Читать книгу Das Auge des Panthers - Katrin Ulbrich - Страница 9
FÜNF
ОглавлениеDIE BAR Zum Roten Fuchs war im Keller eines Ziegelhauses untergebracht, unweit vom Zirkusgelände. Das Haus stand an der Planitzstraße, schräg gegenüber von den Kasernen und dem Lazarett. Die Straßenbahnlinie 2 verkehrte von Schönau, den Wanderer-Werken und der Innenstadt bis hierher. Eine Haltestelle befand sich unmittelbar vor dem Roten Fuchs.
Rauch und Stimmengewirr beherrschten das holzvertäfelte Lokal. Die Bar war an diesem Abend brechend voll. Auf einer kleinen Bühne im Hintergrund hauchte eine Sängerin mit rauchiger Stimme I wanna be loved by you . Ihr rückenfreies Kleid war aus silbrigem Stoff, der sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Eine glitzernde Stoffrose lenkte den Blick auf ihr üppiges Dekolleté, und ihr rot geschminkter Mund war eine einzige Einladung.
«Donnerwetter!», entfuhr es Katzmann, als er die Bar betrat.
«Dein Geschäft brummt, was?»
«Das kann man sagen», gab Max Wachtler zurück. «Irgendwo müssen die Männer schließlich entspannen. Und wo kann man das besser als hier?» Er gab dem Barmann hinter dem Tresen ein Zeichen. «Bring uns zwei Whisky, Tom. Aber von dem guten!»
Sie schoben sich durch die Menge und fanden noch zwei freie Hocker.
Als die Getränke vor ihnen standen, hob der Barbesitzer sein Glas. «Eis bekommt einem Mann immer noch am besten, wenn es in einem Whisky schwimmt», murmelte er. Dann kippte er das Glas und knallte es zurück auf den Tresen.
Katzmann hielt sich zurück. «Für mich bitte nur einen Tomatensaft. Ich möchte morgen früh nicht schon wieder mit einem schweren Kopf aufwachen.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.»
«Na gut.» Sein Freund leerte das zweite Glas mit einem langen Zug. «Man soll ja nichts verkommen lassen … Moment mal, was serviert Gina denn den Gästen dort drüben? Soll das ein Spiegelei oder Holzkohle sein? Himmel noch mal, hat der Koch das Essen schon wieder anbrennen lassen! Entschuldige mich, Konrad, ich muss ein ernstes Wort mit ihm reden.»
«Geh ruhig, ich amüsiere mich schon.» Katzmann drehte sich so, dass er die Sängerin sehen konnte. Reizend!, dachte er und spürte, wie sich die alte Abenteuerlust in ihm regte. Früher hatte er nichts anbrennen lassen und ein großes Herz für alle Frauen gehabt. Seitdem er mit Frieda zusammen war, lebte er ruhiger. Doch hin und wieder packte es ihn, und dann hätte er am liebsten …
Plötzlich rempelte ihn jemand von hinten an, so dass etwas Tomatensaft auf sein Hemd kleckerte. Derart unsanft aus seinen Gedanken gerissen, fuhr er herum und funkelte den Übeltäter böse an. «Passen Sie doch auf! Was fällt …»
Der Rest seines Fluchs erstarb auf seinen Lippen, als er die zierliche Frau sah, die ihn angestoßen hatte. Die Flut üppiger roter Locken, die ihr über den Rücken fiel, und die weichen, vollen Lippen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war die Assistentin des Pantherdompteurs! Sie hatte sich einen langen schwarzen Mantel über ihr glitzerndes Kostüm gezogen, der ihre Gestalt fast völlig verhüllte. Dennoch konnte kein Zweifel bestehen: Sie war es! Mit ihren großen grünen Augen und dem feingeschnittenen Gesicht war sie eine wahre Schönheit.
Das entging auch den anderen Männern in der Bar nicht. Einige von ihnen schienen ebenfalls schon eine Vorstellung des Circus Rosario besucht zu haben. Ein Mann zwirbelte aufgekratzt seinen Schnurrbart zwischen den Fingern und rief mit schwerer Zunge: «Wen haben wir denn da? Wenn das nicht eine echte Raubkatze ist!»
Heiseres Gelächter antwortete ihm.
Die Rothaarige wurde eine Spur blasser und schlang ihren Mantel fester um sich. Dabei schaute sie sich suchend um.
«Brauchst du Hilfe, Püppchen?», krächzte der Bärtige und grinste breit. «Komm her, ich helfe dir gern!»
«Ich suche meine Freundin. Haben Sie sie vielleicht gesehen? Sie ist blond, ziemlich dünn und etwa so alt wie ich. Ihr Name ist Nelly.»
«Nein, sie war leider nicht hier. Warum suchst du nicht später weiter und leistest mir erst einmal Gesellschaft?»
«Das geht nicht. Ich muss Nelly unbedingt finden …»
«Vergiss deine Freundin. Was du brauchst, ist ein echter Kerl!» Der Bärtige schaute sich nach allen Seiten um und erntete beifälliges Gelächter.
«Das stimmt wohl», erwiderte die Dompteuse. Etwas an ihrer Haltung veränderte sich. Sie reckte das Kinn vor und schaute ihrem Gegenüber beherzt in die Augen. «Nur leider sehe ich hier keine echten Kerle. Nur einen Haufen Trunkenbolde.»
Die Mienen der Umstehenden verdüsterten sich. Die Spannung in der Bar wurde beinahe greifbar.
Nur der Bärtige behielt sein lüsternes Grinsen bei. «Ah, das Raubkätzchen fährt seine Krallen aus. So habe ich es am liebsten. Komm her, mein Kätzchen, lass mich sehen, ob du so heißblütig bist, wie du aussiehst …» Er griff nach ihr, fuhr jedoch im nächsten Moment zurück. Sein Grinsen war auf einmal wie weggewischt.
«Autsch! Verdammtes Miststück, du hast mich gekratzt!»
«Richtig!» Unerschrocken sah ihm die Frau in die Augen.
«Haben Sie nicht eben noch behauptet, das zu mögen?»
«Ich meinte doch nicht wirklich …» Schnaubend unterbrach sich der Bärtige und packte ihren Arm. «Na warte, das wirst du mir büßen!»
«Lassen Sie sie in Ruhe», mischte sich Katzmann ein und trat zwischen den Bärtigen und die Frau. Dabei fasste er den Angetrunkenen fest ins Auge. «Sie haben doch gehört, dass sie keine Gesellschaft möchte.»
«Was geht Sie das an? Mischen Sie sich gefälligst nicht ein!»
«Es tut mir leid, aber ich kann nicht tatenlos zusehen, wenn eine junge Dame belästigt wird.»
«Welche junge Dame denn?» Der Bärtige schnaubte abfällig.
«Die Kleine ist alles andere als eine Dame. Diese Zirkusleute sind doch alle gleich: Die haben weder Moral noch ein Gewissen. Was die Kleine hier braucht, ist ein echter Kerl!» Er nestelte an seinem Hosenlatz. Dann streckte er den Arm nach ihr aus, aber Katzmann schob ihn zurück.
«Lassen Sie das», bat er ihn.
«Was fällt Ihnen ein?», polterte der Bärtige aufgebracht und stieß den Reporter so fest vor die Brust, dass dieser zurücktaumelte. Das Glas rutschte ihm aus der Hand und zerschellte auf dem Boden. Die Umstehenden wichen zurück und bildeten einen Halbkreis um sie. Offenbar erwarteten sie einen Kampf.
Der Angetrunkene trat vor Katzmann hin, packte ihn mit einer Hand am Revers und schmetterte seine freie Rechte blitzschnell gegen dessen Kiefer.
Es knackte unschön. Ein scharfer Schmerz raste durch den Schädel des Reporters. Er taumelte, fing sich aber wieder und ließ seinen Arm hochschnellen, ehe der Angetrunkene ein weiteres Mal zuschlagen konnte. Geschickt fing er die Rechte ab und lenkte sie zur Seite. «Hören Sie auf», beschwor er seinen Rivalen, «das führt doch zu nichts!»
«Ich lasse mich nicht zum Affen machen!», keuchte der Bärtige. «Schon gar nicht vor meinen Freunden. Kommen Sie mit raus, damit wir das unter Männern klären.»
«Ich werde mich bestimmt nicht mit Ihnen prügeln!»
«Ach nein? Tja, Pech für Sie! Ich will mich nämlich mit Ihnen prügeln!» Erneut holte der Bärtige aus, und nur die Geistesgegenwart des Reporters bewahrte ihn vor einem Hieb, der ihn vermutlich ein paar Zähne gekostet hätte. Blitzschnell duckte er sich weg, und so ging der Schlag ins Leere. Von seinem eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, taumelte der Bärtige nach vorn. Er brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu fangen.
Diese Zeit genügte Katzmann. Er schlang dem Angetrunkenen einen Arm um die Kehle, presste ihn fest an sich und zwang ihn in die Knie. «Lassen Sie es gut sein!», schnaufte er.
«Niemals!» Der Bärtige trat aus und versuchte, seine Hände unter den Arm des Reporters zu schieben, um sich zu befreien, aber dieser drückte nur noch fester zu.
Katzmann hatte Kräfte, die man seiner sehnigen Gestalt nicht gleich ansah, und die setzte er nun ein. Getrieben von Zorn und Empörung, hielt er seinen Gegner im Schwitzkasten, bis dieser dunkelrot anlief und nach Luft schnappte. «Hören Sie jetzt endlich auf?»
«Na … schön …», ächzte der Bärtige.
Katzmann ließ seinen Rivalen los, der kraftlos auf die Knie sank und sich die Kehle rieb. Zu mehr als einem bitterbösen Blick war er nicht mehr fähig.
Die Umstehenden machten finstere Gesichter. Katzmann spürte, dass die Stimmung gegen ihn war. Die Dompteuse schien nicht sonderlich viele Fürsprecher zu haben. «Verschwinden wir von hier!», schlug er ihr vor und deutete zur Tür.
«Aber ich muss meine Freundin finden!»
«Sie ist nicht hier, das sehen Sie doch. Oder wollen Sie noch mehr Gäste nach ihr fragen?»
Die Fremde zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf. Katzmann nahm ihre Hand und schob sich voran durch die Menge. Er bahnte ihr einen Weg, und das war auch gut so, denn die Männer wichen nur widerstrebend zurück und murmelten verhaltene Drohungen.
Erleichtert trat der Reporter kurz darauf auf die Straße. Auf eine weitere Prügelei hatte er nun wirklich keine Lust. Sein Kiefer hämmerte noch von dem Hieb, den er hatte einstecken müssen.
Davon würde er vermutlich noch eine ganze Weile etwas haben. Unter dem Vordach des Eingangs blieb er stehen und wandte sich zu der Fremden um. Sie war blass und hielt ihren Mantel angespannt vor der Brust zusammen. «Alles in Ordnung?», forschte er. «Geht es Ihnen gut?»
«Ja, danke», versetzte sie leise. «Sie haben mir da drinnen geholfen. Warum eigentlich?»
«Wie ich schon sagte: Ich mag es nicht, wenn eine Frau bedrängt wird.»
«Das war wirklich nett von Ihnen.»
«Nicht der Rede wert.»
«Aber Ihr Kiefer …»
«Der hält noch ganz andere Sachen aus.» Katzmann deutete die Straße hinunter. «Kommen Sie, ich bringe Sie zurück zum Zirkus. Nicht, dass es den Kerlen da drinnen noch einfällt, Ihnen zu folgen.»
«Ich kann noch nicht zurück, ich muss meine Freundin finden. Nelly ist verschwunden. Sie hätte heute Abend in der Vorstellung auftreten sollen, aber sie ist nicht da gewesen.»
Katzmann dämmerte es. «Ihre Freundin … ist das die Seiltänzerin?»
«Ganz recht.» Sie nickte lebhaft. «Waren Sie auch im Zirkus?»
«Ja, ich habe mir die Vorstellung angesehen.»
Die Fremde zog ihren Kragen noch ein Stück höher und sah sich verzweifelt um. «Nelly hat noch nie einen Auftritt versäumt. Dass sie heute nicht da war, bedeutet bestimmt nichts Gutes. Ihr muss etwas zugestoßen sein.»
«Warum gehen Sie gleich vom Schlimmsten aus?»
«Weil sie auch nicht in ihrem Wohnwagen war. Ich habe den ganzen Zirkus nach ihr abgesucht – vergeblich.»
«Womöglich hatte sie eine Verabredung und hat sich nur verspätet.»
«Ganz sicher nicht, das wüsste ich. Nelly und ich sind zusammen aufgewachsen. Wir sind wie Schwestern. Ich wüsste es, wenn sie sich mit jemandem getroffen hätte.» Tränen blinkten in den grünen Augen der Dompteuse, und ihr Blick war voller Angst.
«Nelly hat noch nie eine Vorstellung versäumt. Nicht einmal, als sie die Grippe und vierzig Grad Fieber hatte!»
«Sie glauben also, ihr ist etwas zugestoßen?»
«Ja, das befürchte ich.» Die Dompteuse senkte den Blick. Katzmann spürte, dass ihr noch mehr zu schaffen machte.
Seine Arbeit als Journalist hatte seine Menschenkenntnis geschult. Er ahnte, dass ihm die Fremde nicht alles sagte, aber das konnte er ihr auch kaum übelnehmen, immerhin kannte sie ihn kaum. «Wer könnte denn etwas vom Verschwinden Ihrer Freundin wissen?»
«Ich weiß es nicht. Ihre Mutter vielleicht.»
Das Gaslicht der Straßenlaterne flackerte auf dem Gesicht der Fremden. Der Wind trieb raschelndes Herbstlaub über die Straße. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war schneidend kalt.
«Ich würde Ihnen gern helfen. Mein Name ist übrigens Konrad Katzmann», besann sich der Reporter plötzlich auf seine Manieren.
«Selina Reuther», stellte sich die Dompteuse vor. «Meinem Onkel gehört der Zirkus.»
«Ihrem Onkel?» Katzmann dachte an die beiden Streithähne, die er vor wenigen Stunden im Zirkus gesehen hatte. «Dann ist Ihr Vater das leichtgewichtige Ebenbild des Zirkusdirektors, nicht wahr?»
«Ja, das stimmt.»
«Hat er auch eine Nummer?»
«Nein, jetzt nicht mehr. Früher hat er mit den Elefanten seines Vaters gearbeitet, aber sie sind gestorben.»
«An Altersschwäche?»
«Nein, sie wurden vergiftet. Manche glauben, dass mein Onkel dahintersteckt. Dass er die Elefanten aus Neid umgebracht hat, weil mein Vater und seine Elefanten die Lieblinge des Publikums waren. Aber das ist Unsinn, wenn Sie mich fragen. Mein Onkel würde niemals etwas tun, das dem Zirkus schadet. Der Zirkus ist sein Leben.»
«Dann wurde nie geklärt, wer die Elefanten vergiftet hat?»
«Nein, niemals.» Selina schüttelte die roten Locken. «Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich?»
«Vielleicht, weil ich Ihnen helfen möchte, Ihre Freundin zu finden.» Katzmann dachte nach. «Warum haben Sie eigentlich ausgerechnet in einer Bar nach ihr gesucht?»
«Irgendwo musste ich ja anfangen. Und sie liegt nahe.»
«Ich verstehe. Und was hatten die Männer in der Bar gegen Sie?»
«Nichts Persönliches.» Selina zuckte die Achseln. «Im Zirkus leben Menschen unterschiedlicher Nationalitäten zusammen. Wir haben Russen, Franzosen, Spanier und sogar Schweden im Programm. Das gefällt manchen nicht.»
«Sie meinen, Sie werden angefeindet, weil Sie mit Menschen anderer Nationen zusammenarbeiten?»
«Ja. Der Zirkus ist eine eigene Welt für sich. Wie ein kleiner Staat im Staat. Das ist vielen nicht geheuer. Und wir Menschen hassen häufig das, was wir nicht kennen. So ist das nun mal.»
Katzmann legte die Stirn in Falten. Darüber sollte ich einmal schreiben, nahm er sich vor. Es ging doch nicht, dass die Zirkusleute verurteilt wurden, nur weil sie anders waren! Außerdem konnte er über die vermisste Frau schreiben. Das wären gleich zwei Themen. «Ich bin Journalist, Selina, und ich würde gern über Ihren Zirkus schreiben.»
«Warum? Wollen Sie in alten Wunden stochern?»
«Nein, aber ein Artikel könnte helfen, mehr Verständnis zu wecken für Ihre Art zu leben.»
Selina winkte ab. «Das würde Ihnen nicht gelingen. Wir sind Weltenwanderer, die nirgendwo hingehören und denen niemand vertraut. So ist es, und so wird es bleiben.»
«Wäre es nicht den Versuch wert, etwas zu ändern?»
«Vielleicht. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los.»
«Warten Sie», hielt Katzmann sie auf. «Kann ich morgen zu Ihnen kommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Selina blickte zu ihm auf, und ein nachdenklicher Ausdruck vertrieb sekundenlang den Kummer aus ihrem Blick. «Einverstanden», erwiderte sie schließlich. «Sagen Sie dem Wachmann am Eingang, dass Selina Sie erwartet. Dann lässt er Sie durch. Aber seien Sie vorsichtig, wenn Sie zu uns kommen. Es gefällt meinem Onkel nicht, wenn sich Fremde im Zirkus umschauen.»
«Warum? Hat er etwas zu verbergen?»
«Es ist sein Reich. Das genügt ihm.»
«Was kann er mir schon tun? Schlimmstenfalls wirft er mich raus.»
«Nein», versetzte Selina leise, «das wäre nicht das Schlimmste. Sie haben ja keine Ahnung, wozu er fähig ist …» Damit wirbelte sie herum und verschwand in der Dunkelheit.