Читать книгу Die Säulen der Dummheit (E-Book) - Katrin Hille - Страница 5
Оглавление01 Weil wir Muster erkennen, wo keine sind
People want to see patterns in the world.
It is how we evolved. We descended from those
primates who were best at spotting the telltale
pattern of a predator in the forest,
or of food in the savannah.
Benoît Mandelbrot
Menschen wollen Muster in der Welt sehen.
So haben wir uns entwickelt. Wir stammen von
denen ab, die am besten das verräterische Muster
eines Raubtieres im Wald oder von Nahrung in der
Savanne erkennen konnten.
Benoît Mandelbrot
Was sehen Sie in dem Bild unten? Angenommen, Sie sollen jemandem am Telefon dieses Kanizsa-Dreieck beschreiben: Was sagen Sie?
Reden Sie von Dreiecken? Eigentlich sind nur Winkel und Kreissegmente zu sehen. Die Winkel sind identisch und so aufeinander ausgerichtet, dass sie zusammen ein Dreieck mit blauem Rand bilden könnten. Auch die Kreissegmente sind identisch und so angeordnet, dass es drei vollständige blaue Kreise sein könnten, die aber zusammen von einem weißen Dreieck verdeckt sind.
Aber hätten Sie am Telefon von ausgerichteten, teilweise verdeckten Winkeln und Kreissegmenten geredet? Oder von Dreiecken?
Wir sehen ein weißes Dreieck, auch wenn keines abgebildet ist. Es fällt uns leicht, dieses Dreieck zu erkennen. Es fällt uns im Allgemeinen leicht, Muster zu erkennen. Menschen sind gut darin.
Stellen Sie sich eine Mathelehrerin vor, die einen Schuhkarton voller Dreiecke, Kreise, Kreissegmente, Winkel und allerhand Figuren für den Geometrie-Unterricht in die Klasse trägt. Sie stolpert. Der Inhalt des Schuhkartons landet auf dem Boden. Wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Kanizsa-Dreieck aus den herausgefallenen geometrischen Figuren ergibt? Schwer zu sagen. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Figur aus drei blauen Kreisen mit zwei weißen, darüberliegenden Dreiecken entstand. Nicht aus drei Winkeln und drei Kreissegmenten, die jeweils ganz zufällig ganz perfekt aufeinander ausgerichtet sind. Wenn wir gerade nicht wissen, womit wir es zu tun haben, sind Muster die sichere Wette.
Die Fibonacci-Folge beschreibt ein Muster, das sich in der Natur an vielen Stellen finden lässt.
Auch in den Blütenblättern einer Blume …
… und in einem Schneckenhaus. © Pixabay
Angenommen, Sie probieren zum ersten Mal eine Spielkonsole aus. Sie schalten sie «ein» und drücken wahllos auf ein paar Knöpfe. Verschiedene unbekannte Geräusche erklingen und bunte Bilder strömen auf Sie ein. Es ist ein heilloses Durcheinander. Ständig verändert sich etwas. Ob Sie diese Szenen durch das Drücken auf die Knöpfe beeinflussen, wissen Sie nicht. Sie können einfach keinen Sinn in Geräuschen und Bildern erkennen. Was jetzt? Sie könnten die Gebrauchsanweisung aufschlagen oder jemanden fragen, der sich auskennt. Bei der neuen Spielkonsole geht das sicherlich. Doch was, wenn es weder Kundige noch Gebrauchsanweisungen gibt? Das ist im Leben leider öfter der Normalfall als die Ausnahme.
Sie kommen in eine Situation mit unbekannten Menschen, die sich erbost in einer fremden Sprache über etwas aufregen. Über Sie und Ihr Verhalten vielleicht? Sie wissen es nicht. Sie müssen sich selbst helfen. Sie tun das, indem Sie Muster aus der Situation herauslesen. Wird der Ärger größer, nachdem man Sie anschaut? Verändert er sich, wenn Sie versuchen sich aus dem Staub zu machen? Was tritt zusammen auf? Was nacheinander? Außerdem: Was haben Sie in Ihrem Repertoire gemachter Erfahrungen, das solche Situationen beruhigt?
Ganz schlimm trifft es Neugeborene. Sie kommen in eine für sie völlig unverständliche Welt. Und sie können noch nicht einmal auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen. Aber Hilfe ist zur Hand: der Muster-Erkennungsmechanismus! Er hilft, Sinn aus den jeweiligen Situationen zu machen. Was tritt zusammen oder nacheinander auf? Dinge, die immer nacheinander auftreten, werden zu einem zusammengefasst. Das können schon die ganz Kleinen. Wenige Tage alte Babys wurden in einer Studie[01-01]1 hintereinander verschiedene Formen gezeigt, die einem logischen Muster folgten. Ungefähr so:
Haben Sie das Muster schon erkannt? Nach einem Quadrat kommt immer ein Kreuz. Nach einem Kreis kommt immer ein Dreieck. Die Neugeborenen haben nach wenigen Minuten schon Zusammengehörendes zusammengefasst. Die Babys haben die Bilderfolge gelernt und sich bei weiteren Kreis-Dreieck- oder Quadrat-Kreuz-Kombinationen gelangweilt. Erst neue Kombinationen erweckten ihr Interesse.
Ältere Babys lernen aus ununterbrochenen Lautströmen der Sprache, die auf sie einprasseln, erst die einzelnen Laute zu unterscheiden und dann die einzelnen Worte. In der Forschung wird bei all dem von statistischem Lernen01-02, vom Lernen der statistischen Eigenschaften der Umwelt, gesprochen. In einer Studie01-03 wurde acht Monate alten Babys Kunstsprache wie folgt vorgespielt:
Zwei Minuten reichten für die Babys. Dann hatten sie die Wörter dieser Kunstsprache entdeckt. Haben Sie die vier versteckten Kunstwörter finden können? Hier sind sie:
Das Erkennen von Mustern und Regelmäßigkeiten hilft uns, die Welt immer besser zu verstehen. Eine funktionierende Mustererkennung ist so wichtig für uns, dass die Evolution auf Nummer sicher gehen wollte. Dabei hat sie wohl etwas zu dick aufgetragen. Selten wird ein Muster übersehen, obwohl es da ist. Aber häufig werden Muster erkannt, wo keine sind. Und wir finden Muster überall.
Ein Punk aus Felsen
Ein Gesicht im Flugzeug
Wir sehen optische Muster (wie ein Kopf im Felsen und bemerken zeitliche (wie nach «pa-bi» kommt immer «ku»). Wir finden aber auch Muster im Verhalten unserer Mitmenschen. Möglicherweise «erkennen» wir ähnliche Eigenschaften bei Menschen, die alle in den Wochen vor dem Frühlingsanfang geboren sind. «Fische halt!» Möglicherweise sehen wir auch Ähnlichkeiten bei denen, die im selben Jahr geboren sind, und schwören daher auf chinesische Astrologie. Möglicherweise drängen sich uns noch andere Muster für das Verhalten von Menschengruppen auf, die wir nicht so genau kennen.
Wer die alternden autoritären Staatsmänner sieht, kann das Muster einer ichbezogenen politischen Elite entwickeln: «Denen geht es nur um sich selbst!». Wer ein paar junge anspruchsvolle, aber leistungsarme Praktikantinnen beobachtet, erstellt sich ein Muster der «Jugend von heute» und schimpft über Generation Y oder Z. Wer über Ausländer nichts weiter weiß als das, was er in Polizeiberichten studiert, dem kann seine Mustererkennung glauben machen, dass alle Ausländer kriminell sind. Solche Muster haben noch einen anderen Namen: Vorurteile.
In der «Stadt der Gesichter» bei der experimenta Heilbronn sieht man Gesichter in Bauwerken und Bäumen.
Übrigens: Das «Büro» für Gesichtserkennung
Für das visuelle Muster der Gesichter hat unser Gehirn eine Art Extrabüro. Es liegt in einem hinteren, unteren Seitentrakt, zu finden im Bereich mit der Nummer 37.2 Der Ort heißt auf Englisch «Fusiform Face Area» oder kurz FFA. Hier läuft die Gesichtserkennung. Oder sie läuft auch nicht, nämlich wenn es dort klemmt. Falls es da nicht so zugeht, wie es sollte, wird es schwer, Bekannte wiederzuerkennen. Zumindest an ihren Gesichtern. Falls es ganz schlimm kommt, kann es einem ergehen, wie beschrieben im Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte».01-04
Darf ich vorstellen? Christine Weick
Christine Weick, eine amerikanische Christin, machte die Welt mit einem zweiminütigen Handy-Video01-05 auf sich aufmerksam. Es wurde über 14 Millionen Mal angeschaut. In dem Video präsentiert sie ihre Theorie über Monster-Energy-Drinks beziehungsweise das Logo der Firma.
Die Firma schleust nämlich mit ihren Aludosen den Teufel in gute christliche Haushalte ein. Das meint Christine Weick ernst. Und sie hat dafür Belege. Das Logo sieht aus, als hätte eine Kralle (deutsche Schlagzeile: «Krall dir eine Dose Monster Energy!») etwas aufgerissen. Der Betrachter kann ein M sehen. Christine Weick hat aber erkannt, dass es auch ganz anderes gesehen werden kann. Man könnte nämlich in dem Krallenzeichen ein hebräisches Waw sehen. Das Waw ist der sechste Buchstabe des hebräischen Alphabets und steht damit für die Zahl 6. Das M ist also kein M, sondern eine 666. Und wofür steht 666? Na klar, für den Teufel. Die Bibel weiß es genauer mit der Offenbarung an Johannes01-06: Die Zahl 666 steht für ein wildes Tier mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, das ständig über Gott lästert. Also 666 ist der Teufel beziehungsweise der Antichrist01-07. Da haben wir also den Beleg Nummer 1. Es gibt aber auch noch einen weiteren Beleg. Das O von Monster enthält ein Kreuz! Wer auf Kreuze steht, kann ein Kreuz erkennen, halt eines, an dem ein langes Springseil runterhängt. Hier also Beleg Nummer 2. Ein Kreuz im Namen. Und das, obwohl die Monster Beverage Corporation keine christliche Firma ist. Und jetzt kommt der Clou: Trinkt man den letzten Schluck aus der Dose, so wird das Kreuz umgedreht. Es entsteht das Petruskreuz. Zwar hat das nichts mit der christlichen Überlieferung zu tun, aber manche sehen im Petruskreuz eine Verhohnepipelung christlicher Werte und Traditionen. «So schlau ist der Teufel!», meint dazu Christine Weick. Und ein Adam Wood kommentiert unter ihrem YouTube-Video: «So viel Zeit müsste man haben!»
Übrigens: Allerlei Krankheiten
Apophänie hört sich nicht gesund an und ist es meistens auch nicht. Bei Apophänie werden bedeutungsschwangere Muster erkannt. Die sind zwar meist unsinnig, aber werden trotzdem als gewichtig und vielsagend erlebt. «Als ich den Gedanken gedacht habe, war es gerade 11:11 Uhr. Das muss etwas bedeuten! Dieser Gedanke wird vielleicht wahr?»
Die US-Amerikanerin Diana Duyser beißt eines Abends in einen Käsetoast. Sie hält inne, denn im geschmolzenen Käse sieht sie das Antlitz der Jungfrau Maria. Sie glaubt, die Heilige will ihr etwas sagen, auch wenn sie nicht sicher weiß, was. Diana isst nicht weiter, sondern bewahrt den angebissenen Käsetoast01-08 sorgsam auf. Zehn Jahre später versteigert sie ihn für 28.000 US$.
Der schwedische Autor August Strindberg starb an Magenkrebs. Die beginnenden Schmerzen hat er als Zeichen umgedeutet, dass seine junge Ex-Frau ihn noch liebt und begehrt01-09. Die Schmerzen überzeugten ihn, dass sie – mindestens spirituell – ständig bei ihm im Raum und Bett war. Kann eine Magengrube lügen?
Darf ich vorstellen? The New England Society for Psychic Research
Ed und Lorraine Warren haben 1952 ein Geistermuseum in den USA gegründet. Sie nannten es The New England Society for Psychic Research. Dabei hat es nach normalen Standards eigentlich nichts mit Forschung zu tun, auch wenn das Paar oft in Sachen Geister ermittelte. Das Museum ist eine Sammlung von mehr oder weniger überzeugendem Krimskrams und Klimbim, der die Existenz von Geistern belegen soll.
Steven Novella, ein bekennender Skeptiker, Autor und Podcaster, hat sich das alles genauer angeschaut. Auf der Suche nach Belegen hat er sich durch Hunderte von Geisterfotos gearbeitet. Aber auf denen ist vor allem eins zu sehen: Lichtflecken. Die Skeptiker sehen darin doppelt belichtete Filme (ja, früher waren Filme im Fotoapparat), reflektierte Blitzlichter und Kameraschnüre, die vor dem Objektiv baumelten. Aber in den Augen der Warrens und ihrer Geisterjäger-Nachfolger sind es Geister. Ganz eindeutig.
Ja, Mustererkennung kann schiefgehen. Der Mechanismus mischt sich eifrig, altklug und vorlaut überall ein, liegt aber oftmals grandios daneben. Dennoch: Gäbe es eine Pille gegen die Mustererkennung, würde ich sie nicht nehmen. Zu wichtig sind die Vorteile der eifrigen, altklugen und vorlauten Musterkennung.
Es ist schwer, dagegen anzugehen. Man könnte natürlich versuchen, die erkannten Muster einem Realitätscheck zu unterziehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man in einem Supermarkt auf irgendeiner Verpackung etwas sieht, was man als Gotteslästerung umdeuten kann? Ziemlich hoch …
Doch wir Menschen sind nicht sonderlich gut im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Unser mangelhaftes Gefühl dafür kann die überschäumende Mustererkennung nicht in Schach halten. Das wäre wie der lahmende Blinde, der ein hyperaktives hakenschlagendes Häschen unter Kontrolle bringen soll.
Eine andere, vielversprechendere Option ist es, die Mustererkennung mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mehr Mustererkennung gegen die bereits erkannten Muster! 666 als Zahl des Tieres? Da streiten sich die Gelehrten. Manche meinen, die Zahl dieses Tieres ist 616. Und gut, das Waw sieht in der klassischen hebräischen Druckschrift anders aus als im Logo. In der modernen hebräischen Handschrift auch. Aber in der Raschi-Schrift, da hat es schon Ähnlichkeiten mit den M-Teilen aus dem Logo. Das O bei Monster als Kreuz? Vielleicht mit herunterhängendem Springseil. Aber es sieht doch eher aus wie eine durchgestrichene Null, die alte Unterscheidung der Computer zum großen O. Oder ein Phi, der griechische Buchstabe. Oder ein kyrillisches F. Oder der skandinavische Buchstabe, der Ö gesprochen wird. Oder, oder. So viele Muster lassen sich in diesem Zeichen erkennen. Sich für ein Muster und eine Interpretation zu entscheiden, hieße, sich gegen andere Muster zu stellen. Ist es nicht doch eher ein Phi? Man kann doch ein Phi erkennen? Dann infiltriert der Teufel vielleicht doch nicht christliche Haushalte mittels Getränkedosen … Ist eine alte Frau oder eine junge Frau zu erkennen? Wer abwechselnd beides sieht, kann sich nicht mehr festlegen.
Fest steht nur: Wir sind ausgezeichnete Muster-Erkenner. Michael Shermer meinte dazu, wir sind Muster-such-und-finde-Tiere.01-10
Kurz gesagt
•Wir sehen Muster, auch dort, wo keine sind.
•Das Muster-Sehen hilft uns, die Welt zu verstehen und uns zurechtzufinden. Die Welt enthält nämlich einiges an Regelmäßigkeiten, also Mustern.
•Besonders bedeutsame Muster, wie menschliche Gesichter, haben im Gehirn einen Extraplatz.
•Manchmal läuft das Muster-Sehen aus dem Ruder. Wenn man erstmal ein Muster sieht, fällt es schwer, es nicht mehr zu erkennen.
•Da hilft nur, andere mögliche Muster zu finden. Dann fallen wir nicht auf das eine Muster herein, das vielleicht nur in unserer Einbildung existiert.
1Der Verweis [01-01] (erster Verweis im ersten Kapitel) lässt sich im Quellenverzeichnis und online (siehe QR-Code) einsehen.
2Korbinian Brodmann unterteilte das Gehirn in 46 Areale. Die Gesichtserkennung findet in einem Teil des Brodmann-Areals 37 statt, der Fusiform Face Area (FFA).