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Grundlagen und Praxisprinzipien

2.1 Grundlagen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung

Von abklärenden Fachpersonen wird erwartet, dass sie zu zuverlässigen Einschätzungen des Kindeswohls und im Fall einer Kindeswohlgefährdung zu klaren Empfehlungen hinsichtlich angemessener Antworten kommen. Sie sollen gewissermassen Sicherheit und möglichst viel Eindeutigkeit herstellen – und dies in einem Feld, in das Ungewissheit und Unsicherheit unauflöslich eingeschrieben sind (vgl. Alberth et al. 2010). Ungewissheit ist für jede Abklärungspraxis im Kindesschutz kennzeichnend; zum einen, weil eine Gefährdung des Kindeswohls keine «beobachtbare Sache» ist, sondern die Bewertung eines komplexen Geschehens, das eingebettet ist in Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen; zum anderen, weil der Gegenstand der Beurteilung sich nicht in Handlungen oder Unterlassungen erschöpft, sondern deren in der Zukunft liegende Auswirkungen auf das Kind einschliesst (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 28ff.). Gleichwohl bleibt die Aufgabe bestehen, auf der Grundlage von Beobachtungen, Informationen und Deutungen plausible und nachvollziehbare Einschätzungen darüber vorzulegen, inwieweit das Wohl eines Kindes gesichert ist – und wie es nachhaltig gesichert werden kann.

Auf diese komplexen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen gilt es, konzeptionelle Antworten zu finden, die abklärenden Fachpersonen Orientierung bieten, indem sie Zielsetzungen und Vorgehensweisen in einen plausiblen Zusammenhang bringen. Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» steht in der Tradition solcher Konzeptualisierungen von Abklärungspraxis im Kindesschutz. Es versteht sich als zeitgemässer Entwurf, der die von Forschung und Praxis gleichermassen vorgetragene Kritik an früheren Konzeptualisierungen aufnimmt. Es grenzt sich von einem alten investigativen und bestrafenden Kindesschutz ebenso ab wie von einem prozeduralistisch oder technologisch verkürzten (Department for Education 2011; Gilbert/Parton/Skivenes 2011a). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der internationalen Fachdiskussion, die der Beziehung, der Kommunikation und der Zusammenarbeit im Kindesschutz neue und erweiterte Bedeutung zuweisen, entwickelt worden (Calder/Archer 2016; Department for Education 2011; Featherstone/White/Morris 2014). Solch neuere Ansätze plädieren darüber hinaus für eine stärker an der Eltern-Kind-Beziehung ansetzende Kindesschutzpraxis und grenzen sich von Abklärungspraxen ab, die sich entweder auf die Eltern oder auf das Kind konzentrieren (Barlow/Scott 2010). Eine wichtige Grundannahme des im Prozessmanual verankerten Konzepts dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung ist, dass Qualität und Wirksamkeit im Kindesschutz zu einem erheblichen Teil durch die Qualität der Zusammenarbeit bestimmt werden und zwar insbesondere durch

 die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen, Eltern und Kindern sowie

 die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und verschiedenen im Kindesschutz tätigen Organisationen (vgl. Amt für Soziale Dienste Bremen 2009; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011).

Vor diesem Hintergrund nehmen Prämissen und Konzepte des Dialogs, des systemischen Arbeitens, der wachsamen Sorge und des diagnostischen Fallverstehens im Prozessmanual Schlüsselpositionen ein.

Kindeswohlabklärung als dialogischer Prozess

Im Konzept der dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung wird unter einem Dialog eine Interaktionsform verstanden, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann (vgl. Bohm 1998; Isaacs 2002). Ein Dialog entsteht in Gesprächen, die geprägt sind von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt. Vereinfacht gesprochen soll der Dialog einen offenen Austausch zwischen abklärenden Fachpersonen sowie Eltern und Kindern begünstigen, wobei der gemeinsame Gegenstand und Referenzpunkt das Wohl des Kindes ist. Der Dialog wird hier als Möglichkeit betrachtet, auch kontroverse und konfliktreiche Themen offen zu bearbeiten, mit denen bei Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu rechnen ist. Eine dialogische (Gesprächs-)Haltung unterstützt einen Prozess, in dem abklärende Fachpersonen sowie Eltern und Kinder sich trauen, offen anzusprechen, was sie wahrnehmen, denken und fühlen. Sie will die offene und konstruktive Thematisierung unterschiedlicher Ansichten und Meinungen ermöglichen. Der Dialog will zwischenmenschliche Begegnungen anregen, die auf Augenhöhe stattfinden und wechselseitiges Verstehen ermöglichen. In einem Dialog werden Differenzen als gegeben angenommen. Die eigenen und die Annahmen der anderen werden hinterfragt, ohne die andere Seite anzugreifen oder zu widerlegen. Er ist darauf angelegt, gemeinsame Denkprozesse anzuregen und zu ermöglichen (vgl. Isaacs 2002, S. 44ff.).

Fachpersonen, die sich in der Abklärungspraxis am Dialog orientieren und versuchen, dessen Potenziale auszuschöpfen, wenden sich Kindern und Eltern zu, hören ihnen zu und interessieren sich für ihre Sichtweisen auf die Alltags-, Beziehungs- und Erziehungspraxis. Sie suchen aktiv das Gespräch mit ihnen und schaffen Gelegenheiten, die dazu geeignet sind, unterschiedliche Erlebens- und Sichtweisen, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Motive der Beteiligten zur Sprache zu bringen. Sie gestalten Settings, die es möglich machen, unterschiedliche Wissensformen und Perspektiven (das Erleben des Kindes, die Erfahrungen und Glaubenssysteme der Eltern, das Fachwissen der Fachpersonen) und unterschiedliche Urteilsformen (subjektive Urteile, fachliche Urteile, normative Leitorientierungen, im Recht verankerte Normen) zu thematisieren und aufeinander zu beziehen. Sie gehen vorurteilsfrei, ergebnisoffen und risikoreflektiert vor, nehmen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten wahr und gehen mit diesen produktiv um. Sie legen Rollen- und Machtunterschiede sowie Abhängigkeiten, Ängste und Sorgen offen, erkennen sie an und machen sie zum Bestandteil ihrer Arbeit. Sie ermöglichen Beteiligung und fordern diese ein und erhöhen damit die Chancen für Begegnung, Beziehung und Veränderung.

Dialogische Haltung

Das Konzept dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung plädiert für eine Gestaltung von Arbeitsbeziehungen auf Augenhöhe. Augenhöhe wird dabei verstanden als bildhafter Ausdruck für eine wertschätzende und von Respekt getragene Arbeitsbeziehung. Es ist Ausdruck einer dialogischen Haltung, wenn abklärende Fachpersonen normative Positionen in Bezug auf gewaltsame, verletzende und schädigende Erziehungspraxen und Beziehungsstile im Eltern-Kind-Verhältnis klar aufzeigen. Kommunikation auf Augenhöhe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass über Grenzen des Tolerierbaren mit Respekt gegenüber der Person und Klarheit in der Sache gesprochen wird (wobei die Aufrichtigkeit und Transparenz als Ausdruck des Respekts gegenüber der Person verstanden werden kann). Mit dem Plädoyer für den Dialog wird also nicht einer Haltung das Wort geredet, die alles zur Disposition stellt und alles zum Gegenstand von Verhandlungen macht. Wenn abklärende Fachpersonen zu der Einschätzung kommen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, sagen sie dies den Eltern. Sie legen offen, auf welchen Beobachtungen ihre Einschätzung beruht, und erklären ihnen, inwiefern bestimmte Merkmale der kindlichen Lebenssituation für das Kind eine Beeinträchtigung oder Schädigung bedeuten. Sie laden sie dazu ein, gemeinsam mit den Fachpersonen über Hintergründe und Bedingungen der kindeswohlgefährdenden Zustände oder Ereignisse zu sprechen. Sie machen ihnen Mut, gemeinsam mit ihnen Schritte zur Veränderung zu überlegen, und unterstützen sie dabei. Sie erkennen an, dass es niemandem leichtfällt, Routinen oder Verhaltensweisen zu verändern. Sie erläutern den Eltern auch, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen die Möglichkeit entscheiden, an den notwendigen Verbesserungen der Lebenssituation des Kindes mitzuwirken. Sie informieren Kinder und Eltern über ihre Rechte wie auch über die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten von Fachdiensten und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Sie informieren in einer verständlichen Sprache über die Voraussetzungen zur Beschränkung elterlicher Rechte und erörtern mit den Eltern deren Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der durch das Recht definierten Grenzen (Restriktionen).

Fachpersonen, die in ihrer Abklärungspraxis versuchen, die Potenziale des Dialogs zu nutzen, stehen dabei vor der Aufgabe, Kommunikationsformen zu finden, die dem Kind und den Eltern entsprechen. Auch wenn beim Dialog zunächst an bestimmte kultivierte Formen des Sprechens gedacht wird – eine am Dialog orientierte Abklärungspraxis ist nicht ausschliesslich auf die geschliffene Sprache verwiesen; sie wird andere, auch nicht sprachgebundene Formen nutzen, gerade dort, wo es darum geht, die Sichtweisen von Kindern einzubeziehen (vgl. Biesel 2013). Abklärende Fachpersonen, die den Dialog als besondere Form sozialer Interaktion gewinnbringend nutzen wollen, achten deshalb darauf, dass sie in einer Sprache sprechen, die möglichst verständlich, alltagsnah und respektvoll ist.

Kindeswohlabklärung als systemische Intervention

Wichtige Grundlagen, Haltungen und methodische Zugänge bezieht das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» auch aus dem systemischen Ansatz. Dabei handelt es sich weniger um eine klar abgrenzbare Theorie oder Handlungslehre, sondern eher um eine Tradition von Konzepten und Handlungsmodellen, die von gemeinsamen Grundannahmen ausgehen und Antworten auf grundsätzliche Herausforderungen in Beratung und Therapie zu geben versuchen (Levold/ Wirsching 2014, S. 9ff.). Sie sind inzwischen vielfach auch auf Aufgabenstellungen in der Sozialen Arbeit und der Pädagogik übertragen worden, bei denen es – ähnlich wie bei Beratung und Therapie – ebenfalls um das Anstossen von Reflexionen und das Ermöglichen von Veränderungen geht. Wichtige Grundannahmen des systemischen Ansatzes sind (vgl. Schlippe/Schweitzer 2012; Schmidt 2010; Simon 2014):

 Menschen konstruieren ihre (sozialen) Wirklichkeiten selbst, indem sie Beobachtungen und Unterscheidungen vornehmen, das Beobachtete mit Bezeichnungen (Begriffen) versehen und dadurch einordnen.

 Auf diese Weise stellen sie subjektiven Sinn her; sie erklären sich die Welt, nehmen Bewertungen vor und lassen sich von diesen Erklärungen und Bewertungen leiten.

 Wie Menschen denken, empfinden und handeln, wird vor allem durch ihre Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster bestimmt.

 Was für einen Menschen wirklich ist, was er fühlt, denkt und tut, hängt von seinem Standpunkt und seinen Wirklichkeitskonstruktionen ab.

 Was für einen anderen Menschen Realität ist und Bedeutung hat, was sein Denken und Handeln anleitet, lässt sich nur in der Kommunikation mit diesem herausfinden und klären; in solchen kommunikativen Austauschprozessen können sich die Beteiligten ihre individuellen Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster wechselseitig zugänglich machen.

 Wo Menschen kontinuierlich in solche kommunikativen Austauschprozesse einbezogen sind (Familien, Gruppen), kommt es zur Herausbildung von Überzeugungen, Handlungsstilen, Regeln und Erwartungen (Selbstorganisation, Kontexte).

 Diese können als System wahrgenommen werden, die sich von einer Umwelt unterscheiden.

 Systeme stehen in einer dynamischen Spannung von Bewahren und Verändern.

 Menschen können andere Menschen und Systeme nicht gezielt verändern, sondern ihnen allenfalls Anregungen geben und ihnen Gelegenheiten bereitstellen, sich selbst zu verändern und zu entwickeln.

Systemische Haltung

So abstrakt diese Grundannahmen klingen mögen – für die Abklärungspraxis im Kindesschutz bietet der systemische Ansatz Denkmodelle, die die Orientierung in anspruchsvollen Praxissituationen erleichtern, sowie bewährte methodische Konzepte und Werkzeuge (vgl. Schwing/Fryszer 2010). Diese können insbesondere zur Anbahnung und Gestaltung von Kontakten, zur Gesprächsführung und Prozessgestaltung mit Gewinn herangezogen werden. Der vielleicht entscheidende Beitrag des systemischen Ansatzes liegt jedoch in der Haltung und im professionellen Rollenverständnis, die aus den oben skizzierten Grundannahmen resultieren:

• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, erkennen die Eigendynamik von Systemen (z. B. der Familie) an. Sie interessieren sich für die Komplexität und Wechselwirkungen innerhalb eines Familiensystems und in den Beziehungen zwischen dem Familiensystem und seinen Umwelten. Deshalb begegnen sie den Sichtweisen aller Beteiligten mit Neugier und interessieren sich dafür, wie diese die Wirklichkeit sehen und was für sie wichtig ist. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Eltern und Kinder nicht losgelöst voneinander existieren, sondern in miteinander zusammenhängenden und voneinander abhängenden, sich gegenseitig beeinflussenden und nur schwer zu verändernden Systemzusammenhängen (vgl. Biesel/Wolff 2014, S. 17ff.). Sie wissen, dass kindeswohlgefährdende Handlungen und/oder Unterlassungen in Familien nicht auf einfache Ursachen zurückzuführen sind. Sie interessieren sich deshalb nicht allein für konkrete Vorkommnisse oder Handlungsweisen, die ein Gefährdungspotenzial aufweisen, sondern auch für die Kontextbedingungen, um von hier aus mit den Beteiligten Ansatzpunkte für Veränderungen zu erarbeiten. Sie gehen von der Annahme aus, dass Eltern mehrheitlich ein gutes Leben für ihre Kinder wollen. Deshalb thematisieren sie kindeswohlgefährdende Zustände und Ereignisse (so lange keine Fakten dagegen sprechen) unter der Hypothese, dass diese eher als Ausdruck von Momenten des Scheiterns in der Elternrolle zu verstehen sind denn als Ausfluss bewusster destruktiver Absichten oder Ausdruck individueller Pathologien. Sie ziehen in Betracht, dass Kindeswohlgefährdungen Ausdruck unbewältigter mehrgenerationaler, lebensgeschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen sein können, die es im Kontakt und im Austausch mit Eltern und Kindern zu entziffern und zu deuten gilt (Blum-Maurice/Pfitzner 2014).1 Sie versuchen deshalb, nicht nur Eltern und Kinder an der Abklärung zu beteiligen, sondern das gesamte Familiensystem (auch die Ursprungsfamilien der Eltern), um kindeswohlgefährdende Beziehungs-, Konflikt- und Kommunikationsmuster bearbeiten zu können. Ihnen ist bewusst, dass sie Handlungsweisen und Haltungen von Eltern und Kindern nicht gezielt ändern können. Sie erkennen die Ambivalenz von Bewahren und Verändern als notwendiges Element von Veränderungen an und wissen, dass Menschen Sicherheit brauchen, um das Wagnis von Veränderungen einzugehen. Sie wissen, dass Widerstände und Rückfälle Teil aller Veränderungsprozesse sind, und versuchen, möglichst produktiv mit diesen umzugehen (vgl. Grabbe 2011).

• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, gestalten Abklärungsprozesse unter dem übergreifenden Ziel, Klärungen in Familien herbeizuführen und Veränderungen im Interesse des Kindeswohls zu ermöglichen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Abklärungen Ko-Produktionen sind und der aktiven Mitwirkung von Eltern und Kindern bedürfen. Sie reflektieren deshalb die Auswirkungen, die eine Abklärung auf Eltern und Kinder hat, und sind besonders sensibel für das Risiko, im Prozess der Abklärung in Familien «hineingezogen» zu werden. Sie fokussieren nicht nur auf Defizite und Probleme von Eltern und Kindern, sondern auch auf deren vorhandene bzw. verschüttete Stärken, Ressourcen und Lösungspotenziale. Es ist ihnen bewusst, dass Fragen des Kindeswohls untrennbar mit Fragen der sozialen Teilhabe von Eltern und Kindern verknüpft sind, und orientieren ihre Vorgehensweisen und Interventionen an der Maxime, Teilhabe und Verwirklichungschancen von Kindern und Eltern bestmöglich zu sichern und zu fördern (vgl. Hosemann/Geiling 2013, S. 29ff.)

Kindeswohlabklärung als wachsames Sorgen

Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, übernehmen einen wichtigen Teil staatlicher Schutzpflichten gegenüber Kindern (vgl. Rosch/Hauri 2016b). Sie klären, ob Voraussetzungen vorliegen, die ein (staatliches) Eingreifen zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich machen. Sie erarbeiten fallspezifische Antworten auf die Fragen, welche Leistungen erforderlich und geeignet sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern und ob zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen notwendig sind. Fachpersonen, die Abklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» vornehmen, werden diese Schutzfunktion, ihre Rolle und ihren Auftrag (z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Behörden und abklärendem Dienst) gegenüber den Eltern in einer für diese verständlichen Sprache klar zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig werden sie alles dafür tun, die Eltern zur Zusammenarbeit im Interesse des Kindeswohls zu gewinnen.

Die Wahrnehmung, dass ein Kind oder ein/e Jugendliche/r vor Gefährdungen ihres/seines Wohls geschützt werden muss, darf nicht zum Abbruch der Arbeitsbeziehung mit den Eltern führen. Vielmehr sind Fachpersonen im Kindesschutz darauf verwiesen, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung zu den Eltern aufzubauen, um Veränderungen im Familiensystem anstossen zu können. Wenn diese keine Aussicht auf Erfolg haben und Eingriffe in Elternrechte zum Schutz des Kindes mittels zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen erforderlich sind, zögern sie nicht, diese einzuleiten. In der Wahrnehmung des Schutzauftrags und durch das professionsethische Postulat der Aufrichtigkeit sind abklärende Fachpersonen dazu verpflichtet, Eingriffsschwellen und die normativen Positionen, die sie begründen, gegenüber den Eltern möglichst klar zu kommunizieren.

Eine Haltung, die den Schutzauftrag mit der Verpflichtung auf den Vorrang «freiwilliger», den Eltern angebotener und mit ihnen vereinbarter Leistungen verbindet und deshalb Kontakte und Gespräche im Rahmen eines Abklärungsprozesses am Ziel, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung herzustellen, orientiert, entspricht sowohl den im Recht verankerten Prinzipien der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität (vgl. Rosch/Hauri 2016, S. 411f.) als auch anerkannten Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit (Dewe/Otto 2010; Thiersch 2014). Sie entspricht darüber hinaus zukunftsweisenden Kindesschutzmodellen, mit denen versucht wird, das Wohl von Kindern, Eltern/Familien und dem Gemeinwesen gleichermassen im Blick zu haben und mit Angeboten, Leistungen und Massnahmen in ihrem Wohl gefährdete Kinder und Jugendliche nicht nur zu schützen, sondern sie und ihre Eltern zu fördern und in ihrer Entwicklung partnerschaftlich zu begleiten (Gilbert/Parton/ Skivenes 2011b; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011; Wolff et al. 2013, S. 27).

Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Haltungen und Handlungsweisen stärken, die es Fachpersonen ermöglichen, die Gleichzeitigkeit von Schutzauftrag und Hilfevorrang in den anspruchsvollen Alltagssituationen der Abklärungspraxis kohärent und wirkungsvoll umzusetzen. Nützliche Orientierungen dazu können aus dem Konzept der wachsamen Sorge (vgl. Omer 2015) bezogen werden. Das Konzept ist zwar für ratsuchende Eltern entwickelt worden, kann aber auch von Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, mit Gewinn herangezogen werden. Es basiert auf der Annahme, dass Eltern eine Haltung wachsamer Sorge einnehmen sollten, um am Leben ihrer Kinder aktiv und respektvoll teilhaben zu können. Es geht davon aus, dass Eltern von ihren Kindern als Autoritäten wahrgenommen werden, wenn diese spüren, dass die Eltern bedingungslos für sie da sind und ihre Autorität nicht durch Strafen, Gewalt und Abwendung aufrechtzuerhalten suchen. Diese Form von Autorität durch Beziehung (vgl. Omer/von Schlippe 2015) kann als Modell für die Gestaltung der Beziehung zwischen abklärenden Fachpersonen und den Familienmitgliedern dienen: Auch Fachpersonen dürfen bei der Durchführung von Abklärungen nicht «mit der Brechstange» vorgehen, mit Drohungen, Ablehnungen und Abwertungen reagieren. Sie sind darauf angewiesen, von den Eltern und Kindern als Autoritäten wahr- und ernst genommen zu werden. So ist es zwar einerseits zwingend erforderlich, dass der Zugang zur Familie in der Absicht, abzuklären, ob Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls begründet sind, durch das Recht gestützt ist. Eine durch das Recht gesicherte Legitimität eines Abklärungsprozesses ist eine unabdingbare Voraussetzung, sie garantiert aber keineswegs schon sein Gelingen. Abklärende Fachpersonen müssen von Eltern und Kindern aber auch als Vertrauenspersonen wahrgenommen werden, als Autoritäten, die mit Eltern und Kindern anerkennend, verantwortungsbewusst und respektvoll zusammenarbeiten – auch wenn sie Probleme, Versorgungsdefizite und Gefährdungslagen sehen. Autorität in dem hier verstandenen Sinn kann insofern nicht erworben werden, wenn Fachpersonen Eltern und Kinder im Rahmen von Abklärungen nur zum Objekt von Befragungen und Untersuchungen machen.

Formen wachsamer Sorge

Abklärungen im Kindesschutz im dialogisch-systemischen Sinn erfordern offene und flexible Herangehensweisen, die den Fachpersonen unterschiedliche Formen einer wachsamen Sorge ermöglichen – vom offenen Dialog bis zum eindeutigen Markieren von Grenzen (vgl. Omer 2015, S. 14ff.):

• Abklärende Fachpersonen lassen sich offen und neugierig auf die Lebenssituation von Eltern und Kindern ein und bringen ihnen Interesse entgegen. Sie nehmen Anteil an ihren Sorgen, Ängsten, Nöten, Hoffnungen und Träumen, ohne dabei ihren Abklärungsauftrag aus den Augen zu verlieren. Abklärende Fachpersonen legen ihren Auftrag, zu klären, ob das Wohl des Kindes gewährleistet ist, offen. Sie kommen mit Eltern und Kindern ins Gespräch über das Zusammenleben in der Familie, die Eltern-Kind-Beziehung und die Lebenssituation des Kindes. Sie zeigen Präsenz und Aufmerksamkeit (offene Aufmerksamkeit).

• Nehmen abklärende Fachpersonen Anzeichen einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Kindeswohls wahr, reden sie mit den Eltern und den Kindern darüber und versuchen, mit diesen herauszufinden, was Ursachen und Hintergründe vergangener und eventuell drohender kindeswohlgefährdender Zustände und Ereignisse sind (fokussierte Aufmerksamkeit).

• Bei Hinweisen, die darauf schliessen lassen, dass die Grundversorgung und die Sicherheit des Kindes oder der/des Jugendlichen nicht gewährleistet sind und somit eine manifeste Gefährdung des Kindeswohls besteht, sprechen sie dies klar und verständlich gegenüber den Eltern an. Wenn es notwendig ist, greifen sie aktiv ein und leiten Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen ein. In diesem Fall erläutern sie ihnen die Gründe ihres Handelns (Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen).2

Fachpersonen, die sich bei ihrer Abklärungspraxis am «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» orientieren, nehmen einen Schutzauftrag wahr. Sie sind sich der Risiken und Gefahren bewusst, denen Kinder in Familien ausgesetzt sein können (vgl. Wolff 2007), und versuchen so lange wie möglich, den Dialog mit Eltern und Kindern bei der Gestaltung von Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu suchen und Settings des sozialen Miteinanders zu entwerfen, die Eltern und Kinder dazu ermutigen, sich offen auf Abklärungsprozesse einzulassen. Sie scheuen aber auch nicht davor zurück, Sofortmassnahmen zum Schutz in ihrem Wohl akut gefährdeter Kinder und Jugendlicher einzuleiten.

Kindeswohlabklärung als diagnostisches Fallverstehen

Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist so aufgebaut, dass mit ihm Ansätze und Methoden des diagnostischen Fallverstehens (Heiner 2011) genutzt und auf das Handlungsfeld des Kindesschutzes übertragen werden können. In der Verbindung von «Diagnostik» und «Fallverstehen» kommt der Versuch zum Ausdruck, zwei Konzeptionen der Entscheide vorbereitender Abklärung miteinander zu verbinden, die sich in der Sozialen Arbeit lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden: den klassifikatorischen und den rekonstruktiven Ansatz. Der klassifikatorische Ansatz setzt auf standardisierte Erhebungs- und Auswertungsinstrumente und strebt eine möglichst eindeutige Zuordnung eines Falls unter allgemein anerkannte Kategorien an. Der rekonstruktive Ansatz setzt auf das Gespräch und den Dialog, will die subjektiven Wahrnehmungs- und Erlebensweisen von Eltern und Kindern und ihre biografische Einbettung erschliessen und sie in die Prozesse der Erarbeitung von Problembeschreibungen und darauf bezogenen Problemlösungen einbeziehen (vgl. Heiner 2011, S. 237).

Im Kindesschutz haben Verfahren und Instrumente, die dem klassifikatorischen Ansatz verpflichtet sind, (insbesondere in den englischsprachigen Ländern) über viele Jahre eine wichtige, bisweilen auch dominante Rolle gespielt. Dies gilt in besonderem Masse für Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden: Konsensbasierte Verfahren und Instrumente operieren auf der Basis wissenschaftlichen Wissens und Erfahrungswissens zu den Risiken und Hintergründen von Vernachlässigung und Misshandlung und bereiten diese in Checklisten oder Diagnosebögen auf. Actuari-alistische Verfahren und Instrumente stützen sich auf empirische Studien, die Zusammenhänge zwischen Vernachlässigung und/oder Misshandlung einerseits und bestimmten Merkmalen bzw. Ereignissen andererseits gezeigt haben (Risikofaktoren). Solche Risikoinventare ermöglichen ein statistisch begründetes Urteil darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit kindeswohlgefährdender Ereignisse in der Zukunft ist (niedriges, mittleres, hohes Risiko). Empirische Studien haben gezeigt, dass actuarialistische Verfahren und Instrumente eine deutlich bessere Voraussagevalidität erzielen als konsensbasierte Verfahren (Baird/Wagner 2000; Bastian 2012, S. 253). Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, dass Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung konstruktionsbedingte, immanente Grenzen aufweisen. Eine sichere Vorhersage in Bezug auf den Einzelfall ermöglichen auch die besten Risikoinventare nicht (Goldbeck 2008). Aufgrund ihrer Konzentration auf einzelne, empirisch begründete Risikoindikatoren ist ihr Nutzen zur Erfassung der Komplexität von Lebenslagen begrenzt. Schliesslich geben Risikoinstrumente kaum Hinweise darauf, welche Interventionen oder Leistungen notwendig und geeignet sind, um in einem individuellen Fall das Kindeswohl sofort und nachhaltig zu sichern. Dazu müssen weitere und andere Informationen und Gesichtspunkte in die Urteilsbildung aufgenommen werden, die nur im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des konkreten Falls gewonnen werden können (Schrapper 2008b; Schrapper 2008a). Weil Handlungen und Unterlassungen, die das Wohl von Kindern gefährden können, typischerweise mit den Wertvorstellungen, Bedeutungszuschreibungen und Erlebensweisen der beteiligten Akteure verbunden sind (z. B. Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, Erwartungen an die Wirksamkeit bestimmter Erziehungsmethoden), können sie nur in einem kommunikativen Prozess zugänglich werden und in das Gesamtbild einfliessen.

Für die Klärung der zuletzt angesprochenen Fragen sind Abklärungen im Kindesschutz zwingend auf Vorgehensweisen aus dem rekonstruktiven Ansatz angewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wissenschaftsbasierte Verfahren und Instrumente zur Sicherheits- und Risikoeinschätzung bei Abklärungen im Kindesschutz überflüssig wären. Sie können die Wahrnehmung gezielt auf solche Aspekte lenken, die sich nach vorliegendem Wissen als bedeutsam erwiesen haben, und können dabei helfen, kindeswohlgefährdende Zustände, Handlungen und/oder Unterlassungen differenziert und wissenschaftsbasiert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu dokumentieren. Damit erweitern sie die Informationsbasis für die im Kontext von Kindeswohlabklärungen vorzunehmenden Einschätzungen und leisten einen spezifischen Beitrag zu einem Gesamtbild (vgl. Schone 2012, S. 271).

Klassifikation – im Sinne einer Einordnung des Einzelfalls in allgemeine Kategorien – ist auch aus anderen Gründen unverzichtbar. Der Abklärungsprozess mündet in der Regel in einen Bericht mit Empfehlungen über die Notwendigkeit und Angemessenheit von Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen. Typischerweise geht es dabei um die schlüssige Verknüpfung von anerkannten Bedarfslagen mit bekannten Leistungsarten – oder von Merkmalen einer Lebenssituation mit den rechtlich gerahmten Voraussetzungen für zivilrechtliche Massnahmen. Klassifikationen als «diskursabkürzende» Einordnung von Zuständen sind diesem Kontext unverzichtbar.

Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen durchführen, sind insofern auf beide Ansätze angewiesen: auf rekonstruktive und auf klassifikatorische. Sie müssen einerseits Informationen über Beobachtbares zusammentragen und auswerten. Zugleich müssen sie im Gespräch und im Austausch die Sinn- und Lebenszusammenhänge von Eltern und Kindern erschliessen (Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, intergenerationale Aufträge; das Familienleben aus der Sicht des Kindes; soziale und materielle Problemlagen und Nöte), um zu begründeten Diagnosen kommen zu können. Sie müssen bei der Durchführung von Abklärungen im Kindesschutz demnach sowohl Verfahren und Instrumente zur Risiko- und Kindeswohleinschätzung als auch Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik verwenden (Schrapper 2008b).

Abklärende Fachpersonen müssen bei der Durchführung von Kindeswohlabklärungen im dialogisch-systemischen Sinn zwei gegensätzliche Positionen miteinander in Einklang bringen: Sie müssen einerseits verstehend auf Eltern und Kinder zugehen und mit ihnen den Dialog suchen. Andererseits müssen sie unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Sicherheits- und Risikoeinschätzung auf Distanz zu Eltern und Kindern gehen (vgl. Schrapper 2012, S. 199). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Fachpersonen dabei unterstützen, diese gegenläufigen Anforderungen in eine Balance zu bringen. Es unterstützt sie einerseits dabei, unterschiedliche Abklärungsinstrumente und -verfahren reflektiert, im Sinne ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit – und vor dem Hintergrund dessen, was in einem vorliegenden Fall klärungsbedürftig ist – einzusetzen. Andererseits unterstützt es sie dabei, mit Eltern und Kindern in den Dialog zu kommen, um möglichst viel Wissen über die Einbettung und Hintergründe von Erziehungs- und Beziehungsstilen in einer Familie hervorzubringen und dies mit den Familienmitgliedern zu teilen. Es unterstützt Fachpersonen bei einem strukturierten und reflektierten Vorgehen, welches dazu dient,

 systematisch Informationen über einen Fall von Kindeswohlabklärung zu sammeln und zu ordnen,

 mit unterschiedlichen Perspektiven auf den Fall zu blicken und

 Hypothesen über den Fall zu formulieren, zu prüfen und gegebenenfalls wieder zu verwerfen und durch plausiblere zu ersetzen (vgl. Schrapper 2012).

Die vier Standards diagnostischen Fallverstehens

Das Prozessmanual orientiert sich dabei an vier grundlegenden Standards diagnostischen Fallverstehens, die für das gleichrangige Zusammenspiel rekonstruktiver und klassifikatorischer Vorgehensweisen von Heiner (2011, S. 246f.) entwickelt wurden. Die (1) Partizipative Orientierung will Fachpersonen dazu anleiten, «dialogisch, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd» (Heiner 2011, S. 246) vorzugehen und auch divergierende Ansichten offen anzusprechen; die (2) Sozialökologische Orientierung will gewährleisten, dass Fachpersonen das soziale Umfeld, die relevanten Infrastrukturen und Institutionen (inklusive Rolle und Auftrag der Fachpersonen), die materiellen Lebensbedingungen wie auch die situative Einbettung der Handlungsweisen der Klient/innen systematisch einbeziehen; die (3) Multiperspektivische Orientierung soll dazu dienen, eine möglichst komplexe Sicht von Problemlagen und Ressourcen zu erarbeiten, wobei biografische Dimensionen ebenso bedeutsam sein können wie beispielsweise die Wechselwirkungen von Handlungen verschiedener Familienmitglieder; die (4) Reflexive Orientierung bezieht sich auf das Vorgehen der Fachpersonen im Prozess des diagnostischen Fallverstehens; sie soll gewährleisten, dass Einschätzungen und Befunde systematisch überprüft und wenn nötig korrigiert werden. Die reflexive Orientierung umfasst darüber hinaus die fortlaufende, selbstkritische Reflexion des Vorgehens im diagnostischen Prozess.

Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» durchführen, gehen achtsam und fehleroffen vor. Sie gestalten Abklärungsprozesse respektvoll, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd. Sie haben ein multifaktorielles, mehrgenerationales und interaktionsbezogenes Problemverständnis. Ihre Arbeitsweise ist partizipativ, multiperspektivisch und reflexiv. Ihr Anliegen ist es, in der Begegnung und im Austausch mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen vor dem Hintergrund eines dialogisch-systemischen Erkenntnis- und Interventionsmodells herauszufinden, was das Problem bzw. der Fall ist. Ihr Anliegen ist es, mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen wahrzunehmen, zu erkunden und zu verstehen, was Ursachen und Folgen von kindeswohlgefährdenden Situationen sind oder waren, um auf dieser Basis einen gemeinsamen Plan zur Förderung und Sicherung des Kindeswohls zu entwickeln und zu realisieren. Für sie sind Einschätzdimensionen von Relevanz, denen sie in verschiedenen Schlüsselprozessen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Risiko- und Kindeswohleinschätzung sowie Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik Aufmerksamkeit schenken:

2.2 Schlüsselprozesse dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung im Überblick

Schlüsselprozess Ersteinschätzung

Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls entgegennehmen und einschätzen. Klären, welche weiteren Informationen erforderlich sind. Klären, ob und in welcher Frist eine Kontaktaufnahme erforderlich ist, um eine Kindeswohlgefährdung auszuschliessen.

Gegenstand der Beurteilung

Glaubhaftigkeit und Dringlichkeit von Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung

Einschätzdimensionen

• Informationsgehalt der Meldung

• Schweregrad der vermuteten, geschilderten, beobachteten Gefährdung des Kindeswohls

• Glaubhaftigkeit und Kooperationsbereitschaft der meldenden Person

Methoden

• Erkundungsgespräche

• Recherche: Weitere Informationen zum Fall einholen und bewerten (Gespräche, Akten usw.)

• Kollegiale Beratung

Instrumente

• Meldebogen (DJI)

Schlüsselprozess Kindeswohleinschätzung

Bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung klären, ob Sicherheit und Grundversorgung des Kindes gewährleistet sind. Falls nicht, ob Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes erforderlich sind.

Gegenstand der Beurteilung

Grad der Gewährleistung der Grundversorgung und Sicherheit des Kindes

Einschätzdimensionen

• Erscheinungsbild und Entwicklungsstand des Kindes (und seiner Geschwister)

• Erscheinungsbild, Personenmerkmale, Lebenssituation und Erziehungspraxis der Eltern (Alter, Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Einkommen, Aufenthalt; Haltung der Eltern zum Kind, Sichtweisen der Eltern in Bezug auf das Kind, Aufsicht, Versorgung und Entwicklungsförderung)

• Lebensumstände des Kindes und seiner Familie (materielle Absicherung; Unterkunft; Wohnverhältnisse, Nachbarschaft, soziale Integration; Betreuungssituation in der Familie; Integration und Sicherheit in ausser-familiärer Kinderbetreuung, Kindergarten, Schule)

Methoden

• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten

• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen

• Elterngespräche

• Gespräche mit Fachpersonen

• Familiengespräche

• Das Drei-Häuser-Modell

• Das Feen-Zauberer-Tool

• Hausbesuche

• Mapping (Falllandkarte)

• Recherche: weitere Informationen zum Fall einholen und bewerten (Gespräche, Akten usw.)

• Kollegiale Beratung

Instrumente

• Überprüfung des sofortigen Handlungsbedarfs (Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)

• Prüfbogen «Sofortreaktion bei Meldung einer Kindeswohlgefährdung» (DJI)

• Prüfbogen «Einschätzung der Sicherheit des Kindes» (DJI)

Schlüsselprozess Sofortmassnahmen

Art, Umfang und rechtlichen Rahmen von Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes klären und diese einleiten.

Gegenstand der Beurteilung

Art und Umsetzung einer Sofortmassnahme

Einschätzdimensionen

• Notwendigkeit und Geeignetheit einer Sofortmassnahme

• Voraussichtlicher Zeitrahmen der Sofortmassnahme

• Kooperationsbereitschaft der Eltern während und nach der Einleitung von Sofortmassnahmen

Methoden

• Gespräche mit Fachpersonen

• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten

• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen

• Elterngespräche

• Familiengespräche

• Kollegiale Beratung

• Notfallkonferenz

Schlüsselprozess Kernabklärung

Im Kontakt mit Kind und Eltern Status und Umstände der Gewährleistung des Kindeswohls differenziert beschreiben, allfällige Gefährdungslagen sowie gefährdende Zustände, Ereignisse und Praxen identifizieren und deren Hintergründe, Kontextbedingungen und (wahrscheinliche) Wirkungen klären.

Gegenstand der Beurteilung

Grad der Gewährleistung der Grundbedürfnisse und Rechte des Kindes

Einschätzdimensionen

• Bedürfnisse und Belastungen des Kindes

• Bedürfnisse und Belastungen der Eltern

• Qualität elterlichen Erziehungshandelns

• Qualität der elterlichen Paarbeziehung

• Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen

• Entwicklungsgeschichte und Funktionsweise der Familie

• Ressourcen und Stärken des Kindes

• Ressourcen und Stärken der Eltern

• Mitwirkungsbereitschaft der Eltern

Methoden

• Krisen- und Ereignisweg der Familie

• Zeitstrahl

• Genogrammarbeit

• Familienlandkarte

• Netzwerk-/Umweltkarte

• Kinder-Ressourcenkarte

• Eltern-Ressourcenkarte

• Kinderfotoanalyse

• Familien-Helfer-Map

• Familienfotoanalyse

• Entwicklungsgeschichte meines Kindes

• Buch der Stärken meines Kindes

• Hausbesuche

• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten

• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen

• Elterngespräche

• Familiengespräche

• Gespräche mit Fachpersonen

• Kollegiale Beratung

Instrumente

• Situationsanalyse (Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)

• Prüfbogen «Einschätzung des Förderungsbedarfs des Kindes» (DJI)

• Prüfbogen «Einschätzung der Ressourcen des Kindes» (DJI)

• Prüfbögen «Erziehungsfähigkeit der Eltern» (DJI)

• Prüfbögen «Einschätzung der Veränderungsfähigkeit der Eltern» (DJI)

Schlüsselprozess Bedarfsklärung

Im Kontakt mit dem Kind und den Eltern klären, welche Unterstützungsleistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen notwendig und geeignet sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern. Auf dieser Basis Handlungsempfehlungen und einen Plan zur Sicherung und Förderung des Kindeswohls erarbeiten.

Gegenstand der Beurteilung

Angemessenheit und Notwendigkeit von Leistungen und/oder Anordnungen

Einschätzdimensionen

• Unterstützungsbedarf

• Notwendigkeit und Geeignetheit von Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen

• Ziele, Dauer, Umfang und angestrebte Wirkungen von Leistungen und/ oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen

Methoden

• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten

• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen

• Elterngespräche

• Familiengespräche

• Gespräche mit Fachpersonen

• Kollegiale Fallreview

• Hilfeplankonferenz

• Bedarfsklärungsgespräche

• Hilfeplangespräche

Instrumente

• Gesamteinschätzung (Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)

• Prüfbogen «Einschätzung des Misshandlungs- und Vernachlässigungsrisikos» (DJI)

• Bewahrungs- und Veränderungskalender

• Ressourcenbaum

• Ressourcentreppe

• Ressourcenkarte

• Netzwerkkarte

• Unterstützungskarte

Schlüsselprozess Ergebnisklärung

Eltern und Kind die Ergebnisse der Kernabklärung und/oder Bedarfsklärung vorstellen. Ihnen Gelegenheit geben, Zustimmung, Ablehnung sowie Alternativvorschläge vorzutragen. Ihre Bereitschaft zur Mitwirkung bei den empfohlenen Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen klären.

Gegenstand der Beurteilung

Akzeptanz der Abklärungsergebnisse und Empfehlungen bei Eltern und Kind

Einschätzdimensionen

• Mass der Übereinstimmung des Kindes und der Eltern mit den Inhalten und Ergebnissen des Abklärungsberichts und den darin empfohlenen Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen

• Bereitschaft des Kindes und seiner Eltern, bei der Umsetzung der im Abklärungsbericht empfohlenen Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen mitzuwirken

Methoden

• Einzelgespräche mit Eltern

• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen

• Elterngespräche

• Familiengespräche

• Ampel-Feedback-Workshop

Instrumente

• Abklärungsberichtsvorlage

• Wenn Einvernehmen über empfohlene Leistungen besteht: z. B. Antrag auf Leistungen; Indikationsbogen

• Im Fall von Anordnungsbedarf: Antrag (vgl. Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)

2.3 Praxisprinzipien dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung

Praxisprinzip 1

Bei allem, was wir tun, achten wir darauf, dass Sicherheit, Grundversorgung und Rechte des Kindes gewährleistet sind

Praxisprinzip 2

Wir begegnen Kindern und Eltern mit Anerkennung und Respekt

Praxisprinzip 3

Wir arbeiten mit Fachpersonen verschiedener Professionen im Interesse des Kindeswohls partnerschaftlich zusammen

Praxisprinzip 4

Wir sorgen dafür, dass wir unsere Abklärungsaufgaben kompetent und selbstbewusst wahrnehmen können

Praxisprinzip 5

Wir streben danach, die Ressourcen, Potenziale und Widerstände von Eltern und Kindern produktiv zu nutzen

Für die Arbeit mit dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» sind fünf Praxisprinzipien handlungsleitend. Sie sind mit Fachpersonen erarbeitet worden, die an der Entwicklung und Erprobung des Prozessmanuals beteiligt waren. Sie spiegeln Haltungen wider, die für die Gestaltung von Abklärungsprozessen von Bedeutung sind. Eine dialogische Haltung stellt sich nicht von selbst ein, sondern bedarf der bewussten Entscheidung und Gestaltung. Insbesondere wenn es um Fragen des Wohls von Kindern und Jugendlichen geht, ist ein dialogisches Vorgehen strukturell gefährdet, gibt es Tendenzen, ganz auf den Dialog zu verzichten. Auch systemische Prinzipien werden nicht selten im Namen des Kindesschutzes über Bord geworfen und zugunsten bevormundender und kontrollierender Ansätze aufgegeben (vgl. Conen 2014). Die Praxisprinzipien sollen Fachpersonen eine Stütze sein. Sie sollen ihnen dabei helfen, dem Aufgeben im Kindesschutz zu widerstehen (vgl. Maihorn/Nowotny 2015). Sie sollen ihnen aufzeigen, worauf es bei der Abklärung von Kindeswohlfragen ankommt und welcher Haltungen es bedarf, um dem Wohl von Kindern und Jugendlichen gerecht werden zu können. Sie sollen aber auch Organisationen des Kindesschutzes hilfreich sein und diesen einen Auseinandersetzung über ihr strategisches Profil ermöglichen, insbesondere dann, wenn sie daran interessiert sind, das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» einzuführen.

Praxisprinzip 1

Bei allem, was wir tun, achten wir darauf, dass Sicherheit, Grundversorgung und Rechte des Kindes gewährleistet sind

Die Sicherheit und Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen hat für abklärende Fachpersonen oberste Priorität. Ihr Handeln ist darauf ausgerichtet, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen beachtet und deren Grundbedürfnisse befriedigt werden. Sie unterstützen Eltern dabei, Veränderungen im Interesse des Kindeswohls vorzunehmen. Sie regen sie dazu an, zu verstehen, was zur Förderung und Sicherung des Kindeswohls notwendig ist. Sie ermutigen sie dazu, Unterstützung zu suchen und anzunehmen, sofern diese erforderlich ist. Sie sind sich bewusst, dass die Entwicklung von Kindern am besten gelingt, wenn verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen sich um ihr Wohl sorgen. Sie erkennen an, dass primär Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind, auch dann, wenn sie dieser Aufgabe (teilweise oder zeitweise) nicht gerecht werden und ihre Kinder im Interesse des Kindeswohls vorübergehend oder dauerhaft fremdplatziert werden müssen. Sie achten und wahren die Integrität familialer Beziehungen. Sie tragen durch ihr Handeln dazu bei, entwicklungsfördernde Bindungen zwischen dem Kind und seiner Familie aufrechtzuerhalten, zu entwickeln oder wiederherzustellen. Sie bemühen sich darum, diejenigen materiellen, sozialen, bildungsbezogenen und gesundheitsbezogenen Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen zu empfehlen, die am besten dazu geeignet sind, das Kindeswohl zu fördern und zu sichern und Eltern in ihrer Rolle zu stärken: als Personen, die an erster Stelle mit der Aufgabe betraut sind, ihr Kind zu schützen und zu fördern.

Praxisprinzip 2

Wir begegnen Kindern und Eltern mit Anerkennung und Respekt

Abklärende Fachpersonen behandeln Kinder und Eltern als Partner. Sie begegnen ihnen mit Anerkennung und Respekt und streben danach, mit ihnen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Sie stellen sich ihren Gefühlen und reflektieren diese. Sie gehen mit Eltern, die im Verdacht stehen, das Wohl ihrer Kinder zu gefährden, empathisch um. Im direkten Kontakt begegnen sie ihnen mit Verständnis und Authentizität. Sie versuchen, zu ihnen – ebenso wie zu ihren Kindern – eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung herzustellen. Sie teilen mit Eltern und Kindern ihre Informationen und Kenntnisse. Sie legen offen, was Anlass, Auftrag und Ziel ihres Handelns ist. Sie machen Eltern und Kindern gegenüber transparent, was ihnen und anderen Anlass zur Sorge bereitet. Sie zeigen auf, welcher Voraussetzungen es bedarf, damit das Kindeswohl jetzt und in Zukunft gewährleistet ist. Sie sorgen mithilfe flexibler und der jeweiligen Situation angemessener Arbeitsformen dafür, dass sich Eltern und Kinder ohne Angst und Schuldgefühle aktiv am Prozess der Abklärung des Kindeswohls beteiligen können. Sie ermutigen Kinder und Eltern dazu und unterstützen sie dabei, zu erzählen, was sie denken, fühlen, brauchen und wollen. Sie hören ihnen zu und tragen Sorge dafür, dass die Erlebensweisen, Wünsche und Interessen von Kindern und Eltern in die Prozesse der Klärung und Entscheidungsfindung einfliessen und bestmöglich berücksichtigt werden. Sie informieren Eltern und Kinder über ihre Rechte und darüber, wie sie ihre Rechte geltend machen können. Sie erkennen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Grundlage für vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen an und gehen mit personenbezogenen Informationen über Kinder und Eltern sorgfältig und respektvoll um.

Praxisprinzip 3

Wir arbeiten mit Fachpersonen verschiedener Professionen im Interesse des Kindeswohls partnerschaftlich zusammen

Multiprofessionelle Zusammenarbeit ist für die Gestaltung von Abklärungsprozessen im Kindesschutz wichtig, aber nicht selbstverständlich. Abklärende Fachpersonen bemühen sich deshalb darum, mit Fachpersonen verschiedener Professionen im Interesse des Kindeswohls partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Sie sind aufmerksam dafür, welche anderen Partner mit dem Kind und seiner Familie zusammenarbeiten. Sie klären, ob und inwieweit Austausch und Zusammenarbeit mit weiteren Partnern das Wissen erweitern, Einschätzungen bereichern und die Zielerreichung begünstigen können. Sie sorgen dafür, dass für Austausch und Zusammenarbeit mit weiteren Partnern eine Legitimation besteht: durch die Zustimmung der Eltern (bei Abklärungen im Auftrag eines Fachdienstes) oder durch entsprechende Legitimation in einem konkreten Abklärungsauftrag (bei Abklärungen im Behördenauftrag). Sie sind in Bezug auf Austausch und Kooperationen gegenüber Eltern und Kind transparent. Sie treffen mit Partnern klare Vereinbarungen und sind in diesen Vereinbarungen verbindlich. Sie informieren die fachlichen Partner über den Ausgang des Abklärungsprozesses. Im Austausch sorgen sie dafür, dass ihre Kooperationspartner darüber informiert sind, was Aufgabe und Funktion ihrer Tätigkeit ist. Sie legen Absichten, Aufträge und Zuständigkeiten offen. Falls es zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und zweckmässig ist, laden sie zu Fallbesprechungen ein und tauschen sich mit Partnern über Hypothesen und Lösungsideen aus. Sie tragen auf diese Weise dazu bei, diejenigen Leistungen und/ oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen zu finden, bei denen begründet davon ausgegangen werden kann, dass sie notwendig und am besten dazu geeignet sind, das Kindeswohl zu fördern und zu sichern. Sie bitten Kooperationspartner um Rückmeldungen, falls diese mit Ablauf und Ausgang eines Abklärungsprozesses unzufrieden sind.

Praxisprinzip 4

Wir sorgen dafür, dass wir unsere Abklärungsaufgaben kompetent und selbstbewusst wahrnehmen können

Abklärende Fachpersonen sind darum bemüht, stets über ausreichend Erfahrung und Expertise im Kindesschutz zu verfügen. Sie nehmen ihre Abklärungsaufgaben selbstbewusst war, verzweifeln nicht an ihrer anspruchsvollen Aufgabe und sorgen sich um ihr Wohl: Sie sorgen für sich selbst und ihre emotionale Balance, um in der anspruchsvollen Aufgabe die erforderliche Präsenz und Aufmerksamkeit zu haben. Sie studieren regelmässig Fachmedien und nehmen an Fort- und Weiterbildungen teil, die sie dabei unterstützen, ihr Wissen über kindesschutzspezifische Themen zu aktualisieren, zu erweitern und zu vertiefen (z. B. Kinderrechte, Grundbedürfnisse von Kindern; Ursachen, Formen und Folgen von Gefährdungen des Kindeswohls; Umgang mit Klient/innen im Pflichtkontext; Umgang mit psychisch kranken und drogenabhängigen Eltern, mit Phänomenen häuslicher Gewalt, sexueller Ausbeutung und hoch strittiger Elternschaft). Sie reflektieren ihre Arbeitsweisen im Rahmen regelmässiger Intervisionen und Supervisionen. Sie sind daran interessiert, aus Fehlern und Erfolgen zu lernen. Sie lassen Zweifel zu, kennen ihre Grenzen und holen sich Unterstützung, wenn sie unsicher sind. Wenn sie von Eltern beleidigt oder bedroht werden und ihre Kompetenzen nicht ausreichen, um Abklärungen im Interesse des Kindeswohls fortzuführen oder sie das Gefühl haben, selbst in akuter Gefahr zu sein, brechen sie nach Rücksprache mit ihren Leitungen die Abklärung ab und versuchen nach Möglichkeit, besser geeignete Fachpersonen ausfindig zu machen. Sie arbeiten in Organisationen, in denen Rahmenbedingungen vorherrschend sind, die Abklärungen im Interesse des Kindeswohls ermöglichen.

Praxisprinzip 5

Wir streben danach, die Ressourcen, Potenziale und Widerstände von Eltern und Kindern produktiv zu nutzen

Abklärende Fachpersonen nutzen die Ressourcen, Potenziale und Widerstände von Eltern und Kindern. Sie versuchen, deren Entwicklungsmöglichkeiten zu fördern und zu erweitern. Sie wollen durch ihr Handeln dazu beizutragen, dem Wohl von Kindern und deren Eltern gleichermassen zu dienen, wissen aber, dass bei allem, was sie tun, die Sicherheit und Grundversorgung von Kindern oberste Priorität hat. Sie nehmen die Gefühle von Kindern und Eltern ernst, auch deren Widerstände, und versuchen, mit ihnen gemeinsam zu erkunden, welchen Sinn und welche Funktion diese haben. Sie widmen sich den Loyalitätskonflikten, Schuldgefühlen, Sorgen, Ängsten und Hoffnungen von Eltern und Kindern. Sie streben an, gemeinsam mit ihnen herauszufinden, in welcher Lebenslage sie sich befinden und welche Optionen bestehen, damit es ihnen in Zukunft wieder besser gehen kann. Sie unterstützen Kinder und ihre Eltern dabei, bislang übersehene oder ungenutzte Ressourcen zu erschliessen, die ihnen dabei helfen, ihre Potenziale zu nutzen. Sie ermutigen Eltern dazu, sich und ihr Leben im Interesse des Kindeswohls zu verändern, und bieten ihnen dazu Unterstützung an. Sie versuchen, ihnen Hoffnung zu geben und ihnen dabei zu helfen, sich und ihr Leben im Interesse des Kindeswohls zu verändern. Sie trauen ihnen prinzipiell zu, für das Wohl ihrer Kinder zu sorgen. Sie zeigen ihnen auf, welche Rechte und Grundbedürfnisse ihre Kinder haben, über welche Kompetenzen und Fähigkeiten sie verfügen und auf welche Leistungen sie zurückgreifen können, um das Kindeswohl zu gewährleisten. Sie verdeutlichen ihnen, welche Eingriffe in Elternrechte der Staat im Fall einer Kindeswohlgefährdung vornehmen kann, sofern sie nötige Veränderungen im Interesse des Kindeswohls nicht von sich aus vornehmen können oder wollen.

1 Die empirische Evidenz zu transgenerationaler Weitergabe von Kindesmisshandlung wird aktuell zumindest für einige Formen der Kindesmisshandlung wieder vermehrt kritisch hinterfragt (Widom/Czaja/ DuMont 2015).

2 Auch wenn es erforderlich ist, Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen einzuleiten, bedeutet dies nicht, dass abklärende Fachpersonen auf den Dialog verzichten. Es ist zweckmässig, wenn sie mit den Eltern und Kindern im Kontakt bleiben, um mit ihnen infrage kommende Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen zu erörtern (siehe Schlüsselprozess Sofortmassnahmen).

Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung

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