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Kapitel 1

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Kelly Skinner

Break free

Break down

EgoLibera Edition Literatur

Impressum:

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Kelly Skinner/EgoLiberaVerlag 2018

Einbandgestaltung: Walt H. Johnson

Jede Vervielfältigung des Textes sowie von Textpassagen ist nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verlages zulässig.

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage

Printed in Germany

www.egolibera.at

Das Badewasser wird langsam kalt. Bereits zum dritten Mal lasse ich ein wenig davon den Abfluss hinunter und fülle heißes Wasser nach. Obwohl ich bereits seit mehr als einer Stunde in der Wanne liege, habe ich nicht das Bedürfnis, diese zu verlassen. Ich fühle mich im heißen, respektive sehr warmem Wasser wohl. Es hüllt mich schützend ein, als wäre ich wieder in der Gebärmutter. Hier kann mir nichts passieren. Zumindest rede ich mir das in diesen Minuten ein.

In Wahrheit bin ich so verletzlich wie auf dem Trockenen; so verletzlich wie immer. Und im Moment bin ich sehr verletzlich.

Die Fliesen sind durchgehend beschlagen und an einigen Stellen laufen bereits einzelne Tropfen die Wand entlang in Richtung Fußboden. Auch das Fenster ist blind und auf dem inneren Fensterbrett bilden sich bereits kleine Pfützen aus Kondenswasser. Auch hier laufen vereinzelt Tropfen das Glas entlang und vereinen sich mit anderen auf dem Fensterbrett. Ihre Oberfläche spiegelt sich im flackernden Licht der wenigen Kerzen, die ich entzündet habe.

Die Welt vor dem blinden Fenster ist dunkel geworden, weshalb meine Welt an der Scheibe endet. Genauso wie mein Leben an dieser Scheibe endet. Ich schließe meine Augen und tauche unter. Ich möchte nicht die Grenze meines Lebens sehen, denn sie macht mir in diesem Moment ziemlich zu schaffen. Seit einiger Zeit steht sie ständig vor mir, egal, wohin ich auch gehe. Sie ist immer da. Und ich weiß, dass es an der Zeit ist, diese Grenze zu überschreiten. Dass es eigentlich schon lange überfällig ist, die Fensterscheibe nicht nur vom Dunst zu befreien sondern das Fenster zu öffnen und hindurch zu steigen. Jenseits der Grenze neue Erfahrungen zu machen. Und doch liege ich noch in der Wanne und tauche unter.

Ganz leicht nur bewege ich meinen Körper, sodass sanfte Wellen entstehen, die mich vorsichtig schaukeln. Mein Geist löst sich in Nichts auf und ich bin nur noch. Ich spüre kein Gewicht und keine belastenden Gedanken. Mir fehlt nur noch die Nabelschnur.

Doch langsam wird die Luft knapp und ich erhebe meinen Kopf an die Oberfläche. Nur die Nase lugt über den Wasserspiegel und saugt gierig die warme, träge Luft ein. Ich atme, also lebe ich. Oder sollte ich sagen, existiere ich?

Langsam tauche ich wieder aus der Mutterbauchwelt auf und spüre den harten Rand der Badewanne. Ich lausche, doch das Haus ist vollkommen still. Nichts bewegt sich. Mein Mann Harold wird vor dem Fernseher sitzen oder die Zeitung lesen.

Kathrin ist ausgegangen und wird heute nicht mehr nach Hause kommen. Sie ist mit einer Freundin unterwegs, mit der sie sich in zwei Monaten eine kleine Wohnung teilen möchte. Dann ist auch sie weg.

Carlo ist bereits vor einem Jahr ausgezogen, als er mit seinem Magisterstudium fertig war. Er hat sofort einen gut dotierten Job bekommen und ist nun ein selbständiger Mann.

Wie schnell doch die Zeit vergeht! Vor kurzem war er noch der keine, hilfsbedürftige Junge mit dicken Windeln und einer ständig laufenden Nase. Heute, drei Tage später, ist er Jurist mit großen Plänen und umwerfendem Aussehen. Er wird schon einen guten Weg machen; davon bin ich fest überzeugt. Jedenfalls wünsche ich es ihm mit jeder Faser meines Herzens.

Kathrin war nie so ehrgeizig, hat aber die Lehre zur professionellen Fotografin abgeschlossen und hält sich mehr schlecht als recht über Wasser. Die Jungs fliegen ihr leider nicht gerade in Scharen zu, weshalb sie beschlossen hat, mit ihrer Freundin eine Wohnung zu teilen. Unser Haus, das immer für pure Lebendigkeit gestanden hat, ist in Kürze leer. Und das spüre ich bereits jetzt.

Die Dunkelheit der einbrechenden Nacht wirkt plötzlich bedrohlich und aus den zuvor heimeligen Kerzenflammen formen sich listige Augen, die mich beobachten. Sie werfen gefährliche Schatten an die Wände und das dunkle Wasser scheint mich in Abgründe ziehen zu wollen.

Beinahe panisch stehe ich auf und steige aus der Badewanne. Noch mit nassen Händen gebe ich den Deckenflutern klatschend den Befehl, den Raum zu erhellen um die listigen Augen sowie bedrohlichen Schatten zu verjagen. Jetzt ist es taghell und die dunklen Schatten haben meine Angst mit sich genommen. Erst verteilen sie Angst und wenn sie gehen, nehmen sie sie wieder mit. Sie sind ebenso wenig greifbar wie die Angst selbst und bestimmen doch in gewissem Maß unser Leben.

Im Licht fühle ich mich ein wenig verloren, weil meine Gedankenwelt jäh durchbrochen wurde. Mit dem Rücken lehne ich mich an die feuchten, kühlen Fliesen und schließe meine Augen. Nach der Hitze in der Wanne fühlt sich mein Körper nicht mehr gut an; mein Herz hämmert hektisch gegen die Rippen, mein Gesicht ist dunkelrot und ziemlich heiß. Vorsichtig spritze ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht. Die Prozedur lässt mich wieder klar im Kopf werden. Meinen Körper creme ich ohne anzusehen ein, ziehe ihn an und verlasse das Bad.

Im Raum hat sich der Dunst mit meinen Gedanken gepaart und beide möchten mit mir gehen. Doch ich schließe die Tür hinter mir und lasse beide zurück. Für heute habe ich genug nachgedacht.

Wie vermutet liegt Harold wieder einmal vor dem laufenden Fernseher und sieht sich wie immer eine langweilige Dokumentation an. Ich finde diese Serien zuweilen halbwegs interessant, aber es kommt immer auf die Dosis an. Schon Paracelsus wusste, dass allein die Dosis das Gift macht. Harold würde sich davon täglich eine Überdosis geben, würde ich nicht vehement darauf bestehen, jeden Abend einen Spielfilm anzusehen.

Doch auch von den Filmen habe ich bereits genug gesehen. Seit mehr als dreißig Jahren sehe ich beinahe täglich fern. Irgendwann reicht es und ich frage mich immer häufiger, ob wir die Zeit nicht anders verbringen könnten.

Doch wie immer sage ich nichts und setze mich. Harold sieht mich an und weiß, dass er einen anderen Sender suchen soll. Widerwillig macht er das auch. Bei Kanal siebenundachtzig frage ich ihn, ob wir nicht einmal etwas anderes machen könnten, als vor dem Fernseher zu sitzen und auf den Tod zu warten. Er sieht mich mit großen Augen an und scheint momentan sprachlos zu sein. „Wieso auf den Tod warten? Was meinst du damit?“

Offensichtlich war er von diesem Ausdruck ein wenig schockiert, was mich allerdings insgeheim amüsierte. „Na ja, wir sitzen doch täglich vor dem Fernseher und unternehmen nichts mehr anderes. Es ist an der Zeit, dass wir unser Leben wieder in die Hand nehmen und etwas daraus machen. Die Kinder sind mehr oder weniger selbst lebensfähig und somit ist unsere Aufgabe in diesem Bereich getan. Jetzt ist es so weit, wieder an uns selbst als Paar zu denken und unser Leben zu genießen.“

„Willst du damit sagen, dass du die Zeit mit den Kindern nicht genossen hast und die Erziehung nur eine Belastung für dich war? Willst du das damit sagen?“

Harolds Stimme ist etwas lauter geworden als vermutlich beabsichtigt.

„Nein, natürlich nicht. Mir war jede Minute mit euch Dreien sehr viel wert und ich habe sie auch genossen. Doch jetzt sind wir wieder auf uns gestellt und sollten unser Leben so genießen, wie wir es vor Carlo und Kathrin auch getan haben“, versuche ich in ruhigem Ton zu beschwichtigen.

„Das ist lange her“, sinniert Harold. „Mehr als vierundzwanzig Jahre.“ Nachdenklich senkt er den Kopf und starrt blicklos auf den Boden.

Wir sind bereits Mitte, nein eigentlich eher schon Ende vierzig, was so viel heißt, dass wir unseren Zenit höchstwahrscheinlich überschritten haben. Vielleicht haben wir ihn auch schon längst überschritten; wer kann das zu Lebzeiten schon sagen?

Obwohl wir uns noch relativ jung fühlen, so zeigen sich doch bereits die ersten somatischen Alterserscheinungen. Harold braucht bereits eine Brille wegen Altersweitsichtigkeit und seine immer weniger werdenden Haare glänzen bereits grau bis weißlich in der Sonne. Auch die wenigen Barthaare haben schon vor einiger Zeit eine teilweise Weißfärbung erfahren. Von weitem sieht er wie der Weihnachtsmann aus, wenn er sich drei Tage lang nicht aufraffen kann um sich zu rasieren.

An seinen Händen bilden sich bereits erste Altersflecken wie Seerosen auf einem stillen Teich und die ersten Falten haben sich auch schon lautlos in seinem Gesicht niedergelassen und beschlossen zu bleiben.

Ich färbe mein Haar seit zwei Monaten, um die ersten grauen Strähnen abzudecken. Für mich ist es keine sonderlich anregende Vorstellung, wie eine alte Eiskönigin herum zu laufen. Aber auch bei mir zeigen sich die ersten Fältchen, die zwar noch verschwinden, wenn ich sie mit den Fingern glätte, die aber doch irgendwann fix in meinem Gesicht wohnen werden.

Harold ist in Gedanken versunken und ich möchte ihn nicht stören. Insgeheim hoffe ich, dass er gerade jetzt, in diesem Augenblick, dahinter kommt, dass wir uns wieder einen gemeinsamen Lebensinhalt schaffen müssen. Bislang waren es die Kinder, doch die sind weg. Es war vorhersehbar und doch viel zu früh. Aber auch wenn sie erst gegangen wären, wenn sie sechzig oder gar siebzig gewesen wären, so wäre es noch immer zu früh für mich gewesen. Ich hätte sie gerne bis an mein Lebensende dicht um mich, aber ich lasse sie ihr Leben selbst gestalten. Ich liebe sie viel zu sehr als dass ich ihren Lebensweg bestimmen und sie an mich binden würde. Kinder sind genau genommen ein Durchlaufposten. Sie stellen das Leben der Eltern für zwanzig Jahre auf den Kopf, nehmen alles, geben viel, verursachen Chaos und sind dann wieder weg. Und zurück bleiben zwei ausgebrannte und doch erfüllte Erwachsene, die ihr Leben nun wieder neu organisieren und wertvoll machen müssen. Und genau an diesem Punkt sind wir beide nun angelangt: Harold und ich.

Drei Monate später sitzen wir abends wieder vor dem Fernseher. Kathrin hat ihr neues Zuhause gefunden und uns beiden ein leeres Zimmer hinterlassen. Geweint habe ich nur heimlich, dafür aber ziemlich heftig. Ich weine noch heute, aber in immer größeren Intervallen.

Obwohl wir beide, Harold und ich, Zeit gehabt hatten, uns von ihr und unserem Leben als Eltern zu verabschieden, hatten wir diese Zeit nicht genutzt. Und nun stehen wir da und sind nur noch ein Paar. Oder sollte ich sagen, stehe ich da und bin nur noch eine Frau, die mit einem Mann unter einem Dach lebt?

Wie schon drei Monate zuvor fühle ich mich tot. Eine lebende Leiche in einem Totenhaus. Die Monotonie des Alltags hat jedes Leben verschlungen und nicht wieder ausgespuckt. Der heutige Tag könnte der gestrige oder auch der Tag vor meinem fünfzigsten Geburtstag sein; heute bin ich vierundvierzig, aber eigentlich schon toter als Tutenchamun.

Um mich aus der Realität zu nehmen, ziehe mich wieder in meine künstliche Gebärmutter zurück und lasse meine Gedanken durch das zuckende Licht der Kerzen schweifen.

Ich liebe Harold, keine Frage. Aber ich brauche mehr als er und mehr als er mir geben kann. Mein Geist schreit nach einer Herausforderung der Extraklasse, nach ausschweifendem Sex, nach Abenteuer, Gefahren und Grenzgängen.

Harold spielt mit seinem Freund Minigolf.

Wir sind nun schon so lange ein Paar und ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Er ist intelligent, zuverlässig, treu, herzlich, wortwitzig, fleißig und stinklangweilig. Ich habe ihm das schon mehrmals gesagt. Direkt ins Gesicht. „Das weiß ich“, war stets seine Antwort. „So bin ich eben und so war ich auch schon immer. Ich war nie anders.“

Und genau deshalb habe ich keine Hoffnung, dass sich unser gemeinsames Leben noch großartig ändert. Entweder werde ich mich ändern oder weiterhin tot sein müssen bis ich sterbe.

Langsam versinke ich wieder im heißen Wasser, fühle mich körperlich leicht, gedanklich schwer. Nein, denke ich, so kann ich nicht leben. Oder doch, ja, ich kann so leben, aber ich will es nicht. In mir steckt noch zu viel Energie, die hinaus muss.

Ganz vorsichtig hebe ich meinen Kopf an und lasse nur das Gesicht aus dem Wasser ragen. Die Kühle der Luft tut gut und ich lächle. Mein Gesicht ist mein Leben, das an der Oberfläche treibt. Mein Körper ist die Sehnsucht, die noch verborgen unter der Oberfläche wartet. Käme jetzt die Titanic, würde sie ebenso auf Grund laufen wie vor mehr als hundert Jahren. Ich würde kein Stück zur Seite rücken.

Doch was nützen mir all meine Sehnsüchte, Wünsche und Träume, wenn ich sie nicht verwirklichen kann? Sie quälen mich nur und machen mich depressiv.

Nach dem Bad befülle ich ein großes Tablett mit beinahe dem gesamten Inhalt des Kühlschranks. Jetzt brauche ich eine dicke Decke, die meinen Hunger nach Leben gut und zuverlässig abdeckt. Dass dieser Trick funktioniert, habe ich schon früh gelernt. Meine Mutter konnte mich nicht besonders leiden, weshalb sie mich ständig tadelte. Ich bot ihr viel mehr als ich leisten konnte, legte all meine Kraft hinein und doch erreichte ich sie nie.

Und bei jedem Misserfolg nagte ein dicker, böser Biber in meinem kleinen Bauch. Es schmerzte, wenn er seine langen Zähne in meine kindliche Seele schlug und diese aufzusplittern drohte. Doch wenn ich ihn fütterte, gab er recht bald Ruhe. Dann fraß er sich an bitterer Kochschokolade, den Mayonnaisesemmeln, Backerbsen und all dem ganzen Zeug voll, das ich irgendwo stibitzen konnte. Nicht selten nahm ich dafür den langen Weg zu meiner Tante auf mich, die stets eine Schüssel voll Süßigkeiten im zweiten unteren Küchenkasten rechts gleich beim Eingang vorrätig hatte.

Ich war immer ein etwas pummeliges Kind, aber während meiner Ehe mit Harold habe ich so richtig zugelegt. Seiner Inaktivität habe ich es zu verdanken, dass ich heute Größe Zweimannzelt trage. Vermutlich war es unter anderem auch der seltene Sex, den wir hatten. Immer wieder hatte ich versucht, ihn zu motivieren, aber er ließ sich nicht mitreißen. Für ihn war Sex einfach nicht notwendig, weshalb er ihn mit fünfunddreißig dann völlig einstellte. Pech gehabt, o du mein holdes Weib! Mitgefangen, mitgehangen!

Der fehlende Sex macht mir mittlerweile so richtig zu schaffen. Ich laufe nur noch wie betäubt und völlig unrund herum und versuche, meine Qual mit Essen zu bekämpfen. Berührungen sind doch ein Grundbedürfnis jedes Menschen und deshalb verstehe ich nicht, weshalb er mich nicht mehr berühren möchte.

Ja, natürlich, wir haben endlose Gespräche geführt und wir waren sogar bei einem Paartherapeuten. Das war vor drei Jahren. Große Versprechungen kamen da von seiner Seite, aber keine einzige hat er umgesetzt. Und ich glaube, er wird sie auch nicht mehr umsetzen.

Essen ist der Sex des Alters, sagt man, aber ich frage mich, ob man mit fünfunddreißig wirklich schon alt ist. Mein Mann vielleicht schon. Ja.

Aber ich fühle mich noch ziemlich lebendig und könnte zeitweise vor Energie und Tatendrang platzen. Doch im Endeffekt platze ich nur aus den Nähten, weil ich meinen Schmerz unter vielen Schichten kalorienreicher Nahrung verstecke. Anstatt etwas in meinem Leben zu ändern, heule ich nur noch und fresse mich dämlich. Ich bin schon eine wahre Heldin!

Während der letzten Zeit sitze ich immer häufiger herum und denke nach, ob ich mutig genug bin, meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ob ich mein sexuelles Glück finden, meinen Hunger nach Leben mit einem anderen Mann stillen könnte.

Ich fühle mich in meiner Haut gar nicht mehr wohl und hasse meinen überfetten Körper, den ich mühsam durch die Gegend schleppe. Ein Blick in den Spiegel versaut mir die nächsten drei Tage meines Lebens. Du bist eine fette Sau, hatte meine Mutter schon in frühen Jahren zu mir gesagt und sie hatte Recht. Wie Recht sie hatte, zeigt mir mein Spiegelbild. Und ich hasse es.

Ein halbes Jahr später sitzt Harold noch immer vor dem Fernseher, ich daneben. Wir sind noch immer tot, aber nicht begraben. Mittlerweile hasse ich jede seiner ungelenken Bewegungen, seine Stimme, seine Atmung. Er hat mir mein Leben genommen, mich fett werden lassen, mir meine Ausbildung vermiest.

Als wir einander kennen lernten, war ich auf dem besten Weg, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Eine Prüfung fehlte mir noch, dann hätte ich meine Matura nachgeholt und das Studium begonnen. Doch dann trat er in mein Leben. Er wollte eine Familie, weil er sicher war, dass ich die Liebe seines Lebens bin. Und er wollte sie schnell. Also stellte ich meine Pläne in die Ecke, verlor sie aber nicht aus den Augen.

Doch nach der Geburt Carlos’ musste ich sie in den Keller bringen; vorerst nur, bis der quirlige, laute Kleine nicht mehr meine alleinige, uneingeschränkte Aufmerksamkeit brauchte. Doch kaum war Carlos auf den Beinen, drängte Harold nach einem zweiten Kind. Damit wir es gleich hinter uns hätten, meinte er. Da nahm ich meine Pläne und trug sie ins Gartenhaus, wo ich sie fest einschloss und bald nicht mehr nach ihnen sah. Nur hin und wieder drängten sie sich leise in meine Gedanken, winkten mir freudig zu und lockten mich nach draußen. Doch Katharina, Carlos, der Haushalt, der Garten und Harold hielten mich fest. Sie hingen so schwer an mir, dass ich kaum einen Schritt in die Nähe des Gartenhäuschens setzen konnte.

Und deshalb blieben meine Pläne dort, bis sie vom Zahn der Zeit zernagt waren. Heute ist nur noch eine Handvoll Staub davon übrig; eine verblasste Erinnerung an eine hoffnungsvolle Zukunft.

Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, haben mich mein Mann und meine Kinder mehr als zwanzig Jahre meines Lebens gekostet, während der ich nur für sie da war. Ich habe gekocht, gewaschen, geputzt, mich mit Lehrern und anderen Müttern gestritten, habe Taxi gespielt, den Garten und den Hund versorgt, mich selbst vom Leben ab- und die Schwiegermutter bei Laune gehalten.

Ziehe ich diese Bilanz, werde ich ziemlich ärgerlich. Niemand kann mir all diese Jahre zurückgeben. Und das Schlimmste daran ist, dass ich nicht bemerkt habe, was ich mache. Ich habe einfach funktioniert, bin wie ein Hamster im Rad gelaufen, schön brav, ohne Unterbrechung, ohne ein Ziel anzusteuern. Ich war so naiv, so dumm, so unendlich kurzsichtig. Und heute muss ich die Rechnung dafür tragen.

Ja, ich bin alt und fett geworden, aber ich kann es ändern. Ich muss die Rechnung tragen, das stimmt, aber ich kann auch mit knapp fünfundvierzig Jahren ein neues Leben beginnen, das meinen Wünschen und Vorstellungen entspricht. Mein Groll drängt mich und sagt mir, ich solle es tun. Jetzt!

Doch wie üblich bleibe ich. Meine Feigheit kettet mich an dieses Leben, mein Herz zerrt mich in ein anderes. Diesen Schmerz werde ich nicht mehr lange ertragen können, doch noch bin ich nicht an meinem persönlichen Tiefpunkt angelangt.

Die Tage ziehen ins Land, Wochen und Monate folgen einander lautlos und beinahe unbemerkt. Noch immer bin ich tot, aber auch noch nicht gestorben. Dennoch legt sich dieses Wissen wie ein Mantel um mich und drückt mich zu Boden. Ich bin schwer geworden und werde immer schwerer, kann kaum noch laufen und jede Bewegung stellt beinahe eine Überwindung dar.

Wie jeden Abend ist mir vor dem Fernseher langweilig. Der Film ist miserabel und ich greife zu den Prospekten, die Harold aus dem Briefkasten geholt hat. Die übergroße Möbelwerbung interessiert mich so wenig wie der Baukatalog; beides lege ich sofort zum Stoß mit dem Altpapier.

Doch dann greife ich zu einem recht dicken Reiseprospekt. Blaues Meer und weißer Sandstrand lächeln mir einladend entgegen. Ja, dort wäre ich jetzt gerne. Der Preis ist auch ganz annehmbar.

Rasch überfliege ich die Leistungen. „Du, das wäre doch ein Urlaub für uns!“, erzähle ich Harold mit viel Begeisterung. „Ein Flug nach Ägypten, danach wären wir sieben Tage auf einem Kreuzfahrtschiff den Nil entlang unterwegs und dann eine Woche Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Hotel am Strand. All inclusive. Und das ganze noch dazu Anfang Dezember. Da ist es nicht so heiß. Da wäre ich gerne dabei!“

Erwartungsvoll sehe ich ihn an. Wortlos streckt er mir seine offene Hand entgegen und ich lege den Prospekt hinein. Er liest aufmerksam, dann schüttelt er den Kopf. „Eine Woche auf einem Schiff ist nichts für mich. Und dann eine Woche in einem öden Club auch nicht. Außerdem waren dort erst Anschläge. Das ist ja viel zu gefährlich, das machen wir nicht.“

„Der Anschlag war in Tunesien und nicht in Ägypten“, verteidige ich die Reise mit Vehemenz. „Außerdem können überall auf der Welt Anschläge verübt werden. In der U-Bahn von Tokio gab es einmal einen Giftgasangriff, in einer der Londoner U-Bahnen ein Bombenattentat und in Paris einen Amoklauf. Man kann überall in eine solche Misere geraten. Da dürftest du nirgends hinfahren.“

„Wir haben es doch hier gemütlich. Den ganzen Stress mit dem Verreisen will ich mir nicht mehr antun. Wir haben’s hier doch gut, oder?“

Tränen der Wut steigen blitzschnell in meinen Augen auf, doch ich lasse nicht zu, dass sie über meine Wangen laufen. Ich blinzle sie weg und koche nur innerlich. Einen Streit anzufangen ist sinnlos. Es ist an der Zeit, mich von diesem Haus, meinem Mann und meinem alten Leben zu verabschieden.

Um mich abzulenken blättere ich weiter durch jene Urlaubsdestinationen, die ich mit Harold nicht bereisen werde. Aber ganz bestimmt mit jemand anderem. Mit einem anderen Mann, der nicht langweilig, nicht ängstlich, nicht tot ist. Mit einem Mann, dessen Herz noch schlägt. Bald!

Um meinen dumpfen Groll im Zaum zu halten, bedecke ich ihn mit einer Packung Chips. Eigentlich mag ich das salzige Zeug nicht, aber es lässt sich unbemerkt neben dem Fernsehen vertilgen. Das ließen sich freilich Karottenstücke auch, aber es wäre nicht der gleiche Effekt. Die fettigen Chips nämlich dämpfen mein Bewusstsein und halten mich ruhig. Genau das brauche ich jetzt. Eine schöne Portion Beruhigung zu neunhundert Kalorien. Und eine Portion Kirschkuchen zum Stillen der sexuellen Gelüste.

Wir haben schon seit Jahren keinen Sex mehr, obwohl ich darunter leide. Harold meint immer, er habe seine Libido verloren und er lebe ganz gut ohne Sex. Auf die Frage, was mit mir sei, stellt er immer die gleiche Gegenfrage: „Soll ich mich dazu zwingen, mit dir zu schlafen?“ Das ist ein Totschlagargument; sein Totschlagargument. Und das ist der Grund, weshalb ich nur noch selten etwas sage. Es ist genauso sinnlos wie mein Leben.

Das Leben erwacht am Morgen, doch wir leben in ewiger Dunkelheit. Der Wecker schrillt, wir gehen jeder unserer Arbeit nach, danach treffen wir einander im Haus wieder. Der Weg zur Arbeit ist Routine, die Arbeit selbst ist Routine, der Weg nach Hause ist Routine, das Zusammenleben mit Harold ist Routine. Es gibt nichts mehr, das sich aus der Monotonie hervorhebt. Denn selbst meine Gewichtszunahme ist zur Routine geworden; ebenfalls zu einer schmerzlichen.

In den vergangenen zehn Jahren hatten wir so gut wie keinen ehelichen Sex. Vier Jahre absolut keinen und dann vielleicht alle zwei Monate. Und wenn wir Sex hatten, dann wie zwei Teenager. Er dauerte nie lange, war immer gleich und absolut nicht, was ich wollte, mir vorstellte und vor allem brauchte. Doch jeder noch so kleine Hinweis darauf wurde von meinem Mann als tonnenschwere Kritik aufgefasst und er zog sich sofort wieder für viele Monate zurück. Ich hatte also die Wahl zwischen ziemlich schlechtem, völlig unbefriedigendem oder gar keinem Sex.

Als ich mich wieder einmal darüber beschwerte, meinte er mit besorgter Miene:

„Vielleicht solltest du ein paar Therapiestunden bei einem Psychotherapeuten oder einer Psychologin nehmen, um mit deinem Leben fertig zu werden. Und gegen die Depression solltest du dir vom Hausarzt Tabletten verschreiben lassen. Denn wenn es dir so schlecht geht, kannst du nicht an deinen sexuellen Problemen arbeiten. Ich kann sie nicht ändern, also musst du zusehen, dass du mit dieser Situation zurechtkommst.“

Diese Worte klingen nach wie vor in mir und rufen stets nur pures Unverständnis hervor. Ich sollte mich für eine biologisch völlig natürliche Reaktion meines Körpers medikamentös sowie psychotherapeutisch behandeln lassen? Ich nehme an, er wollte mit einer solchen Aussage nur die Verantwortung auf mich abwälzen, sodass er an sich nichts zu ändern brauchte. Eine sehr billige Methode, die jedoch nicht akzeptabel ist; zumindest nicht für mich.

Als ich morgens aus dem Haus gehe, ahne ich nicht, dass es der Tag der Entscheidung sein würde. Ich erledige meine Arbeiten routinemäßig, komme routinemäßig nach Hause und setze mich vor den Fernseher. Routinemäßig mit einer Ladung an Süßigkeiten, wie nur der Nikolaus in seinem Sack hat. Der Film läuft, ich registriere nicht, was ich wahllos in mich hineinstopfe und lenke mich so von meinem Leben ab.

Harold hat sein gekühltes Bier neben sich stehen, die Beine auf dem zerschlissenen Hocker. Genüsslich rülpst er nach einem Schluck Bier und öffnet seine Hose, die ihm mittlerweile auch schon wieder zu eng geworden ist. Keine Bewegung, kalorienreiches Essen, Bier. Irgendwann zeigt sich diese Dreierkombination auf dem Bauch und rund um die Hüften. Ich kann ein Lied davon singen, auch wenn ich kein Bier trinke.

Verstohlen sehe ich ihn von der Seite an. Mit krummem Rücken und eingezogenem Nacken starrt er in den Fernseher. Als ob sich dort unser Leben abspielen würde. Früher hätte er sich ohne Vorwarnung vor mich hingekniet, meine Schenkel gespreizt und seinen Kopf unter meinem Rock verschwinden lassen. Heute denkt er nicht im Traum daran, so etwas zu machen.

Ein erneuter Rülpser, leise zwar, aber doch einer, lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Noch immer in den Fernseher starrend packt er mit Daumen und Zeigefinger ein Nasenhaar und reißt es mit viel Kraft aus. Dann beäugt er es und wirft es auf den Boden.

Ich komme nicht einmal dazu, mein Gesicht so richtig zu verziehen, da hat er auch schon das nächste Nasenhaar gepackt und zerrt daran. Es wird ebenso genau begutachtet, ehe es fallengelassen wird.

„Muss das wirklich sein?“, frage ich angeekelt und wende mich demonstrativ ab.

„Soll ich mir die Büscheln aus der Nase wachsen lassen?“, fragt er ungeniert und fingert an den Augenbrauen herum. Ich sehe nur, dass er seinen Daumen und seinen Zeigefinger aufeinander gelegt hat und sie rund einen Zentimeter von seiner Stirn weg hält. „Da schau her, wie lang die schon sind! Bald kann ich Breschnew Konkurrenz machen. Und die Nasenhaare werden ebenso lang.“

Wenn er noch länger von diesem Thema spricht, wird mir mit Garantie übel und ich vertiefe mich in den Film, obwohl ich die Handlung nicht mitverfolgt habe. Ich war irgendwo in irgendwelchen Träumen verfangen gewesen. Ach ja, ich dachte an die sexuellen Überraschungen, die er mir vor langer Zeit geboten hatte und jetzt nicht mehr bietet.

Stattdessen sehe ich ihm zu, wie er sich einzelne Nasenhaare und die Augenbrauen ausreißt. In diesem Moment fällt eine dicke, graue Wolke auf mich, dringt in mich ein und erfüllt mich mit Hass, Wut und Zorn.

Ich möchte ihn anschreien, ihm die Bierflasche in den Hals rammen, ihm damit den Schädel einschlagen, ihm damit die Halsschlagadern aufschlitzen, ihn mit meinem fetten Arsch ersticken.

In mir bricht ein Vulkan aus, der in meinem Bauch brodelt und heiße Fontänen ausspeit. Ich schäume vor Wut und muss mich sehr beherrschen, meine Vorstellungen nicht in die Tat umzusetzen.

Immer schneller wandern unzählige, völlig wertlose Kalorien durch meinen Mund in den Magen. Sie versuchen, den Vulkan zum Erlöschen zu bringen, doch dieses Mal sind auch sie gegen den pulsierenden Lavastrom absolut machtlos.

„Wenn du nur einmal so viel Interesse für Sex und unsere Ehe aufbringen würdest wie für die blöden Filme, wäre ich weit weniger frustriert. Aber für dich zählen ja nur die blöden Filme und dein Bier. Wie ein echter Prolet!“

Und während ich vom Sofa aufspringe und wutschnaubend aus dem Wohnzimmer stapfe, brülle ich noch ein „Du bist schon längst tot und hältst mich in einem Sarg gefangen!“ über die Schulter. Dann knallt eine Tür, die Schlafzimmertür.

Ich habe das Gefühl, als würde ich explodieren oder ersticken und keine Chance haben, diesen Zustand jemals wieder beheben zu können. Lauthals fluche ich in den leeren Raum, gebe wüste Schimpfworte von mir und schleudere kurzerhand alles, das ich erwische, an die Wand.

Doch meine Wut will nicht sterben. Immer wieder bäumt sie sich auf, lässt ihre Flammen listig auflodern und kocht so lange in mir, bis schäumende Aggression aus mir bricht.

Ich stoße einige Schreie aus, die einem verwundeten Raubtier ähneln; mit Menschlichem haben sie nichts mehr zu tun.

Und ich bin auch verletzt, zutiefst verletzt. Dieser Mann dort draußen hat mir nämlich meine Seele zerfetzt. Er hat mir mein Leben gestohlen und mich lebendig begraben. Ich habe ein Recht darauf, meinen Schmerz aus mir heraus zu brüllen.

Schnaubend wie ein altes Rennpferd in der Zielgerade stapfe ich in die Küche, werfe wahllos Knabbergebäck, Kuchen, Kekse, eine Flasche Limonade und noch einiges an Süßkram in meinen biederen Einkaufskorb, rufe Harold noch ein sehr hässliches „Leck’ mich doch!“ ins Wohnzimmer zu und lasse die Haustüre hinter mir so laut zuknallen, dass die Fenster zittern und klirren. Vermutlich auch noch jene der umliegenden Nachbarschaft.

Der Einkaufskorb landet schwungvoll auf dem Beifahrersitz und ich hinter dem Lenkrad. Der Wagen ächzt, als ich mich mit voller Wucht in ihn fallen lasse. Dann röhrt der Motor auf, als wäre er ein Formel 1 Bolide – und trotzdem bleibt er ein kleiner Mittelklassewagen.

Unser Schrebergarten liegt nur eine halbe Stunde Fahrzeit von unserem Haus entfernt. An diesem Abend schaffe ich die Strecke allerdings in knapp zwanzig Minuten. Mich interessieren keine Stopptafeln und keine Geschwindigkeitsbegrenzungen; ich will einfach nur in kürzester Zeit eine gewisse Distanz zwischen mich und dem Sarg, in dem Harold hockt und sich die Nasenhaare ausreißt, bringen. Sogar den Schnellimbiss mit den riesigen Langos, die man selbst mit Knoblauchöl bestreichen kann, lasse ich an mit vorbeiziehen. Die drei Minuten, die der Verkäufer braucht, um eines der herrlich fettigen Teigräder zu backen, könnte ich nicht an einem Platz verharren. Eine enorme Kraft treibt mich vorwärts, weg von meinem alten Leben, von meiner Starre, meiner Leblosigkeit, von meiner Sexlosigkeit, von meiner Routine.

Der Schrebergarten liegt im Dunklen, aber das Mondlicht reicht aus damit ich mit dem Schlüssel ins Schloss und den Weg zur Hütte finde. Ganz wohl fühle ich mich allein in der Finsternis nicht und ich drehe rasch die Außenbeleuchtung auf. Der kleine Garten wird kugelförmig in sanftes Licht getaucht. Rasch untersuche ich die Umgebung auf Räuber, Diebe und Mörder. Erleichtert stelle ich fest, dass ich alleine bin. Die Dunkelheit treibt stets ihre illustren Spielchen mit uns.

Bedächtig sehe ich mich in dem leicht muffigen, kleinen Häuschen um. Es ist alles vorhanden, was ich für diese eine Nacht brauche. Eine ausziehbare Couch, ein Fernseher, ein Badezimmer mit Dusche ohne Wanne und ein Kühlschrank. Mit einem Lächeln stelle ich den Einkaufskorb gleich neben der Couch ab und ziehe sie aus. Selbst ein Polster und eine Decke befinden sich in der Lade; sehr gut!

Ich schließe die Jalousien, lasse das Licht vor dem Häuschen brennen und ziehe mich aus. Völlig nackt lege ich mich vor den Fernseher, greife mir die Packung mit den Kuchenstücken und zappe mich durch die Programme. Ein herrliches Gefühl, nur für mich sein zu können! Und nackt vor dem Fernseher liegen zu können. Daheim wäre mir das nicht in den Sinn gekommen. Das wäre mit den Kindern nicht möglich gewesen und auch vor Harold wollte ich mich in letzter Zeit nicht mehr so ungeniert zeigen. Immerhin habe ich ordentlich an Gewicht zugelegt, seitdem ich mit ihm liiert bin. Und da wir seit längerem schon keinen Sex mehr miteinander hatten, schäme ich mich doch ein wenig vor ihm. Er hat mich lange nicht nackt gesehen und würde sich vermutlich nicht gerade von mir angezogen fühlen. Dass Scham innerhalb einer Familie vorkommt, hätte ich nicht gedacht.

Ich sehe meinen Körper an und werde in der gleichen Sekunde wütend. Er ist absolut hässlich und ich sollte mich nicht wundern, dass Harold die Lust auf Sex mit mir vollends vergangen ist.

Schuld daran, dass ich so fett geworden bin, ist er und nur er! Denn er war es, der mir immer gesagt hat, ich solle mich wegen meines Gewichts nicht stressen, nicht unbedingt Crash-Kuren machen um schlank zu werden. Natürlich habe ich das gerne gehört und mich nicht diszipliniert sondern habe munter darauf losgefuttert, weil ich Unterstützung hatte. Wer würde das nicht tun? Er war mir in diesem Punkt absolut keine Hilfe und auch kein Korrektiv, aber das habe ich die ganzen Jahre über nicht erkannt. Ob er es vielleicht sogar absichtlich gemacht hat? Möglich wäre es.

Und der Grund, weshalb ich ständig so viel gegessen habe, war ohnehin nur er. Denn er hat mir mein Leben völlig versaut. Seinetwegen habe ich so vieles versäumt, so vieles unterlassen, das mir ein Anliegen gewesen wäre. Diesen Frust habe ich dann mit Essen bekämpft. Wie blöd und naiv ich doch all die Jahre über war!

Erneut greife ich nach einem Stück Kuchen und stecke ihn in den Mund. Es ist herrlich saftig, weich und süß. Ich genieße es und nehme mir mehr davon. Ich brauche das Dolce Vita, nur ein kleines bisschen Süße in meinem Leben anstatt der ewigen Routine und Fadesse.

Aber ab sofort wird mein Leben so süß wie dieses Stück Kuchen sein, beschließe ich und sehe mir befriedigt den Film im Fernsehen zu Ende an. Gleich morgen früh werde ich einen Plan ausarbeiten, wie ich mein neues Leben gestalten werde!

Die Nacht verbringe ich zum Großteil wach. Die Couch ist sehr unbequem, aber die einzige Alternative neben dem Autositz zum Ehebett.

Ich denke an Harold, wie er jetzt im Bett liegt und leicht vor sich hinschnarcht. An seinen von der Decke überhitzten Körper, an den ich mich während der letzten Jahre nicht mehr kuscheln wollte. Sehr häufig hatte ich das Bedürfnis nach Nähe und kuscheln, aber diese Hitze hielt mich stets ab; sie war schlichtweg unangenehm.

Warum, denke ich, warum war ich nur so blöd und habe jahrelang in dieser Ehe ausgeharrt, obwohl ich genau wusste, dass sie nur weiterhin Frust und Verzicht für mich bereithalten würde?

Immer wieder hatte ich im Lauf der Jahre darüber nachgedacht, mich scheiden zu lassen um ein neues Leben zu beginnen. Doch diese Gedanken haben sich immer wieder verflüchtigt und für viele Monate gut versteckt im Hintergrund gehalten. Das Aufbegehren folgte keinem Rhythmus, trat aber immer wieder an die Oberfläche des Bewusstseins, zeigte sich in Unmut, Unzufriedenheit und Frustration. Und gerade dann, wenn ich alles hinschmeißen wollte, war es nötig, mit Harold eng zusammen zu arbeiten.

Da waren die unzähligen Geburtstage der Familienmitglieder, dann die Schulaufführung eines unserer Kinder, die eine oder andere Krankheit, der schmerzliche Tod eines Nahestehenden, das große Hochwasser, Ängste, Sorgen und Nöte. Während dieser Turbulenzen zeigten wir uns als kongeniales Team, als ein Paar, das gemeinsam Probleme anpackt und bewältigt.

Während dieser Zeiten fiel auch nicht ins Gewicht, dass wir keinen Sex oder nur sehr wenig davon hatten. Wir waren mit der Problembewältigung beschäftigt, so fixiert, dass wir streckenweise auch gar nicht daran dachten. Komisch, denke ich heute. Mit gutem Sex hätten wir so manche Situation zwar nicht ändern, aber dafür unsere Emotionen deutlich entschärfen können. Wir wären ausgeglichener und etwas entspannter an die Probleme herangetreten.

Ja, das hätten wir machen sollen. Oder nein. Ich hätte es machen sollen. Ich hätte vermutlich auf zumindest gelegentlichen Sex bestehen müssen, auch wenn er nicht wollte oder konnte. Eine orale Befriedigung des Partners ist immer möglich. Selbst dann, wenn man selbst keine Lust auf Sex oder den Kopf voll hat.

Doch beinahe im gleichen Moment fällt mir ein, dass ich solche Versuche durchaus unternommen hatte, jedoch kläglich am Unwillen Harolds gescheitert bin. Zumeist wurde er dann verbal grob und ließ mich wissen, dass ich eine Schlampe sei, die nur an Sex denkt. Zwar nicht so direkt, aber es ist so bei mir angekommen. Ob er es so gemeint hatte, weiß ich natürlich nicht. Allerdings hat es mich immer ziemlich tief verletzt. Anstatt Spaß und Entspannung zu bekommen, wurde ich beschimpft, gedemütigt und trotzdem nicht befriedigt. Und das in Situationen, in denen es mir ohnehin nicht wirklich rosig ergangen war.

In diesem Moment flammen erneut die wohlbekannte Wut und der Zorn in mir gegen meinen Mann in mir auf. Mit einem Ruck setze ich mich auf und taste hastig nach dem Lichtschalter. Die matte Lampe taucht den kleinen Raum in diffuses Licht und platziert rings um mich Schatten. Nirgendwo sitzen Monster, wie in meiner Kindheit, aber dennoch ist es ein wenig gruselig. Ich bin es nicht gewohnt, eine ganze Nacht alleine in einem Haus zu verbringen. Und noch dazu weitab jeder Zivilisation. Immerhin ist unser kleiner Schrebergarten gut und gern mehr zwei Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt.

Trotz allem bin ich fest entschlossen, an diesem Abend nicht mehr nach Hause zu fahren. Es ist an der Zeit, meine Gedanken zu ordnen, mir einen Plan für mein restliches Leben zurecht zu legen und mich zu verändern. Der tote Harold hat darin keinen Platz mehr; vielleicht noch als Freund. Als platonischer Freund, wohlgemerkt! Mal sehen.

Beinahe im gleichen Moment muss ich laut auflachen. Harold ist doch schon seit Jahren mein platonischer Freund, auch wenn wir uns immer vor uns selbst und vor den anderen als Ehepaar ausgegeben hatten. Wenn ich den Jahresschnitt ausrechne, komme ich vermutlich nicht über vier bis sechs Mal Sex. Das ist bei zweiundfünfzig Wochen ein Durchschnitt von dreizehn, beziehungsweise neun Wochen. Also in jedem Fall vergehen stets zwei Monate zwischen den einzelnen Luststunden.

Und jetzt muss ich wieder laut auflachen. Stunden…! Das Ganze war zumeist innerhalb von zwanzig Minuten abgehandelt, inklusive Vor- und Nachspiel.

„Herrgott!“, schimpfe ich laut und angle nach dem Kuchen. Da gibt’s im Altersheim vermutlich mehr Sex als es bei uns gegeben hat, seitdem wir fünfunddreißig waren. Wie viel an wertvoller Zeit ich doch mit diesem Mann verschwendet habe!

Mit leichtem Kopfschütteln öffne ich den Mund und stecke das zweite Kuchenstück hinein. Dass ich das Erste schon verputzt hatte, war mir nicht aufgefallen. Aber ich trauere ihm nicht nach sondern nehme auch noch das letzte aus der Packung. Ob diese Kuchenstücke nur gut oder vorzüglich oder vielleicht mittelmäßig waren, kann ich nicht sagen. Den Geschmack habe ich nämlich nicht wahrgenommen; viel zu groß war der Ärger über mein vergeudetes Leben.

Aber das wird sich ab sofort ändern, denke ich wütend und greife ohne es zu merken nach dem Karton mit Knabbergebäck.

In meinem Bauch brodelt erneut der altbekannte Vulkan, den es zu löschen gilt. Und den Brezeln, Muscheln und Flips gelingt das auch recht gut, ihnen kann ich absolut vertrauen, denn sie haben mich noch nie im Stich gelassen oder enttäuscht. Sie sind eine fixe Größe in meinem bisherigen Leben. Aber auch das soll und wird sich ändern, weil ich sie nicht mehr allzu lange brauchen werde. Mein Leben wird eine überaus positive Wendung nehmen und ich werde meine alten Freunde verabschieden können. Vielleicht verabschieden sie sich unbemerkt von alleine, wer weiß! Im Moment halte ich alles für möglich.

Nach rund zwanzig Minuten ist auch die Packung Salzgebäck leer, mein Magen voll und ich bin schläfrig. Sofort lösche ich das Licht und schlafe bis zum Morgen ohne jegliche Unterbrechung durch.

Gleich nach dem Aufwachen sehe ich auf mein Handy. Es ist kurz vor sechs Uhr, Zeit, um aufzustehen und zur Arbeit zu fahren. Doch zuvor muss ich noch nach Hause, frische Wäsche holen und mich duschen. Aber ich möchte Harold nicht über den Weg laufen. Dieser verdammte Scheißkerl hat nicht ein einziges Mal angerufen oder eine SMS geschickt. Scheinbar macht er sich keine Sorgen um mich. Was geht in diesem kalten Menschen eigentlich vor sich? Ich wäre krank vor Sorge, aber er macht sich offensichtlich keine Gedanken.

Erneut keimt Wut in mir auf und ich springe aus dem Bett. „Du wirst es noch bitter bereuen!“, rufe ich ihm zu, bin mir jedoch gleichzeitig bewusst, dass meine Stimme nicht über unser Grundstück hinweg reicht. Vermutlich nicht einmal durch die Mauern hindurch dringt.

Break free - Break down

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