und wir gingen zum Weihnachtstanz mit unserem Freunden oder sie kamen auf Besuch. So war es auch dieses Jahr. Weil immer Trubel um uns rum herrschte, vermisste keiner die Zweisamkeit, das kam mir dieses Jahr zugute.

Auf unserer Tanzveranstaltung war auch deutsche Musik zu hören. Als „Schwarze Rose“ kam, wollte Holger mit mir tanzen. Er wusste, dass es mir gefiel. Anfänglich konzentrierte ich mich auf den Rhythmus, erst später wurde mir der Text bewusst. Den Interpreten kannte ich sowieso nicht und es war schwierig den Text zu verstehen. Es klang so ähnlich wie:

Schwarze Rose,

der Wunsch, dich zu berühren,

an dich mich zu verlieren,

das wär’ für mich nicht gut.

Schwarze Rose,

dein Duft ist so begehrlich,

doch Dornen sind gefährlich

und trotzdem tun sie gut.

Früher interessierten mich die Texte kaum, seit es Jens gab, war alles anders. Ich interpretierte es so, wie es für mich zum jeweiligen Zeitpunkt am besten zutraf. Bei diesem Lied war ich hin und her gerissen. Holger tanzte es zwar gern, aber der Inhalt traf auf Jens und mich so zu, dass man es besser nicht hätte sagen können. Gerade dieser Titel war das perfekteste Tanzlied, das ich jemals vermochte zu tanzen. Ich musste mich beim Tanzen so zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Nach den Feiertagen kehrte zu Hause wieder der Alltag ein. Ich verkroch mich und versteckte mich in der Arbeit. Außerdem ging ich jetzt regelmäßig zum Schwimmen, jeden Sonntagnachmittag, da waren die wenigsten Leute im Bad. Ich spornte mich an und schwamm immer mehr Bahnen, bis ich bei 50 angelangt war. Mehr war in einer Stunde nicht zu schaffen. Ich setzte mir verbissen dieses Ziel und strengte mich an. Es machte mich zufrieden, wenn ich es schaffte, als würde ich einem innerlichen Erfolgswahn unterliegen.

Holger kam zwar mit, klemmte aber meistens am Beckenrand und wenn Roland mit war, quatschen sie miteinander. Aber Roland verlor bald die Lust, da kam Marion ohne ihn mit, später gingen wir nur noch alleine schwimmen.

Jens’ Urlaub war vorbei, wir gingen wieder sehr vorsichtig und liebevoll miteinander um. Nach der Arbeit hatte ich einen Frisörtermin und auf dem Nachhauseweg hielt ich auf einem Parkplatz an, um mit ihm zu telefonieren. Dieses Mal würde es nicht auffallen, wenn ich etwas später zu Hause war, denn Wartezeiten beim Frisör kann man nicht vorhersagen. Jens saß in seinem Wohnzimmer, Petra war zum Sport. Er erklärte mir, dass er gerade seine Versicherungsunterlagen bereinige. Ich verstand nicht. „Martina, begreifst du nicht? Ich schließe mein bisheriges Leben ab. Ich werde übermorgen zu Sonja fahren und ihr sagen, dass Schluss ist. Morgen habe ich leider keine Zeit dafür. Ich kann so nicht weitermachen. Ich sehe, wie du daran kaputt gehst, das ertrage ich nicht länger. Ich liebe dich, das muss ich mir endlich eingestehen. Du hast von mir eine Entscheidung verlangt und ich habe mich jetzt entschieden. Wir kommen nicht mehr voneinander los. Wie es hier zu Hause weitergeht, weiß ich noch nicht. Jetzt muss ich erst mal die eine Sache bereinigen, dann kommt der nächste Schritt.“

Ich war sprachlos. Mit solch einer Entscheidung hatte ich nie gerechnet und schon gar nicht so aus heiterem Himmel. Jens sprach das erste Mal die Worte „ICH LIEBE DICH“ aus, niemand hatte das vorher gewagt. Alles war mit einem Schlag anders. Ich konnte es noch nicht richtig glauben, es war ja ein ewiges Auf und Ab mit unseren Entscheidungen. Ich konnte mich auch nicht freuen, es würden ja nun neue Probleme auf uns zukommen. Ich rechnete ihm allerdings hoch an, dass er den Mut gefasst hatte, sich zu entscheiden. Alles was ich ihm bisher an den Kopf geknallt hatte, seine Feigheit, sein Umworben-sein-wollen, war nun hinfällig. Ob er es wirklich durchziehen würde? Skeptisch sagte ich: „Jens, du wirst wieder umkippen. Sonja wird deine Entscheidung nicht akzeptieren und du wirst nachgeben.“ Jens seine Enttäuschung war nicht zu überhören: „Nein, Martina, ich dachte, du kennst mich mittlerweile. Ich brauche sehr lange für eine Entscheidung, das ist richtig. Aber wenn ich sie getroffen habe, gibt es kein Zurück mehr. Schade, dass du mir so wenig zutraust. Seit Monaten beschäftige ich mich mit unserer Zukunft. Ich wollte deine Ehe nicht zerstören, habe gehofft, du kriegst das wieder hin, indem ich mich von dir abwende. Aber wir haben es beide nicht geschafft, einander loszulassen.“

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es gelang mir nicht. Zu Hause wurde ich noch nicht vermisst und so ließ ich mir Zeit. Ich zweifelte immer noch an Jens’ Worten. Ich sehnte mich nach dem nächsten Tag und hatte noch tausend Fragen im Kopf, die ich ihm stellen wollte.

Dann war es so weit, Jens und ich sprachen das erste Mal über unsere Zukunft. Was würde morgen bei Sonja passieren? Kratzte sie ihm die Augen aus? Würde sie es Petra petzen? Wahrscheinlich nicht, dann könnte ihre eigene Ehe auch Schaden nehmen. Und wenn Sonja wieder Arbeiten kommt? Wie ging es mit uns weiter? Jeder hatte eine Nacht Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Folgende Vereinbarung kam nun zustande: Wir würden es langsam angehen. Auf Arbeit gaben wir uns nicht zu erkennen und auch zu Hause noch nicht. Jens führte als Grund dafür seine Tochter an. Sie beendete im Sommer ihre Lehre, er wolle sie bis dahin nicht belasten. Bei mir gab es gleich mehrere Gründe, die Trennung von Holger hinauszuzögern. Auch mein Kleiner sollte das Schuljahr erst beenden. Holger wurde dieses Jahr 50. Die Feierlichkeiten waren schon organisiert, er sollte noch einen schönen Geburtstag haben. Auch war eine Mallorca-Reise mit unseren Freunden schon lange gebucht. Genau zu seinem Geburtstag würden wir kurz vor Mitternacht wieder landen.

Ein weiterer Termin stand bereits fest: Anett und Bernd wollten ihre Silberhochzeit feiern. Sie hatten mich gebeten, mich um alles kümmern. Ich wollte sie nicht hängenlassen. Bis dahin waren es reichlich vier Monate und bis zum Ende der Schuljahre unserer Kinder noch sechs. Das bedeutete, wir gaben unserer Beziehung noch ein halbes Jahr Zeit bis zum nächsten Schritt!

Über diesen Zeitaufschub war ich froh. Obwohl es auch noch andere Termine gab, die ich aber ignorierte. Roberto wollte mit uns im Juni verreisen, auch das war schon gebucht. Den Sommerurlaub im September hatte Bettina festgemacht, nach Griechenland, das erste Mal ohne Kinder. Alle diese Planungen hatte ich einfach über mich ergehen lassen. Ob und wie diese Termine durchgeführt wurden, war mir nun egal. Für mich zählten der Geburtstag, die Silberhochzeit und das Ende der elften Klasse. Alles andere würde sich ergeben. So verdrängte ich erst einmal das Ganze.

Aber die Grübelei wurde stärker, jetzt wurde es ernst, was meine Ehe anging. Nun war ich am Zuge. Aber wie? Ich sah Holger vor mir und wusste, dass er ohne mich nicht zurechtkommen würde, ich hatte keinen Überblick über die finanziellen Auswirkungen und was mit meinen Kindern wird. Aber ich wusste eins: Wenn ich ihn verlasse, soll es ihm wenigstens wirtschaftlich gut gehen. Für mich würde es einfacher sein, bei Null wieder anzufangen, der Verzicht auf Wohlstand wäre das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.

Dann stand das Treffen von Jens und Sonja auf der Tagesordnung. Ob danach wieder alles anders kam …? Als er zurück war, schien er erleichtert, aber auch erschöpft. Er sagte, dass es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hätte, aber sie habe ihm nicht die Augen ausgekratzt. Sie tat mir wieder etwas leid, aber ich war stolz auf Jens, dass er es durchgezogen hatte. Er hatte es für uns getan. Er liebte mich anscheinend wirklich. Mittlerweile wurde mir immer mehr bewusst, dass Jens nicht mehr umkippen würde. Ich konnte es noch gar nicht glauben.

Jetzt hatte ich Jens für mich. Nachdem ich die vergangenen Monate um ihn gekämpft hatte, war ich nun Sieger. War es das, was ich gewollt hatte? Hatte ich jetzt mein Ziel erreicht und würde feststellen, dass es gar keine Liebe gewesen war, sondern es nur ein Besitzdrang? Ich fürchtete mich vor der Antwort, die ich in diesem Moment noch nicht kannte. Doch in den nächsten Wochen würde ich spüren, ob die Sehnsucht und die Glücksgefühle blieben oder ob auf einmal alles anders wurde. Es war alles noch zu frisch und überwältigend, um darüber nachdenken zu können.

Es begann eine neue Phase meiner Untreue. Jens besorgte mir ein zusätzliches Handy, welches ich im Haus versteckte. Ich wurde unvorsichtiger, fühlte mich mit dieser Art der Verbindung sicherer. Auf einmal gab es Pläne, es war noch unfairer, dem Partner gegenüber so scheinheilig zu tun. Aber ich wusste keine andere Möglichkeit. Bevor ich mir nicht sicher war, welche Vorschläge ich Holger unterbreiten konnte, wollte ich weiter schauspielern. Das fiel mir ungeheuer schwer, weil es für mich so untypisch war und gegen meine Prinzipien verstieß. So begann also mein „professionelles Fremdgehen“. Plötzlich gingen Jens und ich ganz anders miteinander um. Wir fühlten uns freier, wurden auch unvorsichtiger und nutzten jede Möglichkeit, uns zu treffen.

Jens wollte am kommenden Wochenende zum Geburtstag seiner Tante fahren, zur Familienfeier. Sie wohnte im gleichen Ort und sogar im selben Viertel wie meine Freundin Martina. Als ich es ihr erzählte, fragte sie, ob Jens nicht bei ihr vorbeikommen könne, denn sie habe noch ein Buch für mich. Sie war also neugierig auf Jens? Martina war die einzige Eingeweihte, sie wusste alles von mir. Jens erzählte ich von diesem Gespräch und er war von dieser Idee sofort begeistert. Natürlich wollte er Martina kennenlernen, es wäre kein Problem, sich bei der Feier kurz abzumelden. Ich merkte, dass er schon eine Bindung zu Martina aufgebaut hatte, obwohl er sie noch gar nicht kannte, dass sie sich zu unserer gemeinsamen Bezugsperson entwickelte in diesem Drama. Also vermittelte ich beiden diesen Samstagnachmittagtermin und war glücklich über das bevorstehende Ereignis. Jens fieberte dem Samstag entgegen und ich wartete zu Hause auf eine SMS von ihm. Er schrieb mir, dass es ein angenehmes Gespräch gewesen sei. Ich war überglücklich. Auch Martina erzählte mir beim nächsten Telefonat, dass sie einen guten Eindruck von Jens erhalten hätte und dass ich ihm sehr wichtig sei. Nun war sie noch mehr involviert und es fiel ihr auch nicht leicht damit, weil sie Holger ebenfalls mochte.

Zu Hause wurde es kühler. Holger ahnte wohl, dass etwas nicht stimmte. Am Wochenende, als alle im Wohnzimmer saßen, verkroch ich mich abends ins Schlafzimmer und sortierte die Sachen im Schrank. Holger suchte mich auf und fragte mich, was mit mir los wäre. Ich wich ihm aus, er wurde wütend, schmiss mich aufs Bett und schrie mich an, dass ich mich gefälligst ändern solle, da sonst etwas passiere. Er wollte wissen: „Oder hast du einen anderen? Sag es mir!“

Das war doch die Chance, endlich die Lügerei zu beenden. Mein Herz raste. In meinem Gehirn war alles durcheinander. Was würde geschehen, wenn ich es jetzt zugab? Seine Wut würde ihn unberechenbar machen. Die Kinder waren zu Hause, nein, ich konnte es nicht eskalieren lassen. In dem Zustand, in dem Holger sich jetzt befand, würde er womöglich alles zusammenschlagen. Ich hörte die Warnung meines Vaters, dass Holger das Haus zusammenschieben würde, wenn ich einen anderen hätte. Also versuchte ich zu schlichten und verneinte seine Vermutung, ich versprach, mein Verhalten zu ändern. Er ließ mich los und ging die Treppe runter. An diesem Wochenende bemühte ich mich sehr um Harmonie, damit er sich beruhigte. Die Kinder hatten Gott sei Dank nichts mitbekommen.

Meine Gefühle zu Jens veränderten sich trotz der neuen Situation nicht. Es war wohl doch Liebe und nicht nur Besitzdrang. Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich ohne ihn nicht sein konnte. Am Sonntag hatte Jens Geburtstag, Montag wollten wir „nachfeiern“. Mit einem Überstundenschwindel vertuschte ich zu Hause mein Zusammensein mit Jens. Meine Aktivitäten wurden immer gewagter und gefährlicher und ich wurde Holger gegenüber immer gleichgültiger. Ich kam mir zwar schäbig vor, konnte es aber noch nicht lassen.

Auf der Arbeit wurde eine erneute Bewerbungsrunde ausgelöst, die erste war wohl nicht rechtmäßig gewesen. Damals hatten wir uns ja beide für den Wechsel des Arbeitsortes entschieden. Jetzt sah es anders aus. Einerseits stand nun fest, dass mein Arbeitsgebiet an der alten Stelle bleiben würde, anderseits waren Jens und ich nun ein Paar und wir überlegten, ob wir auf der neuen Arbeit weiterhin eng zusammenarbeiten wollten und ob dies dann gut gehen würde. Die Entscheidung erleichterte uns wieder unser ehemaliger Chef, der das Konzept der Strukturänderung erarbeitet hatte. Er riet mir, nicht zu wechseln und lieber den langen Arbeitsweg in Kauf zu nehmen, denn hier hätte ich Perspektive. Jens dagegen sollte wechseln, seine Stelle würde hier gestrichen. Zu Hause musste ich nur die Begründung meines Chefs wiedergeben, auch wenn es Holger nicht passte, dass ich weiter so lange fahren sollte. Jens würde nun an einem anderen Arbeitsort sein. Das war aus derzeitiger Sicht die beste Lösung. Wenn wir getrennt arbeiteten, nahm vielleicht das Getratsche ein Ende.

Im Garten begann die Saison. Beim Saubermachen der Rabatten und Beete überkam mich Wehmut, weil es das letzte Mal sein könnte, das eigene Grün zu genießen. Aber ich hatte mir vorgenommen, Holger bestens zu unterstützen, und sicher würde mein Kleiner nicht mit mir wegziehen, denn hier hatte er sein vertrautes Umfeld. Ich wollte allen am Wochenende den Haushalt und die Wäsche machen, es sollte ihnen weiterhin gut gehen. Der Große brachte ja auch noch seine Wäsche. Ob Holger diese Hilfe annahm? Hoffentlich, sonst würden mich Schuldgefühle quälen. Es war so grotesk, ich organisierte in meinem Kopf die Abläufe für die ganze Familie, so wie es immer war in meinem Leben, und bildete mir ein, dass alle meine Vorschläge akzeptieren würden. Ob das so gut gehen und ob Jens es überhaupt mitmachen würde?

Den finanziellen Überblick hatte ich mir nun auch verschafft und für Holger alles aufbereitet. Das Ergebnis beruhigte mich etwas, es sah nicht so aus, als ob ich Holger in den Ruin stürzen würde, dann hätte ich auch bestimmt nicht den Mut und die Kraft für eine Trennung gefunden.

Jens hatte mich mit der Wohnungssuche beauftragt und ich war vorangekommen. Es gab bezahlbare Häuser zur Miete, aber auch schöne kleine Wohnungen. Ich suchte einiges aus und wollte die nächsten Schritte Jens überlassen. Er sollte entscheiden, wo er einen Termin vereinbaren wollte.

Ich hatte sogar einen Abschiedsbrief für Holger vorbereitet. Ich fürchtete den Tag der Wahrheit und auch, dass er mir keine Gelegenheit geben würde, ihm zu sagen, warum ich mich trennte und dass es nicht seine Schuld sei, dass ich ihn verließ. Weil ich befürchtete, etwas zu vergessen, schrieb ich alles auf, perfekt durchdacht, das war eigentlich ziemlich schlimm, aber ich hatte keine bessere Idee. Ich schrieb:

„Lieber Holger, es tut mir leid, was ich dir antue und was du ertragen musst, dich trifft keine Schuld. Unsere gemeinsamen Jahre bereue ich nicht und hätte auch nie geglaubt, dass mir so etwas passieren kann. Ich habe mich lange gegen die Gefühle gewehrt, der Andere ist nicht besser als du. Du hast nichts falsch gemacht. Aber die Gefühle und die Liebe zu dem anderen Mann sind so stark, dass ich bereit bin, alles aufzugeben, auch auf die Gefahr hin, verachtet oder verstoßen zu werden. Mir ist bewusst, dass ich mit diesem Schritt allen großes Leid zufüge. Deshalb habe ich so lange gezögert, dir die Wahrheit zu sagen. Lieber Holger, ich wünsche mir, dass du mir irgendwann einmal verzeihen kannst und eine Frau findest, mit der du glücklicher wirst als mit mir. Damit es für dich etwas erträglicher ist, sollst du das Haus behalten. Ich möchte dich so gut es geht unterstützen bei Haushalt, Garten und Wäsche, solange du es wünscht. Lieber Holger, ich bin bereit, nochmals bei Null anzufangen und gebe alles auf, was mir ans Herz gewachsen ist. Lass uns bitte vernünftig miteinander umgehen, schon wegen der Kinder. Es tut mir leid, entschuldige bitte. Martina.“

Für diesen Brief hatte ich mehrmals Anlauf genommen, hatte umformuliert und weggestrichen. Während des Schreibens liefen mir die Tränen. Es war mir, als hätte ich ein Kapitel meines Lebens beendet, als ich den Brief fertig hatte. Ich versteckte ihn. Wann er „zum Einsatz“ gelangen würde, war noch völlig unklar, aber er war erst einmal fertig und ich somit einen Schritt weiter an das Ende meiner Ehe herangerückt.

Der Urlaub nach Mallorca rückte immer näher. Ich bereitete Holger darauf vor, dass ich einen ganztägigen Außentermin hätte und gar nicht erst ins Büro ginge. Dies kam schon mal vor, deshalb erschien es glaubwürdig. Tatsächlich bummelte ich Stunden ab. Ich war froh, dass er nicht viel fragte und nur den Ort wissen wollte. Bei der Lügerei wurde mir bald übel, ich tröstete mich damit, dass alles ja bald ein Ende hätte. Jens hatte sich inzwischen die Wohnungen im Internet angesehen und Termine mit den Vermietern vereinbart. Vormittags wollten wir uns die Wohnungen anschauen und nachmittags unsere vorerst letzten Stunden genießen. Ich war so aufgeregt, es wurde immer ernster mit uns beiden: Wenn wir uns für eine Wohnung entschieden, was würde dann geschehen? Wie lange hätten wir Zeit, zu Hause alles zu regeln? Was würde mit Benni, ob er mit mir mit wollte? Wenn nicht, wie würde ich das verkraften? Ließ mich Holger gehen oder schlug er alles zusammen? Ließ er sich helfen?

Dann saßen wir bei dem ersten Vermieter. Als er unsere Daten abfragte, erklärte ihm Jens, dass alles über seinen Namen laufen würde. Er riskierte immer mehr. Die Wohnung befand sich im Obergeschoss eines Einfamilienhauses. Von einem großen Balkon aus konnte man über den Stadtrand ins Grüne schauen. Der Gedanke, mich als Mieter in einem Privathaus unterordnen zu müssen, war mir neu und musste erst einmal reifen. Die nächste Wohnung war eine Altbauwohnung an einer stark befahrenen Straße, auch nichts für mich. Die letzte Wohnung für diesen Tag befand sich am anderen Ende der Stadt in einem zehn Jahre alten Neubaublock. Sie schien modern, aber das Umfeld war nicht schön. Es gab zwar einen Innenhof, aber keinen Balkon. Wir sagten zwar niemanden sofort ab, blieben aber skeptisch. Nach meinem Urlaub wollten wir noch eine Einliegerwohnung in einem Eigenheim auf einem Dorf anschauen.

Damit war unser Stadtbesuch beendet. Jens wollte, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz abstelle und wir mit seinem Auto fahren. Auf dem Weg zum Parkplatz passierte dann, was dem Spruch „Lügen haben kurze Beine“ gerecht wird. Ich wurde geblitzt. Mich durchzuckte es. So, jetzt kommt ein Brief nach Hause, aus einer Stadt, in der ich zu dieser Uhrzeit auf alle Fälle nicht sein durfte. Holger oder mein Sohn leerten im Regelfall den Briefkasten. Einen Brief vom Landratsamt konnte ich nicht unbemerkt öffnen. Wie sollte ich mich aus der Affäre ziehen? Ich wurde vor acht Jahren das letzte Mal geblitzt, in einer 30-iger Zone. Holger dagegen bekam regelmäßig solche Post, er hatte sogar schon mal ein Fahrverbot erhalten.

Zu Hause erklärte ich Holger, dass ich geblitzt worden sei. Weil ich einen zusätzlichen Termin bekommen hätte, sei ich noch an einem anderen Ort gewesen. Ich hatte das Gefühl, dass Holger mir nicht mehr vertraute und ihm etwas schwante. Er sagte, er glaube langsam, dass ich ihn verarsche. Ich ließ mich auf keine Diskussion ein und vergrub mich in meiner Hausarbeit.

Am nächsten Tag packte ich die Koffer für den Urlaub mit unseren Freunden und da ich im Garten und Haus zu tun hatte, verging die Zeit sehr rasch. Auf dem Weg zum Flughafen sah ich von der Straße aus das Haus mit der Wohnung, die wir zwei Tage zuvor besichtigt hatten. Mir kamen die Tränen und ich musste mich sehr zusammenreißen, damit Holger nichts merkte. Seit dem Geständnis mit dem Blitzer hatten wir wenig miteinander gesprochen, ich mied seine Nähe und er ließ mich in Ruhe. Es war so unheimlich, wie kurz vor einer Explosion. Auf dem Flughafen gab sich Holger besonders locker und lustig den anderen gegenüber und kasperte ausgelassen herum. Wahrscheinlich überspielte er so unsere Zerrissenheit, die er irgendwie spürte.

Als wir spät abends im Hotel ankamen, ging ein anstrengender Tag zu Ende. Das Hotel war sehr schlicht, die Zimmer schon fast ungemütlich und dunkel, das Essen ohne Auswahl. Holger sagte wie immer nichts zu und er aß kaum. Er beschwerte sich aber nicht, denn wir wollten es ja preiswert haben.

Am nächsten Tag fuhren wir an der Steilküste entlang und klapperten die Sehenswürdigkeiten ab. Ich aber war nicht bei der Sache, wollte nur, dass alles schnell verging. Es war warm und das viele Laufen anstrengend. Nachmittags streikte Holger und kam mit uns nicht mehr mit. Entweder tat seine Hüfte weh oder er musste aufs Klo. Es war wie immer. Und er war so stur. Wegen der Hüfte wollte er nicht zum Arzt gehen, angeblich aus Angst, deswegen arbeitslos zu werden. Sein Durchfall war schon obligat geworden, sobald kein Klo in der Nähe war, bekam er Schweißausbrüche. Seine Hausärztin meinte, es sei psychisch, womit es sich für sie erledigt hatte. – Wir beide redeten kaum miteinander, es fiel aber nicht auf, da die anderen ständig um uns rum waren. Mein Handy war mein Trost, ich wurde immer unvorsichtiger mit dem Schreiben an Jens. Drei Tage hieß es noch zu überstehen, dann war ich wieder in Deutschland und auf sicherem Boden.

Am Abend gingen wir alle gemeinsam essen, bis ich schließlich gegen Mitternacht ausgelaugt im Bett lag. Holger fing an, Fragen zu stellen und versuchte unbeherrscht, herauszufinden, was mit mir los war. Als ich weiter abweisend blieb und schwieg, wurde er wütend. Er drückte mich aufs Bett und schrie mich an. „Ich will jetzt endlich wissen, was mit dir los ist, sonst knallt’s. Wenn du mich nicht mehr willst, dann sag es endlich, aber mach es nicht auf die Tour, die du hier loslässt. Was bildest du dir denn überhaupt ein?“ Ich weinte, er wurde immer wütender und tat mir weh beim Festhalten. Dann schrie er noch lauter: „Los, raus mit der Sprache. Du hast einen anderen, stimmt’s?“ Ängstlich sagte ich: „Holger, bitte lass mich los. Du tust mir weh. Lass uns schlafen.“ Er drückte noch fester zu: „Nein, und wenn ich dich die ganze Nacht festhalten muss. Ich will es wissen.“ So ging es hin und her bis ich es nicht mehr aushielt: „Ja, Holger, du hast recht. Ich habe einen anderen Mann und ich werde dich verlassen. Es tut mir leid, du kannst nichts dafür.“

Für einige Sekunden fühlte ich mich erleichtert, als ob eine zentnerschwere Last von mir gefallen wäre. Dann wartete ich darauf, dass er mich totschlagen würde. In diesem Moment war mir das sogar egal. Aber er ließ von mir ab, schaute mich ungläubig an. Anstatt er mir Gewalt antat, fing er an zu schreien. „Nein, nein. Ich habe es gewusst, aber das kann doch nicht sein. Warum tust du mir das an? Das ist mein Ende.“ Dann sprudelte es aus ihm raus: „Wer ist dieses Schwein?“ Ich sagte ihm den Namen und verteidigte Jens, dass nicht er allein der Initiator gewesen sei. Da stürzte sich Holger aus dem Bett und schmiss sich auf die Dielen. Er kauerte sich zusammen, röchelte und schrie, er habe Schmerzen. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, doch er schrie mich an, dass ich ihn nicht anfassen und weggehen solle. Ich erschrak. Als es nicht aufhörte, wollte ich den Notarzt holen. Aber er verbot es mir: „Wenn du das tust, bringe ich mich um.“

Dann fing er wieder an zu wimmern wie ein kleines Kind. Meine Versuche, ihn zu beruhigen, waren vergeblich. Ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Wo bekam ich in diesem Hotel so schnell einen Arzt her? Hatte er eine Herzattacke oder nur einen Nervenzusammenbruch? Ich redete ihm zu, dass ein Arzt helfen könnte. Da meinte er, es würde schon besser gehen. Dann kam die nächste Attacke. Immer, wenn ich zur Tür ging, um Hilfe zu holen, hielt er mich ab. So ging das bald zwei Stunden. Er lag auf dem kalten Fußboden, ich deckte ihn zu. Ich verfluchte das primitive Hotel. Endlich ließ er sich überzeugen, ins Bett zu gehen. Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen, das könne ich doch nicht mit ihm machen. Er war mittlerweile fix und fertig und ich bat ihn, erst einmal zu schlafen und versprach, dass wir am Morgen über alles in Ruhe reden würden. In mir arbeitete es die nächsten Stunden. Wie würde es jetzt weitergehen? Drei Tage standen uns noch bevor. Was sollten wir unseren Freunden sagen? Und Jens wird enttäuscht sein, dass ich nicht stark geblieben war. Diese Grübeleien und die Angst vor einem neuen Zusammenbruch ließen mich wach bleiben. Holger schlief vor Erschöpfung ein.

Auf einmal war alles anders. Die Wahrheit war endlich raus, mein Doppelleben vorbei. Ob er mich ohne Weiteres gehen ließ? Würden meine Eltern und meine Kinder mich verstoßen? Musste ich sofort ausziehen, schmiss er mich gar raus? Ließ er sich morgen alles in Ruhe erklären oder würde er stur und wütend sein? Wurde er jetzt krank oder übertrieb er, um Mitleid zu erzeugen?

Ich musste abwarten, was auf mich zukam. Mit dieser Nacht begann ein neuer Lebensabschnitt, er war ungewiss, aber endlich hatten das Versteckspiel ein Ende und der Betrug, so hoffte ich sehr.

Die Rose lebt weiter

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