Читать книгу Rapsgezeiten - Katrin Maren Schulz - Страница 7
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Erstaunlich, was im Zug zu hören ist von Menschen, die doch nur ein, zwei Reihen entfernt sitzen. Die möglicherweise die Anonymität unter Reisenden mit Alleinsein verwechseln. Wie sonst kommt es, dass die Frau mit Hund hinter mir so offenherzig mit ihrem Lover telefoniert? Sie würde dieses schöne Bild nicht los, von ihm, seinem Rücken, wie sie ihn massiert hat, er wäre so lebendig gewesen – schnurrt sie in ihr Handy. Schnurrt noch ein bisschen weiter, dann schlägt der Ton um: Er dürfe keine Angst haben, wenn er frei sein will - rät sie ihm mit ernster, fester Stimme.
Irgendetwas scheint besonders, anders, zu sein an ihrer Beziehung. Sonderbares Telefonat, so persönlich, mitten im Zug. Andererseits, was hat sie zu verlieren? Nichts. Wir werden uns wahrscheinlich nie wieder sehen, sie und ich. Sie, die Frau mit Hund, und ich, Marielou aus Berlin. Und wenn, was machte es aus, dass ich ihr frank und freies Telefonat gehört habe? Nichts.
Vielleicht sollte ich einfach diesen Satz hören, mit der Angst, die der Freiheit entgegensteht. Von so manchem aufgeschnapptem Gesprächsfetzen hatte ich schon den Eindruck, dass er für mich bestimmt sei. Von dem hier auch.
Ich konzentriere mich auf die Haltestellen. An der nächsten, St. Peter-Süd, muss ich raus. Da wird ein Herr Hansen auf mich warten, den ich bislang nur vom Telefon kenne. Und der den Schlüssel haben wird für das kleine Haus, das ich angemietet habe.
Viel ist nicht los, an dem nordfriesischen Bahnhof. Und nur einer steht da, der wie ein Herr Hansen aussieht: braungebrannt, schlohweißes Haar unter einer Schirmmütze hervor blitzend, drahtige Figur, beige Hose und weißes Hemd. Der Klang seiner Stimme am Telefon, als ich diesen Urlaub gebucht habe, ließ mich ihn auf ungefähr sechzig schätzen. Das könnte hinkommen, und der da steht, sieht sich suchend die aussteigenden Reisenden an. Wir steuern aufeinander zu, und stellen uns vor. Kernig nordfriesisch ist er, sachlich und klar. Keine unnötigen Worte. Ist mir auch recht. Ich bin nicht so sehr auf Gespräche aus hier.
Er lädt mein Gepäck in den Kofferraum seines Wagens. Wir fahren nur wenige Straßen entlang, schon sind wir da. Es ist wirklich klein, das ebenerdige Haus. Inmitten eines großen Gartens. Ich mag es.
Herr Hansen erklärt mir das Wichtigste. Das Fahrrad, die Heizung, den Gezeitenkalender, den nächsten Weg zum Supermarkt.
„Kommen Sie gerne vorbei bei uns, wenn Sie sich einsam fühlen.“
Dann ist er weg.
Und ich bin, endlich, da. Packe meine Sachen aus. Suche per Rad den Supermarkt, kaufe Lebensmittel ein. Koche mir etwas.
Es ist Abend inzwischen. Und ich bin sehr, sehr müde.
Tag 1
Das erste Mal an einem unbekannten Ort aufzuwachen, ist immer irritierend. Mein üblicherweise langsames zu-mir-kommen wird jäh unterbrochen von der Feststellung, in der Fremde zu sein. An der Nordsee, in St. Peter-Ording, am stillen Ende des Ortsteils Böhl. Es ist noch wolkig, und es hat wohl geregnet in der Nacht. Durch die Fenster sehe ich in den wilden Garten um mich herum. Von den Blättern des Efeus, der sich um die Fenster rankt, perlen Regentropfen.
Es ist ganz still. Keinerlei Stadtgeräusch. Solche Stille habe ich schon lange nicht mehr gehört. Diese Art Stille, die einen den eigenen Atem wahrnehmen lässt. Ich nehme sie begierig auf, diese Stille, hatte mich nach ihr gesehnt, hatte fast vergessen, wie sie sich anhört. Und zugleich ist sie mir fremd. Wie noch alles hier.
Meine Reise in die Fremde. Alles neu. Umgebung, Landschaft, Klima, Mentalität. Alles neu, außen. Und innen?
Auch mein Innen ist mir fremd geworden in den letzten Monaten. Hat plötzlich angefangen, unbequeme Fragen zu stellen. Lebensentwurfsfragen. Es will plötzlich wissen, wer ich bin, was mich ausmacht. Als ob es das nicht täglich selbst mitbekommen würde, will es scheinbar plötzlich eine Definition. In der Stadt finde ich keine Antworten darauf, die sich gut und richtig anfühlen. Also habe ich diese Reise gebucht: zehn Sommertage im Norden, mit mir allein, an einem neuen Ort. Vielleicht passiert etwas im Innen hier, das auch neu sein wird. Ein bisschen hoffe ich darauf.
Sitze auf dem Sofa und flöße mir den ersten Kaffee des Tages ein, um meine Lebensgeister zu wecken. Von drei Seiten kann man durch die Fenster hereinsehen in meinen Wohnraum, das irritiert mich. Aber die Gardinen mag ich nicht zuziehen, ist mir zu spießig, und geheimniskrämerisch. Ich habe nichts zu verbergen. Und außerdem geht draußen, außer ein paar Hundeausführern, sowieso niemand vorbei.
Es ist nicht nur still, sondern auch menschenarm hier. Genau das hatte ich gesucht.
Auf dem Weg in die Küche fällt mein Blick zwangsläufig auf den Kalender, den die Besitzerin des Hauses in Blickhöhe angebracht hat. In ihm ist eingetragen, welche Mülltonne wann auf die Straße muss. Wenn ich daran doch bitte denken könnte, hat der Vermieter gesagt. Gerne mache ich das, möchte ich doch das Gefühl haben, hier zu wohnen, mehr als einfach nur Gast zu sein. Morgen ist die gelbe Tonne dran.
Heute will ich erst einmal den Strand erkunden. Was wahrscheinlich den ganzen Tag dauern wird, denn er ist zwölf Kilometer lang, und hat fünf verschiedene Badestellen. Bislang ist mir noch nicht einmal klar, welches überhaupt der näheste Weg ans Meer ist. Eigentlich ist mir hier noch überhaupt nichts klar. Kein Ort, kein Strand, kein Weg. Heute soll sich das ändern. Ich will wissen, wo was ist, und einen ersten Eindruck gewinnen, wo es mir gefällt, und wo nicht. Ein Gefühl für den Ort entwickeln.
Will auch wissen, ob wir zusammen passen überhaupt.
Ich glaube schon, denke ich, als ich mit dem Fahrrad über den Deich fahre, und unendliches Panorama sich vor mir auftut. Eine Weite bis zum Horizont liegt da vor mir, kilometerlang, kilometerbreit, unverbaut, einfach nur flaches Küstenland, im Besitz der Natur. Der Anblick ergreift mich, tief.
Ja, denke ich, das mit diesem Ort und mir, das könnte was werden.
Der Strand ist nicht von überall aus erreichbar, sondern nur über einzelne Zugänge, meistens Stegen aus Holz. Zwischen Deich und Strand liegen die Salzwiesen. Groß wie Felder, sind sie durchzogen von kleinen Wasserläufen, und ab und zu mal einem Holzsteg für Spaziergänger. Je nach Windstärke und Intensität der Gezeiten werden sie bei Flut von der Nordsee überspült.
Auch das will ich heute kennen lernen: die Gezeiten an der nordfriesischen Küste. Ich kenne sie, von der niederländischen Nordseeküste. Da bewegt sich das Wasser ein paar Meter vor, und wieder zurück. Hier sollen die Gezeiten wesentlich intensiver sein: die Breite des Strandes variiert so um mehrere hundert Meter.
Der tägliche Blick in den Gezeitenkalender ist unerlässlich hier, wurde mir gesagt. Überlebensnotwendig für den, der sich zu einem ausgedehnten Strandspaziergang aufmacht. Den einen oder anderen Toten soll es schon gegeben haben, in der Wattenlandschaft, denn wer sich bei Ebbe zu weit raus wagt, kann von der Flut überrascht werden. Sie kommt nicht einfach nur von vorne, der Seeseite her. Die Flut schickt auch ihr Wasser über in den Strand hineinreichende Priele gen Land. Und die Priele, wie kleine Flüsse, die können den Rückweg abschneiden.
Sehe das, am Strand, wie er mal bis zum Horizont zu reichen scheint, von Pfützen durchzogene Weite, fast kein Meer in Sicht, nur das Watt. Wenige Stunden später dann, da rauscht es, bäumt sich auf, kommt herangeschwappt. Dann ist da, wo ich vorher noch ging, das Meer. Bei Ebbe ist von den Prielen fast nichts zu sehen. Wie ausgetrocknete Flussbette liegen sie da. Mit der Flut füllen sie sich, erst langsam, zu kleinen Bächlein, später werden sie breiter, und die Strömung in ihnen stark. So tief und stark oft, dass ein Überqueren nicht möglich ist.
Diese Gezeiten erschaffen zwei Landschaften in einer, im sechs-Stunden-Rhythmus sich abwechselnd. Ich staune, und bin fasziniert: so viel Unendlichkeit! Der Blick kann schweifen, völlig unabgelenkt. Die Menschen verteilen sich in dieser Endlosigkeit; werden so klein, und wenige, dass ich sie kaum wahrnehme. Der Strand ist lang und breit genug, um jedem seinen Platz zu lassen.
Ich bin gespannt, was mein Ich anfangen wird mit dieser landschaftlichen Freiheit. Ob sie auf es überschwappen wird?
Dies scheint genau der richtige Landstrich zu sein, um mich zu sortieren, und zu erden. Der perfekte Kontrast zu meinem Stadtdasein. Nicht nur landschaftlich. Auch auf Grund der Ruhe, die er ausstrahlt. So anders ich dieses Wattenland empfinde, so sehr anders empfinde auch ich mich darin. Wie, weiß ich noch nicht genau. Aber kaum bin ich da, versinke ich schon in dieser Oase der Stille wie ein müder Wanderer in ein riesiges Federbett. Dieses Land scheint zu besänftigen, mit seinen weichen Linien, seiner Ebene. Es vermittelt Geborgenheit.
Das Watt strahlt Ruhe aus, die auf diejenigen übergeht, die sie suchen. Bitte auch auf mich.
Tag 2
Keiner will etwas von mir. Keiner fragt mich wann wir frühstücken, niemand erwartet mich im Büro. Nach nichts und niemandem muss ich mich richten, stelle ich fest, als ich aufwache. Es ist, als sei ich in der totalen Neutralität gelandet: kein Bezug zu irgendetwas, oder irgendjemandem. Außer zu der Landschaft, die mich unglaublich begeistert.
In dieser Bezugslosigkeit empfinde auch ich mich als neutrale Person: keine Rolle, keine Funktion, kein sozialer Rahmen. Niemand, der etwas will von mir, außer ich selbst.
Und ich erwarte etwas von mir hier, von mir in dieser Zeit: Antworten und klare Sicht. Antworten darauf, wie mein Leben weitergehen soll, und eine klare Sicht auf das, was es ausmacht.
Mein Leben in Berlin ist schön, eigentlich. Ein gut bezahlter Job, mit viel Eigenverantwortung und flexibler Zeiteinteilung. Eine traumhafte Dachgeschosswohnung in einem jungen, kreativen Kiez. Eine liebevolle und beständige Beziehung, und ein interessanter, verlässlicher Freundeskreis. Ehrenamt in Arbeitsgruppen zu nachhaltigen Lebensstilen. Alles könnte friedlich und ruhig so weiterlaufen - wenn nicht meine innere Unruhe mir dazwischenreden würde.
Ist das denn alles? Ist dieses Leben das, das ich mir für mich vorgestellt hatte? Ist dieses Leben eines, das genau so weiterlaufen soll, die nächsten fünf Jahre, die nächsten zehn Jahre, bis zur Rente? Bin ich die, die ich werden wollte, früher mal, als noch alle Wege offen zu stehen schienen?
Alles wirkt so festgefahren. Ein fest geschnürtes Paket: das Leben von Marielou. Aufreißen mag ich es, und sehen, ob sein Inhalt noch Sinn macht. Es fühlt sich an, als sei ich rausgewachsen aus meinem eigenen Leben. Rausgewachsen wie aus alten Klamotten, die plötzlich zwicken und kneifen und zu eng geworden sind, oder ausgeleiert. Wenn ich sie aber wegtun würde, so einfach, dann wüsste ich nicht, was mich dann umgeben sollte. Als hätte ich meinen eigenen Lebensentwurf überholt, aber noch keinen neuen parat.
Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin gerade. Was macht mich aus? Bin ich einfach nur eine Angestellte, in guter Position, mit einem Gehalt, das einen recht angenehmen Lebensstil ermöglicht? Oder bin ich noch jemand ganz anderes?
Wo ist die, die eigentlich im Norden leben wollte? Schon zu Schulzeiten hatte ich diesen Traum, nachdem ich einige Urlaube mit meinen Eltern in Norddeutschland verbracht hatte. Irgendwo bei Travemünde war das. Einmal waren wir auch hier, in St. Peter-Ording, aber ich war damals noch so jung, dass ich mich heute nicht mehr daran erinnern kann. Zu Schulzeiten habe ich mich immer im Norden lebend gesehen, wenn ich an mich als Erwachsene dachte. In Berlin aber, blieb ich dann hängen. Und sitze nun dort fest. Na ja, es fühlt sich zumindest so an.
Mit diesen Fragen bin ich hier angereist. Und hier kommen noch weitere dazu, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Denn das Umfeld ist ein so ganz anderes, als das, in dem ich mich in Berlin bewege. All die Attribute gelten nicht mehr, die Äußerlichen, die in Berlin zählen. Die ungeschriebenen Dress-Codes der Kieze, mit ihren Ins und Outs, mit ihrer Coolness und ihrem Hip-Sein. Haarfarben, Klamotten, Tattoos: alles egal hier. Und die ungeschriebenen Gesetze des Alltags in der Stadt, die Ellenbogen, die Kodderschnäuzigkeit Berlins: nicht erforderlich hier. Andere Umgangstöne, andere Äußerlichkeiten. Wie bewege und verhalte ich mich darin?
Im Moment ist es, als seien all meine Funktionen und Definitionen ausgeschaltet. Was bleibt dann übrig, von mir?
Ich bin hier hergekommen, weil ich einen Ort an der Nordsee suche, der zu einer Heimat werden könnte. Zu einer zweiten, zumindest. Und ich bin hergekommen, um die quirligen vielen Aktivitäten meines Stadtlebens ruhen zu lassen. Um Interaktionen mit anderen schweigen zu lassen. Hier findet die Interaktion mit mir statt. Nur mit und in mir.
Nur? Mehr als genug.
Die Sonne blinzelt ab und zu aus dem Wolkenhimmel, an diesem Morgen. Sie lockt mich wieder an den Strand, den Tag verbummeln.
Das Wetter ist ungewiss. Kein klassisches Badewetter. Alles kommt plötzlich: plötzlich regnet es, plötzlich wärmt die Sonne wieder. Viele gehen einfach spazieren am Strand und werfen sich kurz in die Flut. Mir ist es dafür heute zu kalt.
Ich lasse mich treiben, von einer warmen Wasserpfütze im Watt zur nächsten. Um mich herum der wohlige Klang eines sanften Meeresrauschens. Er lullt mich ein, als würden seine Klänge meinen Geist tragen wie seine Wellen es mit den Körpern tun. Als wären darin Nixen, die sanfte Melodien summten, rauscht und singt die Nordsee. Je länger ich an diesem Bild festhalte, umso mehr könnte ich schuppige, glänzende Nixenleiber im Wasser erkennen. Ob sie zufrieden sind, mit ihrem Leben zwischen Wasser und Land?
… es lullt ein, das Dasein am Strand. Mein Körper wird immer leichter, mein Geist immer leerer. Die Klarheit von außen scheint sich über mein fragendes Innen zu stülpen.
Die Zeit vergeht ganz friedlich und sacht.
Am Abend ist Leuchtturmfest. Gleich in der Nähe meines Häuschens, am kleinen, knuffeligen Böhler Leuchtturm aus braunem Backstein. Wie ein treuer, guter Freund steht er da auf dem Deich, seit so vielen Jahrzehnten, und dreht Nacht für Nacht seine Leuchtfeuerkreise. Ihm zu Ehren ein Fest, das bedeutet: Bratwurst, Fischbrötchen, Ponyreiten, Bier. Auf dem sonnendurchhitzten Asphalt des Deiches sitzend beobachte ich die Szenerie: eine durch Bierstände hervorgerufene Menschenansammlung im weiten Nichts der Salzwiesen. Als ihr Mitglied fühle ich mich nicht. Aber als eine, die die Szenerie mag.
So routiniert wirken sie alle, die Einheimischen, und die Touristen. Nordsee-routiniert. Braungebrannt, in ihrem selbstverständlichen Dasein, vor dem Leuchtturm, mit der Bratwurst in der Hand. Viele kennen sich. Stimmengewirr und Gelächter.
Sitze am Rand dieser Szenerie, und in mir rumoren meine Fragen vor sich hin. Meine Unsicherheiten darüber, wie mein Leben aussehen soll in Zukunft. Darüber, was mir wertvoll ist in meinem Leben, und was ich gerne verändern würde. Aber wer will ich sein, wenn nicht die Angestellte aus der Stadt mit all ihren Regelmäßigkeiten? Regelmäßigkeiten der Verpflichtungen, Regelmäßigkeiten der Sicherheiten. Wie kann ich sie auflösen, die vielen Routinen - ohne dabei in der völligen Unsicherheit zu landen?
Eine Mischung aus Ungeduld und Nervosität mir selbst gegenüber stört mein Idyll, an diesem ruhigen Ort.
‚Städter kommt in Stille an’, heißt das Symptom wahrscheinlich.
Lasse den Tag ausklingen mit einem Abendspaziergang durch die Salzwiesen, weit weg vom Trubel des Leuchtturmfests.
Stille. Blubberndes Grün, in dem es quakt und tschilpt, zwischen Strand und Deich. Wiese, regelmäßig in Salzwasser getaucht. Ein ganz eigenes Biotop. Darin wirkt das, was ich als vermeintliche Probleme mit mir herumtrage, ganz nichtig und klein. Das Leben der kleinen Getiere und salzwassergewöhnten Pflanzen blubbert hier friedlich vor sich hin.
Und ich frage mich, warum das mein Leben nicht auch einfach tun kann.
Tag 3
Die Frage nach meinem Lebensentwurf wird zur treuen Begleiterin. Ich vertraue darauf, dass sie verschwinden wird, wenn es bei mir nichts mehr zu holen gibt. Solange sie bei mir ist, nehme ich sie eben mit, wohin ich gehe und radle.
Auf dem Weg zum Ordinger Strand, vom Radweg zwischen Feld und Wald aus, sehe ich die Kites der Surfer auf der anderen Seite des Deiches durch den Himmel tanzen, und vom nahen Wasser verkünden. Ein kurzer Stopp beim Strandwärter, Gästekarte vorzeigen, und dann rauf auf den Holzsteg, auf dem man mit dem Fahrrad am weitesten Richtung Wasser fahren kann, mit Rückenwind rasend schnell. Es vermittelt das wundervolle Gefühl, Richtung Meer zu fliegen.
Dort angekommen, steuere ich die Surfschule an. In ihr gibt es eine kleine Bar, und eine Terrasse davor. ‚everybody’s welcome’ steht groß auf den Holzplanken über dem Eingang. So ist es dann auch: die Frau hinter dem Tresen gibt mir meine Limo mit einem Strahlen, als würden wir uns schon seit langem kennen. Um die Bar herum eine Mischung aus Surfschülern, die sich an der Rezeption anmelden, und Touristen, die sich einfach nur ein Eis oder ein Getränk holen. Draußen eine bunte Mischung verschiedenster Sitzmöglichkeiten. Die Leute auf der Terrasse schieben mir einen freien Hocker zu. Alle lächeln, und sind entspannt. Ich auch, immer mehr.
Alle Altersstufen scheinen hier versammelt, mit meinen 37 passe ich da ganz gut rein. So vielfältig die Altersstufen, so bunt gemischt sind auch die Gäste. Unterschiedlichste Typen, bunte Klamotten, lässiger Stil. Die Buntheit der Gäste erinnert mich an meinen Kiez in Berlin, und lässt die Fremdheit verblassen, die ich gestern noch verspürt habe.
Der kleine Hund eines jungen Paares neben mir wickelt sich mit seiner Leine um meinen Stuhl. Das Mädchen und ich lachen, und wechseln ein paar Worte. Aus Hamburg kommen sie. Das, mindestens, hatte ich mir auch so gedacht. Stylisch wie sie aussehen, könnten sie auch aus London oder New York sein. Ihre Klamotten haben weder etwas vom Surfer-Stil, noch etwas von der einschlägigen Outdoor-Bekleidung, die so verbreitet ist an der Küste. Sie sehen eher aus wie selbst designt, aus ausgefallenen Stoffen und Materialien, hauptsächlich in schwarz. Darunter blitzen volltätowierte Arme und Rücken hervor.
Er trägt ein Brillengestell wie Andy Warhol, und scheint sich auch für jemanden ähnlich Prominentes zu halten. Von der Unterhaltung jedenfalls distanziert er sich mittels eines gedankenschweren Blickes in die Ferne.
Das Mädchen gleicht seine Distanziertheit mit ihrer Aufgeschlossenheit aus.
Warum sie hier sind, möchte ich wissen. Die Andy-Warhol-Muse scheint etwas erstaunt über diese Frage zu sein.
„Von Hamburg ist es doch nicht weit“, sagt sie. Sie kämen öfter mal hier hoch nach Nordfriesland, für ein, zwei Tage, wenn sie einen klaren Kopf bräuchten.
Mich verblüfft die Selbstverständlichkeit, mit der sie das sagt. Weil es in meinem Leben eben einen Urlaub pro Sommer gibt. An mehr habe ich nie gedacht, und wenn, hätte ich es wahrscheinlich für übertrieben gehalten. Aber sie hat Recht, natürlich: wenn einem die Stadt zu viel wird, dann fährt man eben an die Küste. Ganz selbstverständlich.
Warum mache ich das nicht auch so? Weil Berlin viel weiter weg ist von der Nordsee als Hamburg? Das ist keine wirkliche Ausrede. Weniger als zwei Stunden Bahnfahrt liegen zwischen Berlin und Hamburg.
Viel weiter entfernt von der Umsetzung ist wahrscheinlich meine Vorstellungskraft: nämlich die, in den Norden zu fahren, wann auch immer ich es will. So ließe sich auch mehr Norden in mein Leben bringen: mit Pendeln. Es muss nicht immer gleich ein Umzug sein ...
Die Hamburger brechen auf, wollen ein Stück gehen. Ich bleibe noch, und beobachte das Treiben der Kitesurfer auf dem Wasser. Sie fliegen durch die Luft, und gleiten über die See. Durch meinen Kopf fliegt die Idee des Pendelns, zwischen Stadt und Land, und gleitet über die Frage nach meinem Nordleben. Es könnte eine Lösung sein. Das Bild der Umsetzung allerdings, befindet sich noch außerhalb meiner Vorstellungskraft: Pendeln benötigt Geld, und Zeit.
Später lockt mich mein Hunger in die ‚Arche Noah‘, das Pfahlbaurestaurant am Strandabschnitt von Bad. Ein Restaurant auf meterhohen Pfählen. Wie auf Stelzen. Alles am Strand hier, von dem wenigen, was da steht, steht auf Stelzen: die Häuschen der Badeaufsicht, die Toilettenbauten, die Restaurants. Das Wasser macht das notwendig - wenn es denn da ist, mit der Flut kommt, um im Hochwasser zu gipfeln. Jetzt, hier, ist es weg. Es ist Ebbe. So sitze ich hoch oben im Pfahlbau, und unter mir liegt der trockene Strand. Vor mir der grandiose Blick über die Weite, das Watt, die See.
Von so hoch oben betrachtet wirkt das Leben luftig und leicht.
Ist es doch auch, oder?
Dankbarkeit macht sich in mir breit. Dankbarkeit darüber, Bestandteil dieses großen Ganzen zu sein. Bestandteil dieser Freiheit und Unendlichkeit hier. Sie scheint auf die Gedanken überzuschwappen wie die Flut über den Strand. Irgendwie kommt es, dass ich plötzlich ‚Happy Birthday’ vor mich hin summe. Unerklärlich, unbegründet eigentlich. Oder doch?
Auf dem Heimweg mache ich Halt in Bad. Schlendere durch die touristische Fußgängerzone, mit ihren Geschäften voller Nordsee-Nippes; der zieht mich magisch an. Kaufe mir eine Piratentasse. Touristenkitsch, ja. Aber sie wird mich noch oft an diesen Tag erinnern.
Psychologen sagen, dass dieser Kult um personifizierte Tassen daher kommt, dass das Trinken daraus dem Küssen ähnelt, und das Küssen wiederum ein Ausdruck des Liebens ist. Vielleicht kann ich die Nordsee küssen, in Berlin, durch diese Piratentasse hindurch.
Tag 4
Eigentlich wollte ich heute nach Friedrichstadt. Aber mir ist gar nicht mehr nach Stadt zumute.
Tag 5
Den Morgenkaffee nehme ich inzwischen auf der Gartenterrasse meines Häuschens zu mir. Etwas Dunst liegt noch über der Landschaft, es tschilpt und zwitschert in den Bäumen. Ab und zu krächzt eine Möwe. Sie fliegt dahin wie meine Urlaubszeit, erschreckend schnell.
Fühle mich unbeschreiblich wohl hier. Das war einmal mein Traum, was ich da gerade lebe, wenn auch nur für kurze Zeit: allein an der Nordsee zu sein, an einem Ort, der mich ergreift, durch und durch. Nun ist er Wirklichkeit, der Traum. Und ich will ihn mit Leben füllen, so viel es nur geht.
Nach drei Tagen am Ordinger Strandabschnitt zieht es mich heute zu einem anderen: dem Böhler Strand. Er ist ruhiger, und menschenleerer.
Als ich ankomme, ist das Wasser gerade dabei, sich zurückzuziehen, und Platz zu machen für die Ebbe. Es hinterlässt dann das, was vorher noch Meeresgrund war: einen welligen Sandboden, der hart ist vom Wasser, das er noch in sich trägt, und in dem die Wattwürmer ihre Spaghettihäufchen hinterlassen. Kleine Krebse tummeln sich in Pfützen, in denen sich die Sonne spiegelt.
Das Wasser hat ein paar Reste dagelassen: Treibgut, Hinterlassenschaften menschlicher Umtriebigkeit am und im Meer. Ich mache Fotos von den skulpturhaften Gebilden. Eine Kiste aus Holland, zu erkennen an dem Aufdruck in Niederländisch, umwickelt von Algen, in denen wiederum Muscheln hängen geblieben sind. Zwei unterschiedliche Schuhe, die jemand vor mir nebeneinander gestellt hat, als seien sie ein Paar. Sie müssen eine lange Zeit im Salzwasser verbracht haben; ihr Leder ist löchrig und überwuchert von etwas weißem, Pockenartigem. Daneben Reste von Fischernetzen, in denen sich Algen, Federn, Äste und Muscheln verfangen haben. Die aufgedröselten Enden der Schnüre wirken wie greisenhafte Haare. Ich mag das Bunte der Netze, meist sind sie mehrfarbig, orange und türkis und grün und blau. Mit dieser Farbenpracht stechen sie aus dem sanften Beige-Grau des Watts heraus.
Die Formen des Treibguts heben sich von der ebenen Fläche des Watts ab. Außer den Prielen gibt es sonst nichts, was Orientierung oder gar Wegweisung bieten könnte. Vielleicht ist es das, was mich hier so fasziniert: das nicht-vorhanden-Sein vorgegebener Wege. Das Dasein im Watt lässt jeden Schritt zu, jede Gerade, jede Kurve. Weil es keine Wege hat, die einem vorgeben, wo es lang geht. Alles ist möglich hier, jede Richtung, jede Gangart.
Als würde es mir mitteilen wollen: deine Möglichkeiten sind grenzenlos.
Sind sie das, wirklich? Gilt das auch für meinen Lebensentwurf, und mögliche Veränderungen? Die Vorstellung macht mir Angst. Denn vor der Wahrnehmung von Möglichkeiten steht die Entscheidung dafür. Vielleicht reicht ja zunächst die Wahrnehmung dessen, dass sie da sind, die vielen Möglichkeiten, völlig aus. Vielleicht ist es das, was mir der Strand heute mitteilen möchte. Und wenn ich einfach stehen bleibe, und mich am Anblick der Möglichkeiten erfreue.
Vielleicht reicht das schon aus, zum glücklich und zufrieden sein.
Am Abend ist Dorffest, inmitten des friedlichen, fast puppenstubenhaften Reetdachhausidylls. Die Hauptstraße durch den Ortsteil Dorf, die sonst recht früh am Abend ruhig wird, ist nun bevölkert von Ständen, Buden und Menschen. Fühle mich wie eine Voyeurin, wenn ich allein durch die Menge von Familien und Paaren gehe. Eine Voyeurin der Zwischenmenschlichkeiten, die sich da um mich herum abspielen: zärtliche und aggressive, liebevolle und streitende, harmonische und meinungsverschiedene Zwischenmenschlichkeiten. Aus all dem bin ich außen vor, und kann beobachten, wenn ich mag, oder Augen und Ohren abwenden, wenn ich nicht mag.
Bevor ich diese Reise antrat, fragte mich ein Bekannter entsetzt, wie ich denn zehn Tage allein sein wolle, freiwillig? Das müsse doch furchtbar sein, und langweilig.
„Warum?“ habe ich ihn gefragt.
„Weil du dann doch zu niemandem sagen kannst: sieh mal, der schöne Sonnenuntergang!“
Und in diesem Moment wurden ihm seine Worte selbst bewusst, einschließlich ihrer Lächerlichkeit. Und wir wussten beide, dass der Sonnenuntergang immer schön ist: wenn ich ihn allein sehe, oder wenn ich ihn mit jemandem zusammen sehe. Allein sehe ich ihn intensiver. Vielleicht ist er dann sogar schöner.
Wenn ich diese Zwischenmenschlichkeiten wahrnehme auf dem Stadtfest, dann vermisse ich nichts, im Gegenteil: bin froh, nicht Bestandteil irgendeines dieser menschlichen Knäuel zu sein. Sondern mit mir hier, und mit mir kann ich gehen, wohin ich will, und bleiben, solange ich will.
Ein kräftiger Beat kommt aus einem Hof. Ein Junge und ein Mädchen, um die 18 vielleicht, sind hinter ihren riesigen Schlagzeugen zu erkennen, die sie leidenschaftlich mit ihren Stöcken bearbeiten. Der Rhythmus ergreift mich, und die Klanggebilde, die aus ihm entstehen. Hole mir ein Bier, setze mich auf den Rasen am Rand des Hofes, und höre zu.
Die Situation erinnert mich an improvisierte Straßenmusiker-Szenen in Berlin. Plötzlich verschwimmen Berlinleben und Nordseeleben, vermengen sich. Neulich in der Bar der Surfschule ging es mir auch so. Als würden mein Stadtleben und mein Wunsch nach Nordseeleben in diesen Momenten verschmelzen zu einer friedlichen Einheit. Darin empfinde nicht mehr ich mich fremd inmitten dieser Touristen, sondern mich als echt, und die Touristen fremd. Es bestärkt. Mich an diesem Ort.
Zunehmend fühle ich mich stimmig hier. Passend, authentisch. Mein Wunsch nach einem neuen Tattoo fällt mir wieder ein. Die kommen immer dann, die Tattoo-Ideen, wenn es mir besonders gut geht. Und wenn etwas Neues passiert ist in meinem Leben, das zu diesem Gutgehen beiträgt. So wie dieser Urlaub. Ich werde mal einen Entwurf skizzieren. Bald mal, im Strandkorb. Irgendwann.
Tag 6
Fahre nach Husum heute. Mit der Bahn quer durch die Halbinsel Eiderstedt ein Stück des Weges zurück, auf dem ich vor wenigen Tagen angekommen bin. Durch flaches Land, voller Schafe, Kühe, Gänse. Hasen hoppeln dazwischen durch.
Nach einer knappen Stunde Fahrt dann taucht, fast überraschend, Husum auf, das sich heraushebt aus der einsamen Weite, und so wie eine Großstadt wirkt. Wirkt, aber nur. Es ist viel besser.
Husum verzaubert mich, mit seinem weltoffenen Charme. So klein, und doch so selbstbewusst. Fühle mich wohl und lasse mich treiben. Über Kopfsteinpflaster und Marktplatz, entlang friesischer Bauweise, heimeliger Häuser. Durch kleine Läden, die Fußgängerzone, und am Hafen entlang. Herzallerliebst.
Ab wann empfindet ein Großstädter Stadt? Für mich, hier, in dieser Zeit, ist es genau das richtige. Es zeigt mir, wie nah sich Stadt- und Landleben auch sein können. In Berlin fühle ich mich so abgekapselt. Isoliert in der Stadt, verdammt zum Stadtleben. Dabei ist die Mauer doch schon fast zwanzig Jahre weg. Manchmal habe ich es mit Ausflügen ins Berliner Umland versucht. Habe versucht, dort einen Tag auf dem Land zu erleben, der das ausgleichen könnte, was mir zu viel ist an Stadt. Nie hat es mir auf diesen Ausflügen gefallen. Ich konnte keinen Bezug zum Berliner Umland entwickeln, nichts lieb gewinnen an der Landschaft dort. Fühlte mich immer fremd. Ob es daran liegt, dass die Nordsee nicht in der Nähe ist? Das hier fühlt sich genau richtig an: ein bisschen Husumer Stadtluft schnuppern, und dabei wissen, dass das Zuhause direkt an der Küste auf mich wartet.
Zu dem ich abends zurückfahre, durch die Landschaft, deren Anblick ich nach so kurzer Zeit schon so sehr liebgewonnen habe.
Sie mich auch?
Tag 7
Habe tatsächlich neun Stunden lang geschlafen, wie ein Stein. Wirres Zeug geträumt dabei. Von Männern, die einmal ein Rolle gespielt haben in meinem Leben. Oder es noch tun. Oder es noch gerne tun würden, oder ich noch gerne hätte, dass sie es täten. Wirres Traumzeug eben. Träumen entwirrt aber auch.
Es regnet, und ich fühle mich schlapp. Schlappes Ich drinnen, und Regen draußen, das passt: zu dem Bedürfnis, einfach nur zuhause zu sein an diesem Vormittag. Liegen bleiben, und diesen nächtlichen Traum von vergangenen Männergeschichten aus der Erinnerung tropfen lassen, bis sie leer ist und rein.
In Husum gestern habe ich eine Postkarte gekauft mit dem Spruch ‚meine Freundschaft endet nicht an deinen Grenzen‘. Sie hat mich erinnert an die letzte sich anbahnende Freundschaft, zwischen mir und einem so was von lieben Kerl aus Berlin. Wir hätten an dem einen Abend vielleicht doch nicht Rotwein trinken sollen. Oder zumindest nicht bei ihm zuhause, auf dem Sofa. Seit diesem Abend scheint er sich vor der Freundschaft zu scheuen.
Ich nicht. Ich wehre mich gegen seine Scheu.
Auch wenn man will, darf man das denn? Freundschaften händeln als seien es innigere und intensivere, als der andere will? Ich bin gerne mit Männern befreundet, komme gut mit ihnen aus. Klar, trocken, ehrlich ist das meist. Eigentlich ist die Freundschaft mit ihnen oft viel entspannter als mit Frauen - wenn nicht hin und wieder dieses Mann-Frau-Ding dazwischen käme. Dieses Ding, das die Frage nach dem Sex stellt. Und trotzdem bestehe ich auf Freundschaft. Eine Horizontale kann doch viele Vertikalen nicht zerstören, oder? Eine Horizontale darf doch keine Freundschaft zerstören. Die so oft möglich ist, und wundervoll, und bereichernd, wenn, ja wenn das blöde ‚Ding’ geklärt ist.
Städterfragen? Ich glaube hier stellt sich die keiner.
Die Tropfen draußen werden weniger, die Erinnerungstropfen im Kopf drinnen auch. Ich erfrische die Gedanken mit einem ausgedehnten Spaziergang durch die Ebbe. Füße massieren lassen vom welligen, harten, nassen Sand. Füße erwärmen in sonnendurchhitzten Pfützen. Vielleicht sind Freundschaften ja genauso: mal uneben und hart, mal tief und wärmend. Mal regnet es in ihnen, mal sind sie sonnendurchtränkt. Sie haben auch ihre Gezeiten.
Mit dem Himmel zusammen wird auch mein Kopf klar: zarte, reinweiße Wölkchen tummeln sich jetzt durch strahlendes, klares Blau.
Der Blick kann schweifen an diesem Strand, nahezu unabgelenkt. Wenige Pfahlbauten, sonst gibt es nichts. Kaum Konsumangebot. Der Strand hier gehört nicht zu denen, die zugebaut sind mit Strandbuden. Stattdessen präsentiert er großflächige Leere. Wäre diese Leere nicht, könnten sich die Menschen hier nicht verlieren, ihren Alltag verlieren, sich frei machen. Und genau das suchen doch wahrscheinlich die, die immer wieder kommen, hier. Ich auch.
Ich fange an, dieses Land zu lieben. Bin gerade mal eine Woche an diesem Ort. Und fange an, ihn zu lieben.
Auf dem Heimweg radle ich zum Supermarkt, um noch einmal so richtig einzukaufen. Auffüllen, als gäbe es kein Ende meiner Zeit hier. Denn das Ende eines Urlaubs zeichnet sich immer dann so unangenehm ab, wenn die Reste aus dem Kühlschrank aufgebraucht werden. Wenn es sich nicht mehr lohnt, ein ganzes Brot zu kaufen, oder einen ganzen Liter Milch. Wenn die Äpfel gezählt werden: einen noch für heute, und einen für die Reise. Nein, das will ich noch nicht. Der gefüllte Kühlschrank vermittelt ein Gefühl von Unendlichkeit. Von nicht endender Zeit hier.
Dieser Illusion mag ich mich hingeben, solange es noch geht.
Tag 8
Jetzt fühlt es sich wie zuhause an, wenn ich aufwache. Ein tiefes Gefühl von Zuhause-Sein breitet sich aus in mir, und ich mich darin. In meinem Garten, auf der Terrasse, an diesem sonnigen Morgen, ergeben Frühstücksreste und Schreibunterlagen ein eigenartiges Stillleben auf dem Tisch. Mein Stillleben, ein Bild meines Lebens hier.
Wie schnell sich das entwickeln kann, ein neues Leben.
Ich habe auch schon andere Alleinurlaube erlebt: da hat es mir nicht gefallen, so dass ich mich völlig fehl am Platz fühlte, und wusste nicht wirklich wohin mit mir. Habe dann eben das gemacht, was Touristen so machen, und uneingestanden doch das Ende des Urlaubs herbeigesehnt. Hier ist das anders: ein Ort kann einen willkommen heißen, wie es Menschen auch können. Das ist schwer vorstellbar, aber seit meinem Aufenthalt hier bin ich überzeugt davon, dass Orte ein Wesen haben können, ein Wesen, das mit einem kommuniziert, das einen in den Arm nimmt. Fremd und rührend zugleich ist es. Ein Gefühl, angekommen zu sein, wo ich hin sollte.
Mein Fundstück: die Halbinsel, der Ort, das Haus, der Garten. Mittendrin ich: angekommen.
Da ist diese Frau wieder, draußen, geht am Haus vorbei, die Straße entlang, mit ihrem Hund. Ich habe sie gestern schon gesehen, im Kiefernwäldchen bei den Dünen, mittendrin, abseits des Weges. Da stand sie, still, regungslos. Starrte in die Kiefern, in die Leere, wohin? Alterslos scheint sie, langes wildes lockiges Haar, fast schwarz. Verbeulte Jeans, mit Spuren des Waldes daran, erdig. Eine dicke Strickjacke trägt sie immer, wie selbstgestrickt, grobmaschig, braun wie die Kienäpfel. Sie fällt auf, diese Frau. Sie sieht so anders aus, anders als die Einheimischen. Wilder, fremder. Anders als die Touristen. Präsenter, bewusster. Sich selbst bewusster, klarer, sicherer. Und dabei so entfernt, so unnahbar. Genauso ihr Hund: stolz, erhobenen Hauptes, und zottelig und verwegen zugleich. Haben sich wohl schon über viele gemeinsame Jahre einander angepasst, die beiden. Sie scheint hier umherzustreunen. Ob sie überhaupt ein Zuhause hat? Sie sieht nicht so aus, die Vagabundin aus dem Dünenwäldchen.
Könnte mich ja mal bei meinem Vermieter, Herrn Hansen, nach ihr erkundigen. Bestimmt ist sie hier im Ort bekannt. Sollte sowieso mal hin, zu Herrn Hansen, der ein paar Häuser weiter von meinem Häuschen entfernt lebt. Ich solle vorbei kommen, wenn ich mich einsam fühle, hatte er an meinem Ankunftstag gesagt.
Nun ja, ich war noch nicht dort. Ich fühle mich nicht einsam. Ich genieße das Alleinsein.
Vielleicht sehe ich heute Abend auf dem Heimweg bei ihm vorbei. Jetzt ruft mich erst mal die Sonne an den Strand, und ich folge ihr gerne.
Es ist sehr warm heute, und der Wind schwach. Badewetter. Ich gehe ein Stück am Strand entlang, so weit, bis das Getümmel der Badenden übersichtlicher wird.
Es hat etwas Himmlisches und Erdendes zugleich, im Meer zu baden. Als wäre das Meer der Ort, in dem Himmel und Erde verschmelzen zur Ganzheit. Getragen zu werden von Wellen und Strömungen ist erdend, auch ohne Boden unter den Füßen. Dabei den strahlenden Himmel zu sehen lässt abheben in die Schwerelosigkeit, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Das Büro, mein Job, so weit weg. Verpflichtungen, Termine, was ist das? Nicht existent, der städtische Alltag, wenn ich in der Nordsee bade. Lasse mich auf dem Rücken treiben in den Wellen, strample mit den Beinen, knackiger blauer Himmel über mir, funkelndes salziges Wasser überall.
Mir fällt ein, dass ich mit Fragen im Gepäck hier ankam. Die eine hat sich beantwortet, wie von selbst: St. Peter-Ording ist er, der Ort an der Nordsee, aus dem ein Stück Heimat werden kann, und soll. Eine zweite Heimat, für mein Nordleben, das ich erweitern mag.
Da gab es noch etwas, oder? Die Zweifel am Lebensentwurf. Die Frage, ob alles so bleiben soll, wie es ist - oder ob mir das nicht zu wenig ist. Das Leben kann so viele Möglichkeiten bieten. Welche schöpfe ich aus, welche nicht? Will ich etwas verändern?
Ich weiß nicht, ob es wirklich einen Antwort ist, was sich da in meinem Kopf zusammenreimt, hier, im Wasser, am für mich schönsten Strand des Nordens. Aber es ist etwas, was mich erst einmal beruhigt, und was ich mitnehmen kann in mein Leben in Berlin:
mein Umfeld, mein Dasein, das ist alles so sehr gut so, wie es ist. Es braucht keinen Ortswechsel, und keinen Berufswechsel, nur weil das, was ist, schon lange so ist. Wenn ein Wechsel in mein Leben eintreten mag, dann soll er anklopfen. Dafür aber, dass ich ihn krampfhaft suchen sollte, dafür ist das, was ich habe, zu schön. Vielleicht ist es manchmal einfach schwer, zu genießen, was ich habe. Zu ruhen in und mit dem, was um mich ist. Dann sollte ich aber eher meine Einstellung verändern, als mein Umfeld.
Veränderung kommt, wenn sie kommen soll. Die einzige Veränderung, zu der ich mich hier und jetzt tatsächlich entscheide, ist: ab nächstem Jahr mehrmals im Jahr in den Norden zu reisen. Um mir etwas aufzubauen, was mein Nordleben werden könnte. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie das finanziell umsetzbar sein wird, aber der Entschluss, der fühlt sich gut an. Ansonsten soll die Unruhe in mir bitte schweigen. Silencio. Ich will mein Leben genießen, und nicht darüber grübeln.
Eine innere Ausgeglichenheit macht sich in mir breit, die der städtische Alltag nicht zulässt. Der stellt nur Fragen, ohne zu antworten. Umzingelt mich mit Fragezeichen, treibt mich in die Enge. Hier, in der Weite, am Wasser: tauchen Antworten auf wie das Treibgut aus der Flut. Ob sie Bestand haben werden, fern der Küste, fern der Urlaubslaune? Vielleicht dann, wenn ich lerne, dem Lebensfluss zu vertrauen. Dem Lebensfluss zu vertrauen wie den Strömungen der See, die mich am Meeressaum entlang tragen.
Ich bin von der Sonne durchtränkt, und vom Glück. Die Haut prickelt von Salzwasser und Sandkörnchen. Der Wind streichelt darüber auf dem Heimweg, mit dem Rad am Deich entlang.
Die Vermieter fallen mir wieder ein. Ja, jetzt werde ich sie besuchen, Herrn und Frau Hansen.
Treffe sie an in ihrem großen Garten hinterm Reetdachhaus, wo sie sitzen und plaudern mit anderen Gästen. Der Garten, ein Biotop aus hohem satten Grün und farbenprächtigen Blüten, gespickt mit vielen Sitzgelegenheiten. Ein Stuhl wird mir hingeschoben, und ich darauf.
„Auch ein Bier?“
„Ja, gerne.“
Ich war ihm anfangs suspekt, vermute ich, dem Herrn Hansen. Habe es an seinen taxierenden friesisch-herben Blicken gesehen, als er mich am Bahnhof abgeholt hatte: ‚Großstadttussi’ muss er gedacht haben, jedenfalls sah er so aus, als ob er das dächte. ‚Denk Du nur’, habe ich gedacht. Soweit kenne ich mich nun doch schon, mich, und mich an der Küste, dass ich mich in diese Schublade nicht stecken lasse. Heute nun bestehe ich wohl seinen Test. Er beobachtet mich, versucht-heimlich aus dem Augenwinkel, ich merke es genau, auch wenn er wohl will, dass ich es nicht bemerke: er beobachtet mich beim Flens-Flasche-Öffnen. Ich bekomme den Plopp meines Lebens hin (was mich zugegebenermaßen selbst überrascht, aber was ich mir selbstverständlich nicht anmerken lasse). Ab diesem Moment, ab diesem Bilderbuch-Plopp, scheint Herr Hansen mich ins Herz zu schließen. Herzlich, väterlich, vertraut.
Es ist sehr lecker, dieses ganz besondere Eisbrecher-Flens. Ganz schnell bin ich mittendrin in der fröhlichen Runde, im Geplauder und Gelächter, im Erzählen und Austauschen. Mit offenen Armen willkommen geheißen zu werden ist etwas Wunderbares. Fühle mich von seltener, unglaublich offenherziger Gastfreundschaft umhüllt.
Auf dem Heimweg fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Herrn Hansen nach der Vagabundin zu fragen. Was soll’s. Es ist egal. Sie ist mir sympathisch, auch wenn ich nichts über sie weiß. Vielleicht sogar dann umso mehr.
Die Nächte, in denen ich das Alleinsein, und die Abwesenheit anderer Menschen, besonders wahrnehme, sind ein wunderbares Training des Vertrauens. Des Vertrauens in den Schutz, der über mir liegt. Anfangs hatte ich ein wenig Angst. So ungewohnt, sich dem Schlaf hinzugeben, wissend keinen einzigen Menschen in der nächsten Umgebung zu haben, den ich um Hilfe rufen könnte, wenn was wäre. Aber was sollte sein? Die Nachtgeräusche des Häuschens, des Gartens, sind mir noch jetzt manchmal fremd. Was ist natürliches Knacken, was ein durch Fremde hervorgerufenes? Streunt die Vagabundin am Haus vorbei, nachts?
Vertrauen ist da das einzige, was hilft. Vertrauen ist der Gegenspieler der Angst. Wenn die Situation, die ich herbeiführe, sich richtig anfühlt – dann ist das die Grundlage für das Vertrauen. Vertrauen darauf, dass alles gut geht, weil ich weiß, dass ich das Richtige tue. Und meine Zeit an diesem Ort, in diesem Haus zu verbringen, ist das Richtigste, was ich mir nur vorstellen kann, zu tun.
Das Häuschen steht hier nicht wie die anderen: aufrecht auf ebenem Boden. Der Boden auf dem es steht, mutet eher an wie eine Mulde. Und in diese erdige Mulde schmiegt sich das ebenerdige Häuschen, als würde es kuscheln mit der Landschaft.
Dieses Bild sehe ich beim Einschlafen. Das Häuschen kuschelt sich vertrauensvoll in die Erde. Ich kuschele mich vertrauensvoll in das Häuschen. Doppelter Kokon. Geborgenheit.
Es ist erdend, allein zu verreisen. Erdend, als würde das Selbst Wurzeln bekommen und sie eingraben, weil es weiß, wer es ist: das Selbst, verwurzelt in sich. Das ist beruhigend, und stärkend. Als würde ich das zum ersten Mal erleben.
Vielleicht macht es das auch nur an ganz besonderen Orten? Besondere Orte, wie dieser einer ist?
Ich liebe es inzwischen, dieses Land.
Tag 9
Dies ist mein letzter Urlaubstag auf Eiderstedt. Trotz regenverkündender Wolken will ich noch mal raus heute, auf dem Deich entlang, Richtung Eidersperrwerk. Da sollen die Schafe sein, hat Herr Hansen mir Auskunft gegeben. Die habe ich nämlich bislang vermisst. Nordsee ohne Schafe auf dem Deich - eigentlich geht das doch gar nicht. Hier schon, denn der Deich zwischen Böhl und Ording ist geteert. Relativ selten ist das wohl an der Küste, aber die St. Peteraner wollten das so: einen geteerten Deich, überzogen mit weißem Kies. Der ‚weiße Deich‘ wird er genannt. Und auf ihm würden sich Schafe nicht nur nicht wohl fühlen, er braucht auch keine. Auf einem Grasdeich mähen die Schafe das Gras, und trampeln zugleich den Boden beständig fest, damit er nicht abgetragen wird im Sturm, oder beschädigt bei einer Sturmflut. Auf dem weißen Deich macht das der Asphalt.
Den will ich heute aber nicht sehen. Radle also zum grünen Grasdeich, mit weißen Schafen darauf wie Wollknäuel. Ewig und ewig schlängelt der Radweg sich am Wasser entlang. Links das Grün, rechts die Nordsee. Grau heute, ohne Sonne. In der Ferne höhere Wellen und Gischt.
Die Wolken werden dunkler und dichter. Fordern mich auf, umzukehren. Aber ich mag nicht auf sie hören. Mag mich vielmehr hingeben, dem ganzen Tag, und mit jeder Zelle meines Körpers diesem Land. Und je mehr ich mich hingebe, umso dichter werden die Wolken, umso dunkelgrauer bäumen sie sich auf.
Dann geht es ganz schnell: binnen weniger Sekunden erwischt mich eine Regenwand, und nimmt mich auf in das Grau, das sich nun breit macht. Das Grau, in dem Wasser und Deich sich verbinden zu einem eigenen Kosmos. Fühle mich wie aufgehoben darin. Bestandteil eines Kosmos aus grauem Himmel, grauem Dunst, grauem Regen, der sich auf sattem Grün ergießt.
Ich verschmelze damit und werde eins mit dem Land.
Regentropfen perlen vom Friesennerz ab und tropfen mir von dort in die Schuhe. Das Wasser läuft mir übers Gesicht, am Hals entlang, unter die Jacke. Alles egal. Ich lache, aus ganzem Herzen, den ganzen Rückweg lang.
Das Zuhause ist trocken und wärmt. Und trotzdem überkommt mich Wehmut. Denn was mir jetzt zu tun bleibt, ist nur noch das Koffer packen, und das Abschied-Nehmen. Sehr früh morgen geht mein Zug, zurück nach Berlin. Ich darf nicht vergessen, die Antworten einzupacken, die ich hier gefunden habe. Zusammen mit den Resten von Fischernetzen vom Böhler Strand.
Tag 10
Herr Hansen holt mich ab, um mich zum Bahnhof zu bringen. Er freut sich, dass es mir hier gefallen hat, in seiner Heimat. Würde sich noch mehr freuen, wenn ich denn auch mal bei ihm einen Urlaub verbringen würde. Sie haben eine kleine Wohnung zu einem günstigen Preis, die würde auch gut zu mir passen, meint er.
Seine Frau und er sind so entspannt, so herzlich. Was ich anfangs als friesisch-herbe Wortkargheit an Herrn Hansen wahrgenommen hatte, ist einer unglaublich offenherzigen Freundlichkeit gewichen. Ich mag sie, die Hansens. Und bin glücklich darüber, diesen Ort entdeckt zu haben, diese Halbinsel der Ruhe und Gelassenheit. Glücklich darüber, und dankbar.
Nach der Verabschiedung von Herrn Hansen stehe ich am Bahnhof und weiß, felsenfest: ich werde wieder hier her kommen. Die Vision, die ich schon als Teenager hatte, flackert auf. Die Vision vom Arbeiten in einem Haus mit Garten an der Nordsee. Sehe mich, als sei es Realität, in einem Garten vor einem Haus sitzen, und schreiben. Aber sie flackert nur auf, die Vision. Ebenso wie die Frage, ob sich für eine längere Zeit in diesem Häuschen wohl ein günstigerer Preis aushandeln ließe. Nur ein Flackern. Schon ist es wieder weg.
Der Gong der Schranke ertönt, lässt die Autos anhalten, den Weg frei machen für meinen Zug, der sich mit seinem typischen Tuten aus der Ferne ankündigt. Es hat tatsächlich zwei Bahnhöfe, dieses kleine St. Peter-Ording. Macht Sinn, weil es so langgestreckt ist an der Küste entlang: eine Haltestelle in Bad, und eine hier in Böhl. An der ich warte, und eigentlich gar nicht weg will.
Es war ergreifend schön zu erleben, wie Ebbe und Flut meinen Rhythmus bestimmt haben hier: ihn gleichmäßig gemacht haben, ruhig und beständig. Ich kann mir mich als Städterin gar nicht mehr vorstellen. Und freue mich doch auf meine Freunde, auf bekannte Gesichter, auf meinen Kiez, mein Biotop in der Stadt. Auf meine Familie: die beiden Menschen, die mich kennen, gut kennen, um mich wissen, seit Jahren. Ein wenig habe ich die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben doch vermisst, und den Austausch mit ihnen. Denn der ist einfach etwas anderes als diese zwischenmenschlichen Momentaufnahmen, die hier stattfinden.
In der Stadt wird es wieder wesentlich lauter sein. Aber ich habe mich mit Stille gut aufgetankt. Vollgefüllt mit Stille fühle ich mich, als könnte ich sie mitnehmen, in ein Glas packen, es fest zuschrauben - für schlechte, laute Zeiten.
Ich stehe am Rand des Bahnhofs Süd, und sehe dem Zug hinterher. In ihm sitzt eine, die mir aufgefallen ist unter den Touristen, denn Alleinreisende sind selten hier in der Hochsaison.
„Marielou“ wurde sie von Herrn Hansen genannt, der sie zum Bahnhof gebracht hat. Sie hat in dem Haus von Frau Martens am Waldrand gewohnt, das zugerankt ist von Hagebuttensträuchern und Efeu. Als ich daran vorbeiging, habe ich sie dort entdeckt, und sie war mir sofort auf mir unerklärliche Weise sympathisch und fast schon vertraut. Das hat mich neugierig gemacht auf sie und ihr Leben, und ich habe versucht, möglichst viel davon mitzubekommen. Wenn ich ohnehin den ganzen Tag draußen unterwegs bin, kann ich mich ihr auch ein bisschen an die Fersen heften, dachte ich mir.
Und so war ich oft bei Marielou, oder zumindest in ihrer Nähe, ohne dass sie es merkte. Ich kenne ihre Lieblingswege inzwischen und weiß, dass sie morgens losstreunt und erst abends wiederkommt, dass sie sich treiben lässt in diesem friedlichen Land, wie ich es tue. Sie scheint kein starres Tagesprogramm zu haben wie die anderen hier. Sie wirkte eher wie eine, die sich von ihren Eindrücken leiten lässt, und von ihren Wahrnehmungen unterwegs. Vielleicht ist sie eine kleine Vagabundin, wie ich?
Ich habe ihr angesehen, wie verzaubert sie von diesem Ort ist, wahrscheinlich deshalb weil ich es kenne, denn mir ging es vor vielen Jahren genau so: seit ich zum ersten Mal hier war, wollte ich nicht mehr weg von Eiderstedt.
Tatsächlich kann zwischen einem Menschen und einem Ort etwas Besonderes existieren, das weder benannt noch erklärt werden kann. Niemand kann es benennen und erklären, weil es rational nicht existiert. Es ist irgendetwas, was als Schwingung, Karma oder Chemie durch das gutbürgerliche Vokabular kursiert, aber nie wirklich für voll genommen wird. Ich nehme es für voll, absolut. Mir schenkt Eiderstedt Zufriedenheit, und somit etwas, was in meinem Stadtleben zuletzt nicht mehr vorkam. Hier kann ich durchatmen und mit den Füssen fest auf dem Boden stehen. Auf festem Boden, der in der Stadt mit ihrer Vielfältigkeit so oft irritierend wankt.
Marielou schien viel nachgedacht zu haben, wenn ich sie unterwegs gesehen habe am Strand. Wer mit Fragen im Gepäck anreist, braucht Geduld, denn es ist sinnlos, ungeduldig auf Antworten zu warten. Wichtig ist, sich den Lebensfragen hinzugeben und ihnen Zeit und Raum zu bieten, um so den Antworten zu ermöglichen in Erscheinung zu treten.
Dabei hilft es, Vertrauen zum eigenen Lebensfluss aufzubauen. Ein Urlaub allein eignet sich wunderbar dafür, denn Alleinsein ist etwas Wesentliches: bewusstes Alleinsein bedeutet, Wahrnehmungen und Gefühle mit sich selbst auszumachen, ohne sie abgeben oder teilen zu können. Negative Empfindungen zulassen zu können und eigenständig in der Lage zu sein, sie umzuwandeln in etwas Produktives, Bereicherndes, das trainiert die Selbstsicherheit im Leben: sich sicher zu sein mit dem Selbst. Und das kann Verschüttetes wieder auftauchen lassen; verschütt gegangene Visionen seiner selbst, die in der Ruhe und Selbstversunkenheit plötzlich auftauchen können wie verschollene Schätze.
Mir selbst ist erst in vielen Jahren des Fragens klar geworden, dass mit sich selbst gut auszukommen das Wichtigste ist, was es zu einem guten Leben braucht, zusammen mit dem Vertrauen in sich selbst. Im umtriebigen Alltag gleicht es aber oft einer Kunst, sich an diesen Lebensfluss zu erinnern. Denn so mancher wird in seinem Alltag mehr von außen geschoben und gelenkt, als selbst von innen zu fließen.
Eigentlich sind mir andere Menschen völlig egal. Aber Marielou hat etwas, was mich interessiert. Vielleicht hat sie ganz einfach etwas von der Person, die ich einmal war, vor vielen Jahren? Wenn das so ist, dann wird sie wiederkommen nach Eiderstedt, und dann will ich wissen, wie sich ihr Leben entwickelt.
Auch wenn ich kaum Kontakte zu den Einheimischen habe, so weiß ich doch, wie ich mir die Informationen beschaffen kann, die ich haben will. Mein Blick ist weit.