Читать книгу Leben nach Paul - Katrin Pieper - Страница 3

Die Wochenenden hatten es in sich.

Оглавление

Sie erwachte von ihren eigenen tiefen Seufzern, denen sie überrascht nachlauschte. Das also war er – der erste Tag als Pensionärin, wie ihr Chef es nannte. Sonnige Tage und einen erfüllten Lebensabend, hatte er ihr gewünscht. Der Blumenstrauß war riesig, zerstach ihr die Hände, die er mit laschem Druck schüttelte. Sie hatte sich immer vor seinen froschähnlichen Händen geekelt. Und dies war der erste Morgen des erfüllten Lebensabends: viel zu früh, um aufzustehen, viel zu spät, um weiter zu schlafen, gerade richtig für ein Kilo bleischwerer Gedanken.

Paul, als er Rentner wurde, (und das war er nicht lange) brauchte den ganzen nächsten Tag, um seinen Rausch auszuschlafen. Johanna lächelte. Paul, ihr Septembermann. Im September hatte sie sich in ihn verliebt, im September hatten sie geheiratet. Auch die Kinder wurden im September geboren.

„Hannchen“, hatte Paul immer gesagt, „wenn ich mal sterbe, dann im September.“ Er hatte Wort gehalten.

Von nun an gab es für Johanna keine goldenen Spätsommertage. Die farbigen Blätter auf seinem Grab sammelte sie Jahr um Jahr sorgfältig und warf sie erst weg, wenn sie vertrocknet waren. Wann endlich würde dieser Schmerz aufhören, fragte sie sich. Bald nach Pauls Tod hatte sie das Schlafzimmer verkauft. Das leere Bett an ihrer Seite war ein fortwährendes Sterben.

Mit schwachen Knien und zitternder Stimme hatte sie die Möbel dem Kneipier um die Ecke angeboten, der mit dröhnendem Lachen die Sprungfedern geprüft und seiner verlegenen Gattin munter zugenickt hatte. Für das Geld kaufte Johanna eine Couch und einen kleinen Frisiertisch, sie hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr Geld auszugeben, als sie für das Schlafzimmer eingenommen hatte. So blieb ein Rest Gemeinsamkeit.

Johanna schob sich das kleinste der drei Kissen fester ins Genick. Das Haus begann zu erwachen. Was wäre eigentlich, spöttelte sie für sich, wenn ich nun wie eh und je ins Büro gehen würde. Mit Hallo und so... Das weißt du sehr genau, sagte es in ihr. Ab heute sitzt das Blondchen an deinem Schreibtisch, huscht mit den gepflegten Fingern über die Tastatur deines PC’s (meines PC’s!), die blauen Lidschattenaugen bleiben von Zeit zu Zeit an dem Bild der blonden Retrieverhündin hängen und sie würde dich angucken, wie auch du früher die ehemaligen Mitarbeiter angesehen hast, die immer mal wieder „vorbeischauten“.

Einen Stuhl würde man dir anbieten, eine Tasse Kaffee aus der Maschine, die schon früh morgens angesetzt war, dann würden sie sagen, wie sehr sie dich beneiden um die Ruhe und die schöne Zeit, die du dir nun auch mal gönnen sollst, um dann nervös zur Uhr zu gucken, weil „die Arbeit ruft“.

Nein, eine gute Idee war das nicht.

Im Nachthemd ging sie in die Küche, kochte sich einen starken Kaffee und brach aus dem Rosinenkuchen vom letzten Sonntag, ein kräftiges Stück heraus. Die Krümel wischte sie in die hohle Hand und schüttete sie sich gleich in den Mund. Na sieh mal, dachte sie, geht schon los mit der Grauen Panther-Gemütlichkeit. Geschickt balancierte sie alles ins Bett und genoss die bittere Süße von Kaffee und Kuchen.

In den ersten Jahren ihrer Ehe, hatte sie manchmal versucht, mit Paul im Bett zu frühstücken. Aber Paul war von der Sorte Mann, der wegen eines Frühstücks nicht im Bett blieb. Johanna stellte die leere Tasse auf das Tischchen, zog das Radio zu sich herüber. Der Wetterbericht kündigte einen warmen Sommertag an und der Sprecher empfahl, heute mal alles stehen und liegen zu lassen und die Natur zu genießen. Johanna guckte zum Radio. Ihr fiel ein, wie sie an so einem Sommertag Paul zu überreden versucht hatte, einen Tag blau zu machen, für Grünes mit Romantik. Paul hatte abgewinkt. „Denk dir das zur Urlaubszeit aus. Da ist Zeit für Grünes und deine Romantik.“ Dieser borstige Mann, dachte sie, aber wahrscheinlich war es gerade das, was sie an ihm geliebt hatte. Ein Raubein eben.

Ihre Füße tasteten nach den Hausschuhen, sie duschte und zog sich an, trug die Bettdecke auf den Balkon und legte sie dort über den Tisch.

„Jetzt kommen wir beide zum Luftholen“, sagte sie laut.

In den drei Balkonkästen wucherte der Schnittlauch. Sie riss ein paar Halme ab und kaute auf ihnen herum. Jetzt würde der zwiebelige Geruch aus ihrem Mund keinen mehr stören. Paul war der Letzte, der sich darüber beschwert hatte, nach dem die Kinder alle ausgezogen waren. Er hatte aus Protest den dritten Balkonkasten mit Hyazinthen bepflanzt, deren Duft ganze Nieskaskaden in Johanna auslösten. Diesen stillen Krieg führten sie lächelnd und verbissen bis an sein Lebensende. Johanna hatte gleich nach Pauls Beerdigung die Hyazinthenzwiebeln aus dem Kasten genommen, sie wegzuwerfen wagte sie dann doch nicht – noch nicht – und steckte sie in einen kleinen Holzkasten zu allerlei anderen Blumenzwiebeln, die Paul übers Jahr einzupflanzen pflegte.

Die Wohnung war früher zu klein gewesen. Spätestens beim dritten Kind wünschte sich Johanna ein Häuschen, möglichst im Grünen, außerhalb der Stadt. Aber da gab es sehr unterschiedliche Auffassungen zwischen ihnen und die Zeit tat das ihre: die Kinder wuchsen heran und zogen aus. Mit jedem Kind, das fort ging, kam ein Zimmer dazu. Schließlich hatten sie nicht nur eine große Wohnung, sondern jeder ein Zimmer für sich. Die Einsamkeit aber begann mit Pauls Tod. Und sie hatte seither nie mehr aufgehört. Johanna schloss die Wohnungstür hinter sich und ging zielstrebig zum Bäcker, gierig nach Straßenlärm und Brotduft.

„Na, seh‘n Sie“, schrie die stattliche Verkäuferin bei der Johanna seit Jahren morgens ihre Brötchen holte, (und natürlich auch für das Büro) „und so ist das nun alle Tage: Schön ausschlafen, ein ordentliches Frühstück mit frischen Schrippen, da sieht das Leben schon mal ganz anders aus. Und“, sie lehnte sich vertraulich zu Johanna hin, „eine wie Sie hat das auch verdient. Was weiß man schon. Manch einer denkt, nun geht’s los mit dem guten Leben und denn...!“ Sie winkte ab.

Johanna griff sich rasch die Tüte mit den Brötchen, um weiterem Leben zuvorzukommen. Die Straße hinauf und herunter – Johanna war sich unschlüssig. Sie könnte zu Lilli reinschauen, der jüngsten Tochter, der Einzigen von den drei Kindern, die in der Stadt geblieben war. Johanna dachte es fast dankbar, wenngleich sie auch lernen musste, diese Nähe nicht allzu häufig in Anspruch zu nehmen.

„Mama?“, sagte Lilli verwundert, „nicht im Büro? Krank?“ Sie erschnupperte den Duft der frischen Schrippen.

„Wunderbar“, seufzte sie genießerisch, „ich koch Kaffee.“ Johanna genoss die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die sie auch noch in sich spürte. Einmal hatte Paul sie zärtlich beim Arm genommen und gesagt: „Hannchen, wirst mir noch wegfliegen mit deiner Flinkheit“,

Sie nahm den Arm der Tochter für einen Moment fest in die Hand, legte ihre Wange an die zarte Haut.

Lilli starrte sie verwundert an.

„Sag schon was los ist.“

„Gestern war mein letzter Arbeitstag. Du hast eine Rentnerin zur Mutter.“ Gespannt blickte sie auf die Tochter.

„Mein Gott, da bin ich ja froh. Rente. Ich dacht schon was Schlimmes, dass was mit Dir ist. Rente! Und – die ist vor allem regelmäßig.“

Johanna lächelte etwas gequält.

„Endlich mal wieder einer mit einem gesicherten Einkommen in der Familie.“

„Wieso einer? Er ja nicht, aber du? Verdienst doch...“

„Gar nichts mehr“, ergänzte Lilli fröhlich, „gekündigt.“ Sie goss ungerührt das kochende Wasser über das braune Kaffeepulver mit schnellem Seitenblick auf die Mutter.

„Fall mir bloß nicht vom Stuhl, Mama“, spöttelte sie.

„Fall ich nicht. Aber sag mir warum?“

Johanna blieb ruhig.

Der Wassertopf setzte hart auf der Platte auf. Die Messer durchschnitten krachend die Brötchen. Der Kaffee duftete aus bunten italienischen Töpfen. Alles viel zu laut in der eingetretenen Stille. Lilli beugte sich vor.

„Ich wusste, dass es nicht deine Billigung finden würde. Nur dass es gleich losgeht, damit hab ich nicht gerechnet.“

Johanna wiederholte beherzt ihre Frage.

Lilli legte das Messer aus der Hand, schob den Kaffeetopf von sich und betrachtete mit schmalen Augen die Mutter.

„Drei Gründe, so wie du sie verstehst: Schwere Arbeit, schlecht bezahlt und ein ekliger Chef. Bleib auf dem Boden, ich find was Neues. Muss es denn immer der gleiche Trott sein!“

Sie lehnte sich seufzend zurück.

Johanna schaute zum Fenster hin, dessen Gardinenschmuck den Geschmack und die geschickte Hand der Näherin bewies.

So etwas hatte sie nie gekonnt. Sie trank den Kaffee in kleinen Schlucken, bemüht, ihre Erregung zu verbergen.

„Ich versteh das besser als du denkst. Aber schmeißt man deswegen alles hin, zumal sich nichts Neues zeigt, oder?“

Lilli zuckte die Achseln und begann den Tisch abzuräumen.

„Gehörst eben zur ehernen Generation, die da Pflichterfüllung bis zum letzten Atemzug übt.“

Sie sah nervös und unwillig zur Uhr.

„Ich muss los. Zum Friseur und danach mit deinem ungeliebten Schwiegersohn einkaufen. Herrgott, ich weiß gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal zusammen einkaufen waren.“

Sie schob Johanna zielstrebig hinaus bis vor die Tür.

„Komm heute Abend, Mama, meinetwegen auch zum Abendbrot – aber jetzt muss ich los.“

Ich nicht, dachte Johanna. Vor der Tür glänzte ein knallrotes Auto mit einer verblichenen Rose auf dem Dach.

„Neu?“, fragte Johanna.

„Brandneu“. Lilli strahlte.

„Dein ungeliebter Schwiegersohn hat den Herzensruf seiner Liebsten erhört.“

„Er wird es mehr pflegen als dich.“

„Nicht schon wieder“, wehrte Lilli gereizt ab und das Auto fegte laut hupend davon. Johanna sah ihr nach und etwas später einer älteren Frau, die ihren Dackel Gassi führte. Johanna fragte sich, wie oft so ein Tier wohl vor die Tür muss, vor allem im Winter, hatte es dann aber plötzlich eilig in die Wohnung zu kommen, die sie hell und freundlich empfing.

Der Gedanke, sich einfach ins Bett zu legen und den Tag zu verschlafen, kam ihr zwar verwegen, aber auch verführerisch vor. Sie holte die Bettdecke vom Balkon, ließ die Jalousie herunter, zog das Nötigste aus und schlief ruhig ein.


Ein Freund von Paul hatte mal gesagt, dass er die Sonnabende und Sonntage allesamt dem lieben Gott schenken würde.

Damals hatte Johanna wenig Verständnis dafür gehabt.

Die Wochenenden gehörten den Kindern, dem Mann, der Bügelwäsche, den lang versprochenen Ausflügen, den Lockenwicklern, den zu spät in Angriff genommenen Schularbeiten, dem „wir müssen mal was klären“, was nie geschah und immer verschoben wurde.

Die Wochenenden waren solche prallen Säcke, die nie ganz zu leeren waren, aber die schmaler und luftiger wurden, als die Kinder aus dem Haus waren.

Eine ältere Kollegin, alleinstehend und immer etwas giftig, wie Johanna fand, hatte sie gefragt, wie denn nun ihre Wochenenden, da die Kinder ausgeflogen waren, aussähen. Johanna hatte spitz auf Paul verwiesen, der schließlich umsorgt werden müsse. Damit waren die Fronten klar: Alleinstehende Frauen, ältere dazu, laufen wie ein körperlich gewordener Fehler durch die Welt. Einfach das falsche Programm gewählt.

Dann, nach Pauls Tod, hörte sie wehmütig - neidvoll die Familienberichte junger Mütter und jüngerer Großmütter.

„Du musst dir was Eigenes suchen“, hatte Paul einmal gesagt, als auch Lilli, die jüngste Tochter davon war, und sie musste an Loriots Jodeldiplom denken - was war das: das Eigene?

Damals hatte sie genug Eigenes. Nach acht Stunden im Büro kam sie abends genauso müde wie Paul nach Hause. Sie aßen ihr stilles Abendbrot, sprachen wenig, ließen Arbeitsprobleme draußen und teilten den Abend mit dem Fernseher.

Anfangs wollte sie mit Paul noch mal ein neues Leben beginnen, wie zu Beginn ihrer Ehe, nun aber mit dem Wissen voneinander und der ruhigen Liebe zueinander, die nicht ganz so ruhig sein sollte, wie sie im Laufe der Jahre geworden war.

Sie wollte, dass sie füreinander wieder wach würden.

Johanna lebte Diät, verlangte einen Hometrainer den Paul auf dem Balkon aufbaute, damit das Training an der frischen Luft erfolgen konnte. Sie wechselte die Haarfarbe und erneuerte ihre Nachthemden. Da endlich merkte Paul auf und fragte nach. So auf seine Art, diese schmucklose, gnadenlos gradlinige Art, die lediglich eine Antwort verlangte.

„Wieso hast du dir die Haare färben lassen?“

Er umrundete Johanna und zupfte an einer Haarsträhne.

Johanna hatte sich alles glücklich gefallen lassen.

„Mir haben deine Haare gefallen“, sagte er schließlich.

„Aber sie wurden grau“, hatte Johanna eingewandt.

Paul zog die buschigen Augenbrauen hoch, die Johanna nie kürzen durfte.

„Ja und - Hannchen wir sind grau.“

„Du vielleicht“, hatte Johanna spitz entgegnet, „ich nicht. Man kann sich nicht so einfach gehen lassen. Auch wenn man keine Siebzehn mehr ist.“

Er hatte an sich herunter gesehen: braune Cordhosen, braunes Hemd, etwas Bauch, trat vor den Spiegel und beschaute seine hohe Stirn mit dem angrenzenden Haarkranz.

Dann hob er die Schultern, guckte Johanna etwas hilflos mit seinen guten alten Augen an.

„Willst vielleicht auch einen anderen Mann?“, fragte er leise.

Johanna kämpfte gegen die in ihr aufkommende Rührung und den Anflug eines schlechten Gewissens.

„Nein, keinen Neuen, aber den Alten etwas frischer“, hatte sie leise geantwortet, zugleich auch die Fadheit ihrer Worte gespürt.

Und dann hatte sie tatsächlich auch noch gefragt, ob und warum er sie lieben würde.

Darauf hatte Paul lange geschwiegen, und schließlich gesagt, er täte es eben einfach.

Johanna wählte irgendwann ein harmloses, kaum bemerkbares Braun als neue Haarfarbe, quälte sich anstandshalber jeden Tag eine halbe Stunde auf dem kostenintensiven Fahrrad herum und tat in die Rouladen wieder Speck.

Allmählich begann sie sogar diese unkomplizierte Harmonie zu genießen und Schlupfhosen mit Gummizug hielten Einzug in ihren Kleiderschrank.

Dann kam sein Tod.

Tage und Nächte, Wochenenden und Feiertage erhielten ihre Unwucht.

Anfangs war sie bei den Kindern. Zumeist bei Lilli, sehr selten bei Anna, viel zu selten bei Jonas, ihrem Ältesten.

Sie suchte eine Spur jener Empfindung, die sie nur zu ihm gefühlt hatte.

Als er seinerzeit mit diesem kühlen und schönen Mädchen aus Schweden ankam, das ihr den Sohn wegnahm, tat sie sich schwer.

„Du musst ihn irgendwann auch loslassen“, hatte Paul gesagt.

Sie hatte ihn nicht loslassen müssen, er hatte sich einfach wegnehmen lassen. Das Mädchen nannte ihn Jon oder Jonny und das gefiel ihm, wie ihm überhaupt alles gefiel, was sie tat.

Für Johanna war er plötzlich namenlos. Denn als sie ihn einmal „Jonas“ rief, hatte er gar nicht darauf reagiert oder zumindest sehr spät und gelacht und gesagt, dass er gar nicht mehr wüsste, dass es diesen Namen auch noch gäbe.

Wenn sie zu ihm fuhr, dann waren es drei Stunden Zugfahrt, und zehn Minuten für Mutter und Sohn. Er stand am Bahnhof und erwartete sie, nur sie. Ankunft und Abfahrt – da gehörte er ihr ganz und gar, da war nichts zwischen ihnen, keine Fragen, keine Missverständnisse, keine Erklärungen – die ganze Rückfahrt spürte sie die Wärme seiner Umarmung und seinen bärtigen Kuss auf der Wange und sein „pass auf dich auf, Mutterchen“. Ein inneres Öfchen, das lange wärmte.

Im Laufe der Jahre hatte sie zu jedem der Kinder eine eigene Beziehung gefunden. Lange war ihr das wenig bewusst und später auch nicht recht. gewesen. Das zweite Kind, Tochter Anna meldete sich zu früh. Da wollte sie noch kein Kind. Jonas begann gerade zu laufen, da spürte sie die Schwangerschaft und dachte an Abtreibung.

Paul verbot es ihr ganz einfach. Er nannte eine Reihe plausibler Gründe, die für das Kind sprachen: eine gesunde junge Mutter, einen gut verdienenden Ehemann, ausreichenden Wohnraum.

Sie hatte heulend vor soviel gnadenloser und nackter Wahrheit, die Wohnung verlassen und versucht, den Abbruch auf natürliche Weise herbeizuführen. Was nicht gelang. Anna wurde geboren. Johanna hatte lange gebraucht, den Abstand zu dieser Tochter zu überwinden.

„Du musst sie ja nicht verwöhnen, nur weil du sie nicht wolltest“, hatte Paul mal gesagt, als Anna einen ihrer Wutanfälle bekam und Johanna sie mit Süßigkeiten vollstopfte, nur um sie zu beruhigen.

Das war ihr lange nachgegangen und es war auch Anna, die sie mal gefragt hatte, ob Johanna alle drei Kinder gleichermaßen lieben würde.

Da war Lilli unterwegs, ein Nachkömmling, ein Zufall, eine Überraschung – geliebt, belacht, erwartet. Auf Annas Frage klangen Pauls Worte in Johanna auf und sie hatte inbrünstig Ja gesagt und Anna wie selten zärtlich geküsst.

Anna war die Erste, die frühzeitig aus dem Haus gegangen war; Anna wusste immer, was sie wollte, und tat es auch. Zu ihr fuhr Johanna nur wenige Male nach Pauls Tod und kam sich dort noch verlassener vor, als in ihren vier Wänden.

„Bleib so lange, du willst“, hatte Anna zu ihr gesagt und Johanna einen Hausschlüssel hingelegt. „Aber versink hier nicht in Trauer. Guck dich um und mach was.“

Johanna glaubte Paul zu hören. Anna war immer seine Tochter gewesen, so wie Jonas nur ihr Sohn war. Einzig Lilli war ihr gemeinsames Kind. Paul und sie hatten ihre Elternschaft auf sehr verschiedene Weise getragen.

Mit Lilli zu leben war leicht und schwer zugleich.

Lilli war ein fröhlicher Egoist. Johanna lebte gern mit ihr; sie hatten vieles gemeinsam und worin sie sich unterschieden, war beiden bewusst und der Grenzstreifen war scharf gezogen.

Johanna hatte mühsam gelernt, dass sich Eltern auch abnabeln müssen. Und jetzt, in dieser schier grenzenlosen Einsamkeit, lernte sie auch Lillis Widerstand kennen. Sie ließ sich nicht einvernehmen von Johannas Dunkelheit. Johanna stellte die „Flucht“ zu den Kindern ein, spürte deren Erleichterung bei telefonischen Absagen, spürte aber auch die eigne.

Schmerz und Einsamkeit ließen sich nicht umverteilen.

Sie hörte Lilli am Telefon sagen: „Mama kommt! – Ich bin dran. Das muss ich nun mal aushalten.“

Johanna wollte nicht ausgehalten werden.

Die stillen Wochenenden und Feiertage, die einsamen Mittagessen und verlorenen Spaziergänge begannen, dazu die endlosen Abende.


Die Freundin sah sie verständnislos an. Johanna sprach von der Umgestaltung ihrer Wohnung, wo für Evi doch alles dafür sprach, die Wohnung zu verlassen. Undenkbar für Johanna.

Hier atmete, was ihr Leben ausgemacht hatte, und immer noch ausmachte.

„Wirklich“, sagte sie in Evis Augen hinein, die Spott und Erstaunen spiegelten. „Mit Paul begann doch alles hier…“

„Gar nicht“, brummte Evi und zündete sich eine Zigarette an. Johanna seufzte, einmal wegen des Rauches, der nun für drei Tage in der Wohnung hängen würde und zum anderen, weil Evi Recht hatte.

Mit Paul hatte alles in einem umgebauten Eisenbahnwaggon begonnen. Der Waggon stand auf einem von Unkraut, Nachtkerzen, Brennnesseln überwucherten Abstellgleis hinter einem stillgelegten Bahnhof und war wie Paul immer betonte, romantisch.

Johanna war diese Romantik so recht nie aufgegangen, zu Anfang nicht und später, wenn der verrostete, zugige, klappernde Waggon in Pauls Beschreibungen eher einer Luxuskabine des Orientexpresses immer ähnlicher wurden, fragte sie sich, ob sie es tatsächlich war, die dort mit ihm gelebt hatte.

„Ich könnte mir einen Hund zulegen oder mich als Leihoma melden, das braucht Raum.“

Sie blickte unschlüssig zur Freundin hin.

„Ich könnte auch vermieten, an Studenten oder alleinstehende ältere Frauen…“

Evi nickte und erhob sich.

„Tu das. Am besten alles zu gleicher Zeit. Gassi gehen mit 3-4 Hunden, ein paar unerzogene, fremde, herumkrümelnde Kinder, Studenten, die ihre Freunde mitbringen und ältere Frauen, denen du die Wäsche machst, weil du ja sowieso zu Hause bist. Mach das. Ist ein Fulltime-Job. Du wirst spätestens nach vier Wochen die Wohnung wechseln. Freiwillig!“

Es waren insgesamt fünf Zimmer für ehemals fünf Personen; als die Kinder raus waren, gehörte ein Zimmer der Modelleisenbahn, und Johanna bestand auf einem Gästezimmer. Von nun an mussten alle Freunde bei ihnen übernachten, auch die von drei Straßen weiter. Paul fasst sich an den Kopf und schlief aber selber von Zeit zu Zeit dort, er hatte sich angewöhnt, im Bett zu rauchen. Johanna machte Terror und Paul verzog sich ins Gästezimmer.

Es war ihr nicht ganz unangenehm gewesen, Paul schnarchte, aber im Grunde fühlte sie sich verlassen, wenn er nicht neben ihr lag und sie seinen Atem nicht mehr spürte.

Nach seinem Tod, bildete sie sich lange ein, er schliefe im Gästezimmer und dieser Selbstbetrug hatte zeitweilig etwas Tröstliches.

Sie putzte jeden Tag ein Zimmer und fand, das sei auch nötig, so hatten die Vormittage ihren festen Rhythmus, dann ging sie einkaufen. Jeden Tag nur das, was sie eben brauchte, so gab es immer einen Grund, den nächsten Tag neu zu organisieren.

Evi kam und legte ihr eine Annonce auf den Tisch, auf der eindringlich beschrieben wurde, dass eine Familie mit drei Kindern eine größere Wohnung suchte und gegen die zu klein gewordene tauschen wollte.

„Na, nun zeig mal deine soziale Ader“, befahl Evi. „Das passt doch und ist um die Ecke. Alles bleibt wie es ist, du kannst den Sauger auch durch zwei Zimmer, mit Balkon ziehen und den Leuten da ist geholfen.“

Das stimmte zwar so nun auch wieder nicht, es waren genau drei Querstraßen, die zwischen den Wohnungen lagen und die Straße war kurz, endete bald in einer Rundung und trug ein anderes Gesicht.

Evi fasst die Freundin unter und sie schritten langsam auf das Haus zu, das ziemlich am Ende der kleinen Straße lag.

Ein neueres Haus, weiß, von seltsamer Architektur, als seien zwei Häuser ineinander verschoben. Kleine Balkone saßen vor den Fenstern der oberen Geschosse. Johanna war überrascht.

„Weil du nicht aus deiner Höhle raus kommst“, sagte Evi, “und jetzt mal rein in die gute Stube, ich hab uns angemeldet.“

Johanna sah sie erschrocken an.

„Nein. Du kannst ja reingehen. Ich nicht. Ich will keine neue Wohnung.“

„Doch“, sagte Evi und setzte sich schwer atmend auf die kleine Bank, die vor einem Baum stand mit weit ausladender Krone.

„Pass mal auf, mein Mädchen. Ich bin deine beste Freundin und die sind auch dazu da, Unangenehmes zu sagen. Das wissen wir beide doch.“

Sie sah prüfend in Johannas abweisendes Gesicht.

„Fehlt nur noch, dass du altes Mädchen sagst…“

Evi nickte ergeben und wusste Bescheid: Paul!

„Nenn mir fünf Gründe, warum du in der Wohnung bleiben willst und ich sag dir fünf, warum nicht.“

„Lass den Blödsinn“.

Johanna setzte sich zu ihr.

„Sag schon“, drängte Evi, „sag mir fünf oder drei oder einen.“

Johanna zuckte die Achseln.

„Es ist mein Zuhause. Und dann die Möbel, die Sachen, wo soll das alles hin. Ich kann doch nicht alles wegschmeißen. Oder mich gleich dazu“, sagte sie trostlos.

Evi legte ihr den Arm um die Schultern und sie schwiegen ein Weilchen.

Dann erhob sich Johanna und straffte sich und sie betraten wortlos das weiße Haus.

Die Wohnung lag im ersten Stock, die Treppe dorthin war gefliest und ungewöhnlich steil.

Eine junge Frau öffnete und hinter ihr stand ein kleiner pausbäckiger Junge mit einem Dackel auf dem Arm.

Johanna war der Freundin plötzlich dankbar, die da für sie sprach und regelte. Irgendwie ging alles an ihr vorbei, ging sie nichts an, was da verhandelt wurde. Sie sah in den Flur und bemerkte ungenau, dass er ziemlich breit und gut geschnitten war, eher einer Diele ähnelte, von der die Zimmer abzugehen schienen. Das war angenehm.

„Und wollen Sie sich die Räume ansehen?“, fragte die junge Frau.

Räume!, dachte Johanna, wozu, doch sie wollte nicht unhöflich sein und betrat die Zimmer, besichtigte den Balkon und alles, was man ihr sonst noch vorführte.

„Schön“, sagte Johanna, „aber sehr klein“.

Die junge Frau nickte.

„Deshalb müssen wir hier auch raus, und es wäre wunderbar, wir dürften uns ihre Wohnung anschauen.“

Schon hatte sie die Absage auf der Zunge, da nahm sie den Baum war vor dem Balkon. Eine große Eiche, schwer, gerade gewachsen und stark.

„Was für ein schöner Baum“, sagte sie leise.

Die junge Frau nickte.

„Das Schmuckstück der Straße und mit ihm haben die Jahreszeiten ihr ganz eigenes Gesicht. Deshalb haben wir auch die Bank dazu gestellt. Sie haben vorhin dort gesessen, nicht wahr?“

Die dicken belaubten Äste breiteten sich über die Straße und irgendwann würden sie wohl auch den kleinen Balkon erreichen.

Evi stellte sich dicht hinter die Freundin.

„Es ist gut so“, sagte sie leise.

Sie vereinbarten einen Zeitpunkt, um Johannas Wohnung anzuschauen.

Später gingen sie schweigend die Straße hinunter.

„Es ist, wie es ist“, sagte Evi, „und es wird nicht besser, aber man kann sich das Leben auch in unserem Alter wenigstens noch anders vorstellen.“

Sie blieb nachdenklich vor einem Plakat stehen. Ein weißhaariges, sehr schlankes Paar blickte munter und faltenfrei auf sie herunter.

„Meinen die wirklich uns?“, fragte Evi feixend, „muss man sich das alles wirklich noch antun?“

Johanna schüttelte den Kopf.

„Nicht wirklich, wir sind die XL-Größen mit der nötigen Kaufkraft. Aber wir wären es noch gern, oder?“

Sie sah die allerbeste Freundin prüfend an.

„Vielleicht nicht gerade jung, aber jünger, nicht gerade dünn aber schlanker. Eben noch sichtbar für die Welt.“

Evi sah sie erstaunt an.

„Solche Gedanken in deinem grauen Köpfchen?“

Johanna seufzte gekünstelt auf.

Die Freundin nahm sie beim Arm und steuerte auf ein Café zu.

„Du wirst mir noch mit einem wilden Kerl durchbrennen, wenn ich nicht aufpasse.“

Johanna sah sie lächelnd an.

„Was sonst sollte ich in der Zwei-Loch-Wohnung tun?“

Die Dinge entwickelten sich wider Erwarten schmerzärmer als erwartet.

Was in die „Löcher“ hineinging, nahm sie mit, den Rest ließ sie zum Vergnügen ihrer Nachmieter stehen.

Den erwarteten Heulkrampf brachte das Zimmer mit der Modelleisenbahn.

„Das glaub ich nun nicht“, stöhnte Evi. „Gerade dieses Zimmer! Wieso denn eigentlich? Wer hat denn hier gezetert und gedroht, den ganzen Mist eines schönen Tages, wenn Paul auf Schneewache ist, aus dem Fenster zu schmeißen.“

Johanna sah sie aus verheulten Augen an.

„Das ist es ja gerade. Versteh doch mal. Ich hab’s doch nicht getan.“

Evi sah sie ratlos an.

Die Schneewache der Eisenbahner! Sie galt den Weichen, die nicht einfrieren durften und waren zugleich jene wunderbaren Nächte unter Männern, mit heißem Glühwein und großem Verständnis füreinander.

Von solch einer Schneewache brachte Paul eine kleine dicke Holzfrau mit. Rotrockig, pausbäckig, saß sie auf einem Holzstumpf und sah blauäugig in die Gegend. Paul hatte ihr einen Platz neben der Bahnschranke zugewiesen und sie Johanna genannt.

„Sie sieht dir doch verdammt ähnlich“, hatte Paul feixend gesagt und keine weiteren Erklärungen von sich gegeben.

Johanna hatte auch nicht weiter nachgefragt, aber sie betrat seither nie mehr das „Eisenbahnzimmer“ und widerstand allen Putzgelüsten, auch wenn sich allmählich Spinnweben über die Hügel und Häuser legten, was auch den farbigen Triebwagen verblassen ließ. Von der rotrockigen Holzfrau ganz zu schweigen.

Paul nahm eines Tages Besen und Lappen und verzog sich demonstrativ ins Zimmer und sie hörte ihn bald poltern und schimpfen.

Das war allemal eine Genugtuung, auch wenn sie sich ein wenig lächerlich dabei vorkam.

Johanna putzte sich die Nase, nahm die dicke Holzfrau von ihrem Platz an der Schranke hoch und steckte sie in die Tasche.

„So“, sagte sie zu Evi. „Nun sollen die Kinder das denn auch haben. Der Dackeljunge wird sich freuen.“

Sie ging energisch zur Wohnungstür und öffnete sie weit.


Die Weihnachtsgeschenke lagen ungeöffnet herum. Sie hatte keinen Weihnachtsbaum. Ein fremde kühne Entscheidung, die sie für sich getroffen hatte, unsicher und in Erwartung der Katastrophe, die möglicherweise über sie hereinbrechen könnte. Neben Paul waren Entscheidungen immer leicht gewesen. Ohne ihn wurde sie zaghaft vor sich selbst. Evi hatte mehr als erstaunt geguckt.

„Und da brichst du nicht zusammen, so gegen 20 Uhr am Heiligabend?“ Sie sog zweifelnd an ihrer Zigarette.

Johanna nickt, unsicher, tapfer, ängstlich, entschlossen.

„Und die Nachkommen? Keines da? Zu keinem hingehen? Oder tauchen sie auf?“

„Nein, niemand – oder noch mal kurz zu Lilli…“

Evi winkte ab.

„Komm einfach zu mir; wir essen ein nettes Abendbrot, gucken uns die leidige Weihnachtsgeschichte an, prüfen unsere Bibelfestigkeit – ich kann mir nicht helfen, Weihnachten hört auf, wenn die Kinder wissen, was die Geschenke, die sie sich gewünscht haben, kosten und anschließend zur Party um den Block ziehen.“

Sie holte sich ihren Mantel, suchte nach den Autoschlüsseln und betrachtete ihre verloren dasitzende Freundin.

„Alte Glucke. Zerfließ nicht in Selbstmitleid und korrigier dein Hoffnungsverhalten.“

Die Tür fiel leise hinter ihr zu. Evi war bei aller Korpulenz eine leise und leichte Person. Das hatte Johanna schon immer gefallen.

Sie kannten einander lange, eine Kindergartenfreundschaft, wie Johanna es gern nannte. Es gab gemeinsame Jahrzehnte aber auch Jahre, da hatte es sie auseinandergedriftet. Später, nach Pauls Tod, bedurfte es keiner weiteren Erklärung. Es waltete wieder die Kindergartenfreundschaft, verlässlicher denn je.

Es war kein Weihnachten, es war eine Mutprobe.

Johanna steckte Tannenzweige in die alte Bodenvase, die immer noch undicht war, stellte ergeben einen Teller drunter und fand nirgendwo den Karton mit dem Weihnachtsbaumschmuck.

Wahrscheinlich hatte sie ihn beim Umzug in der alten Wohnung stehen lassen. Dafür fand sie den Kasten mit hölzernen Ostereiern und hing diese an.

Auch das erste selbstbemalte Osterei von Lilli war noch dabei und Johanna band es an den obersten Tannenzweig.

Sie fühlte sich plötzlich von innen heraus frei und auch einmalig.

Und sie tat noch ein Übriges: rief jedes der Kinder an, wünschte ein schönes Weihnachtsfest und hatte Angst vor Fragen, die sie hätten schwach und weinerlich werden lassen könnten.

Aber die kamen nicht.

Die Fragen, die da kamen, galten der Zuverlässigkeit der Post.

„Ist mein Geschenk angekommen?“

„Danke, ja“, Johanna nickte brav ins Telefon.

„Schon aufgemacht?“

Johanna schüttelte den Kopf.

„Zum Abend.“

Als es dunkelte, zog sie sich den Mantel an und ging zu Paul. Das tat ihr gut. Auf einigen Gräbern leuchteten Kerzen in roten Gläsern. Sie hatte einen Christrosentopf am Vormittag gekauft und stellte ihn vor Pauls Grabstein.

„Fröhliche Weihnachten“ sagte sie und legte ein Steinchen auf seinen Namenszug, den sie in die steinerne Platte hatte gravieren lassen, so blieb er ihr nahe.

Ein Weilchen stand sie nur still da und sog die kühle Friedhofsstille in sich hinein, dann ging sie langsam von ihm weg. Jedes Mal ging sie von ihm weg, wenn sie den Friedhof verließ, den sich jetzt die Dunkelheit des Abends nahm.

Zuhause öffnete sie die Geschenke.

Sie bezeugten vor allem die Wünsche der Kinder, und überraschten Johanna dann auch nicht sonderlich. Seit Pauls Tod und mit Beginn des Rentnerlebens redeten sie auf Johanna ein, etwas zu tun, etwas zu lernen, etwas anzufangen mit sich selbst, den neuen Lebensabschnitt zu beginnen, wie Anna es nannte.

Was für ein Lebensabschnitt fragte sich Johanna. Leben nach Paul? Johanna fiel nichts dazu ein.

Sie hatte im Sommer die Balkonkästen der neuen Wohnung mit Schnittlauch und Pauls Hyazinthenzwiebeln bepflanzt und sich Mühe gegeben, mit der Wohnung in Kontakt zu treten. Das war ihr nicht gelungen. Sie respektierte die Räume gewissermaßen. Die guten Hausgeister waren wohl nicht mitgezogen.

Einmal war sie auch schon allein im Kino gewesen. Vormittags um 10 Uhr. Kino für Rentner, verbilligt, mit Kuchen und Kaffee. Sie hatte keinen Platz mehr gefunden und sich einen Stuhl geholt und in den Gang gesetzt, der zur Toilette führte. So war um sie herum immer Bewegung. Der Film erzählte von einer alten Frau, die sich in einen jungen Mann verliebt hatte und darunter litt.

Das weckte in Johanna ein schmerzliches Gefühl, eine Art von Verlustgefühl. Inmitten der Leute, die sicher nicht älter waren als sie selbst, vielleicht auch jünger, von solcher Liebe zu erfahren und immer noch zu wissen, wie es sich anfühlte, das überraschte sie.

Irgendjemand hatte einmal gesagt, dass Gefühle jung bleiben auch wenn die menschliche Hülle davon nichts mehr zu zeigen weiß. Sie war damals einsam nach Hause gegangen.

Die Weihnachtsgeschenke der Kinder waren also Ermahnungen.

Ein Laptop von Jonas, ein Jahresabonnement für das neue Fitnessstudio ganz in Johannas Nähe von Anna, Lilli hingegen hatte zehn Kinobesuche gebucht, für zwei Personen!

Vorsorglich, wie er war, hatte Jonas auch die Adresse eines Computerfachmannes dazu gelegt und betont, dass dies ein geduldiger und erfahrener Mann sei. Johanna lächelte zärtlich. Sie klappte das Gerät auf und spiegelte sich distanziert und neugierig in dem schwärzlichen Glas.

Dann holte sie sich die Brille und las, was dieses Fitnessstudio aus den Menschen alles herauszuholen vermochte. Johanna las andächtig, denn die Texte hinterließen den überzeugenden Eindruck von leicht zu handhabenden und sehr gesunden Vorgängen. Rein theoretisch fühlte sie sich plötzlich voller Elan.

Dann betrachtete sie das Kinokartengeschenk, was wohl am allerbequemsten war. Außer Evi fiel ihr dazu kein Begleiter ein. Lilli, die Schlaumaus hatte sicher nicht Mutter und Tochter gemeint, sie hatten beide nicht den gleichen Humor. Johanna überlegte, ob man aus zwei eine Person machen könnte und dafür das Abonnement zu verlängern wäre.

Merkwürdigerweise kam ihr eine Kollegin in den Sinn, Frau Buchholz, eine jüngere Witwe, die sich einmal schüchtern an Johanna gewandte hatte, mit der Frage, ob sie nicht Lust hätte, mit ihr ins Kino zugehen.

Johanna wäre nie eingefallen, ohne Paul ins Kino zu gehen und so lehnte sie das Angebot freundlich entschieden ab, verwundert, dass man ihr solches angetragen hatte.

„Wärst du doch gegangen“, hatte Paul über das Fußballspiel hinweg gesagt, „vielleicht war sie nur allein.“

Seine Art, den Dingen eine einfache Sicht zu geben, irritierten Johanna immer wieder und sie hätte nun gern wortreiche Erklärungen abgeben wollen.

Aber Paul guckte Fußball und als der Abwasch getan war, fragte sich Johanna tatsächlich, warum sie abgesagt hatte.

Johanna betrachtete Lillis Ei auf der Tannenzweigspitze und beschloss, Kartoffelsalat zu machen. Zu Weihnachten gab es immer Kartoffelsalat mit Würstchen. Am ersten Feiertag die Gans. Früher.

Sie fand alles Nötige und setzte die Kartoffeln auf. Kurz vor Mitternacht hatte sie sich den Tisch gedeckt, die Geschenke aufgebaut, eine Kerze angezündet und aß Kartoffelsalat mit Würstchen.


Leben nach Paul

Подняться наверх