Читать книгу Die Wunder der Marie-Luise Braun - Katrin Ludwig - Страница 3
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ОглавлениеDas Spiegelbild zeigte ein Mädchen, gerade dabei die Zeit der Kindheit zu verlassen, in einem weißen Kleid, dessen Saum Batistvolants zierten, die Haarfülle in Flechten gebändigt und unter einem Helgoländer Hut verborgen, frische Blumen zum Kranz gewunden und um Hals und Schultern gelegt. Sie trat noch einen Schritt näher an den Spiegel heran und holte eine Locke unter dem Hut hervor, die sie kokett fallen ließ, dann verließ sie den kleinen Raum, in dem sie sich täglich auf ihre Audienzen vorbereitete.
Wie anders hätte man es auch nennen sollen? Sie empfing tatsächlich Tag für Tag Menschen, ja man könnte es auch Menschenmassen nennen, die sich vor dem kleinen bescheidenen Haus in der Berliner Schifferstraße, nahe der Spree, versammelten, um sie zu sehen, ihren Segen zu spüren, ihr Gebet zu vernehmen, oder im gemeinsamen Gebet, ein Leiden loszuwerden. Ja, sie konnte Wunder vollbringen, so hieß es, von Gott inspiriert, der ihr seine Engel gesandt hatte, um sie von der ihr innewohnenden Kraft wissen zu lassen. Sie heilte Kranke, machte Blinde sehend, Lahme konnten wieder laufen – die Kraft ihres Glaubens vollbrachte solche Wunder. So hieß es.
Da spielte es keine Rolle, dass ein paar Straßen weiter die Revolution auf den Berliner Straßen, und vor dem Schlossplatz tobte, des Königs Soldaten in die Menge der Aufständischen schossen, Barrikadenkämpfe aufbrandeten, Tote und Verletzte zu beklagen waren, davon war hier in der kleinen ärmlichen Schifferstraße nichts zu spüren. Hier einte die Menschen Geduld und Hoffnung, die Erwartung eines Wunders, das ihnen widerfahren sollte. Der Konstabler vor dem Fischerhaus, war einzig und allein dazu da, die Flut von Bittschriften in Empfang zu nehmen diese zur Heilerin zu tragen oder vor ihrer Tür zu stapeln, aber gewiss nicht, um die Menschen zu verjagen, wie es eben ein paar Straßen weiter geschah.
Marie-Luise Braun hieß dieses wundersame Mädchen, von aller Welt Luise genannt, Tochter des Holzanweisers Braun und seiner Frau. Ehrbare, streng gläubige Leute, die bislang beileibe nicht ins Licht der Öffentlichkeit getreten waren und nun mit Staunen eben jene Ereignisse wahrnahmen, die sich um sie herum abspielten und in deren Mittelpunkt ihre einzige Tochter stand. Vielleicht hat es die beiden Alten mit Stolz erfüllt, da doch dem Kinde immerhin ein Wunder widerfahren war, das von den Menschen, den Reichen wie den Armen, dankbar angenommen wurde.
Nämlich damals, als sie krank darnieder lag, mit hohem Fieber und gar nicht recht bei Sinnen, so zwischen dem 12 und 13 Lebensjahr, da waren ihr des nachts zwei Engel erschienen, von Gott gesandt. Einer im weißen Gewand, sie nannte ihn Jonathum und erkannte in ihm ihren Führer. Er war es, der zu ihr von ihren Heilkräften sprach, die sie besäße und die allein durch ein Gebet zur Wirksamkeit gelängen. Der zweite Engel, im grauen Gewand, Gerod genannt, erwies sich als Begleiter auf den Reisen zwischen Himmel und Erde. Beide Engel erschienen der Luise Braun in menschlicher Gestalt. Hochgewachsen füllten sie die kleine Mädchenkammer aus, aber sie verspürte keine Bedrängnis, sondern empfand zu ihrem eigenen Erstaunen ein wohliges Vertrauensgefühl. Die Engel erschienen ihr täglich. Das machte sie dann doch unruhig und sie vertraute sich ihrem Arzt an.
„Zwei Engel? Und in menschlicher Gestalt?“ Der alte Doktor hatte seine Brille hochgeschoben und die junge Patientin aufmerksam betrachtet. Sie schien ihm keineswegs kränker als an den Tagen zuvor, im Gegenteil, das Fieber war gesunken.
„Und sie sprechen mit dir?“
Das Mädchen hatte heftig genickt.
„Und sie haben eine Botschaft für dich?“
„Der Himmel hat sie gesendet und sie wissen von Gott, dass ich wundersame Heilkräfte besitze, die über das Gebet wirken. Ich sollte es nur probieren. Jonathum, mein Führer, spricht davon täglich.“
Das Mädchen sah den Doktor erwartungsvoll an, hoffte doch insgeheim, er würde ihren Worten glauben und der himmlischen Botschaft zustimmen. Aber der Doktor wehrte ab, verschrieb neuen Fiebertee und verordnete weiterhin Bettruhe, dann würden sich diese Erscheinungen von selbst auflösen. Sie war nicht die erste Patientin, die nach mehreren Fieberschüben mit derartigen Halluzinationen zu ihm kam, für gewöhnlich verschwanden diese Erscheinungen im Verlauf des Genesungsprozesses, nein, da machte der Doktor sich jetzt keine Sorgen.
Doch wie sich die Dinge verhielten, Luise wurde gesund und bekam weiterhin himmlischen Besuch, erwartete ihn fast, sehnte sich nach dem Wohlbehagen, dass sie in seiner Gegenwart empfand. Sie prüfte aufmerksam ihren geistigen Zustand und ihre äußere Erscheinung, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches an sich feststellen, es musste also doch ihr Inneres sein, das diese Fähigkeit hervorzubringen vermochte.
Der Zufall kam ihr zu Hilfe; die Nachbarin, eine junge Frau, die eben dieser Tage ein Kind zur Welt gebracht hatte und nun unter einem quälenden Hautausschlag litt und dankbar war für jeden Rat, den man ihr gab, wenn auch bis jetzt keiner davon Wirkung gezeigt hatte.
Vor Luises innerem Auge erschien das Bild des Engels Jonathum, sie spürte die Dringlichkeit seines Auftrags fast körperlich und wusste auch im nämlichen Moment, dass dies der Augenblick war, sich zu erproben.
„Wir müssen beten“, sagte sie zur Nachbarin, „zusammen beten, im tiefen Glauben an den Allmächtigen und seine ausstrahlenden Kräfte.“ Luise bereitete für sich und die Nachbarin einen Betplatz vor, auf dem sie sich niederließen, um im Einklang die von ihr ausgesuchten Heilgebete im Sprechgesang wirksam werden zu lassen.
Die Mutter, noch an die Tür gelehnt, um dem Ereignis beizuwohnen, wurde von ihr hinausgeschickt.
Das Mädchen zog die junge Frau zu sich herab, so knieten sie denn beide mit gefalteten Händen und Luise sprach mit leiser Stimme:
Herr, mach mich zu Deinem heilenden Werkzeug.
Erfülle mich ganz mit dem Mitleid für alle, die leiden.
Herr, lass Deine heilende und erneuernde Kraft durch diesen
Körper strömen.
Ich danke Dir und vertraue auf Dich.
Danach legte sie für mehrere Minuten eine Pause ein, bevor sie die Worte wiederholte, einmal, zwei- und dreimal, währenddessen die Nachbarin mit geschlossenen Augen, sich leise hin und her wiegend, Luises Worte in sich aufnahm. Danach befahl sie ihr, das nächste Gebet lautstark zu wiederholen. Die Mutter hinter angelehnten Tür lauschend, vernahm den Spruch mit Andacht und murmelte ihn mit:
Die Asche und die Flechte
die flogen übers Meer,
die Asche, die kam wieder,
die Flechte nimmermehr.
Nachdem Luise gemeinsam mit der jungen Frau das Heilgebet mehrere Male gesprochen hatte, erhoben sich beide und Luise bedeutete ihr, das Zimmer schweigend zu verlassen. Einmal noch bat die junge Frau um ein gemeinsames Gebet, dann erschien sie mit Blumen, um überglücklich zu danken, die Haut zeigte keinerlei Spuren einer Erkrankung.
„Gib den Worten Gottes in dir Raum, Du wirst ihren Nutzen spüren“. Mit diesen Worten verabschiedete sich Luise Braun von der Nachbarin. So ein junges Ding, dachte diese, wo nimmt sie die Worte und die Kraft her, und verspürte doch sogleich so etwas wie Andacht in sich. Die Mutter bedachte Luise nur mit einem kurzen Seitenblick, doch Luise wehrte ihn ab. Das Gebet war auch in ihr nicht ohne Wirkung geblieben, da durften jetzt keine Zweifel oder auch nur Fragen dieses trauliche Gefühl in ihr zerstören. Erst wenn Jonathum, ihr Führer, wieder zu ihr kommen würde, und das hoffte sie sehr, würde sie darüber sprechen – er war der Einzige, dem sie vertraute. Erst dann würde sie der jungen Frau die Erlaubnis geben, von diesem Wunder zu erzählen. Denn nun stand fest, was der Engel Jonathum Luise prophezeit hatte: sie besaß, die wundersame Fähigkeit, Menschen zu heilen. Allabendlich kamen nun beide Engel zu Luise und drängten sie, die Menschen kommen zu lassen, ihnen in ihrem Schicksal zur Seite zu stehen, mit der Kraft des Gebets.
Dem Freund der Familie, dem Bauschreiber Wessely, vertraute sich Luise letztlich an, ein frommer Mann, dem solch ein Wunder keineswegs fremd zu sein schien.
„Kind“, sagte er und strich ihr übers Haar, „dann bist du eine, die Gott näher steht als unsereiner, lass uns zu deinen Eltern gehen. Sie sollen Dir ihren Zuspruch geben und dann walte deines Amtes.“
Die Mutter nahm ihre Hände, um sich von der Tochter segnen zu lassen. Danach betete Luise mit den Eltern ein Vater Unser und erzählte ihnen aus dem Evangelium des Matthäus, wie Jesus die Aussätzigen geheilt hatte oder des Hauptmanns Knecht, des Petrus‘ Schwiegermutter und andere Kranke. Und auch wie er Sturm und Wasser in die Schranken gewiesen hatte. Wunder gab es – immer wieder. Schon die Heiligen Schriften wussten davon. Da schwiegen der Holzanweiser Braun und seine Frau andächtig und wollten von nun an, der zarten Tochter vertrauen.
Wie ein Lauffeuer, sprach es sich nun herum, dass die kleine Luise Braun, eine Heilerin war, die allein durch ihren Glauben und die Kraft des Gebets, auch des gemeinsamen Gebets, allen Unbill, alles Leid zu vertreiben vermochte.
-Und sie empfängt tatsächlich in dem bescheidenen Haus.
-Und sie klebt keine Anzeigen an die Wände oder wirbt in den Zeitungen.
-Und sie ist nicht somnambul.
-Und sie lädt keinen ein; die Leute können kommen, wann immer sie wollen.
-Und sie drängt keinem ihren Rat auf.
-Und sie weissagt nicht und verkauft auch keine Medikamente.
-Und sie verteilt auch keine Rezepturen.
-Und sie hört die Klagen der Leidtragenden an.
-Und sie kennt kein Handauflegen, keine kabalistischen Sprüche.
-Und es geschieht alles am hellerlichten Tag, bei offenen Türen und Fenstern.
-Und wer Platz fand, konnte Zeuge des Vorgangs sein.
-Und sie nahm kein Geld und forderte nichts ein.
Nein - ihr Rat an die Leidtragenden war das Gebet zu Gott. Der Glaube an Gott, auch ein gemeinsames Gebet oder ihr Gebet für den anderen zu Gott konnte eingefordert sein. Der Dank der Geheilten: kleine Geschenke, je nachdem wie es die Umstände zuließen, sie wurden erlaubt.
Jonathum zeigte Zustimmung, nicht nur das allein, sie spürte förmlich, wie er ihr den Weg wies. Das weiße Kleid, Geschenk einer Gräfin, die in glänzender Equipage mit Jägern und Vorreitern in die Schifferstraße eingefahren war und vor dem Hause der Brauns gehalten hatte, gehörte, wie auch der Helgoländer Hut, von nun an zu ihrer Empfangsgarderobe, die sie auch wieder ablegte, wenn sie ihre Audienzen beendet hatte. Die Gräfin litt an einer Gesichtsrose und wollte sich der Öffentlichkeit nicht zeigen. Sie wies den Konstabler an, ein Briefchen ins Haus zu tragen, mit der Bitte, Luise möge es recht bald lesen und sie würde am folgenden Tag wieder vor ihrer Tür erscheinen.
Der Konstabler trug das Bittschreiben hinein und Luise, nachdem sie das Briefchen überflogen hatte, ließ der Gräfin ausrichten, dass sie schon am Abend für sie aus der Ferne beten würde, im Verbund mit dem Schutzengel Jonathum und sie würde am folgenden Tag mit ihr Heilgebete sprechen.
„Sag ihr das“. Luise schlug ein Kreuz über das Schreiben und wandte sich der nächsten Bittstellerin zu, die mit ihrem kranken Kind vor ihr stand. Die Gräfin fuhr auch am nächsten Tag wieder vor. Ein so hoher Besuch und schon zum zweiten Male, ließ die Wartenden erschauern und einmal mehr festigte sich der Ruf Luises. An diesem Tag verließ sie sogar das Haus und begab sich zur Gräfin in deren Equipage. Dort, hinter geschlossenen Vorhängen, verrichtete sie das Heilgebet in dem sie die Mutter Gottes anrief, widerholte es nach kurzer Pause, ohne die Gräfin dabei anzuschauen. Dann verließ sie still die Kutsche und ließ die Gräfin wissen, dass schon morgen die Krankheit sie verlassen würde. Dem war so.
Die Gräfin zeigte sich dankbar – das weiße Kleid und der Helgoländer Hut, in feines Seidenpapier verpackt, erreichten Luise. Und sie empfand große Freude, als sie sich zum ersten Mal im Spiegel sah.
Es gehörte seither zur ihrem täglichen Ritual, im weißen Kleid mit Hut die Audienzen zu begehen, nicht ohne sich zuvor sorgfältig im Spiegel betrachtet zu haben. Dann öffnete sie die Fensterläden und das Fenster, die Mutter schloss die Haustür auf, stellte eine Bank und einen kleinen Tisch vor das Haus. Jetzt konnte jeder sehen, Luise war bereit zum Empfang und der Zug der Trostsuchenden setzte sich in Bewegung.
Es war tatsächlich ein Menschenstrom, der sich tagtäglich auf die Berliner Schifferstraße zu wälzte. Zu Fuß oder auf Strohgepolsterten Leiterwagen, in eleganten Kutschen oder Handwagen kamen die Menschen beiderlei Geschlechts, unterschiedlicher Stände und Alters in stetiger Hoffnung, die Heilsprecherin wenigstens von Angesicht zu Angesicht zu erreichen oder doch vor ihr gestanden zu haben. Natürlich mischten sich auch unter die Leidenden viele Neugierige, die mit Spott nicht sparten, aber denen wurde bald der Mund gestopft, angesichts der Ehrerbietung und der Zuversicht die man ihr entgegenbrachte und dies doch auch aus höheren Kreisen. Noch galt das Wunder, erkennbar und erfahrbar, wenn die um Hilfe Flehenden und Gebrechlichen von ihrer Genesung berichteten.
Einmal, so wurde erzählt, hätte es auch eine Fernheilung gegeben. Eine Mutter, sei zu Luise gekommen und hätte ihr weinend von ihrem Sohn erzählt, der zu Hause im Bett läge, von Krampfzuständen geplagt, Tage und Nächte ginge es so. Sie hätte sich keinen anderen Rat mehr gewusst, als hierher nach Berlin zukommen, denn nur ein Wunder, so hatte man ihr gesagt, könne dem Sohn noch helfen.
Sie warf sich vor Luise nieder, versuchte ihre Füße zu küssen und griff nach ihren Händen. Luise hob die Frau auf, so erzählte später die Mutter Luises hinter vorgehaltener Hand, und soll zu der Frau gesagt haben:
„Geh nur nach Hause und lies immer wieder mein Gebet, das ich dir hier sage:
Hast dich verfangen vom Wasser, dann hilft der himmlische Vater.
Hast dich verfangen von Futter, dann hilft die himmlische Mutter.
Hast dich verfangen vom Wind, dann hilft das himmlische Kind.
Im Namen Gottes, Jesus Christus und des heiligen Geistes.
Amen.
Und dann haben beide geschwiegen, lange, und dann hat Luise einen Zettel genommen, das Gebet aufgeschrieben und der Frau in die Hand gedrückt. Ein paar Tage später ist die Frau wiedergekommen und hat geweint und geklagt. Bei ihrer Rückkehr hätte sie den Sohn tot vorgefunden. Aber Luise hat sie getröstet, denn die Wirkung des Gebets war doch zu sehen. Gott hat ihn zu sich genommen, denn das Kind hatte sich verfangen und war nun im Frieden gegangen.“
Die Mutter nickte den lauschenden Frauen bedeutsam zu. Ja, ein friedlicher Tod, den wünschte sich doch jeder, wenn es denn schon soweit ist. Angesichts des Elends, das tagtäglich die Schifferstraße füllte, konnte man wirklich so etwas denken. Lieber einen friedlichen Tod als ein qualvolles Leben. Aber, das sagt sich so, jeder der lebt, wünscht sich den nächsten Tag; und wenn es so ein begnadetes Mädchen wie Luise gibt, dann schwillt die Hoffnung himmelhoch, wie man so sagt.