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Zwischen Worms und Stalingrad. Das „National-Epos der Deutschen“

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Hocherhobenen Schildes, bereit den Hort der Nibelungen im Rhein zu versenken, steht die Statue des finsteren Hagen von Tronje nördlich der Nibelungenbrücke in Worms. Ebendort befanden sich im Mittelalter ein Übergang über den Strom und der Hafen.2 Der sagenhafte Schatz, die Heldentaten des Drachentöters Siegfried und das Ende der Burgunder am Hofe des Hunnenkönigs Etzel ziehen bis heute bei den Bayreuther Festspielen die Zuschauerscharen in den Bann von Richard Wagners „Ring-Zyklus“. In Worms, der angeblichen Residenz der Burgunderkönige, haben sich die Nibelungen vor einigen Jahren den Weg auf die Theaterbühne gebahnt. Kein geringerer als Mario Adorf, der aus zahlreichen Spielfilmen als Bösewicht bekannt ist, mimte dort den Hagen von Tronje. Mehrmals wurde der Stoff verfilmt. Fritz Lang zum Beispiel setzte den Nibelungen mit Kriemhilds Rache im Jahre 1924 ein filmisches Denkmal. Auch im Museum hatten die Nibelungen unlängst Konjunktur. In einer großen Ausstellung nahm sich das Badische Landesmuseum Karlsruhe im Jahre 2003 des Nibelungenliedes an.3 Selbst in der deutschen Sprache hat der Sagenstoff mit dem berühmt-berüchtigten Wort von der „Nibelungentreue“ seinen Niederschlag gefunden. All diese Bilder prägen die heutigen Vorstellungen von den Nibelungen.

Dabei hatte sich jahrhundertelang kaum jemand für die Nibelungen und ihr Schicksal interessiert. Die mittelalterliche Überlieferungstradition fand zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihr Ende. Zu dieser Zeit wurde das Nibelungenlied noch einmal in das sogenannte Ambraser Heldenbuch Kaiser Maximilians I. von Habsburg († 1519) aufgenommen. Dann legte sich ein Schleier des Vergessens über die Nibelungen, der nur von einigen Gelehrten gelegentlich ein wenig gelüftet wurde. Ein Zufall entriss das Nibelungenlied am 29. Juni 1755 seinem Dornröschenschlaf. An diesem Tag stieß der Arzt Jakob Hermann Obereit in der Bibliothek des Grafen von Hohenems, gelegen in der Nähe von Bregenz, auf eine im 13. Jahrhundert entstandene Handschrift des Werkes. Der Stoff erregte sein Interesse, und so berichtete er dem Zürcher Gelehrten Johann Jacob Bodmer (1698–1783) von seiner Entdeckung. Bodmer und sein Schüler Johann Heinrich Füssli (1741–1825) ebneten mit ihrer Bewertung des Nibelungenliedes als einer „homergleichen Ilias“ den Weg zum deutschen Nationalepos. Der griechischen Kultur der Antike, die man zu dieser Zeit mit romantischer Begeisterung wiederentdeckte, ließ sich nun eine germanische zur Seite stellen – ein Fundament für die Konstruktion nationalen Bewusstseins.

Den Grundstein für die weitere Entwicklung des Nibelungenliedes zum „National-Epos der Deutschen“ legte der Jurist Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856), der im Jahre 1810 auf die erste Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Berlin berufen wurde.4 Die bluttriefende Handlung des Nibelungenliedes bietet aus der Sicht eines heutigen Westeuropäers, der seit dem Ende des zweiten Weltkrieges glücklicherweise eine friedfertige Nachbarschaft kennt, eigentlich alles andere als Anknüpfungspunkte zur Stiftung nationaler Identität. Doch die darin geschilderten Figuren schienen den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts durchaus geeignet, diese zu Trägern vermeintlich „spezifischer deutscher Nationaltugenden“ zu stilisieren.5 Von der Hagen resümiert diese „Tugenden“ im Vorwort seiner 1807 erschienenen Bearbeitung des Nibelungenliedes folgendermaßen:

Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterlicher Standesmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht.“6

Mag man sich angesichts des Stoffes heute ernsthaft fragen, wo von der Hagen Charaktereigenschaften wie „Menschlichkeit“ und „Milde“ entdecken konnte, fielen die Parolen vom „unvertilgbaren Deutschen-Karakter“ im Zeitalter napoleonischer Besatzung auf fruchtbaren geistigen Boden. Sie beschworen die Illusion nationaler Einheit gegen den Feind Napoleon.

Seitdem im Bewusstsein verankert, nahmen solche, dem mittelalterlichen Werk zusehends entfremdete Bilder eine unheilvolle Entwicklung. So ist das Motiv der „Nibelungentreue“ untrennbar verknüpft mit dem Grauen zweier Weltkriege. In seiner Rede vor dem Reichstag charakterisierte der Reichskanzler Fürst von Bülow am 29. März 1909 mit eben jenem Wort die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Österreich-Ungarn. Geleitet von dieser „Tugend“ sollte Deutschland an der Seite der habsburgischen Doppelmonarchie fünf Jahre später begeistert in den Ersten Weltkrieg ziehen. Schließlich musste auch zur propagandistischen Erklärung der Niederlage des Deutschen Reiches eine Schlüsselszene des Nibelungenliedes herhalten. Geschürt von der nationalkonservativen Opposition im Reichstag und von den Nationalsozialisten im Folgenden weidlich ausgeschlachtet, fand seit dem Herbst 1918 eine noch heute als „Dolchstoßlegende“ bekannte These weite Verbreitung. Schuld am Kriegsausgang sei nicht das militärische Kräfteverhältnis an der Front gewesen, hieß es. Vielmehr habe es an Unterstützung durch die eigene Heimat gefehlt, die den Soldaten einen Dolch in den Rücken gestoßen habe. Die Vorlage für dieses Bild lieferte die hinterhältige Ermordung Siegfrieds im Nibelungenlied. Der Sieger der Schlacht bei Tannenberg, der Generalfeldmarschall und spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg, sollte dem symbolbefrachtet Ausdruck verleihen.

Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken “,

schrieb er.7 Die Nationalsozialisten verstanden es, die „Dolchstoßlegende“ wie auch die „Nibelungentreue“ für ihre Zwecke zu nutzen. Der Entscheidungskampf der Burgunderkönige am Hofe des Hunnenkönigs Etzel diente Hermann Göring am 30. Januar 1943 als Vergleich zur Schlacht im Kessel von Stalingrad. Wie die Nibelungen in Feuer und Brand – den Durst mit dem eigenen Blut löschend – bis zum letzten Mann zu kämpfen, lautete die Botschaft des Reichsmarschalls an die Soldaten der Wehrmacht. Ihren propagandistischen Höhepunkt fanden solche Vergleiche zu dieser Zeit auf der Opernbühne von Bayreuth. Hier wurde der Held Siegfried in ein „arisches“ Aushängeschild des nationalsozialistischen Rassenwahns verwandelt. Es war der Trauermarsch aus Richard Wagners Götterdämmerung, mit dessen Klängen der deutsche Rundfunk am 30. April 1945 die Meldung vom Tod Adolf Hitlers garnierte. Hitler, ein glühender Verehrer des Komponisten und mit dessen Schwiegertochter Winifred eng verbunden, wurde damit gleichsam zum Siegfried stilisiert. Die Verquickung von Stoffen des Nibelungenliedes mit der nationalsozialistischen Propaganda wirkt bis heute nach. Den missbrauchten Nibelungen haftet der Schatten der braunen Vergangenheit an. Auch er ist unbestreitbar Teil des gegenwärtigen Nibelungenbildes. An diesem Punkt angelangt, ist es nun höchste Zeit, sich eingehender mit der Quelle dieser Bilderflut zu befassen, dem berühmten, zwischen 1190 und 1205 von einem unbekannten Dichter in mittelhochdeutscher Sprache zusammengestellten Nibelungenlied.

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