Читать книгу Hör nichts Böses - Kayla Gabriel - Страница 10

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Cassie öffnete langsam ihre Augen und stellte fest, dass sie auf einem luxuriösen Ledersofa lag und ihre Hände auf ihrem Bauch ruhten. Sie befand sich in einem riesigen, hell erleuchteten Raum. Das reichlich vorhandene Sonnenlicht bedeutete, dass sie länger als eine Handvoll Minuten weggetreten gewesen war. Sie kniff die Augen vor dem Schmerz zusammen, der hinter diesen pochte, und versuchte sich daran zu erinnern, was genau passiert war.

Ganz plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Die Wachen, die sie aus dem Vogelkäfig zerrten. Ein wütend aussehender Bärengestaltwandler war in Erscheinung getreten, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, woher er gekommen war. Sie war vor ihm weggerannt und hatte sich dann darauf verlegt, ihn um ihre Sicherheit anzuflehen. Und siehe da, der Bär hatte sich in ihn verwandelt.

Den Mann ihrer Träume, denjenigen, den sie wieder und wieder in ihren Visionen gesehen hatte… allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, ihn ausgerechnet heute zu sehen. Und in ihren Träumen war er nicht ganz so… nun, heiß gewesen.

Obwohl Cassie für eine Frau recht groß war, hatte sie im Vergleich zu ihrem Traummann beinahe wie ein Zwerg gewirkt. Er war buchstäblich groß, dunkel und gut aussehend. Sein dichtes schokoladebraunes Haar war von goldenen Strähnen durchzogen und so lang, dass es bis knapp unterhalb seines Kinns reichte. Ein Tag alte Stoppeln zierten sein Gesicht und betonten seine Attraktivität. Sein Kiefer und Wangenknochen waren hoch und scharfumrissen, seine Augenbrauen dunkel und dicht, seine Augen die dunkelste Schattierung von Mitternachtsblau, die man sich vorstellen konnte. Er hatte die Größe und Statur eines Linebackers gepaart mit dem Gesicht und den wohldefinierten Muskeln eines Armani Unterwäschemodels.

Sie wusste all das über ihn, weil sie so oft von ihm geträumt hatte. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie mehr getan hatte, als nur von ihm zu träumen. Isoliert und einsam im Vogelkäfig war ihr Retter die einzige wiederkehrende Fantasie gewesen.

„Sie ist wach. Du bist wach.“ Eine Frau trat in Cassies Sichtfeld und Cassie drehte ihren Kopf, um sie zu betrachten.

Sie war eine umwerfende Frau Mitte sechzig und gekleidet in einen fließenden weißen Kaftan und eine weiße Kopfbedeckung. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, die so typisch war für kreolische Nachfahren, und ihr starker New Orleans Akzent bestätigte ihren Hintergrund. Im Moment starrte die Frau mit skeptischer Miene auf Cassie hinab.

„Ich bin wach“, stimmte Cassie zu und stemmte sich vorsichtig in eine aufrechte Position.

Vier weitere Personen saßen an einem riesigen Eichentisch auf der anderen Zimmerseite, drei Männer und eine Frau. Die drei Männer hätten sich auf den ersten Blick nicht unähnlicher sein können, aber irgendetwas an ihnen kam ihr vertraut vor. Die Frau war Cassie unbekannt, eine kurvenreiche, hübsche Blondine mit einem belustigten Gesichtsausdruck.

In dem Augenblick, in dem Cassie ihn sah, ihren „Mystery Man“, entspannte sie sich etwas.

„Ich rede mit dir“, giftete die Kreolin und fuchtelte mit einer Hand vor Cassies Gesicht herum.

„Äh…“, sagte Cassie und sah zu ihr hoch. „Okay.“

„Ich bin Mere Marie“, stellte sich die Frau vor, wobei Ungeduld klar und deutlich in ihrer Stimme mitschwang. „Du befindest dich im Herrenhaus, das von den Alpha Wächtern beschützt wird.“

Mehrere Dinge fügten sich für Cassie plötzlich zu einem Bild zusammen. Die Tatsache, dass ihr Traummann ein Schwert getragen hatte und dass ihr seine Kameraden so bekannt vorkamen. Das ergab jetzt alles Sinn, da Pere Mals Wachen im Vogelkäfig eine ganze Wand mit Fotos und Informationen zu den Wächtern gehabt hatten, aufgrund derer sie die Wächter sofort erkennen sollten.

„Cassie. Cassandra, meine ich. Chase“, sagte Cassie, während sie versuchte, Herrin ihrer Gedanken zu werden.

Mere Marie packte ihre Hand, drückte sie fest und Cassie keuchte auf, als Energie zwischen ihnen ausgetauscht wurde. Die Augen der anderen Frau weiteten sich und sie starrte Cassie einen langen Moment an.

„Orakel“, sagte Mere Marie und ließ Cassies Hand los. „Kein Wunder, dass Pere Mal dich hinter Schloss und Riegel hielt.“

Die hübsche blonde Frau meldete sich zu Wort, womit sie Cassies Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Hast du gesagt, dein Name sei Cassandra?“

„Das bin ich“, bestätigte Cassie nickend und sah sich ein wenig in dem Zimmer um. Es war nach dem Prinzip eines offenen Grundrisses gebaut worden und umfasste Wohn-, Ess- und Arbeitsbereiche zusammen mit einer wirklich hübschen Edelstahlküche. In der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers stand noch ein Mann. Dieser trug einen Smoking mit einem Schwalbenschwanz-Sakko und eine missbilligende Miene.

„Ich bin Echo“, stellte sich die Frau vor, erhob sich und trat näher, um Cassie zu mustern. Sie deutete der Reihe nach auf den blonden Mann, den Mann mit dem rötlichen Bart und dann Cassies Mystery Man. „Das sind Aeric, Rhys und Gabriel.“

Gabriel, murmelte Cassie zu sich selbst. Ihr Blick verhakte sich erneut mit seinem und ihr Verlangen, in seiner Nähe zu sein, wurde noch ein Stückchen größer.

„Sie muss das Zweite Licht sein“, erklärte Echo Mere Marie.

Cassie widmete Echo wieder ihre Aufmerksamkeit.

„Was weißt du darüber?“, fragte Cassie überrascht. Cassie hatte nie außerhalb ihrer Visionen von den Drei Lichtern gehört, weshalb es sie überraschte, die Worte laut ausgesprochen zu hören. Der beiläufige Tonfall der Frau hinterließ bei Cassie den Eindruck, dass die Drei Lichter ein völlig normales Gesprächsthema unter den Wächtern waren.

Die Blondine zuckte mit einer Schulter und errötete leicht.

„Nicht viel, außer, dass ich das Erste Licht bin. Oh, und meine Mutter und Tante waren diejenigen, die uns diese Situation überhaupt erst eingebrockt haben, glaube ich.“

„Wie lange hat Pere Mal dich festgehalten?“, mischte sich Mere Marie ein und ihre kastanienbraunen Augen hefteten sich auf Cassies Gesicht.

„Vier Jahre, glaube ich“, antwortete Cassie.

„Bittet er dich oft um Visionen?“, wollte Mere Marie wissen.

„Ja“, erwiderte Cassie. „Manchmal mehrmals in einer Woche. Aber damit wir uns hier nicht falsch verstehen, die Visionen kommen vom Orakel, nicht von mir.“

„Ich bin mir sicher, ich weiß nicht, was du meinst“, schnaubte Mere Marie.

„Das Orakel ergreift Besitz von mir, ich bin nur das Gefäß. Sie hat die Visionen, ich stelle nur… ich weiß nicht, eine körperliche Manifestation zur Verfügung. Sie lebt in der Geisterwelt und nutzt mich, um Zugriff auf das Reich der Menschen zu haben“, erklärte Cassie.

„Also könntest du theoretisch eine Visionsanfrage verweigern?“, warf Echo ein. „Wenn du es wollen würdest, könntest du dich weigern, deinen Mund zu öffnen oder so etwas, stimmt’s?“

Cassies Lippen zuckten, während sie darüber nachdachte.

„Vielleicht. Das Orakel kann mich überwältigen, wenn sie möchte. Aber wenn mir etwas geschieht, müsste sie ein neues Gefäß finden, was schwer werden würde. Glaub mir, ich habe mich ziemlich gewehrt, als sie das erste Mal zu mir kam. Jetzt finde ich es allgemeinhin einfacher, es zu dulden. Es kommt selten vor, dass ich gebeten werde, eine Prophezeiung von großer Wichtigkeit zu machen.“

Mere Maries Lippen wurden schmal und Cassie fragte sich, ob die Frau vielleicht wusste, dass es eines Opfers bedurfte, um Visionen von einem Orakel zu erbitten. Die Größe und der Wert des Opfers standen in direkter Korrelation zur Bedeutsamkeit der Vision, nach der man verlangte.

Oder vielleicht wusste Mere Marie auch, dass eine derartige Vision das Gefäß stark auslaugte und sich manchmal sogar als gefährlich für das Orakel selbst erwies. Die Fähigkeit eines Orakels, eine angefragte Vision zu verkünden, kam aus dessen Innerem und eine zu große Anstrengung könnte ein Gefäß auslöschen wie eine Kerze, der man den Docht entfernt.

„Das wirft die Frage auf, wie du festlegst, was du für wichtig erachtest“, sagte Mere Marie.

Mere Marie betrachtete Cassie noch einen Augenblick, ehe sie sich umdrehte, ihre Finger an ihre Lippen führte und einen schrillen Pfiff ausstieß, der alle im Raum zusammenzucken ließ. Die ältere Frau wandte sich abermals mit einem finsteren Gesicht an Cassie.

„Noch ein Test, dann darfst du zu deinem Gefährten gehen“, verkündete Mere Marie.

Cassie bäumte sich bei dem Wort Gefährten auf. Ihr Blick schnellte nochmal zu Gabriel und dann rundeten sich ihre Augen, als es ihr leicht dämmerte. Die magnetische Anziehungskraft, dieses eigenartige Sehnen, das sie verspürte, die unersättliche Neugier… all das bedeutete etwas. Und natürlich hatte sie mit eigenen Augen gesehen, dass Gabriel ein Bärengestaltwandler war. Es war durchaus möglich. Nur… unerwartet.

Cassies Mund öffnete sich, ein Dutzend Fragen brannten ihr auf der Zungenspitze, aber dann bemerkte sie eine haarige schwarze Gestalt, die den Raum betrat. Mere Maries Aufmerksamkeit lag allein auf der prächtigen, seidig glänzenden schwarzen Katze, die in das Wohnzimmer schlenderte und zu ihnen trottete. Sie stoppte vor Mere Maries Füßen und starrte mit einem beinahe fragenden Blick zu ihr hoch.

Dann schockierte die Katze Cassie über alle Maßen, indem sie tatsächlich zu reden begann.

„Du hast gerufen?“, fragte sie, die Stimme ein maskulines, melodisches Kratzen. Es war also ein Kater.

Cassie wurde bewusst, dass Mere Maries Pfiff die Kreatur herbeigerufen hatte, die ganz bestimmt nicht nur ein Kater war.

„Cairn, du hast dir ziemlich Zeit gelassen, runter zu kommen. Überprüf sie und stell sicher, dass sie nicht aufgespürt werden kann“, befahl Mere Marie dem Kater.

Der Kater gab ein heiseres Schnauben von sich und drehte sich um, sprang auf die Couch und trat auf Cassies Schoß. Cassie widerstand dem Drang, ihre Hände zu heben und über das weich aussehende Katzenfell zu streicheln, als sich Cairn an Cassies Armen und Brust rieb. Er hüpfte vom Sofa und rieb seinen Mund an ihren Beinen, wodurch er für alle Welt den Anschein eines Katers erweckte, der sein Territorium markierte.

Cairn schaute mit seinen Augen, die so leuchtend und gelb wie Goldmünzen waren, zu ihr hoch und musterte sie mehrere lange Herzschläge. Es kostete Cassie einiges an Selbstbeherrschung, unter dem prüfenden Blick der Kreatur nicht auf ihrem Platz herumzurutschen. Was auch immer er sah, Cairn musste mit ihr zufrieden sein, denn er wandte sich wieder an sein Frauchen.

„Sie ist sauber“, schnurrte der Kater, dessen Schwanzspitze zuckte.

Cassie zog in Mere Maries Richtung fragend eine Augenbraue hoch, aber hielt den Mund. Sie blickte absichtlich nicht zu Gabriel, obwohl sie unbedingt seine Reaktion auf… nun, alles sehen wollte. Trotzdem, Cassie rühmte sich damit, eine außergewöhnlich willensstarke Person zu sein. Sie würde ihre Handlungen nicht einfach von einer merkwürdigen, magischen Lust kontrollieren lassen.

…uuuund drei Sekunden später sah sie doch zu Gabriel. Sie erwischte ihn dabei, wie er in ihre Richtung schaute, aber ihr nicht ganz in die Augen blickte und vielmehr den Eindruck machte, als würde er sich unfassbar unwohl fühlen. Nun, da waren sie schon zu zweit.

„Oh, um Himmels willen“, fauchte Mere Marie. „Gabriel, bring sie irgendwo hin und bringt das Gefährten-Zeug hinter euch. Im Moment seid ihr beide nutzlos für mich. Und was auch immer ihr tut, lass nicht zu, dass sie entführt wird. Wenn Pere Mal sie benutzt, um das Dritte Licht zu finden, dann sitzen wir alle so richtig in der Tinte.“

Alle anderen erhoben sich, also stand auch Cassie auf. Der Rest der Wächter machte sich recht zügig aus dem Staub und schon bald waren Cassie und Gabriel allein im Raum. Gabriel beobachtete sie einige Momente, dann winkte er sie zu sich.

„Wie wäre es mit einem Spaziergang?“, schlug er vor und deutete auf die Glastüren, die hinaus in einen gepflegten Garten führten.

Cassies Mund wurde trocken, als sie die ersten Töne seines ausgefeilten englischen Akzents hörte. Ihre Füße hatten sich bereits bei „Wie wäre“ in seine Richtung bewegt, was mehr als ein wenig peinlich war. Noch schlimmer war jedoch, dass Gabriel buchstäblich mit jedem Schritt, den sie machte, hübscher wurde und plötzlich hämmerte ihr Herz in ihrer Brust.

Gabriel schien sich leicht zu schütteln, bevor er die Tür öffnete und sie Cassie aufhielt. Sie biss auf ihre Lippe, senkte den Blick zu Boden und erzitterte, als sie an ihm vorbeitrat. Als sich seine Hand hob und federleicht über ihren unteren Rücken strich, stieß Cassie den angehaltenen Atem aus.

„Was zum Donnerwetter ist das?“, stöhnte sie, weil sie zunehmend frustriert wurde. Sie fühlte sich, als hätte sie keinerlei Kontrolle über die Sehnsüchte ihres Körpers, was nicht akzeptabel war. Sie trat hinaus in die helle New Orleans Sonne und lief einige Schritte weg in dem Versuch, sich zu sammeln.

„Es kommt auch für mich überraschend“, sagte Gabriel, der Cassie nach draußen folgte, ihr aber ihren Freiraum ließ.

Cassie sah zu ihm hinüber und verschränkte die Arme.

„Ich habe nicht geglaubt, dass du darum gebeten hast“, entgegnete sie und schürzte die Lippen. „Wer würde das schon wollen? Es fühlt sich furchtbar an.“

Gabriels dunkle Brauen hoben sich und irgendeine Emotion hellte seine dunkelblauen Augen kurz auf, aber er antwortete nicht sofort. Nur ein verräterisches Zucken an einem Mundwinkel und die leicht zusammengekniffenen Augen deuteten auf sein Missfallen hin.

„Niemand sucht sich seinen vom Schicksal bestimmten Gefährten aus“, seufzte Gabriel.

„Bedeutet vom Schicksal bestimmt, dass man am Ende auch glücklich wird?“, wunderte sich Cassie. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so ist. Was war mit deinen Eltern, waren sie glücklich?“

Gabriels Gesicht verdüsterte sich mehrere Sekunden, bevor er die Emotion abzuschütteln schien.

„Ich kannte meine Eltern nicht gerade gut. Meine Schwester und ich waren Waisen.“

„Ahhh“, sagte Cassie, die spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. „Das kann nicht leicht gewesen sein. Im Betreuungs-System aufzuwachsen und all das.“

Gabriels Augenbrauen schossen erneut in die Höhe und dann kräuselte ein Hauch von Humor seine Mundwinkel.

„Glaub es oder nicht, aber so ein System gab es nicht. Mere Marie hat mich aus dem London der 1850er hierhergebracht. Meine Schwester und ich lebten auf der Straße und wir hatten Glück, dass wir überhaupt überlebt haben.“

Cassie klappte die Kinnlade runter und es dauerte ganze zehn Sekunden, ehe es ihr gelang, den Mund wieder zu schließen.

„Du… du bist… was, ein gestaltwandelnder Zauberer, der durch die Zeit reisen kann?“, fragte sie ungläubig.

Gabriels Lippen zuckten und er feixte offen, dann zuckte er mit den Achseln. Cassie dachte sich, dass kein Mann so gut aussehen sollte, wenn er sich gleichzeitig wie ein Idiot aufführte. Es war unfair, grenzte schon an eine Sünde.

„Um fair zu sein, ich bin nur einmal durch die Zeit gereist und Mere Marie hat die ganze Arbeit gemacht. Was ist mit dir? Du bist ein Orakel, etwas, von dem ich dachte, es sei mit den Griechen ausgestorben“, merkte er an. „Ich schätze, das macht uns zu einem recht ungewöhnlichen Paar.“

Cassie stieß erneut geräuschvoll Luft aus und schüttelte den Kopf. Gabriel drehte sich um und lief im Kreis, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

„Wie kann das nur echt sein? Als Orakel kann ich nicht leugnen, dass das Schicksal existiert, aber… wie kann ich plötzlich einfach zu jemandem gehören? Gestern habe ich noch mir selbst gehört.“ Sie rieb über ihre Arme, weil ihr trotz des sonnigen Wetters kühl war. „Ich schätze… ich dachte nur, ich hätte noch ein wenig Zeit, bis du mich findest.“

Sie sah, dass Gabriel einen Moment erstarrte, bevor er fragend zu ihr herumwirbelte.

„Was meinst du damit, bis ich dich finde?“, fragte er.

„Nun, ich bin ein Orakel. Ich habe Bruchstücke meiner eigenen Zukunft gesehen. In dem Moment, in dem ich dein Gesicht beim Vogelkäfig sah, wusste ich, wer du bist.“

„Was ist der Vogelkäfig?“, wollte er wissen. „Und wenn du wusstest, dass du einen Gefährten haben würdest, warum bist du dann jetzt so überrascht?“

„Der Vogelkäfig ist der Ort, an dem uns Pere Mal eingesperrt hat“, erklärte Cassie, da sie beschlossen hatte, die einfachere Frage zu beantworten. Zum Glück ergriff Gabriel sofort die Gelegenheit, Fragen über Pere Mal zu stellen.

„Wie viele von euch waren dort genau?“

Cassie schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht. Ich habe fünf oder sechs kennengelernt. Aber als sie uns aus dem Vogelkäfig geholt haben, wirkte es, als wären noch viel mehr da. Sie sperrten uns alle in unseren eigenen Räumlichkeiten ein.“

„Und du denkst, Pere Mal wollte, dass du das Dritte Licht suchst?“, fragte er.

„Er hat mich gebeten, nach dem Dritten Licht zu suchen, ja“, sagte Cassie zögernd. „Es ist nur… was weißt du über Orakel?“

Gabriel blinzelte und rückte näher. Sie hatte jetzt eindeutig seine Neugier geweckt. Obwohl er die Statur eines Kriegers hatte, war ihr zukünftiger Gefährte vielleicht doch eher ein Gelehrter als ein Kämpfer.

„Nur das, was ich gelesen habe, was nur sehr wenig ist.“

Cassie nickte und versuchte, die richtigen Worte zu finden, um es ihm zu erklären.

„Es gibt zwei Arten von Prophezeiungen: angebotene und angefragte. Angebotene entstehen irgendwie in mir. Ich bitte nicht um sie und ich habe keine Kontrolle darüber, wann sie mir erscheinen. Eine Prophezeiung anzufragen ist jedoch etwas anderes. Ich kann versuchen, spezifische Informationen zu finden, nach dem Ergebnis einer bestimmten Tat zu suchen.“

„Und Pere Mal hat dich wahrscheinlich für Letzteres eingesetzt, nehme ich mal an.“

„Ich glaube, er hat für beide Arten Verwendung gehabt, aber ja.“

„Also warum hat er dich nicht einfach dazu gezwungen, den Namen des Dritten Lichtes zu erfragen?“

„Es ist sehr schwierig Prophezeiungen zu Dingen zu machen, die eigentlich noch nicht bekannt sein sollten. Das Schicksal hat seine Methoden, um die Dinge unter Verschluss zu halten.“

Gabriel warf ihr einen betroffenen Blick zu.

„Das erklärt es aber nicht“, wandte er ein.

„Eine Vision heraufzubeschwören erfordert ein Opfer. Je größer die Forderung, desto größer das Opfer. Pere Mal war gewillt, geduldig zu sein, weil er dann im Austausch nur kleinere Opfer darbringen musste. Wie beispielsweise sein Blut, Opfer von Mastkälbern, solche Sachen eben. Er war nicht bereit, die Art von Opfer zu bringen, die nötig wäre, um das Dritte Licht zu finden. Zumindest noch nicht.“

„Ah“, murmelte Gabriel nickend. „Ich schätze, das macht uns zu echten Glückspilzen, dass wir dich gefunden haben, bevor er ein Opfer gefunden hat, das zu machen er bereit war.“

„Ist das der einzige Grund?“, fragte Cassie verletzt.

„Cassie“, sagte Gabriel, trat näher an sie heran und nahm ihre Hand.

Seine Berührung sandte Hitzeschauer über Cassies Haut und als Gabriel an ihrer Hand ruckte, um sie näher an sich zu ziehen, konnte sie nicht widerstehen. Sie neigte den Kopf nach hinten und starrte in Gabriels Gesicht hoch. Interesse regte sich weiter unten in ihrem Körper, während sie beobachtete, wie sich seine Augen mit dem gleichen Hunger verdunkelten, den sie verspürte.

Obwohl das wirbelnde Verlangen zwischen ihnen zu schnell anwuchs, passierte der Kuss ganz langsam. Gabriel drückte ihren Arm hinter sie und presste ihre ineinander verflochtenen Finger an ihren unteren Rücken. Ihre Körper schmiegten sich aneinander, woraufhin sich Cassies Körper anspannte und ihre Zehen sich voller Vorfreude krümmten.

Gabriel strich mit einer Fingerspitze von ihrem Schlüsselbein zu ihrem Kiefer, seine Miene zeigte so etwas Ähnliches wie Verwunderung. Als er ihren Kiefer mit derselben Fingerspitze anhob und seine Augen auf ihren Mund sanken, öffneten sich Cassies Lippen einladend.

Gabriel beugte sich nach unten und strich mit seinem Mund über ihren, eine brennende Verlockung. Er wich zurück und zögerte, bevor er zurückkehrte. Als er sie schließlich küsste, fanden ihre Lippen einander, als könnte nichts natürlicher, nichts richtiger sein.

Gabriels Zunge berührte Cassies und entfachte ein Feuer tief in ihr. Sie schob ihre freie Hand zu seinem Hals hoch und vergrub ihre Finger in seinen Haaren. Gabriel gab einen leisen, tiefen Laut von sich, der Cassies Knie ganz schwach werden ließ, und sie knabberte an seiner Unterlippe. Ihre Augen schlossen sich und sie seufzte, während sie sich ihm entgegen reckte und mehr wollte.

Einen Herzschlag später gab Gabriel sie frei und trat zurück, wobei er aufgewühlt wirkte. Cassies Augen flogen auf und ihre Finger zu ihren geschwollenen Lippen. Sie sah Furcht klar und deutlich auf Gabriels Gesicht, was sich wie eine Ohrfeige anfühlte.

Ein humorloses Kichern entwich ihrer Kehle und Cassie schüttelte den Kopf.

„Okay“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Du bist offensichtlich nicht bereit dafür.“

Sie wirbelte herum, ging zurück zur Hintertür und schnitt eine Grimasse, als sie entdeckte, dass der Bedienstete im Smoking sie vom Fenster aus beobachtete.

„Cass, warte! Wohin gehst du?“, fragte Gabriel, der ihr folgte.

„Ich werde meine Freundin Alice suchen. Ihr Kerle habt nur ein Mädchen von Dutzenden gerettet und ich sehe nicht, dass du es eilig hast, die anderen zu retten. Wenn du es nicht tun wirst, werde ich es eben tun“, entgegnete sie.

„Wir sollten mit Rhys und Aeric reden, uns einen Plan überlegen“, sagte Gabriel. „Du weißt nicht einmal, wo sie ist!“

„Nein, aber ich denke, ich weiß, wen ich fragen kann“, erwiderte Cassie, zog die Tür auf und stürmte ins Haus. „Ich habe meine Quellen. Und du kannst aufhören, dich als mein Beschützer aufzuspielen. Ich versichere dir, ich kann auf mich selbst achtgeben.“

Sie stoppte abrupt, weil sie realisierte, dass sie gar nicht wusste, wie sie aus dem Haus rauskommen konnte. Als der Mann im Smoking eine Braue hochzog und zur anderen Seite des großen Wohnbereiches zeigte, nickte ihm Cassie widerwillig zu.

„Du warst vier Jahre lang eine Gefangene. Wie kannst du da Quellen haben?“, verlangte Gabriel zu wissen.

Cassie warf ihm über ihre Schulter einen bösen Blick zu und eilte zum Eingangsbereich des Herrenhauses, wobei sie nicht anhielt, bis sie aus der Eingangstür trat. Sie lief die breiten Marmorstufen hinab und sah sich um, während sie versuchte, einen kühlen Kopf zu erlangen.

„Wo sind wir, Esplanade?“, fragte sie.

„Ja, aber –“, versuchte es Gabriel.

Cassie drehte sich um und schaute ihn an.

„Kommst du mit oder nicht?“, wollte sie wissen.

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief sie hinaus auf die Straße mit der festen Absicht, ein Taxi anzuhalten.

Hör nichts Böses

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