Читать книгу The One Eyed Bandits - Kendra Li - Страница 4
2.Kapitel
Оглавление„Und, wie war`s?“ fragt Lillian gespannt. Jade schlägt die Tür ihres Spindes zu und sieht ihre Freundin direkt an.
„Wie war was?“
„Na, Jeff und du.“ Ihre Freundin verdreht die Augen. „Was soll ich denn sonst meinen?“
Jade schüttelt lachend den Kopf. „Wie es mir geht interessiert dich wohl gar nicht, was?“
„Ich sehe ja, dass du lebst und atmest. Muss ich mehr wissen?“
„Entschuldige, aber ich weiß noch immer nicht so genau worauf du hinaus willst.“
„Oh Mann.“ Lil wirft in einer ungeduldigen Geste die Haare über ihre Schulter. „Du bist manchmal echt schwer von Begriff. Hat Jeff dich geküsst?“
„Mich geküsst?“
„Na zum Abschied.“ Lil betrachtet ihre Freundin prüfend. Dann macht sie ein enttäuschtes Gesicht. „Nein, hat er nicht,“ seufzt sie traurig.
„Nein,“ bestätigt Jade leise lachend. „Wie kommst du denn darauf?“
„Wie ich darauf komme?“ Lil gibt vor ernsthaft darüber nachzudenken. „Lass mal überlegen. Der Kerl ist jetzt schon seit über vier Jahren in dich verknallt und zum ersten Mal kommt er dazu, dich nach Hause zu fahren. Was schlussfolgere ich also daraus?“ Sie guckt ihre Freundin herausfordernd an. „Hallo? Erde an Jade.“
„Du spinnst,“ lacht Jade und setzt sich langsam mit einem Stapel Bücher unter dem Arm in Bewegung. Lillian bemüht sich mit ihr Schritt zu halten.
„Und...hat er es denn wenigstens versucht?“
„Du gibst wohl nie auf, was?“ ruft Jade amüsiert über ihre Schulter.
„Naja...also...nein. Und ich geb`s ganz offen zu.“
Jade bleibt vor dem Klassenzimmer stehen und wendet sich lächelnd ihrer Freundin zu. „Falls es dich beruhigt, er hat es versucht.“
„Gott sei Dank,“ stöhnt Lil jetzt ganz beruhigt. „Die Ordnung ist wieder hergestellt.“
Jade verschwindet grinsend durch die Tür.
„Hey.....Warte mal!“ ruft Lillian ihr hinterher. „Was soll das heißen, er hat es versucht? Nur versucht?“
„Mann, wie langweilig,“ stöhnt Lillian nach dem Unterricht und schüttelt ihre blonden Locken.
„Ja, der Vortrag war mal wieder knochentrocken,“ bestätigt Jade seufzend.
„Das meine ich nicht.“
„Was denn dann?“
„Na, dass ihr euch nicht geküsst habt.“
„Ach das.“ Jade zuckt gleichgültig die Achseln. Während des Unterrichts haben sie sich gegenseitig unter dem Tisch sms geschrieben. So hat Lillian schnell in Erfahrung bringen können, was letzte Nacht zwischen Jade und Jeff passiert ist. Oder wohl eher, was nicht passiert ist.
„Soll das etwa heißen, du hast den Kopf einfach weggedreht als er dich küssen wollte?“
„Ja.“
„Warum?“ Das blonde Mädchen bleibt fassungslos und händeringend vor ihrer Freundin stehen.
„Was soll die Frage?“ lacht Jade. „Du weißt warum.“
„Mann!!!“ Lillian schüttelt den Kopf. „Ich raff`s nicht. Jetzt werden wir nie mit denen an einem Tisch sitzen.“
„Na und wenn schon,“ sagt Jade grinsend und läuft federnden Schrittes voraus.
Lillian sieht ihr missgelaunt nach. Nach zwei Sekunden folgt sie ihrer Freundin seufzend. „Ja, klar. Deine Nerven möchte ich gerne haben.“
Auf dem Parkplatz gehen beide Mädchen auf ein kleines Auto zu, das rot zwischen den anderen aufleuchtet. Ein frischer Wind kommt auf und bunte Blätter rascheln in den Bäumen. Es ist Herbst und schon bald November.
Die ersten Blätter segeln bereits zu Boden und wehen mit einem kratzenden Geräusch über den Asphalt. Jade öffnet die Tür zur Beifahrerseite und lässt sich erleichtert auf den lederbezogenen Sitz fallen. Kurz darauf manövriert Lillian den kleinen Wagen gekonnt aus der Parklücke.
Jade ist froh, dass sie den Bus nicht nehmen muss. Sie und Lillian haben ungefähr denselben Weg nach Hause. Für ihre Freundin macht Lillian gerne einen kleinen Umweg.
Jade selbst kann sich noch kein eigenes Auto leisten und ihre Eltern sind der Meinung, dass es noch zu früh dafür ist. Zumindest ist das die Meinung ihrer Mutter.
Jade runzelt die Stirn und versucht den Gedanken an ihre Mutter schnell abzuschütteln. Sie sieht aus dem Fenster und betrachtet die hell gestrichenen Häuser mit ihren gepflegten Vorgärten.
In dieser Gegend ist die Zeit irgendwie stehen geblieben. Weibliche Emanzipation oder Scheidung sind Schlagworte, die keiner hier zu kennen scheint. Man beschäftigt sich vielmehr mit der Pflege des eigenen Gartens oder man verabredet sich zum Einkaufen.
Es gibt sogar einen alljährlichen Kuchenbackwettbewerb. Jade`s Mutter gewinnt ihn fast jedes Jahr.
Es klingelt und Jade schreckt aus ihren Gedanken hoch.
„Mein Handy,“ sagt Lillian und drückt auf die Freisprechanlage. „Hi Mum.“
„Hallo, mein Schatz.“ Nina Clark`s Stimme füllt das Innere des Wagens. „Hör zu, ich muss dich um einen Gefallen bitten.“
„Was gibt`s denn Mum?“
„Oben im Schlafzimmer habe ich mein Kostüm liegen lassen. Das wollte ich heute Nachmittag noch in die Reinigung bringen. Ich hab`s ganz vergessen. Eine echte Katastrophe, denn ich brauche dieses Kostüm ganz dringend für Freitag Abend. Die Dinner-Party, du weißt schon. Könntest du vielleicht.....?“
„Bin schon unterwegs, Mum.“ Lil verdreht die Augen und wirft ihrer Freundin einen vielsagenden Blick zu. Jade sieht grinsend aus dem Fenster.
„Du bist ein Engel, mein Schatz. Bis heute Abend.“
„Ja, bis später.“ Lillian drückt den Knopf und stöhnt. „Oh Mann, jetzt kann ich zu Hause dieses blöde Kostüm abholen und den ganzen Weg wieder zurück fahren.“ Sie seufzt. „Macht es dir was aus, wenn ich dich bei mir zu Hause schon raus lasse?“
„Nein, natürlich nicht.“ Jade winkt ab. „Ich laufe gerne den Rest. Ein bisschen frische Luft wird mir gut tun.“
„Prima. Ich danke dir,“ sagt Lillian erleichtert.
Jade schlendert etwas lustlos. Sie hat es nicht gerade eilig nach Hause zu kommen.
Ihre Mutter würde sie nur wieder bombardieren mit Nichtigkeiten aus ihrem Alltag.
Was noch? Ach ja. Ein entnervter Vater erwartet sie, der irgendwie vom Weg abgekommen ist. Den ganzen Tag sitzt er in seinem Arbeitszimmer und heftet irgendwelche Dokumente ab. Er ist ein erfolgreicher Anwalt, doch nichtsdestotrotz todunglücklich.
Jade streicht sich seufzend die Haare aus dem Gesicht. Dabei atmet sie kleine weiße Wölkchen aus. Verwirrt fasst sie sich an die Lippen und erst jetzt wird ihr bewusst, wie kalt es auf einmal geworden ist. Vor wenigen Minuten noch schien die Sonne und die Temperatur maß um die zwanzig Grad. Doch nun kriecht eisige Kälte durch ihre Jacke und in ihre Kleidung. Sie fröstelt und legt den Kopf in den Nacken. Der Himmel ist jetzt dicht bewölkt und grau.
Hinter den Bäumen kann sie den Friedhof erkennen, der im seichten Nebel liegt. In der Ferne kräht ein Rabe. Unheimlich. Doch noch unheimlicher findet sie die ungewöhnliche Stille, denn nichts rührt sich in der ganzen Nachbarschaft. Die Gegend scheint auf einmal wie ausgestorben.
Was geht hier vor?
Jade fühlt sich mit einemmal beobachtet. Beklommen sieht sie sich um.
Sie zwingt sich langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen und ihre Augen suchen hektisch die Gegend ab, doch sie kann nichts Auffälliges entdecken. Nach einer Weile fängt sie an zu laufen, immer schneller, bis sie schließlich rennt.
Ein lautes Knacken lässt sie ängstlich aufhorchen. Ihre Lungen fangen jetzt an zu brennen. Die Strecke nach Hause ist ihr noch nie zuvor so lange vorgekommen. Immer wieder wirft sie einen Blick über die Schulter, doch es ist niemand zu sehen.
Nach einer Weile wird ihr bewusst, dass etwas nicht stimmt. Das Haus ihrer Eltern scheint nie in Sicht zu kommen. Wie kann das sein? Ist sie in ihrer Panik etwa schon daran vorbeigerannt?
Sie verlangsamt ihren Schritt und atmet heftig. Dann dreht sie sich rasch um und ihr Blick gleitet über die Häuser in der Umgebung. Nein. Daran liegt es nicht.
Sie will weiter gehen und übersieht dabei einen auf dem Gehweg liegenden Steinbrocken. Jade stolpert vornüber. Instinktiv reißt sie die Hände hoch, um sich abzufangen. Sie bekommt den Mast einer Straßenlaterne zu greifen und kann sich dadurch gerade noch rechtzeitig vor einem Sturz bewahren. Mit klopfendem Herzen richtet sie sich wieder auf. Ihr Atem geht unregelmäßig.
Plötzlich vernimmt sie ein neues Geräusch. Sie horcht.
Sind das Schritte, die durch die Stille hallen? Jade hält den Atem an, obwohl ihre Lungen brennen und nach Sauerstoff schreien.
Sie wittert Gefahr. Von ihrem Instinkt getrieben rennt sie los, so schnell sie kann. Hin und wieder wirft sie ängstlich einen Blick über die Schulter, doch ihr Verfolger bleibt weiterhin unsichtbar.
Und trotzdem meint sie den Hauch seines Atems im Nacken zu spüren.
Abermals wirft sie einen panischen Blick zurück. Als sie den Kopf wieder nach vorn dreht, ist es bereits zu spät, um abzubremsen. Sie rammt direkt in jemanden hinein und fängt lauthals an loszuschreien.
„Hey,“ ruft eine tiefe Stimme. „Jade, ich bin es.“
Doch Jade hört nicht. Sie schlägt nur wie wild um sich, kratzt und beißt.
„Jade!“
Sie hebt den Kopf und hält unmittelbar inne. Ein grünes Augenpaar mustert sie besorgt. Sie keucht und reißt ungläubig die Augen auf.
„Du?“ haucht sie atemlos. „Du...was machst du denn hier?“ Ihre Stimme zittert und sie fährt sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
„Geht es dir gut?“ Er legt sanft die Hand auf ihre Schulter.
„Nein,“ sagt sie jetzt. „Nein, es geht mir nicht gut.“
„Tut mir leid,“ sagt er leise. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Das hast du aber.“ Sie fühlt sich schrecklich. Wie unangenehm! Sie hat sich in ihrer Panik vor ihm zum Affen gemacht. Was mag er jetzt nur von ihr denken? Sie hebt den Kopf und mustert ihn.
Seit gestern hat sie diesen attraktiven Fremden nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sie hat sich gefragt, ob sie ihn jemals wieder sehen wird. Und nun steht er auf einmal vor ihr. Völlig unerwartet und plötzlich. Und wie beim letzten Mal raubt seine Nähe ihr den Atem.
„Wie war nochmal dein Name?“ fragt sie, um wieder etwas Normalität in die Situation zu bringen.
„Damon.“
„Richtig. Damon.“ Sie fährt sich nervös durch die Haare. „Hör mal Damon, bist du mir gerade gefolgt?“ Ihre Stimme klingt heiser und sie räuspert sich.
„Ja.“
„Wie bitte?“ Jade ist entsetzt. Ist Damon etwa ein brutaler Serienkiller, der jungen Mädels auflauert, um ihnen die Kehle aufzuschlitzen? Beklommenheit macht sich in ihr breit.
„Du musst keine Angst vor mir haben,“ sagt Damon amüsiert.
„Ach nein?“ Es ist offensichtlich, dass sie an seinen Worten zweifelt. „Warum nicht?“
„Weil kein Grund dafür besteht.“
„Das behauptest du,“ meint sie mit einem ironischen Unterton in der Stimme.
„Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.“
„Entschuldigen?“ Jetzt ist sie verwirrt. „Wofür?“
„Ich bin gestern relativ schnell verschwunden, als es dir so schlecht ging.“
„Ja,“ sagt sie. „Ich dachte schon, es lag an mir.“ Sie lächelt schüchtern.
„Es lag nicht an dir, soviel sei dir versichert.“
„Okay.“ Eine kurze Pause entsteht. „Woran lag es dann?“ wagt sie jetzt zu fragen.
„Es gab Gründe.“
„Gründe,“ wiederholt sie.
„Da war ein Notfall.“
„Oh?“
„Ich bekam einen Anruf und musste sofort los.“
„Nichts schlimmes, hoffe ich?“
„Es wird schon wieder werden,“ sagt er abschließend.
Jade runzelt verwirrt die Stirn. Seine vagen Andeutungen und nicht greifbaren Sätze kommen einer Zurückweisung gleich. Sie zieht sich innerlich vor ihm zurück.
„Okay.“ Sie räuspert sich. „Mach dir keinen Kopf. Ich...ich muss dann auch mal los.“
Seine Augen flackern auf. Oder liegt es einfach nur an dem seltsamen Licht heute? Sie versucht ihr Unbehagen abzuschütteln und macht Anstalten weiter zu gehen.
„Darf ich dich ein Stück begleiten?“ fragt er jetzt.
Sie hält in ihrer Bewegung inne und sieht ihn überrascht an.
„Klar,“ sagt sie dann erstaunt. „Wenn du möchtest.“
„Es wird mir eine Ehre sein.“
Der etwas altmodische Satz lässt Jade leicht erröten.
Sie laufen langsam nebeneinander her. Nach einer Weile bemerkt sie mit Verwunderung, dass ihr nicht mehr kalt ist. Sie blickt hinauf zum Himmel. Nur noch wenige Wolkenfetzen verdunkeln die Sonne.
„Seltsam,“ murmelt sie.
„Was ist seltsam?“
„Das Wetter. Vorhin ist es recht kalt geworden und der Himmel war Wolkenverhangen...“ Sie legt nachdenklich den Kopf schief. „Und ganz plötzlich ist es wieder warm. Die Sonne kommt schon wieder durch.“
„Ja. Das Wetter hat so seine Tücken,“ sagt er und lächelt geheimnisvoll.
Jade wirft ihm einen fragenden Seitenblick zu, doch Damon starrt weiterhin geradeaus.
Jetzt betrachtet sie sein schönes Profil. „Du bist also neu hier?“ sagt sie nach einer Weile.
„Ich schätze, es ist wohl offensichtlich?“ Er grinst schelmisch.
„Das hier ist eine Kleinstadt. Man kann also nichts geheim halten. Und ein neues Gesicht fällt nun mal auf.“ Sie lächelt.
„Verstehe.“ er kratzt sich hinterm Ohr. „Ich bin vor einigen Wochen hergezogen.“
„Und gefällt es dir soweit?“
„Soweit ganz gut. Hübsche Kleinstadt.“
„Aber nicht besonders aufregend,“ seufzt Jade.
„Wir werden sehen,“ meint er nur.
Jade hat das Gefühl, nicht aus ihm schlau zu werden. Seine Bemerkungen sind vieldeutig und mysteriös.
„Wo wohnst du eigentlich?“ will sie dann wissen.
„Ich wohne am Magic Pond.“
„Am Magic Pond?“ Sie bleibt stehen und reißt erstaunt die Augen auf.
„Ja.“ Er sieht sie lächelnd an. „Ist das so merkwürdig?“
„Naja...es ist nicht gerade billig dort zu wohnen.“
„Ist es auch nicht,“ bestätigt er. „Ich wohne in einem kleinen Holzhaus direkt an dem See.“
„Ich bin beeindruckt.“
Sie gehen weiter.
„Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Wie alt bist du?“
„Warum?“
„Ja also...es ist nur...du bist mit Sicherheit älter als ich, aber in meinen Augen nicht gerade alt genug, um dir ein eigenes Haus leisten zu können.“ Sie räuspert sich. „Tut mir leid. Das klang jetzt echt bescheuert.“
„Nein, das ist schon in Ordnung,“ unterbricht er sie freundlich. „Du hast ja recht. Ich bin fünfundzwanzig. Und ich habe das Privileg bereits jetzt schon sehr viel Geld zu besitzen.“
„Verstehe. Du hattest also Glück.“
„Das ist Ansichtssache. Es handelt sich hierbei um das Erbe meiner Eltern.“
„Deine Eltern sind beide schon tot?“ Sie sieht ihn entsetzt an.
„Ja.“ Er betrachtet sie freundlich. „Ob ich Glück hatte ist daher fraglich.“
Jade sieht ihn beschämt an. „Tut mir leid, ich wollte nicht....“ stottert sie.
„Kein Problem. Es ist schon lange her.“
„Wie lange?“ fragt sie, bevor sie sich rechtzeitig auf die Zunge beißen kann.
„Ich war zwölf.“
„Zwölf,“ wiederholt sie schockiert. „Wie...?“ Die Frage bleibt ihr im Hals stecken. Das geht sie wirklich nichts an.
„Sie sind ermordet worden.“
Jade wird heiß und kalt vor Entsetzen. „Oh mein Gott. Das tut mir so leid.“
„Das muss es nicht,“ sagt er leise. „Nicht mehr...“
Es entsteht eine längere Pause.
„Ich denke, wir sind da,“ sagt er dann auf einmal.
„Was?“ Jade hebt verwirrt den Kopf.
„Dein Haus.“
Sie dreht sich um und erblickt das Haus ihrer Eltern. „Ja,“ sagt sie nur.
„Bis bald, Jade.“ Damon steht dicht hinter ihr und sie dreht sich zu ihm um. Seine grünen Augen mustern sie eingehend.
„Ja. Bis bald,“ haucht sie leise.
Er verbeugt sich leicht zum Abschied und wendet sich dann zum Gehen. Jade kramt nach dem Schlüssel in ihrer Tasche, da fällt ihr noch etwas ein. Sie hebt den Kopf und will nach Damon rufen. Doch dieser ist wie vom Erdboden verschluckt. Seltsam!
Sie dreht sich um und zuckt erschrocken zusammen als sie den Raben entdeckt, der auf dem Briefkasten sitzt und sie unheimlich mustert.
Jade weicht instinktiv vor ihm zurück. Ihre Hand bekommt die Hausschlüssel zu greifen. Eilig läuft sie zum Eingang und schließt die Tür auf. Oben in ihrem Zimmer angekommen, setzt sie sich auf die Bettkante und nur eine einzige Frage beschäftigt sie.
Woher wusste Damon, wo sie wohnt?
„Bitte sag das nochmal.“ Lillian sieht ihre Freundin aus tellerrunden Augen an. „Dieser tolle Kerl aus dem Mozart kürzlich hat dir also gestern aufgelauert, um dich nach Hause zu begleiten?“
„Er hat mir nicht aufgelauert,“ protestiert Jade lachend und spießt eine Tomate auf ihre Gabel, um sie sich gleich darauf in den Mund zu schieben. Die Freundinnen sitzen zusammen in der Mensa.
„Ach komm.“ Lillian guckt ungläubig. „Was soll er denn sonst bei dir in der Gegend gemacht haben?“
Jade zuckt ratlos die Achseln. „Ich weiß nicht.“
„Eben.“ Lillian guckt ernst. „Sei jedenfalls vorsichtig. Wir wissen nicht, wer er ist.“
„Ja du hast recht.“ Jade nickt beklommen.
„Was wollte er denn von dir?“
Jade runzelt die Stirn. „Er hat gesagt, er wolle sich bei mir entschuldigen.“
„Entschuldigen?“ Lillian zieht skeptisch eine Augenbraue hoch.“Wofür denn?“
„Dafür, dass er aus dem Mozart verschwunden ist, ohne sich vorher bei mir zu verabschieden.“
„Hmmm...,“ macht Lillian. „Klingt süß....und schräg!“
„Irgendwie schon,“ stimmt Jade ihr zu.
„Wie alt ist er eigentlich?“
„Fünfundzwanzig.“
„Wow. Das ist...älter. Aber nicht zu alt.“
„Nicht zu alt wofür?“
„Ach komm schon, Jade.“
„Was?“
„Der Typ ist vielleicht schräg, aber auch heiß.“
Jade guckt irritiert.
„Oh nein, tu das nicht.“ Lillian schaut ihre Freundin ungläubig an. „Sag nicht, du hast nicht einmal bemerkt, dass er heiß ist.“
„Naja, ich...“
„Oh Gott,“ haucht Lillian plötzlich, woraufhin Jade erschrocken zusammen zuckt.
„Was?“
„Mike,“ haucht sie leise.
„Was ist mit Mike?“
„Er kommt direkt auf uns zu.“
Jade dreht sich um und seufzt. „Ich befürchte, du hast recht.“
„Hi ihr zwei Hübschen,“ sagt Mike wenig später und bleibt lässig vor ihrem Tisch stehen.
„Selber Hi,“ kichert Lil, woraufhin Jade innerlich die Augen verdreht.
„Was gibt`s, Mike?“ fragt Jade ihn jetzt, sehr bemüht um einen höflichen Tonfall.
„Ich wollte euch fragen....das heißt wir wollten euch mal fragen,..“ Er weist in die Richtung, wo Jeff an einem Tisch sitzt und ihnen jetzt schüchtern zuwinkt. „....ob ihr nicht Lust hättet mit uns ein bisschen um die Häuser zu ziehen.“
„Liebend gerne,“ sagt Lillian und bevor Jade auch nur protestieren kann. „Wann denn?“
„Heute Abend.“
„Cool. Und wann soll`s losgehen?“
„Moment mal,“ wirft Jade jetzt ein, doch sie erhält unterm Tisch einen Kräftigen Tritt ins Schienbein, so dass sie nur noch wimmernd in sich zusammen sackt.
„So um acht,“ sagt Mike grinsend.
„Acht Uhr ist perfekt. Holt ihr uns ab?“ will Lillian wissen. Sie lächelt wie ein Honigkuchenpferd.
„Na klar.“
„Jade wird dann bei mir sein. Ich wohne in der....“
„Ich weiß, wo du wohnst,“ fällt er ihr augenzwinkernd ins Wort. „Also dann.“ Er nickt ihnen lächelnd zu und wendet sich zum Gehen. Wenig später setzt er sich zu Jeff an den Tisch.
„Sag mal, dir geht`s wohl zu gut,“ zischt Jade ihrer Freundin jetzt zu und reibt sich mit wehem Blick das schmerzende Bein.
„Oh, komm schon. Heute ist Freitag.“ Lillian stochert in ihrem Salat herum.
„Na und?“
„Wir haben nichts weiter vor.“
„Das ist doch kein Argument.“
„Jade, bitte.“ Lillian sieht sie mit flehenden Augen an. „Das ist etwas, wovon ich schon seit der sechsten Klasse geträumt habe. Dass Mike Müller mich um ein Date bittet. Du kannst mir das nicht kaputt machen.“
„Also ich weiß nicht.“
„Jade! Bitte!“
Jade seufzt kopfschüttelnd. „Wenn ich mitkomme, denkt Jeff, ich will was von ihm.“
„Vielleicht entwickelst du ja doch noch Gefühle für ihn,“ meint Lil hoffnungsvoll.
„Lillian, hör auf damit, ich....“
„Ich weiß, ich weiß, ich weiß,“ fällt das blondgelockte Mädchen ihr aufgeregt ins Wort. „Aber bitte, bitte, bitte tu mir den Gefallen und komm mit. Ich will nicht, dass mein Date ins Wasser fällt.“
„Oh man,“ seufzt Jade kapitulierend. „Ich weiß gar nicht, was du so toll an diesem Mike findest.“
„Er ist zum niederknien, er ist bombastisch, eine Wucht und....“
„Schon gut, schon gut,“ unterbricht Jade sie schnell. „Erspar`s mir.“ Sie macht eine kurze Pause und sieht ihre Freundin lange an. „Oh Mann, du schuldest mir echt was,“ sagt sie dann.
„Echt?“ jubelt Lillian. „Du machst es also? Für mich?!“
„Sieht ganz so aus.“ Jade verdreht die Augen und ihre Freundin fällt ihr jauchzend um den Hals.
„Oh, danke, danke, danke.“
„Wenn das mal kein Fehler ist,“ denkt Jade beklommen.
Es klingelt an der Tür.
„Oh mein Gott,“ quietscht Lillian ganz aufgeregt und hätte beinahe ihren Mascara fallen lassen. Sie dreht sich zu Jade um, die bäuchlings auf Lillian`s Bett liegt und in einem Mode-Magazin blättert. „Okay, wie sehe ich aus?“
Jade wirft ihrer gestylten Freundin einen kurzen Blick zu. „Fabelhaft.“
„Komm schon, sei ehrlich.“
„Ich bin ehrlich. Du siehst fabelhaft aus.“
„Ehrlich?“
Jade nickt und schenkt ihr jetzt ein aufmunterndes Lächeln. Sie hat nicht gelogen. Lillian sieht tatsächlich fabelhaft aus. Ihre Locken fallen weich auf die Schultern und umrahmen sanft das herzförmiges Gesicht. Der grüne Eyeliner und der türkisfarbene Lidschatten bringen das Graublau ihrer Augen richtig gut zur Geltung.
Zwei Stunden waren sie heute im Kaufhaus umhergeirrt, um die passende Jeans für heute Abend zu finden. Jetzt betont das sexy Teil Lillian`s schmale Hüften und der Gürtel glitzert mit ihrem Lippenstift um die Wette. Die lilafarbene Bluse hat einen tiefen Ausschnitt und gewährt freizügige Blicke auf viel nacktes Fleisch.
Jade hingegen hat sich eine schwarze, enganliegende Hose und eine konservative Bluse übergezogen. Dazu schicke Pumps. Das muss reichen! Schließlich hat sie nicht vor Jeff heute Abend noch mehr Hoffnungen zu machen. Ganz im Gegenteil!
Es klingelt ein weiteres Mal und Lillian flattert wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Zimmer.
„Oh mein Gott. Ich bin noch nicht fertig.“
„Ich geh schon nach unten und mach ihnen auf.“ Jade rutscht lustlos von der Bettkante.
„Oh, ich danke dir.“ Lillian seufzt vor Erleichterung. „Ich komme gleich runter.“
„Lass dir Zeit.“
Wenig später öffnet Jade die Tür zum Hauseingang. Jeff steht lächelnd vor ihr mit einem Strauß Blumen in der Hand.
„Hier, die sind für dich,“ meint er schüchtern.
„Das ist ja lieb. Danke.“ Sie nimmt die Blumen entgegen und zwingt sich zu einem Lächeln.
Ihr Blick gleitet zu Mike. Er steht lässig gegen den Türrahmen gelehnt und mustert sie mit unergründlichem Blick.
„Hi.“ Jade nickt ihm kurz zu, woraufhin er spöttisch grinst und ihr statt einer Begrüßung nur zuzwinkert. Sehr charmant, denkt sie.
Jeff mustert sie heimlich. Sie sieht umwerfend aus, findet er, obwohl sie sich kaum geschminkt hat. Die Sachen, die sie anhat sind konservativ, aber trotzdem elegant und sexy, weil sie eng anliegen. Ihre schlanken Beine, die schmale Taille und die zarten Schultern kommen dadurch gut zur Geltung.
„Kommt doch rein,“ sagt Jade jetzt und macht einen Schritt zur Seite.
Mike tritt als erster ein und sieht sich interessiert um. „Wo ist Lil?“ fragt er dann.
„Sie kommt gleich,“ antwortet Jade knapp.
„Bin schon fertig,“ ruft ihnen Lillian vom oberen Treppenansatz aus zu. Dann fliegt sie ihnen geradezu entgegen und Mike direkt in die Arme. Sie gibt ihm einen leidenschaftlichen Kuss, woraufhin Jade errötend wegsieht. Jeff legt ihr sanft eine Hand auf die Schulter.
„Wollen wir los?“
„Klar wollen wir los,“ lacht Lillian jetzt ganz aufgedreht. „Auf, auf, Jungs.“
Draussen vor dem Haus steht ein schwarzer Ford Mustang.
„Wow. Was für ein geiler Schlitten,“ ruft Jillian beeindruckt aus.
„Du fährst,“ sagt Mike grinsend und wirft seinem Freund den Autoschlüssel zu. Jeff fängt ihn auf und sieht Mike unsicher an.
„Wirklich? Ich darf mit deinem Auto fahren?“
„Heute ja,“ sagt Mike und legt lässig den Arm um Lillian, die leise zu kichern anfängt. „Heute Abend ist mir die Rückbank lieber,“ fügt er nun lachend hinzu.
Wenig später fahren sie orientierungslos umher. Es ist mittlerweile dunkel draussen. Jade vernimmt das Geräusch heißer Küsse hinter sich. Seufzend schüttelt sie den Kopf und schaut aus dem Fenster und in die Dunkelheit.
„Ich kann nicht fassen, dass ich jetzt hier sitze,“ denkt sie. „Ich komme mir vor wie eine Idiotin.“
Jeff berührt sie sachte am Arm und sie zuckt erschrocken zusammen. Sie hebt den Kopf und begegnet seinem ruhigen Blick.
„Möchtest du etwas Musik hören?“ fragt er leise.
„Ja, gerne,“ antwortet sie und streicht sich schüchtern eine Strähne hinters Ohr.
Er schaltet das Radio ein und klassische Musik ertönt. Verwundert über seinen guten Geschmack, aber auch dankbar nickt sie ihm kurz zu. Dann schließt sie die Augen und versucht sich zu entspannen. Zumindest sind die Knutsch-Geräusche nicht mehr ganz so präsent. Jade versucht sich auf die harmonischen Klaviertöne zu konzentrieren und alles andere auszuklammern.
„Hey, Jeff,“ ruft Mike plötzlich von hinten.
„Was gibt`s, mein Freund?“ Jeff schaut seinen Kumpel im Rückspiegel an.
„Halt hier mal an.“
„Was denn, hier?“
Jade öffnet die Augen und versucht sich zu orientieren. Sie sieht zum Fenster raus und erkennt, dass sie sich dem Stadtrand nähern, dort, wo der Wald anfängt.
„Ja, genau hier,“ sagt Mike in einem gebieterischen Ton.
„Aber hier fängt der Wald an,“ sagt Jeff. „Hier ist nichts. Willst du hier wirklich halten?“
„Ja, Mann. Oder hast du etwa Angst, dass ein Werwolf auftaucht und dich zerfleischt,“ lacht er amüsiert.
Lillian kichert beinahe hysterisch, als hätte er gerade etwas wahnsinnig Komisches gesagt.
Irritiert sieht Jade sich nach ihrer Freundin um, doch sie kann nichts erkennen, da Lillian`s Gesicht völlig im Dunkeln liegt.
„Irgendetwas stimmt hier nicht,“ denkt sie.
„So ein Quatsch,“ protestiert Jeff jetzt. „Ich habe keine Angst.“
„Na, weshalb zögerst du dann noch? Halt endlich an.“
Jeff seufzt und bringt den Wagen schließlich zum Stehen.
„Na also, es geht doch,“ lobt Mike und klopft seinem Freund auf die Schulter. Er und Lillian steigen aus. Lil fällt dabei gegen seine Brust und muss heftig lachen. Jade und Jeff folgen ihnen nach draussen und sehen sich dann ratlos um.
„Und was jetzt?“ fragt Jeff.
„Im Kofferraum liegen Decken. Wir breiten sie auf dem Boden aus und machen es uns gemütlich.“
Als die Decken auf dem Boden liegen, geht Mike zum Auto und dreht die Musik laut auf.
„Alter, was ist denn das für ein Shit?“ fragt er Jeff. „Ich will doch kein Klaviergeklimper hören.“
Er beugt sich wieder ins Auto und auf einmal ertönt laute Rockmusik. „Na also! Geht doch.“
Mike fängt an zu tanzen und dreht sich um die eigene Achse. „Yesssss...das haut rein, Mann.“ Dann tigert er grinsend auf Lillian zu. Diese fängt lauthals an zu kichern, als er um ihre Taille greift und sich mit ihr auf eine der Decken fallen lässt.
Mit verschränkten Armen steht Jade da und wendet sich von den beiden ab. Warum ist sie überhaupt mitgekommen? Das war eine dumme Idee.
„Jade.“ Jeff steht neben ihr. „Möchtest du vielleicht ein paar Schritte gehen?“
Jade seufzt. „Ja, warum nicht?“
Schweigend gehen sie nebeneinander her. Jade hat die Arme weiterhin schützend vor der Brust verschränkt.
„Tut mir leid,“ sagt Jeff nach einer Weile. „Ich hatte keine Ahnung, dass Mike sich heute Abend so bescheuert aufführen würde.“
„Dafür kannst du ja nichts,“ meint sie und schenkt ihm ein beruhigendes Lächeln.
„Ich weiß. Trotzdem.“ Er bleibt jetzt dicht vor ihr stehen. „So hab ich mir das nicht vorgestellt. Schließlich ist das unser erstes Date.“
„Jeff, ich...“ Sie fährt sich seufzend durch die Haare. Was kann sie sagen? Ihr fällt nichts Passendes ein. Eine kurze Pause entsteht.
„Für dich ist das gar kein Date, nicht wahr?“ sagt er schließlich enttäuscht.
„Es tut mir leid, Jeff. Ich.....Ich habe das für Lillian getan.“
„Verstehe.“ Jeff lässt den Kopf hängen.
„Jeff.....“ Sie schüttelt hilflos den Kopf. „Ich wollte dich nicht verletzten.“
„Schon okay. Wenigstens bist du ehrlich.“ Er lächelt traurig. „Woran liegt es eigentlich?“ will er dann wissen. Jade sieht fragend zu ihm hoch.
„Bin ich nicht dein Typ?“
„Nein, nein. Du...siehst toll aus. Du bist....ein hübscher Kerl.“ Jade seufzt. Sie kommt sich schrecklich plump und unsensibel vor.
„Aber?“ Er mustert sie prüfend.
„Aber...“ Sie atmet einmal tief durch. „Ich weiß auch nicht.“ Sie zuckt hilflos die Achseln und lehnt sich gegen den Stamm eines Baumes. „Jeff, es gibt keinen Grund. Ich empfinde einfach nicht dasselbe für dich, wie du für mich.“
„Aber vielleicht irgendwann?“
„Vielleicht,“ sagt sie nach einer Weile.
Er lächelt. „Hast du gerade wirklich vielleicht gesagt.“
„Mach dir bitte nicht zu viele Hoffnungen,“ warnt Jade.
„Wow, ich fasse es nicht. Jade Martin hat gerade wirklich vielleicht gesagt,“ jubelt er.
„Jeff..“
„Ich weiß, ich weiß,“ sagt er schnell. „Ich soll mir nicht zu viele Hoffnungen machen. Aber eines ist sicher....“ Er sieht sie bedeutsam an. „Ich werde nicht so schnell aufgeben. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Fabelhaft, denkt sie und unterdrückt einen tiefen Seufzer. Ganz große Klasse, Jade Martin.
Es ist Samstag Morgen und Jade hat ganz vergessen den Wecker rechtzeitig auszustellen. So klingelt es bereits um halb sieben und sie fällt stöhnend und fluchend aus dem Bett.
„Verdammt,“ schimpft sie, bekommt den roten Wecker zu fassen und wirft ihn quer durchs Zimmer. Er prallt gegen die Wand und zersplittert in zig Einzelteile. Im ersten Moment ist Jade zwar etwas schockiert, doch dann fängt sie leise an zu glucksen.
„Zumindest ist jetzt Ruhe,“ kichert sie. Doch was nun? „Nun kann ich genauso gut aufstehen,“ denkt sie.
Und so tapst sie wenig später leise ins Bad. Dort putzt sie sich die Zähne und kämmt sich lange und ausdauernd die Haare bis sie glänzen. Schließlich ist heute Sonntag. Da kann man sich ein bisschen Luxus mal gönnen. Zurück in ihrem Zimmer zieht sie sich die schwarze Hose von gestern nochmal an, dazu ein bequemes Sweatshirt mit Kapuze. Sie klemmt den Mp3 Player am Bund der Hose fest.
Kurz darauf geht sie leise die Treppe hinunter und schlüpft - unten im Flur - in ihre bequemen Turnschuhe. Nachdem sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden hat, schnappt sie sich die Hausschlüssel von der Kommode und verlässt das Haus.
Draussen, vor der Tür, atmet sie einmal tief durch. Die Luft riecht würzig nach Laub, Holz und Herbst. Es ist still und friedlich in der Nachbarschaft. Die meisten schlafen noch.
Nur Cookie ist schon unterwegs. Jade beobachtet die achtzigjährige Dame, wie sie einen Rollator mit quietschenden Reifen vor sich herschiebt. Langsam schleicht sie den Gehweg entlang. Eigentlich heißt sie Miss Maple, aber alle nennen sie Cookie, weil sie gerne Gebäck an Kinder in der Nachbarschaft verteilt. Jade weiß aus eigener Erfahrung, dass Cookies Kekse die besten sind.
Cookie ist damals jedes Jahr Back-Queen beim alljährlichen Backwettbewerb geworden. Niemand konnte ihr das Wasser reichen. Ihre Kuchen waren schlichtweg unbesiegbar.
Als sie älter wurde trat sie schließlich den Titel der Back-Queen an Jade`s Mutter ab, die nun schon seit drei Jahren stets auf dem obersten Treppchen steht, um den ersten Preis entgegen zu nehmen.
Die alte Dame hebt den Kopf und winkt ihr jetzt lächelnd zu, woraufhin Jade den Gruß erwidert.
Jetzt beginnt sie vorsichtig ihre Glieder zu strecken. Sie hüpft ein paar Male auf und ab.
Dann stopft sie sich die Hörer ihres Mp3 Players in die Ohren, drückt auf den Play-Button und läuft los. Josh Groban`s Stimme begleitet sie.
„Das ist genau das, was ich brauche,“ denkt sie während sie regelmäßig atmet und sich auf das Laufen konzentriert. „Loslassen, nicht nachdenken.“
Doch genau das passiert immer, wenn sie läuft. Sie denkt nach.
Ihre Gedanken wandern zurück zum gestrigen Abend.
Jeff hat sie und Lillian nach Hause gefahren. Die ganze Fahrt hatte Lillian nicht aufgehört zu lachen. Jade`s Blick verdüstert sich.
„Okay, ihr Süßen,“ hört sie Lillian noch kichern. „Macht`s gut!“ Sie öffnet die Tür auf ihrer Seite und steigt schwankend aus.
„Lil, warte,“ sagt Jade und löst ihren Anschnallgurt. Sie steigt aus und stützt ihre Freundin, die jetzt fast hingefallen wäre. Jade wirft Mike einen wütenden Blick zu. „Was hast du mit ihr gemacht?“
„Ich?“ ruft er ihr von der Rückbank aus zu. „Wieso ich?“
„Tu doch nicht so,“ faucht Jade ihn an. „Hast du ihr etwa Drogen verabreicht?“
„Ich habe sie zu nichts gezwungen,“ meint Mike nur und grinst dabei unverschämt.
„Schon klar!“ murmelt Jade und stützt ihre Freundin bis zum Haustüreingang. Sie nimmt Lillian die Schlüssel ab und öffnet für sie die Tür.
„Was würde ich nur ohne dich tun?“ seufzt Lillian lallend. „Meine beste Freundin.“ Sie sagt das irgendwie gehässig, findet Jade. Irritiert runzelt sie die Stirn. Sie ist einfach nur betrunken, beruhigt sie sich. Sie weiß nicht, was sie sagt. Doch ein Restzweifel bleibt.
„Schon gut,“ meint sie jetzt. „Sieh einfach zu, dass du leise bist. Sonst weckst du deine Eltern noch auf.“
„Fürsorglich, wie immer,“ meint Lillian spöttisch und verschwindet kichernd durch die Tür.
Sie kichert so laut, dass Jade jeden Moment damit rechnet Lil`s Eltern gegenüber zu stehen.
Sie werden wissen wollen, was mit ihrer aufgedrehten Tochter los ist.
Doch dann atmet Jade erleichtert auf. Ihr fällt ein, dass die Eltern gar nicht da sind. Vor zwei Tagen waren sie nach Teneriffa geflogen, um dort eine Woche Urlaub zu machen. Gott sei Dank!
Jade erhöht jetzt das Tempo. Sie versucht die Erinnerung an gestern Abend abzuschütteln und sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Etwas berührt sie an der Schulter. Jade wirbelt entsetzt herum und blickt direkt in zwei grüne Augen.
„Damon,“ keucht sie und zieht sich die Hörer aus dem Ohr. Sie schaltet den Mp3 Player aus und sieht heftig atmend zu ihm hoch. „Gott, du hast mich erschreckt.“
„Tut mir leid. Das wollte ich nicht. Ich habe nach dir gerufen, doch du hast mich nicht gehört.“
„Ja,“ schnauft sie atemlos. „Ich habe Musik gehört.“ Sie weist auf den Player an ihrer Hose.
„Ja, so etwas hab ich mir schon gedacht,“ meint er und vergräbt seine Hände in die Taschen seines Sweaters. Er sieht heute anders aus.
Er trägt eine bequeme Trainingshose und abgewetzte Laufschuhe. Dieser Look steht ihm überraschenderweise auch sehr gut, findet sie.
„Was machst du hier?“ will sie jetzt wissen.
„Ich jogge.“
„Das sehe ich. Aber was machst du hier?“
Er zuckt die Achseln. „Ich erkunde die Gegend.“
Jade verzieht skeptisch das Gesicht. „Aha. Ausgerechnet hier.“
„Warum denn nicht?“
Jetzt ist es an Jade, die Achseln zu zucken.
„Zugegeben,“ meint er jetzt und lächelt äußerst charmant. „Ich habe gehofft, dich zu treffen.“
Ihre Augen weiten sich. „Woher hast du denn gewusst, dass ich jogge?“
„Ich wusste es nicht.“ Sein Lächeln wird breiter. „Aber da ich ohnehin jeden Tag meine Runden drehe, habe ich mich dazu entschlossen mal durch deine Nachbarschaft zu laufen. Vielleicht habe ich ja Glück und treffe das hübsche Mädchen mit den dunklen Augen wieder, dachte ich. Und siehe da.“ Er weist mit der Hand auf Jade. „Prompt werden meine Hoffnungen erfüllt.“ Seine Augen leuchten tiefgrün und Jade sieht schnell weg.
„Na so ein Zufall,“ murmelt sie. Ihre Wangen erhitzen sich. Er hat es geschafft, ihr mit Worten zu schmeicheln. Das ist nicht fair, denkt sie. Warum hat er nur so eine Anziehungskraft auf sie?
„Ja, ein glücklicher Zufall würde ich sagen.“ Sein Lachen ist ansteckend und so muss sie unwillkürlich schmunzeln.
„Wir können ja zusammen eine Runde drehen,“ schlägt er jetzt vor. „Was hältst du davon?“
„Warum nicht,“ willigt sie fröhlich ein. Verdammt! Er hat sie wirklich um den Finger gewickelt. Wo bleibt deine Vernunft, Jade? Er könnte ein gefährlicher Serienkiller sein. Ach was! Sie läuft los und wirft trotzig den Kopf in den Nacken, um die düsteren Gedanken zu vertreiben.
„Wollen wir doch mal sehen, ob du mit mir mithalten kannst,“ ruft sie ihm dann neckend zu, woraufhin Damon ihr mit einem breiten Grinsen dicht auf den Fersen bleibt.
Wenig später hat er sie bereits abgehängt und zu ihrer eigenen Schmach muss sie schlussendlich kapitulieren. Sie bleibt stehen und hält sich keuchend die Seite.
Damon kommt langsam auf sie zu. „Wie war das mit dem Abhängen?“ Er grinst schelmisch.
„Schon gut,“ atmet Jade. „Du hast gewonnen. Ich gebe auf.“
„Hast du Schmerzen?“ fragt er jetzt besorgt.
„Nur ein bisschen. Seitenstechen.“ Sie streckt sich, doch das unangenehme Stechen will nicht nachlassen. Das Ganze ist ihr reichlich unangenehm. Sie muss erbärmlich aussehen. Erst große Töne spucken und dann wie ein Waschlappen herumhängen.
„Darf ich?“
Bevor Jade weiß, was er vorhat, hat er schon seine Hand auf ihren Bauch gelegt und tastet jetzt vorsichtig die schmerzende Stelle ab. Jade errötet leicht. Seine Berührungen jagen ihr angenehme Gänseschauer über den Rücken und ein warmes Gefühl macht sich in ihrer Magengegend breit.
„Besser?“ fragt er nach einer Weile.
Jade bewegt langsam ihren Oberkörper von rechts nach links und andersrum.
„Ja,“ meint sie dann verwundert. „Viel besser. Wie hast du das gemacht?“
„Ich habe mal einen Kurs belegt.“
„Einen Kurs?“
„In Heilkunde.“
„Und da lernt man so was?“
„Unter anderem.“
„Wow.“ Sie stellt sich ganz gerade hin und atmet einmal tief durch. Das Seitenstechen ist völlig verschwunden. „Ich bin beeindruckt,“ meint sie jetzt.
Sie sieht zu ihm hoch. Er steht ganz dicht vor ihr. Damon`s Lächeln wird mit einemmal zärtlich. Er beugt sich zu ihr herab. Automatisch teilen sich Jade`s Lippen. Dann schließt sie die Augen und wartet auf den Kuss.
Ein gellender Schrei zerreißt die Stille und der magische Moment ist augenblicklich vorbei.
Jade fährt erschrocken zusammen und reißt weit die Augen auf. Damon`s Blick ist auf einmal sehr wachsam.
„Was war das?“ haucht Jade.
„Ich weiß nicht genau,“ meint Damon und sein Blick wandert misstrauisch umher.
Erst jetzt bemerkt Jade den dichten Nebel, der sie beide umgibt. Wann ist er aufgetaucht? Erneute Schreie lassen ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Lautes Flattern über ihnen reißt sie aus der Starre. Sie legt den Kopf weit in den Nacken und entdeckt im Geäst einer dicken Eiche eine riesige Krähe. Sie stößt spitze Schreie aus. Die scharfen Krallen bohren sich tief in den Stamm hinein. Mit glühenden Augen sieht sie auf Damon und Jade herab. Herausfordernd und triumphierend, so scheint es.
Jade schüttelt sich. Sie hat offensichtlich Wahnvorstellungen.
„Wow. Das ist echt unheimlich,“ flüstert sie beklommen.
Damon`s Gesicht ist jetzt eine Maske der Wut. Bei seinem Anblick krampft sich ihr Magen zusammen, denn auf einmal geht etwas Kaltes und Bedrohliches von ihm aus.
„Was ist los?“ fragt sie ängstlich.
„Wir müssen von hier verschwinden.“
„Warum?“ haucht sie verständnislos.
„Wir müssen los,“ sagt er, ohne weitere Erklärung.
Und schon setzt er sich in Bewegung. Jade folgt ihm zunächst unsicher, doch dann umso entschlossener. Sie will auch wissen, was passiert ist. Er beginnt zu rennen und sie versucht mühsam mit ihm Schritt zu halten. Damon scheint genau zu wissen, wo es lang geht.
Wenig später bleibt sie wie angewurzelt stehen. In der Ferne leuchten Blaulichter auf. Eine kleine Menschentraube hat sich um einen Krankenwagen herum versammelt. Jade`s Herz beginnt wie wild zu klopfen und voll Sorge rennt sie jetzt auf die Menschentraube zu.
Sekunden später tippt sie einer Frau, die Jade schon von Kindesbeinen an kennt, auf die Schulter. Rosemarie dreht sich nach Jade um und ihre Augen sind tränenverschleiert.
„Rose, was ist passiert?“ fragt Jade atemlos.
„Es ist Cookie,“ sagt diese mit tränenerstickter Stimme.
„Cookie?“ Jade reißt ängstlich die Augen auf. „Was ist mit ihr?“
„Sie ist tot,“ schluchzt die Frau herzzerreißend.
„Was?“ haucht Jade ungläubig. „Aber wie....?“
„Ich weiß nichts Genaues,“ sagt sie kopfschüttelnd. „Nur, dass ein Vogel sie angefallen hat.“
„Ein Vogel?“ echot Jade entsetzt. „Was denn für ein Vogel?“
„Ein Rabe. Ein riesiger, schwarzer Rabe. Oh mein Gott,“ schluchzt sie. „Die arme Cookie.“
Jade reißt entsetzt die Augen auf. Ein Rabe! Das kann unmöglich sein. Jade dreht den Kopf und schaut sich suchend um. Sie kann Damon nirgends finden. Er ist fort. Nichts neues also, denkt sie beklommen.