Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177 - Kelly Kevin - Страница 5

2.

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Gegen Morgen flaute der Sturm ab.

Immer noch knackte, knirschte und ächzte das Treibeis in der gefährlich hohen Dünung, doch der Himmel war blankgefegt und leuchtete in einem durchsichtigen Blaßblau. Eine dünne Eisschicht überzog Masten und Stagen der „Isabella“ und ließ sie in der Sonne wie ein Juwel glitzern. Soweit das Auge reichte, funkelte die Umgebung in einem fast schmerzhaften Glanz. Es war ein Bild von beeindruckender – und tödlicher Schönheit.

Der Seewolf setzte das Objektiv ab und reichte es an Ben Brighton weiter.

Auch der Bootsmann spähte durch das Fernglas zur zerklüfteten, tief verschneiten Küste hinüber. Der Schnee würde im Laufe des Tages schmelzen. Jetzt, während des kurzen Polarsommers, taute an Land sogar der Boden auf, wenn auch nur in den obersten Schichten. Ein Teil der Moose, Flechten und Kräuter, die hier wuchsen, waren eßbar. Sie beugten dem Skorbut vor, und sie halfen, die Vorräte an Zitronensaft zu strecken, den die „Isabella“ an Bord hatte.

Ben Brighton ließ das Spektiv sinken.

„Wir waren viel zu dicht unter Land“, sagte er in seiner ruhigen, manchmal etwas umständlichen Art.

„Darauf wäre ich nie gekommen“, knurrte Hasard erbittert. „Konnten wir das vielleicht sehen, he?“

„Nee“, sagte Ben Brighton. „In dem Schneesturm konnte man ja vom Achterkastell aus kaum das Vorschiff sehen.“

„Eben!“

Hasard preßte die Lippen zusammen und schnappte sich noch einmal das Spektiv. Das Bild blieb so trostlos wie vorher: eine weiße, völlig kahle Küste. An einer Stelle ragte ein länglicher Umriß aus der Schneedecke. Aber ein Baum war das nicht. Vor allem kein Baum, aus dem sich ein neues Ruderblatt oder gar ein Besanmast zimmern ließ.

Kunststück! Das einzige, was hier oben in begünstigten Lagen wuchs, waren Zwergbirken.

Auf Bäume würden sie erst wieder stoßen, wenn es ihnen endlich gelang, einen Weg nach Süden zu finden. Und wie sie den ohne Besanmast und mit zerschmetterter Ruderanlage finden sollten, stand noch in den Sternen.

Ferris Tucker war auf die Riffe abgeentert, um sich anzusehen, was von den Resten des Besanmastes vielleicht noch zu gebrauchen war.

Der Seewolf kaute an der Erkenntnis, daß ihnen als letzer Ausweg nur eine Expedition ins Landinnere bleiben würde. Sie mußten wissen, wo sie waren. Das Gebiet, das sie durchsegelt hatten, existierte weder auf englischen noch auf spanischen Seekarten. Aber vielleicht auf den alten chinesischen, die ihnen schon während ihrer Weltumseglung oft geholfen hatten.

Eine Viertelstunde später breitete Hasard vorsichtig das vergilbte, mit kunstvollen Linien, Schnörkeln und Schriftzeichen bedeckte Pergament auf dem Tisch in seiner Kammer aus.

Ben Brighton, Big Old Shane, Ed Carberry und die beiden O’Flynns sahen ihm zu. Siri-Tong beugte sich tief über die Karte und musterte aus schmalen Augen die verschlungenen Linien.

China.

Die Inselwelt des Pazifiks.

Nur grob und ungenau die Küsten der Neuen Welt – immer ungenauer, je weiter sich Siri-Tongs tastender Finger nach Norden bewegte. Hoch oben, am Rand der Karte, jenseits eines langgestreckten Inselbogens, stießen die Landmassen zweier Kontinente fast zusammen. Nur eine schmale Wasserstraße trennte sie. Die Linien endeten dort. Daß die Küsten nach Osten und Westen zurückwichen, ließ sich gerade noch erkennen. Und mit etwas Phantasie konnte man erahnen, daß sich nördlich der Passage eine weite Wasserfläche öffnete.

Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

Einen Augenblick starrte er auf die Karte, dann zuckte er mit den Schultern. „Wenn die Küste so weiter verläuft, wie sie anfängt, müßten wir uns ungefähr hier befinden.“ Sein Finger tippte auf einen Punkt in der Maserung des Tisches. „Das heißt, daß wir den Durchbruch nach Süden binnen weniger Tage schaffen könnten.“

„Könnten“, betonte Dan O’Flynn.

„Nicht ohne Besan und Ruderblatt“, knurrte sein rauhbeiniger alter Vater und stampfte zur Bekräftigung mit dem Holzbein auf.

Ben Brighton kratzte sich am Kopf.

„Notfalls müssen wir eben mit den Segeln steuern“, meinte er trocken. „Oder ein paar Decksplanken opfern, um das Ruderblatt wenigstens notdürftig zu reparieren.“

„So werden wir auch gerade einen Sturm abreiten“, knurrte Old O’Flynn.

„Besser ein Risiko, als hier festzusitzen“, beharrte der Bootsmann. „Die andere Möglichkeit wäre, ins Landinnere zu marschieren, bis wir auf Bäume stoßen.“

„Und das kann ein verdammt langer Marsch werden“, ergänzte Hasard. „Aber in einen von den beiden sauren Äpfeln müssen wir beißen, da hilft nun mal nichts. Ich schlage vor, daß wir zunächst einmal die Küste erkunden und …“

Er brach ab.

Auf der Kuhl erklang erregtes Stimmengewirr. Sekunden später wurde an die Tür der Kammer geklopft, und Smoky, der Decksälteste, streckte seinen Kopf herein.

„Entschuldigung, Sir. Aber wir haben etwas entdeckt, daß du dir ansehen solltest.“

Der Seewolf war schon unterwegs.

Am Backbord-Schanzkleid der Kuhl drängten sich ein halbes Dutzend Männer und zwei kleine Gestalten, deren Gesichter einen auffallend grünlichen Farbton zeigten. In der allgemeinen Aufregung waren die Zwillinge von der wohlverdienten Strafe verschont geblieben. Aber sie litten trotzdem. Sie litten unter allen Anzeichen eines mordsmäßigen Katers, der ihnen wohl für lange Zeit die Lust austreiben würde, ihren Tee mit geklautem Rum zu würzen.

Das, was die Crew entdeckt hatte, war Hasard und Ben Brighton schon unmittelbar nach dem Abflauen des Sturms aufgefallen. Aber da war es nichts weiter als ein länglicher Umriß gewesen, genauso weiß wie die Felsen der Küste. Jetzt begann der Schnee zu schmelzen, und der längliche Auswuchs wurde zu einem Strich, der zu gerade und regelmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein.

Der Seewolf zog das Spektiv auseinander.

Eine Spiere, erkannte er.

Auf der Kuppe eines Felshügels war sie in den Boden gerammt und verkeilt worden. Graue Fetzen flatterten an ihrer Spitze, die Reste einer Art Flagge. Kein Zweifel: es war ein Zeichen, ein Signal, das jemand an der einsamen Küste aufgerichtet hatte.

Ein Signal bedeutete Menschen.

Menschen, die vielleicht Hilfe brauchten, die auf ein vorbeisegelndes Schiff hofften. Das hieß, daß sie nicht weit sein konnten. Und es hieß auch, daß sie sich in einer verzweifelten Lage befinden mußten. Denn nur nackte Verzweiflung konnte sie auf den Gedanken gebracht haben, daß in dieser gottverlassenen Gegend am Ende der Welt jemand ihr Zeichen entdecken würde.

Hasard ließ das Spektiv sinken. Seine Augen waren schmal geworden und funkelten wie das sonnenbeschienene Eis auf dem Wasser.

„Ed, Ferris“, sagte er durch die Zähne. „Setzt ein Boot aus! Wir werden uns mal ansehen, wer da seine Flagge gehißt hat.“

Ein paar Minuten später trieben kräftige Riemenschläge das Beiboot durch die Wasserrinne im schimmernden Eis.

Sie waren zu sechst: der Seewolf, Dan O’Flynn und Ben Brighton, Blacky, Ed Carberry und Ferris Tukker. Der rothaarige Schiffszimmermann trug finstere Entschlossenheit zur Schau und suchte mit den Augen die Küste ab, als könne er einen Wald herbeizaubern. Fälle von Mast- und Ruderbruch pflegte er persönlich zu übernehmen. Schließlich hatte er den Ruf, das Unmögliche in fünf Minuten zu erledigen und für Wunder nur unwesentlich länger zu brauchen. Daß er in diesem Fall bisher weder eine geniale noch überhaupt eine Idee hatte, ließ seine Stimmung frostiger werden als ein Eisberg in der Polarnacht.

Auch Ed Carberry wirkte nicht gerade optimistisch, was sich darin äußerte, daß er nur halb so viel fluchte wie gewöhnlich.

Zweimal mußten sie ihr Boot aus dem Wasser ziehen und über ausgedehnte Eisschollen transportieren, dann endlich erreichten sie die Küste. Auch hier galt es, einen Wall aus aufgetürmtem, schimmerndem Eis zu überwinden. An den schwarzen, zerklüfteten Felsen sickerte das Schmelzwasser des Schnees herunter, den der Sturm zurückgelassen hatte. Sorgfältig verkeilten die Seewölfe das Boot im Geröll und griffen nach ihren Musketen.

Mühsam in der dicken Fellkleidung und den schweren Stiefeln begannen sie, die Felsen zu erklettern.

Jenseits der Klippen dehnte sich eine karge Ebene, von einer fernen Bergkette überragt, deren Gletscher funkelnd blau in der Sonne leuchteten. Einzelne Geländefalten und kleine Hügel durchzogen das flache Land. Und überall prangten Inseln von blühendem Moos in so unglaublich intensiven Farben, als habe sich die Natur ins Zeug gelegt, um den Betrachter wenigstens während der kurzen Sommermonate für den Anblick der grauen Eiswüste und der endlosen Düsternis der Polarnacht zu entschädigen.

Nirgends war eine Spur von menschlichem Leben zu entdecken.

Nichts außer der Stange mit dem Tuchfetzen. Sie ragte ein Stück weiter östlich in den Himmel, an einer Stelle, die mit dem Boot kaum zugänglich war. Schweigend wandten sich die Männer nach links und marschierten auf den felsigen Grat zu, der sich schräg bis auf den Hügel zog.

Einmal blieben sie stehen, weil sie ein Geräusch hörten.

Ein Stein polterte, kein Zweifel. Aber das mußte nichts besagen: die Felsen arbeiteten, und es lebten Tiere in dieser Einöde. Hasard gab das Zeichen zum Weitergehen – und nach drei, vier Schritten hörten sie den Schrei.

Den Schrei eines Menschen!

Hoch, gellend, schrill vor Entsetzen.

Wieder polterten Steine. Der Schrei brach sich auf dem höchsten Punkt, wurde zu einer Kette wimmernder Laute. Ein dumpfes, urwelthaftes Brummen mischte sich hinein, und Hasard spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken rinnen.

Eisbären!

Mindestens einer von diesen zottigen Riesen! Und er griff einen Menschen an, kein Zweifel. Wieder erklang der entsetzliche Schrei, und die Seewölfe begannen zu laufen.

Hasard erreichte den Felsengrat als erster.

Noch im vollen Lauf hatte er die Muskete von der Schulter gerissen. Mit zwei, drei Sprüngen schwang er sich auf die Felsen und erfaßte mit einem einzigen Blick die Lage.

Da waren eine flache Mulde, verstreute Steinblöcke, Flechten und leuchtendes Moos. Wie Donnerrollen schien das Brüllen des Eisbären in der Luft zu zittern. Die riesige, zottige Gestalt hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet. Eine gigantische, erschreckende Größe, gegen die der Mann in der zerfetzten, blutbesudelten Fellkleidung wie eine Puppe wirkte.

Der Bär mußte ihn überrascht haben.

Die grauen Riesen konnten schnell sein, unheimlich schnell. Das Opfer hatte keine Chance zu fliehen. Ein Dolch funkelte in seiner Rechten. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte der Mann, der Bestie die Klinge in den Hals zu stoßen, doch ein blitzartiger, wuchtiger Prankenhieb schleuderte ihn wie ein Bündel Lumpen zur Seite.

Das alles spielte sich in der winzigen Zeitspanne ab, die Hasard brauchte, um mit der Muskete anzulegen.

Sein Kiefer verkrampfte sich.

Er zielte auf das rote, tückische Auge der Bestie. Donnernd entlud sich der Schuß. Der mächtige Körper des Bären erzitterte, als habe ihn der Hieb einer unsichtbaren Gigantenfaust getroffen.

Ein markerschütterndes Brüllen brach aus dem Rachen der Bestie.

Die Pranken schlugen, peitschten wild und ziellos die Luft. Blut verfärbte das zottige Fell, der zottige Leib krümmte und wand sich, drehte sich um sich selbst und sank schwerfällig zu Boden. Noch einmal lief ein Zucken durch den Körper des grauen Riesen, dann ruhte er sich nicht mehr. Dicht und lastend wie ein körperliches Gewicht schien sich die jähe Stille über das Land zu senken.

Der Mann am Boden atmete noch.

Aber Hasard ahnte bereits, daß kein Mensch dem Opfer mehr helfen konnte.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 177

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