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»Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will«

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Henri Matisse

Es war einer dieser wunderschönen Herbsttage am Genfersee. Das Laub hatte sich mehrheitlich verfärbt. Doch noch hingen die meisten Blätter an den Zweigen. Der Wind verspürte noch keine Lust, dies gründlich zu ändern, war lau und mild. Selbst die Sonne freute sich an diesem Morgen übermäßig, schien freundlich und warm vom wolkenlosen Himmel, als sehnte sie sich den Sommer zurück.

Auch in der Villa in La-Tour-de-Peilz war wieder Ruhe eingekehrt, nach all den Aufregungen der letzten Wochen und Monaten. Der Rasen, vom Tau noch ganz feucht, glitzerte im morgendlichen Sonnenschein. Die Zweige der Bäume wiegten sich träge in der lauen Luft. Selbst die große Unruhe und Bewährungsprobe in der Beziehung zwischen Jules Lederer zu seiner Ehefrau Alabima schien an diesem Morgen besänftigt.

Der Selfmade-Millionär und frühere Problemlöser für reiche Klienten und internationale Konzerne hatte sich seit seinem Aufenthalt in Indien verändert. Nichts schien mehr übrig geblieben von seiner Rücksichtslosigkeit, selbst gegenüber weitaus Schwächeren, von seinem Starrsinn, auch gegenüber einer mehrere tausend Jahre alten Zivilisation mit ihrer weiterhin lebhaften Kultur. Ausgesprochen demütig schien der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger seine Wiedergeburt nach der Beinahe-Ermordung in einem indischen Gefängnis angenommen zu haben. Ja, der Subkontinent mit seinen Menschen und Religionen hatten Jules Lederer gleich mehrfach geprägt und umgepolt. Spülten sie zuerst seine bösesten Charakterzüge an den Tag, brachten sie ihn während der vielen Wochen Genesungszeit in einem Krankenhaus wieder zu Vernunft.

Ja, der alte Jules war wieder zurück. Der Jules ihres Kennenlernens. Vor fast zwölf Jahren.

Zumindest hoffte das seine Lebenspartnerin Alabima.

Jules Lederer hatte sich über zwei Jahrzehnte einen Namen gemacht, als gefährlicher, unerbittlicher und sehr erfolgreicher Kämpfer im Interesse einer sehr betuchten Klientel. Der Schweizer war dabei selbst reich geworden, konnte sich viele Extravaganzen leisten, wie die große Villa am Genfersee mit dem weiten Umschwung. Als Extrem-Kampfsportler beherrschte er das Töten mit der bloßen Hand. Allerdings hatte Jules Lederer, zumindest während seiner Berufsjahre, nur ungern Gewalt angewandt. Ein diplomatisches Vorgehen wurde damals vom Schweizer stets jeder Brutalität vorgezogen, auch wenn man in manchen Fällen eher von blanker Erpressung sprechen musste.

»Ich fechte mit dem Florette, nicht mit dem Zweihänder«, war eine seiner Maximen gewesen, »und Schattenboxen ist die höchste Kunst der diplomatischen Gewalt.«

Doch diese Zeiten waren für ihn lange vorbei, fast eine Dekade schon. Denn man durfte keine Familie gründen und sich gleichzeitig immer wieder in Todesgefahr begeben.

So jedenfalls die Auffassung seiner Ehefrau Alabima.

Die Äthiopierin war auch noch mit fast vierzig eine außergewöhnlich schöne Frau. Groß gewachsen wie viele Menschen aus dem Stamm der Oromo und ausgesprochen schlank, besaß sie trotzdem alle Rundungen einer aufregenden Milf in ihren besten Jahren. Ihre Tochter Alina hatte letzten Herbst ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Und ihr Adoptivsohn Chufu, der schon seit einigen Jahren in Brasilien lebte und arbeitete und auch dort geheiratet hatte, ging bereits gegen die dreißig.

Mehr als einmal hatte Jules Lederer seine Familie aufgrund seines früher so risikoreichen Lebens und der heiklen Aufträge wegen in Todesgefahr gebracht. Darum nahm ihm Alabima vor vielen Jahren das Versprechen ab, für keinen Klienten mehr in einen neuen Privatkrieg zu ziehen.

Jules hatte sich ihrem Wunsch gefügt, zwar höchst ungern, doch immerhin mit gutem Willen.

Womöglich war für den Schweizer aber bereits zu diesem Zeitpunkt der Zug längst abgefahren gewesen, der ihn noch in ein ruhiges, zufriedenes, bürgerliches Leben hätte zurückführen können. Denn sein letzter bezahlter Auftrag führte den Schweizer vor gut acht Jahren nach Mexiko und mitten hinein in die Hölle der Drogenkartelle mit all ihren Verbindungen bis tief hinein in die amerikanischen Geheimdienste. Nicht nur Jules und zwei seiner Freunde gerieten damals in höchste Bedrängnis. Auch seine Familie wurde bald einmal zur Zielscheibe, wurde bedroht und gejagt, von den Schergen der Drogenmafia genauso, wie von staatlichen Behörden, die ihre dunklen Geheimnisse zu schützen suchten.

In seiner großen Furcht um seine Liebsten beging Jules Lederer damals und drüben in Mexiko ein derart schreckliches und gleichzeitig völlig sinnloses Verbrechen, dass es ihn auch Jahre später noch in seinen Nächten verfolgte, ihn immer wieder schweißgebadet aufschrecken ließ. Damals hatten die Zeitungen weltweit über die bösartige Bluttat berichtet. Die Täterschaft konnte allerdings nie ermittelt werden.

Doch nach diesem ruchlosen Verbrechen hatte sich der Schweizer abrupt verändert. Vom früheren Sonnyboy, der gelassen jeder Gefahr trotzte, blieb nicht mehr viel übrig. Das strahlende Lächeln des ewigen Siegers war gänzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Das sinnlose Morden hatte sich tief in die Psyche des Schweizers gegraben, auch wenn die von ihm Getöteten allesamt Schuldige gewesen waren. So wurde sein schreckliches Verbrechen zu seinem persönlichen Albtraum, nicht nur aufgrund der eigentlichen Tat, sondern vielmehr als Ausdruck seiner damaligen Ohnmacht und seines völligen Versagens.

Mit den amerikanischen Geheimdiensten konnte sich der Schweizer später einigen, musste von ihnen kaum noch etwas befürchten. Und auch die Drogenkartelle hatten von ihm und seiner Familie abgelassen. Doch die wochenlange Furcht vor dem Schicksal seiner Liebsten, die ständige Anspannung wegen des Versteckspiels vor den staatlichen Behörden und den Häschern der Drogenkartelle, hatten tiefe Spuren an seinem Nervenkostüm hinterlassen, an seinem Selbstverständnis und an seinem Selbstbewusstsein stark genagt.

Wenig später begann Jules Lederer überall und jederzeit nur noch weitere mögliche Bedrohungen oder Feinde auszumachen. Ohne fassbare Gründe sorgte er sich immer stärker um das Wohl seiner Familie, fühlte sich verfolgt und überwacht. Er begann sich immer mehr einzuigeln und abzuschotten, selbst gegenüber seinen langjährigen Freunden. Jules kaufte damals auch eine Unmenge an Waffen und Munition zusammen, verwandelte die Villa am Genfersee zunehmend in einen Bunker. Gleichzeitig wurde der Schweizer immer unsteter, mürrischer, nervöser und leider auch brutaler. Zu Drittpersonen genauso, wie zu sich selbst. Und er ging auf einmal unnötige Risiken ein, die er früher stets gemieden hatte.

Als einige Monate später die Ärzte einen gefährlichen Gehirntumor bei Jules Lederer feststellten, waren die Sorgen von Alabima und ihm zwar riesengroß. Gleichzeitig bot die bösartige Erkrankung aber auch Anlass zur Hoffnung, nämlich dass alle diese Persönlichkeitsstörungen und Charakterveränderungen letztendlich auf der Krebserkrankung beruhten.

Nach einer ersten, weitgehend nutzlosen Chemotherapie mit Bestrahlung gaben die Ärzte dem Schweizer nur noch wenige Wochen zu leben. Der Gehirntumor musste dem Schweizer zweifellos das Leben kosten. Zu weit war er fortgeschritten. Zu stark gestreut. Zu wenig reagierte er auf die möglichen Therapien. Und eine Operation war von Anfang an eine Unmöglichkeit.

Damals schloss Jules Lederer mit seinem Leben bewusst ab, gab den Kampf gegen seine Krankheit auf, fügte sich in sein Schicksal.

Weder seine Ehefrau Alabima noch seine kleine Tochter Alina duldete er noch an seinem Krankenbett, mochte ihr Mitleid nicht mehr ertragen, wollte ihre stille Trauer nicht mehr spüren müssen. Nur noch sterben, ja, das wollte der Schweizer, möglichst rasch und möglichst allein.

Doch seine Ehefrau Alabima kämpfte weiterhin um das Leben ihres Ehegatten, rettete Jules mit Hilfe eines experimentellen Medikaments, das sie illegal für ihn besorgt hatte. Der Krebs konnte tatsächlich besiegt werden. Doch der Schweizer musste anschließend wieder zurück in ein Leben finden, mit dem er längst gebrochen hatte.

Zu Anfang empfand Jules so kein Glück über seine Genesung. Denn weiterleben zu müssen, in einer Welt, aus der er sich bereits verabschiedet hatte, die ihm darum längst fremd und unwirklich geworden war, das fiel dem Schweizer ausgesprochen schwer. Selbstmordgedanken quälten ihn zunehmend und mehr als einmal stand er kurz davor, seinem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen. Nur Dr. Grey, eine Psychologin aus Lausanne, fand damals Zugang zum Schweizer, führte Jules Schritt für Schritt zurück in die Wirklichkeit und ins Leben. Nach Monaten des Zweifelns und der Unschlüssigkeit fasste der Schweizer langsam wieder Vertrauen, in seine Gesundheit, die tatsächlich anhielt, in seine Psychologin, die ihn weiterhin forderte, aber auch in Alabima und Alina, dass sie doch noch viele Jahre gemeinsam erleben durften.

Irgendwann hatte der Schweizer auch verstanden, dass er für seine Tochter und für seine Ehefrau weiterzuleben hatte. Er fühlte die starke Verpflichtung als einen unbedingten Zwang, empfand sein Weiterleben darum vor allem als eine Bürde und Busse. Doch er fügte sich in sein Schicksal, fühlte sich irgendwann auch wirklich bereit dazu, wollte diese neuerliche Herausforderung in seinem Leben mit bestem Willen meistern.

»Tela nun vela« nannten die Dakota-Indianer diesen Zustand. Jules Lederer lernte dieses geflügelte Wort in seiner Jugend kennen. Damals verschlang er alle Western-Romane von G. F. Unger.

»Tod, wenn auch noch lebendig.«

Was tat man nicht alles aus Liebe?

Jules Lederer funktionierte von da an wieder besser, hielt sich auch an seine Versprechen gegenüber Alabima, konnte trotzdem nicht ganz aus seiner Haut schlüpfen, übernahm zwar keine gefährlichen Aufträge mehr für Klienten, suchte trotzdem vermehrt das Risiko und neue Aufregungen, stürzte sich immer wieder unnötig in Gefahren.

Bis er in Indien fast darin umgekommen wäre.

Ja, vielleicht hatte ihn dieses Land mit seiner Religion und seiner Kultur tatsächlich verändert.

Doch bis dahin hatte Alabima viel erdulden und erleiden müssen. Vielleicht zu viel?

Auch wenn die Äthiopierin seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz lebte, fühlte sie sich im Alpenland keineswegs zu Hause. Denn Jules hatte stets dafür gesorgt, dass alle von Alabima geknüpften Bande zu Nachbarn oder auch zu anderen Eltern oder weiteren Bekannten rasch wieder getrennt wurden oder zumindest einschliefen. Denn der frühere Problemlöser war einfach nicht bereit dazu, ganz gewöhnliche Menschen als gleichwertig zu anerkennen und mit ihnen umzugehen.

»Über was soll ich mit diesen einfachen Leuten denn reden?«, war eines seiner Totschlag-Argumente, »ich habe mit Jelzin und Putin verhandelt, mischte mich in die Politik großer Länder ein, kämpfte mit CIA und NSA und einem halben Dutzend anderer Geheimdienste, schlug mich mit der Drogenmafia und mit Waffenschiebern herum. Wie könnte ich mich da mit irgendeinem Monsieur Bourgeois über die richtige Pflege von Rosenstöcken im Vorgarten unterhalten?«

So und ähnlich schmetterte er in der Vergangenheit immer wieder die Wünsche seiner Lebenspartnerin nach mehr nachbarschaftlichem Miteinander ab. Nein, der Schweizer wollte keine Bekanntschaften mit Leuten aus ihrem engeren Umfeld schließen, besaß selbst nur ganz wenige gute Freunde, suchte sich keine neuen.

Alabima wurde über die Jahre verbittert. Nicht so sehr wegen ihres so überheblichen Jules, den sie immer noch liebte, wenn vielleicht auch nur für das, was der Schweizer vor zehn Jahren noch gewesen war, für seine damalige Stärke und Zuversicht, auch für seine frühere unbedingte Verlässlichkeit und die große Herzensgüte.

Doch immer wenn die Oromo allein in einem Zimmer der Villa saß und über ihr Leben nachdachte, gingen ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf.

»Ich habe meine Heimat Äthiopien verloren, jedoch keine neue Heimat in der Schweiz finden können. Ist dies das schreckliche Fazit meines traurigen Lebens?«

Heimat war dort, wo man anerkannt und geehrt wurde. Doch hier in der Schweiz, ja in Europa, kannte Alabima nur wenige Menschen näher. Wer also sollte ihr das Gefühl vermitteln, endlich angekommen zu sein?

Ihre engste Freundin hieß Holly Peterson und war die Ehefrau von Henry Huxley, dem besten Freund ihres Ehemanns. Aber Holly lebte mit Henry zusammen in London und die beiden Familien sahen einander nur selten.

Mit ihrem erwachsenen Adoptivsohn Chufu, der mit seiner Frau Mei in Rio de Janeiro lebte, sprach sie zwar weiterhin fast jede Woche über Skype. Doch das konnte keine Heimat schaffen, trotz aller Intimität. Nicht über tausende von Kilometern hinweg.

Daneben gab es noch die gelegentlichen Telefonate mit ihren Brüdern und Schwestern in Äthiopien. Man hielt den üblichen freundschaftlichen Kontakt, spürte einander mehr, als man sich sah, war sich deshalb über die Jahre hinweg immer fremder geworden.

Hier jedoch, in diesem Wohnviertel in La-Tour-de-Peilz am Genfersee, wo viele der Villen die meiste Zeit des Jahres über leer standen oder reine Spekulationsobjekte von mehr oder weniger zwielichtigen Investoren waren, gehörten Freunde oder auch nur gute Bekannte zur Mangelware. So beschränkte sich die Welt von Alabima weitgehend auf ihre Tochter Alina und ihren Ehemann Jules, falls der zu Hause war.

Seit sie regelmäßig ins Taekwondo-Training ging, hatte die Äthiopierin zwar einige gute Bekanntschaften geschlossen, jedoch keine echten Freundschaften daraus entwickeln können. Jules wollte auch mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Sie waren und blieben in seinen Augen unwissende Tölpel, die wenig, bis nichts von der großen und weiten Welt verstanden, von den großen Geheimnissen und all den Kämpfen im Hintergrund nichts ahnten.

Die übliche Leier.

Selbstverständlich interessierten sich immer wieder Männer für die ausgesprochen aparte Frau von Ende Dreißig. Doch Alabima wollte ehrliche Freundschaften schließen und keine Seitensprünge vollziehen oder gar Liebschaften nebenherführen.

Trotz finanzieller Unabhängigkeit blieb das Leben der Ehefrau und Mutter im Grunde genommen sinnfrei, sah man von der Betreuung ihrer Tochter Alina ab. Früher schrieb die Oromo noch für äthiopische Zeitungen, lieferte ihnen Tatsachenberichte über das Flüchtlingsleben in Europa, wollte so dazu beitragen, dass weniger ihrer Landsleute sich auf den langen, beschwerlichen und gefährlichen Weg nach Europa aufmachten. Denn der Westen war kein Paradies für Migranten, bot Afrikanern weit weniger Chancen, als sich die Menschen vom Schwarzen Kontinent erträumten.

Aber auch diese Schreibarbeit hatte sie vor Jahren aufgegeben. Denn wer war sie schon, dass sie über die Hoffnungen und Chancen anderer Menschen zu urteilen hatte? Ihre Entscheidungen beeinflussen durfte? Nur weil sie selbst in der Schweiz hoffnungslos gestrandet und doch nie angekommen war?

Zu ihrer fehlenden Integration und ihrem schwindenden Lebenssinn kam noch ein großes, ständiges Unbehagen hinzu. Denn die Äthiopierin wurde seit Jahren von den Justiz-Behörden beobachtet und immer wieder verfolgt. Alles begann mit der illegalen Beschaffung des experimentellen Medikaments gegen den Gehirntumor ihres Gatten. Das hatte die Staatsgewalt das erste Mal gegen sie auf den Plan gerufen. Die Aufklärung eines Mordes an einem ewigen Studenten in Lausanne, der für kurze Zeit ihr Liebhaber gewesen war, hatte Alabima dann aber eine ganz besondere Gegnerschaft eingetragen. Denn ein Staatsanwalt mit Namen Valentin Snyder träumte von einer politischen Karriere, hatte seine Bekanntheit und Beliebtheit in der Bevölkerung mit Hilfe dieses Mordfalls steigern wollen. Für Monate ließ der Staatsanwalt die Äthiopierin in Untersuchungshaft setzen, versuchte gar, mit allerlei psychologischem Druck und bösartigen Finten, ein falsches Geständnis von der Unschuldigen zu erpressen. Doch Snyder scheiterte kurz vor der Ziellinie. Seitdem sann er auf Rache.

Einer seiner Mitstreiter war ein verklemmter Kriminal-Kommissar mit Namen Augustin Muffong. Der schien alles zu hassen, was den Namen Lederer trug, zumindest seitdem er mit Jules aneinandergeraten war. Und auch wenn alle diese Geschichten bereits ein paar Jahre zurücklagen, so schwebten sie trotzdem immer noch wie ein Damokles-Schwert über dem Haupt der Frau aus Äthiopien, als eine der dunklen Wolken, die ihr die eigene Zukunft noch kräftig verregnen konnten.

Nach der Rückkehr von Jules aus Indien vor einigen Monaten waren sie zusammen mit Tochter Alina für drei Wochen in ihre alte, verlorene Heimat Äthiopien zurückgekehrt, hatten dort die Verwandtschaft besucht und alte Freundschaften erneuert. Es war eine sehr schöne und glückliche Zeit für das Ehepaar gewesen. Beide versuchten während diesen Tagen gewissenhaft, ihre Lebenspartnerschaft zu erneuern. Seither wussten sie zumindest, wie sehr sie einander immer noch liebten und auch brauchten. Und so glaubte Alabima fest an einen echten Wandel ihres Jules zum Besseren.

Wollte es zumindest.

Durfte es wahrscheinlich auch.

Denn nichts war bei ihrem Gatten von seiner früheren Überheblichkeit noch zu erkennen oder zu spüren. Auf einmal ging er auf andere Menschen offen zu, so als wäre die ganze Welt zu seinem Freund geworden. Er sprach mit Nachbarn und Anwohnern, quatschte selbst beim Einkauf unverbindlich mit irgendwelchen Kunden, war stets charmant und jovial und gewann ganz nebenbei mit Sicherheit das Herz von so mancher Frau.

Denn der Schweizer sah immer noch blendend aus. Jules war zwar nie ein ausgesprochen schöner Mann gewesen. Zu scharf und asketisch seine Gesichtszüge, eher einem Wolf ähnlich als einem gemütlichen Bernhardiner. Aber der Schweizer hatte sich seinen sportlichen Körper über die Jahrzehnte weitgehend erhalten, zeigte immer noch weder Bauchansatz noch Buckel, schritt federnd und leicht, schien zumindest fünfzehn Jahre jünger zu sein als sein eigenes Ich.

Ja, Jules war seit Indien vom Eigenbrötler und Einzelgänger innerhalb kürzester Zeit zu einem freundlichen Nachbarn und geselligen Mitmenschen geworden, hatte seine bisherige Haltung wie eine alte Haut abgestreift und eine neue übergezogen.

Seine Wandlung war perfekt.

Zu perfekt?

Konnte ein Mensch seine inneren Schalter einfach so umlegen? Von hüst zu hott?

Ein Schauspieler tat das. Ein guter Schauspieler sogar ausgesprochen glaubwürdig. Doch danach schlüpfte er stets wieder aus seiner Rolle heraus, wurde wieder zu demjenigen, der er immer schon gewesen war.

Alabima fragte sich in diesen Tagen so manches Mal und voller Bangen, ob auch Jules ihnen allen bloß Theater vorspielte. Sie betrachtete und erforschte ihn, wenn er sich unbeobachtet fühlte, versuchte sich in ihn hinein zu versetzen, sich in seine Gedanken einzufühlen. Zurück blieb ihr meist eine vage Ahnung. Oder zumindest ein unbestimmtes Unbehagen. Ähnlich einem Schmutzfleck im Stoff einer Baumwollbluse. Nach mehrmaligem Waschen war er zwar gänzlich verschwunden. Und trotzdem sah man ihn noch, weil man sehr genau wusste, wo man ihn zu suchen hatte.

Was Alabima allerdings nicht bemerkte, während sie ihren Jules auszuforschen begann, war ihre zehnjährige Tochter Alina. Die beobachtete nämlich ihrerseits ihre Mutter und wunderte sich sehr über das Verhalten von Maman.

Selbstverständlich hatte die kleine Alina schon viel früher mitbekommen, dass gewisse Dinge bei ihrem Vater Jules nicht richtig funktionierten. In der Schule sprach damals auch eine Kinderpsychologin mit ihr, erklärte die Krankheit Depression. So fand die Kleine eine gesunde Einstellung zum kranken Papa, hatte sich selbstverständlich sehr um ihn gesorgt, aber ohne jemals ins Jammern über sein Schicksal zu geraten.

Ja, eine gewisse Härte war wohl allen Lederers nicht abzusprechen, egal, in welchem Alter.

Die so positiven Veränderungen der letzten Wochen und Monate hatte auch Alina an ihrem Vater wahrgenommen, verspürte große Zuversicht und ehrliche Hoffnung. Nie zuvor hatte sie mit ihrem Papa ähnlich offen und irgendwie sogar auf gleicher Ebene sprechen können, wie in letzter Zeit. Doch Alabima, ihre Maman, schien weiterhin skeptisch zu bleiben, auch wenn Papa sich doch ganz anderes gab und verhielt als früher.

Und so spionierte die Zehnjährige ihrer Mutter nach, sah sie beispielsweise, wenn Vater außer Haus war, in seinem Arbeitszimmer verschwinden, hörte hinter der verschlossenen Tür, wie der Laptop gestartet und wie die Tasten des Keyboards und der Maus hastig geklickt wurden. Oder aber sie sah Maman an der Tür horchen, wenn ihr Vater ein Telefongespräch führte. Einmal ließ sich das Mädchen probeweise bei der Mutter blicken, so als wäre sie zufällig in den Flur getreten. Alabima war heftig zusammengezuckt, zeigte die Scham einer auf frischer Tat Ertappten, hatte ihre Tochter rasch zurück ins Wohnzimmer geführt und ihr dort irgendeine Notlüge aufgetischt, die ihr Lauschen harmlos erklären sollen.

Alina wusste also, wie sehr sich ihre Maman immer noch um ihren Papa sorgte. Nein, für die Zehnjährige war das, was ihre Mutter tat, kein eigentlicher Vertrauensbruch. Zu viel hatte selbst Alina schon als Kleinkind von den großen Risiken und lebensbedrohlichen Gefahren im Leben der Lederers mitbekommen. Doch die andauernden Zweifel ihrer Mutter an ihrem Vater schienen der Tochter völlig übertrieben.

Denn warum sollte sich ein Mensch nicht ändern und wandeln können? Vor allem eine derart starke Persönlichkeit wie ihr Papa? Musste sie sich stattdessen nicht eher Sorgen um ihre Maman machen? Dass sie mit ihrem anhaltenden Misstrauen gegenüber ihrem Gatten ihre Beziehung, ihre Ehe und Partnerschaft aufs Spiel setzte? Wie so viele Töchter in ihrem Alter nahm auch Alina eher die Seite ihres Vaters ein und nicht diejenige der Mutter. So war die Natur nun einmal programmiert. So spulte sie sich in der Regel auch ab.

*

»Mãmã!«

Sihena Ling schreckte in ihrem Bett hoch, keuchte stockend, spürte ihr Herz heftig pochen, erkannte erst nach und nach, dass sie in ihrem Schlafzimmer in ihrer Villa in Rio de Janeiro mehr saß als lag und dass alles so war wie immer und wie es auch sein musste. Durch die offene Tür zum Balkon strich ein leichter und doch erfrischender Luftzug hinein, hielt die dünnen Gardinen in sanfter Bewegung. Das Schlafzimmer lag im Mondlicht. Sihena Ling blickte sich um, suchte nach einem Grund für ihr Erwachen, stellte keinen fest. So lauschte die Sechzigjährige nach draußen und in den Garten, wie auch auf den Flur vor der Schlafzimmertür. Doch sie vernahm nichts außer dem leisen Rascheln der Blätter an den Bäumen vor dem Haus.

Was hatte sie beim Hochschrecken gerufen?

»Mãmã!«

Da war sich die chinesisch stämmige Brasilianerin ziemlich sicher.

Doch was hatte ihre längst verstorbene Mutter Lien in einem ihrer Träume zu suchen? Und erst recht in einer Situation, die wohl derart bedrohlich war, dass sie derart erschrocken aufwachte? Nein, Sihena Ling konnte sich beim besten Willen nicht an ihren Traum erinnern. Doch furchteinflößend musste er gewesen sein. Denn ihr Puls war immer noch erhöht und auch das Atmen noch beschleunigt.

Die etwas über Sechzigjährige legte sich wieder hin, schloss probeweise ihre Augen. Doch an Schlaf war für sie nicht mehr zu denken. Denn irgendetwas war da weiterhin vorhanden. In ihren Erinnerungen oder in ihren Gefühlen, etwas das sie nun bereits seit mehreren Wochen immer wieder mal aus dem Schlaf schrecken ließ, so dass sie mit heftig pochendem Herzen erwachte.

Sihena Ling dachte mit geschlossenen Augen nach.

Ihre Mutter war in Peking aufgewachsen, hatte dort studiert, Mandarin und chinesische Geschichte. Später heiratete sie ihren um viele Jahre älteren Professor und Mentor Wengdo Wong. Die beiden lebten einige Jahre lang in Peking, bekamen dort auch ihr einziges Kind. Sie nannten ihre Tochter Sihena, nach einer vor Jahren verstorbenen Tante ihres Vaters. Doch während der Kulturrevolution mussten ihre Eltern mit der Tochter zusammen fliehen. Auf einer abenteuerlichen Reise gelangten sie über Hongkong nach Taiwan und von dort über Australien nach Brasilien. Damals war Sihena gerade vierzehn Jahre alt geworden, ein typischer chinesischer Teenager, der sämtliche Ideologien des Staatsapparats schon vom Kindergarten an eingeflößt bekommen hatte und nichts anderes auf der Welt kannte und auch nichts anderes als richtig erkannte.

Ihre Eltern waren zwar nie Maoisten gewesen, hatten die Ideologie des Führers insgeheim sogar verachtet und gehasst, ihre Tochter jedoch als Kind und Jugendliche nie korrigiert. Denn zu sehr waren die Schergen der Staatsgewalt ständig darauf bedacht gewesen, selbst schon die Allerjüngsten auszuhorchen und auf diese Weise die Abweichler und möglichen Aufwieglern gegen die Staats-Doktrin zu entlarven. Erst als sie alle gemeinsam in Brasilien angekommen waren und ihr Vater eine Anstellung als Chinesisch-Lehrer ergattert hatte, sprachen ihre Eltern mit ihr offen über all das Unrecht und die Gewalt, die in ihrer alten Heimat herrschten, auch vom Druck der kommunistischen Partei auf jedes einzelne Individuum, ebenso von der Selbstverleugnung der meisten Menschen und vom großen Elend all jener, die sich offen gegen diesen Unrechtsstaat auflehnten.

Sihena hatte das alles aber erst nach vielen Jahren verstanden, hatte sich zuerst sogar gegen ihre eigenen Eltern gewehrt, wollte nichts wahrhaben, nichts gelten lassen, war während ihrer Schulzeit in China ganz einfach zu sehr geimpft worden, von der allumfassenden Ideologie eines Machthabers, der jede mögliche Opposition schon in den Anfängen zertrat und ausmerzte und dazu auch die jüngsten Kinder schamlos ausnutzte.

Doch Sihena erkannte schließlich doch das Unrecht und sie wandelte sich. Dazu beigetragen hatte sicher auch ihr ständiger Umgang mit brasilianischen Teenagern in der Schulklasse. Sihena musste damals zwar gleich drei Stufen wiederholen, bis sie endlich das Portugiesisch gut genug beherrschte, um mithalten zu können und sich in der neuen Gemeinschaft zu behaupten. Doch gleichzeitig begann sie, den brasilianischen Lebensstil zu lieben und den chinesischen unter Mao zu verachten.

Schon mit zwanzig oder einundzwanzig Jahren lernte sie Zenweih Ling kennen. Er war der Sohn eines chinesischen Auswanderers und in Brasilien geboren und aufgewachsen. Seine Eltern betrieben drei kleine China-Restaurants, eher Imbiss-Stuben, die einfachste Gerichte zu günstigsten Preisen servierten. Für ihre hochgebildeten Eltern war Zenweih Ling und dessen Eltern darum kein akzeptabler Umgang.

»Was willst du mit diesem Mann aus der Gosse?«, warf ihr die stolze Mutter vor, »Familie Ling lebt doch intellektuell immer noch in der Steinzeit?«

Und ihr Vater Wengdo, der hier in Brasilien als kleiner Lehrer für eine unbedeutende Schule arbeitete, hieb in dieselbe Kerbe, drückte sich noch drastischer aus, sprach vom Bodensatz der Zivilisation, von einer Beleidigung des Intellekts.

Erst sehr viel später konnte Sihena ihre Eltern verstehen. Denn all ihr riesiges Wissen über die Sprache und die Kultur des großen China war hier in Brasilien einfach nicht gefragt. Statt an einer Universität den interessierten Studenten sein Heimatland näher bringen zu können, büffelte ihr Vater mit irgendwelchen Kindern im Freifach Chinesisch die Schriftzeichen, ihre Bedeutung und ihre Aussprache. Und so wurde Wengdo Wong schon bald zu einem verbrämten und vom Leben enttäuschten Mann, als den sie ihn auch nach seinem Tod in Erinnerung behielt.

»Die Lings mögen rechtschaffene und hart arbeitende Menschen sein. Doch über was willst du dich mit diesem Zenweih eigentlich unterhalten? Er kennt China bloß vom Hörensagen und ist hier in Brasilien als Asiat genauso ein Aussätziger, wie wir Wongs auch. Schlitzaugen nennen sie uns. Oder Kulis«, so ihr Vater, nachdem sie sich weiterhin mit Zenweih traf.

Doch wer verliebt war, der fragte nicht nach Gesprächsthemen, der wollte einfach nur leben, spüren, fühlen und nicht zuletzt träumen. Und so festigte sich ihre Beziehung trotz des Widerstandes ihrer Eltern, oder gerade deswegen, wurde groß und wunderbar.

Sie heiratete Zenweih Ling nach nur einem Dreivierteljahr und ohne Zustimmung ihrer Eltern. Der Kontakt zu ihnen gestaltete sich für sie hinterher äußerst schwierig, wurde bei jedem ihrer Besuche von heftigen Vorwürfen und gehässigen Streitereien überschattet. Sihena ertrug vieles, gehorsam und stoisch, wie es die Pflicht einer jeden guten chinesischen Tochter war. Umso mehr freute sie sich jedes Mal, wenn sie hinterher wieder zurück in der winzigen Wohnung war, die sie zusammen mit Zenweih Ling über einem der Imbiss-Restaurants seiner Eltern bewohnte. Vom Hausflur aus führte die Eingangstür direkt in das einzige Zimmer, in dem zwei Sessel, ihr schmales Bett und eine kleine Einbauküche für nur wenig Atmosphäre sorgten. Doch die Wohnung besaß ein eigenes Bad, in diesem ansonsten ziemlich schäbigen Haus ein großer Luxus. Zenweihs Eltern hatten es vor Jahren günstig gekauft und vermieteten die nicht renovierten Apartments möglichst teuer an andere Migranten aus der halben Welt.

Sihena gab ihr begonnenes Studium als angehende Ärztin schon bald nach der Hochzeit auf und trat ins Familienunternehmen der Lings ein, arbeitete zuerst nur in der Buchhaltung, später auch im Einkauf, schlug sich mit unflätigen Gemüsehändlern und frechen Fleischlieferanten herum. Und trotzdem war das die schönste Zeit in ihrem ganzen Leben gewesen, konnte sie sich doch mit Zenweih Ling nach jedem harten Arbeitstag in ihre kleine Oase zurückziehen. Damals liebten sie sich noch fast täglich, vor allem auch, weil Zenweih Ling meistens viel zu rasch zum Erguss kam. Der für einen Chinesen hoch aufgeschossene junge Mann roch meistens nach Bratenfett und geschmorter Entenhaut, wenn er sie in seine Arme nahm. Doch was waren das für wunderbare Düfte der Liebe?

Als der Vater von Zenweih starb, übernahm er als einziges Kind das Geschäft. Zusammen mit Sihena steckte er sich bald hohe Ziele und gemeinsam machten sie große Pläne, eröffneten nach und nach weitere und immer gediegenere Restaurants in der Stadt, wurden sehr rasch zu sehr erfolgreichen Wirtsleuten und Unternehmern, schufen sich einen wachsenden Wohlstand, der sich irgendwann in echten Reichtum verwandelt hatte.

Sihena bekam auch Kinder von Zenweih Ling, drei Töchter und zwei Söhne. Die fünf Enkelkinder ließen die verhärtete Kruste ihrer eigenen Eltern endlich aufplatzen. Sicher sorgte auch der steigende Wohlstand aus dem Restaurant-Business für zusätzliche Entspannung. Reichlich Kinder und reichlich Geld. Mehr Fantasie für ein glückliches Leben besaßen ihre Eltern nicht mehr, trotz all ihrer Kultur und ihres hohen Geistes. Denn wer über Jahre hinweg bis zum Hals in wachsenden Sorgen um die eigene Zukunft steckte, der fand in seinem Kopf kaum noch Platz für andere Dinge, höchstens noch für Neid und Vorurteile.

Doch Sihena war zufrieden, hatte sich doch das früher ewig wiederkehrende Gezanke um die unerwünschte Heirat in ein wohlgefälliges Beobachten der rasch wachsenden Familie Zenweih und Sihena Ling gewandelt.

Trotz der besseren Stimmung fühlte sich Sihena, nachdem ihre Eltern kurz hintereinander verstorben waren, irgendwie befreit, so als wäre ihr der allerletzte Albdruck von der Brust genommen, ihre letzte Verbindung zum chinesischen Reich und seiner immer noch alles beherrschenden Diktatur gekappt. Und sie sah ihre fünf Kinder damals als einen riesigen Schatz an, als eine Art von Gegenpol zur unmenschlich Einkind-Doktrin ihrer alten Heimat, aber auch als Ausdruck ihrer grenzenlosen Befreiung in Brasilien.

Zenweih und Sihena Ling hatten sich im Laufe der Jahre ein Restaurant-Imperium aufgebaut, das aus mehreren Dutzend Lokalen bestand, hier in Rio de Janeiro, aber auch in anderen Großstädten. Doch das Ehepaar entfremdete sich schleichend voneinander, Schritt-für-Schritt und mit dem Erwachsenwerden ihrer Kinder. Und genauso, wie sich ihre Söhne und Töchter nach und nach von ihren Eltern lösten, verwelkte auch die Liebe zwischen Sihena und Zenweih.

Ob zuerst sie oder ihr Gatte fremd gegangen war, wusste die chinesisch-stämmige Brasilianerin nicht mehr zu sagen. Das war im Grunde genommen auch egal. Der Mensch veränderte sich nun einmal über die Jahrzehnte, musste sich irgendwann um seine eigenen Bedürfnisse kümmern, zu sich selbst Sorge tragen und dazu einen gesunden Egoismus entwickeln. Denn was war ein Leben, das nur aus Arbeit, Kindern und Reichtum bestand?

Je mehr die Liebe zwischen ihnen verging, desto stärker erinnerte sich Sihena an ihre intellektuelle Herkunft. Sie begann Platon und Aristoteles zu lesen, verschlang Dante, Shakespeare und Balzac. So empfand Sihena ihren Gatten Zenweih immer stärker als einen geistlosen Klotz an ihrem Bein. Die Trennung und wenige Jahre später die Scheidung waren die logischen Folgen.

Heute war sie für den Rest ihres Lebens finanziell abgesichert, besaß ein sehr gut gefülltes Bankkonto und diese noble Villa in einem sicheren Quartier der Millionenmetropole Rio de Janeiro. Sie lebte ihr selbstbestimmtes Leben, nahm sich Liebhaber, wann immer ihr danach war. Doch die Jahre vergingen allzu schnell, flogen nur so dahin. Zumindest empfand die Sechzigjährige heute so. Wo war bloß all die Zeit verloren gegangen? Wie und wo zwischen ihren Fingern zerronnen? Oft genug auch verschwendet?

Sihena Ling hatte sich zeitlebens schlank und möglichst rank gehalten, betrieb täglich Schattenboxen im Garten, verrenkte sich die Glieder beim Yoga, versuchte Körper und Geist zu vereinen. Nein, alte fühlte sich die über Sechzigjährige nicht.

Ihre fünf Kinder, allesamt mittels Kaiserschnitt auf die Welt geholt, besuchten sie mit ihren Lebenspartnern leider nur noch selten. Die Enkelkinder kannten die Großmutter kaum, zeigten gegenüber ihrer meist streng und einschüchternd blickenden Oma keine große Zuneigung, waren mit ihr nie richtig warm geworden. Und so vermisste Sihena zunehmend die gute, alte chinesische Erziehung mit all ihren festen Regeln und der überaus klar bestimmten Ehrerbietung gegenüber jeder älteren Generation. Die chinesisch-stämmige Brasilianerin fühlte sich zusehends von allen gemieden und verstoßen und das verbitterte sie sehr.

War das vielleicht der Grund, warum sie seit einigen Wochen immer wieder aus dem Schlaf hochschrak? Es war nicht das erste Mal, dass sie mit dem Aufwachen an ihre Mutter denken musste. Wollte ihr Lien Wong womöglich etwas mitteilen? Ihr noch Wichtiges mitgeben, einen Rat erteilen, der für den Rest ihres Lebens bedeutend war?

Sihena wusste es nicht.

Wenn sie sich doch wenigstens an den Inhalt ihrer Träume hätte erinnern können, in denen ihre Mutter zu ihr sprach oder zumindest auftauchte? An den Grund ihres Erschreckens und Aufwachens? Womöglich schwebte eine schlimme Gefahr über ihr und die gute, alte Mutter wollte ihre Tochter davor warnen und bewahren?

Sihena Ling war selbstverständlich längst zu ihrem Hausarzt geeilt, schon nach dem dritten schreckhaften Erwachen. Sie hatte ihm auch von ihrer Mutter erzählt und dass sie ihren Namen im Schlaf oder Halbschlaf wohl laut gerufen hatte. Der gute Mann konnte ihr allerdings nur wenig dazu sagen oder raten, sprach von möglicherweise unverarbeiteten Erinnerungen aus ihrer Kindheit und dass sie sich doch besser an einen Neurologen oder Psychiater wenden sollte.

Ihre mittlere Tochter mit Namen Mei war Psychologin, genauso wie ihr Ehemann, dieser Chufu Lederer, ein Philippine, der zusammen mit ihrer Mei an der Universität in Rio de Janeiro studiert und später promoviert hatte. Doch der eigenen Tochter wollte sich die Mutter unter keinen Umständen anvertrauen. Sihena war stets eine stolze und unnahbare Frau und Mutter gewesen, wollte sich keinesfalls eine Blöße geben, keine Schwäche zeigen, musste weiterhin die gradlinige, selbstbestimmte und selbstbewusste Frau sein, die sie ein Leben lang gewesen war. Und der ungeliebte Schwiegersohn kam dafür erst recht nicht in Frage. Der war Philippine. Ein Philippine!

Und so hatte sich die Chinesin zu einem anderen Spezialisten bemüht, den ihr der Hausarzt empfohlen hatte. Der Mann um die vierzig hieß Horche Condias und war in ihren Augen ein affektierter und sich ungeheuer wichtig nehmender Lackaffe, der bloß vorgab, alle Weisheiten dieser Welt mit großen Löffeln gegessen zu haben. Ihrer Ansicht nach philosophierte der Kerl bloß mehrheitlich herum, gefiel sich gleichzeitig in der Rolle eines Seelenklempners, ohne dass er echte, ärztliche Kunst anzubieten hatte. Der Mann wollte doch bloß möglichst viele und teure und unnütze Sitzungen an sie verkaufen.

Für morgen Nachmittag, nein, bereits in gut zwölf Stunden, war der nächste Termin mit Dr. Condias vereinbart. Sie würde ihm vom erneuten Aufwachen und ihrer gefühlten Panik berichten und der Psychologe würde bestimmt wieder bedeutungsschwanger mit seinem Kopf nicken und irgendeinen Blödsinn verzapfen, ihr dabei gut zureden und mit seinen ekelhaften Fragen noch weiter in ihrer Kindheit herumstochern, so als wenn sie dies nicht längst schon selbst und ausführlich und ohne jeden Erfolg getan hätte.

»Allesamt bloß Schaumschläger und ausgesprochene Wichtigtuer.«

So beurteilte die selbstbewusste chinesisch-stämmige Brasilianerin die gesamte Psychiater- und Psychologen-Brut. Und würde trotzdem wieder zu Dr. Condias hingehen, so wie die Woche zuvor.

Wenn sie doch nur wüsste, warum ihre Mutter sie in ihren Träumen immer wieder heimsuchte? Dafür musste doch ein sehr wichtiger Grund vorliegen? Oder zumindest eine ernste Sache?

Sihena erinnerte sich an ihr letztes Gespräch mit ihrer Mãmã, wenige Tage bevor sie überraschend nach einem Herzinfarkt verstarb. Die alte Frau hatte sich bei ihr erneut darüber beklagt, dass sie vom konfuzianischen Glauben abließ, dass sie mit der Heirat mit Zenweih Ling zum Christentum übergetreten und Katholikin geworden war.

»Also ehrlich, Mãmã, wie oft haben wir das schon durchgekaut? Als Geschäftsfrau hier in Brasilien hilft es mir nun mal ungemein, wenn ich Christin bin. Und der olle Konfuzius hat dir und Vater ja auch nichts genutzt oder euch vor Mao geschützt. Auch ist es besser für meine Kinder, als kleine Christen aufzuwachsen. So werden sie in der Schule weniger gehänselt, in diesem durch und durch katholischen Land. Oder sollen sie etwa die ewig Seltsamen sein und bleiben? Sie hätten als religiöse Außenseiter später nur schlechtere Berufs- und Aufstiegs-Chancen. Das musst du endlich begreifen und akzeptieren.«

Nein, die alte Frau verstand nicht, wollte nicht einlenken, aus Altersstarrsinn oder weil sie tatsächlich etwas Nützliches bei Konfuzius gefunden hatte. Doch dieser Mann war zu Lebzeiten ein ziemlicher Versager gewesen, trat als kleiner Scheunenaufseher in den Staatsdienst, arbeitete sich zwar bis zum Justizminister einer Provinz hoch, musste jedoch schon wenig später seinen Posten räumen, zog von da an mit einer kleinen Schar von Anhängern durch die Gegend, starb völlig verarmt und bereits ziemlich vergessen. Seine Lehre wurde erst hundert Jahre nach seinem Tod schriftlich aufgezeichnet. Mochte der Henker wissen, wie viel davon tatsächlich auf Konfuzius Mist gewachsen war.

Sihena konnte kaum verstehen, warum sich bis heute weiterhin Menschen für diesen geschichtlichen Habenichts interessierten. Selbstverständlich waren seine Anleitungen zu gutem Regieren und Verwalten klug und richtig. Doch was hatte das mit echtem Glauben zu tun? Mit der Ausrichtung des eigenen Lebens? Konfuzius gehörte ihrer Meinung nach noch nicht einmal zu den mittelmäßig talentierten Philosophen, hatte auch mit seiner Art der Lebensführung keinen nachhaltigen Erfolg gefeiert. Längst schon griesgrämig wegen seiner anhaltenden Bedeutungslosigkeit geworden, hatte sich der Mann wahrscheinlich nur aus einem einzigen Grund seine vielen Verhaltensregeln und Selbstkasteiungen ausgedacht, nämlich um andere Menschen zu maßregeln und sich an ihnen auf diese bösartige Weise zu rächen. Ja, Konfuzius besaß eigentlich recht viel Ähnlichkeit mit ihrem vom Leben so sehr enttäuschten Vater Wengdo.

Oder umgekehrt.

Hatte das Auftauchen ihrer Mutter in ihren Träumen etwas mit ihrem Glauben zu tun? Sorgte sich die längst Verstorbene um ihr Seelenheil? Sie war zwar Christin, ja Katholikin, geworden, doch ohne jeden Glauben an einen Gott, Jesus oder den Heiligen Geist, die Apostel und all den übrigen Zauber. Als ihre Kinder noch klein waren, besuchten sie zwar gemeinsam und geschlossen als Familie an jedem Sonntag pflichtbewusst die Messe, sangen die Lieder und sprachen die Gebete der Gläubigen mit, schluckten auch brav die trockene Scheibe Keks, die ihnen der Priester jeweils auf die Zunge legte, genossen beinahe die eineinhalb Stunden Eintönigkeit und Scheinheiligkeit in der angenehmen Kühle der Kathedrale.

Alles zum Wohle des Unternehmens.

Alles zur Steigerung des Wohlstand.

Denn hinterher, vor der Kirche und nach dem Verabschieden durch die Priesterschaft, da trafen sich die Honoratioren und Geschäftsleute zum Plaudern und Austauschen. Zenweih Ling und auch sie selbst schnappten dort mehr als eine wichtige Neuigkeit auf oder fanden gute Gelegenheiten, neue und nützliche Kontakte zu knüpfen.

Womöglich waren ihre Albträume bloß die Vergeltung für ihre fehlende Religiosität? Eine Art von Prüfung? Wie ein Warnschuss, endlich umzukehren und den Rest ihres Lebens einem Gott zu widmen? Fromm zu werden?

Sihena lachte auf, kurz und böse.

Nein, sie war sich ziemlich sicher. Ihre Albträume mussten weit tiefere, aber auch direktere Gründe haben. Denn warum schlief sie erst seit wenigen Monaten derart schlecht, wachte jede zweite oder dritte Nacht völlig aufgelöst auf, rief manchmal nach ihrer Mutter oder sah zumindest ihr Gesicht vor Augen, sobald sie einigermaßen bei Bewusstsein war?

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken und so stand die chinesisch-stämmige Brasilianerin seufzend auf, ging hinüber ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Ihr welker Körper mit den tief gegen den flachen Bauch herabhängenden, schlaffen Brüsten war immer noch schlank, wirkte beinahe knabenhaft. Ihr Bauch zierten allerdings lange Narben, Zeugnisse der Kaiserschnitte, mit deren sie alle ihre Kinder zur Welt gebracht hatte, um sich nicht ihr schmales Becken bei der Geburt zu ruinieren. Auch in dieser Beziehung war sie ganz Brasilianerin geworden.

Sie seifte sich mehrmals ein, wusch sich auch das kurz geschnittene Haar. Früher trug sie es länger, bis hinunter zur Schulter. Doch seit etwa zwei Jahren konnte sie ihre Arme kaum mehr richtig hinter ihren Kopf heben, um die Frisur zu richten. Die Gelenke schmerzten einfach zu sehr, schienen zunehmend steif zu werden. Sie nahm entzündungshemmende Medikamente dagegen. Denn eine Operation kam für sie nicht in Frage. Zu viele ihrer Bekannten hatten sich mit ähnlichen Beschwerden unters Messer gelegt und sich ihre Schultergelenke von irgendeinem pfuschenden Chirurgen versauen lassen. Einigen hatte der Eingriff zwar ein wenig Besserung oder zumindest Linderung gebracht. Die meisten jedoch klagten über andauernde und sogar weit schlimmere Schmerzen als zuvor, über plötzlich fehlende Kräfte in ihren Armen oder dass ihnen fortwährend die Hände einschliefen.

Doch das Kämmen der Haare war ihr über die Monate immer schwerer gefallen und eine Kurzhaarfrisur darum der logische Ausweg.

Als sie aus der Dusche trat und sich mit dem Badetuch trocken rubbelte, betrachtete sich Sihena kritisch im großen Spiegel über dem Doppelwaschbecken. Nein, sie war keine Augenweide mehr. Ihre Nippel zeigten auf den Boden, ihre zwar weiterhin schlanken Oberschenkel wiesen trotz all dem Schattenboxen und Yoga viel Orangenhaut auf. Vor allem störte sie sich aber an ihren Händen, die sie vor dem Spiegel hin und her bewegte und sie ausgiebig von allen Seiten betrachtete. Früher war sie immer sehr stolz auf die beiden gewesen, denn Sihena besaß recht lange Finger, für eine Chinesin, setzte sie auch gekonnt in Szene, wischte sich beispielsweise gedankenverloren eine Strähne aus der Stirn oder spielte an einer langen Perlenkette. Doch nun zogen sich dicke, blaue Adern über ihre Handrücken und die Fingergelenke schienen allesamt entzündet und verdickt.

»Nicht einmal sie sind mir noch geblieben«, jammerte die über Sechzigjährige sich selbst im Spiegelbild vor, dachte gleichzeitig an ihre Kinder und deren Partner, auch an ihre Enkel und zuletzt sogar an ihren Ex-Ehemann Zenweih, der sie nicht nur verließ, der sich auch von ihr hatte scheiden lassen und sie wenig später ausbezahlte, ihr die Hälfte der Restaurant-Kette abkaufte, nur um sie endlich und endgültig und für alle Zeiten los zu sein.

Auch Sihena hatte bereits von der Affäre ihres Ex-Gatten mit diesem viel jüngeren Flittchen, einem ehemaligen Fotomodell und Beinahe-Miss-Brasilia, erfahren. Ein alter Mann gönnte sich eine junge Hure. Was für die Männer in diesem katholischen Land etwas völlig Normales schien, war für eine Frau immer noch eine Beinahe-Unmöglichkeit. Sihena hatte es trotzdem zumindest einmal versucht und sich einen wesentlich jüngeren Liebhaber genommen, wollte ihn offiziell in die gute Gesellschaft einführen. Doch das kam schlecht an bei ihren Bekannten. Man begann sie unverzüglich zu meiden, lud sie nirgendwo mehr ein, isolierte sie völlig. Also stieß sie diesen Carlos Ferrera von ihrer Bettkante, wollte so das Bisschen an Würde und Ansehen retten, das ihr noch geblieben war.

Zumindest ein paar ihrer Bekannten lenkten daraufhin rasch ein, nahmen sie wieder in ihren Kreis auf. Andere jedoch zeigten ihr bis heute die kalte Schulter, diese verfluchten Heuchler.

»Was, verdammt noch mal, ist denn bei Männern so viel anders als bei uns Frauen? Wieso dürfen Kerle sich vergnügen, wie sie nur wollen, erhalten dazu auch noch Beifall von allen Seiten, und wenn sich eine Frau dasselbe Recht herausnimmt, wird sie geschnitten und muss zu Kreuze kriechen. Was ist das bloß für eine scheinheilige Welt, die sich diese verdammten Katholiken hier geschaffen haben? In die sie sich regelrecht selbst einsperren?«

Sie fühlte sich zornig, war aufgebracht, zitterte vor Wut am ganzen Körper.

Oder doch eher vor Ohnmacht?

Langsam beruhigte sie sich wieder, schaute sich erneut musternd und prüfend im Spiegel an, drehte sich nach links, dann nach rechts. Ihre Haut war tief gebräunt, fühlte sich auch samtig weich an. Gute Pflegeprodukte und lange Sonnenbäder waren nun einmal das A und O eines attraktiven Aussehens. Und es gab durchaus noch viele geile alte Böcke, die noch so gerne mit ihr ins Bett gestiegen wären. Da war sich Sihena sicher, auch wenn auf den Partys ihrer Bekannten nur noch mit ihr geflirtet wurde. Doch sie konnte die Blicke der Männer immer noch lesen, auch wenn sich die meisten von ihnen vordergründig unnahbar, manchmal sogar zynisch abweisend gaben.

Mit den Ehemännern von zwei ihrer besseren Bekannten hatte sie tatsächlich geschlafen. Allerdings war das bereits viele Jahre her, kurz nachdem sie von den ersten Eskapaden ihres Gatten Zenweih erfahren hatte. Rache-Sex nannte man das wohl und Sihena hatte kein Bisschen Spaß dabei empfunden, weder als Vorfreude noch währenddessen oder hinterher. Im Gegenteil. Danach fühlte sie sich bloß benutzt und entwertet.

Schon seltsam, dass Frauen für Männer stets wie weitere Trophäen waren, während die Frauen bei Seitensprüngen eigentlich immer nur verloren? »It´s A Man´s World«, hatte James Brown einst gesungen und sich darüber beklagt, dass es zwar ohne Frauen und Mädchen keinen einzigen Menschen auf dieser Erde gäbe, dass das Weibliche trotzdem nicht gleichberechtigt neben dem Männlichen stand.

»Du weißt, dass der Mann Geld macht,« »um von anderen Männern zu kaufen.«

Sihena ging hinüber in ihr Ankleidezimmer, warf sich dort einen leichten Bademantel aus Seide über, blickte auf den Radiowecker auf dem Nachttisch. Es war halb sechs Uhr früh. Ihre beiden weiblichen Angestellten, die Köchin Marta und das Dienstmädchen Naara würden erst gegen sieben hier auftauchen. Sollte sie hinuntergehen und sich zwei Stockwerke tiefer in der Küche selbst einen Espresso zubereiten? Lust auf einen verspürte sie und so entschloss sie sich.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und stieg die Stufen hinunter, durchsuchte in der Küche die Schränke, fand endlich, wonach sie suchte, nämlich eine kleine, etwas fleckige italienische Espresso-Kanne aus Aluminium. Sie schraubte sie auf und schnüffelte am feinlöchrigen Siebeinsatz. Der roch komisch metallisch. Bestimmt war das Teil schon seit vielen Jahren von niemandem mehr benutzt worden. Sihena spülte die Kanne mit heißem Wasser mehrmals gründlich aus, füllte dann die untere Hälfte mit kaltem, holte aus dem Kühlschrank das Espresso-Pulver und füllte den Einsatz randvoll und stülpte das Sieb darüber, montierte das Oberteil des Krugs auf die Becherhälfte, stellte die Kanne auf den Gasherd und schaltete diesen ein.

Mit einem leisen »Blopp« entzündete sich die Flamme, leckte züngelnd nach dem Boden der Aluminium-Kanne.

Sihena holte sich eine Espresso-Tasse mit passendem Unterteller aus dem großen Geschirrschrank, stellte sie erwartungsvoll auf den Küchentisch.

Wie viele Jahre war sie nicht mehr hier unten gewesen? Ein paar Szenen kamen ihr in den Sinn, Begegnungen mit ihren Angestellten, dabei keine einzige erfreuliche. Denn das faule Pack musste schon immer und beständig angetrieben werden. Ansonsten hätten die beiden eh nur herumgesessen und Däumchen gedreht. Ohne ihre Umsicht wäre die Villa doch unweigerlich verlottert. Genauso wie Sihena stets die Angestellten in den Restaurant-Betrieben im Griff behalten hatte, befehligte sie auch ihren Hausstand, mit harter und doch äußerst geschickter und oftmals auch gerechter Hand.

Etwas wie Stolz umspielte die Lippen der älteren Frau.

Der Espresso dampfte bereits und ein leises Blubbern verriet ihr, dass der Wassertank fast schon leer war. Sie schaltete den Herd aus und nahm die Kanne hoch, schenkte sich das Tässchen voll, setzte sich an den Küchentisch. Gierig schlürfte sie vom heißen Rand, verbrannte sich leicht ihre Unterlippe und die Zungenspitze. Egal. Die Würze des Kaffees erschien ihr in diesem Moment einfach himmlisch, ähnlich einem Jungbrunnen, aus dem man neue Kräfte schöpfte. Rasch setzte sie nach, spürte erneut die starke Hitze in Mund und Rachen, fühlte sogar eine gewisse Erregung, als der Espresso in ihren Magen floss und auch ihn erwärmte.

Als die Tasse leer war, füllte sie sogleich nach, ließ sie dann aber erst einmal stehen.

Was hatte ihre Mutter in ihren Träumen bloß zu suchen? Warum tauchte sie gerade jetzt in ihren nächtlichen Gedanken auf? Das musste etwas zu bedeuten haben.

Sihena sah das Gesicht von Lien wieder vor sich, diese schwarzen, streng blickenden Augen, den verkniffenen, schmalen Mund. Glücklich hatte sie ihre Mutter eigentlich nie gesehen. Höchstens zwischendurch einmal etwas erfreut. Und lachen konnte Lien eh nicht. Zumindest nicht äußerlich oder gar laut. Stattdessen verzog sich ihr Mund jeweils schief und sie sah dabei aus, als wäre ihr übel oder als müsste sie gleich Blut und Galle spucken. Wie hatte ihr Vater diese Frau bloß ein Leben lang ausgehalten? Sihena schüttelte verständnislos ihren Kopf und erblasste gleich danach.

Kinder erbten doch stets einige der guten, aber auch viele der schlechten Eigenschaften ihrer Eltern, körperliche und seelische. Was waren die Überbleibsel ihrer Mutter in ihr? Die Nase, ohne Zweifel, gestand sich Sihena ein. Auch die langen, schlanken Hände. Und die krampfigen Adern mit den dicken Gelenken ebenso, fügte die chinesisch-stämmige Brasilianerin bitter in ihren Gedanken hinzu. Doch sonst? Ihr Lächeln war ganz anders, glaubte sie zumindest. Und auch all das sonstige Gehabe ihrer Mutter war keineswegs vergleichbar mit ihrer straffen Haltung und ihrem weltgewandten Auftreten.

Mei, ihre mittlere Tochter, hatte sie allerdings schon einmal mit der Großmutter verglichen.

»Du bist wie Avó Lien«, hatte sie wütend zu ihr gesagt, »genau derselbe Sturkopf, der weder links noch rechts schaut, für den es immer nur ein Geradeaus gibt.«

Diesen Starrsinn hatte Sihena zwar selbst an ihrer Mutter erlebt und gehasst. Das mit Konfuzius war bloß eines ihrer ewigen Themen. Hinzu kamen Kindererziehung, das Auftreten in der Öffentlichkeit, die Bekanntschaften des Ehepaars Ling. An allem und jedem mäkelte ihr Mutter ständig herum. Nichts genügte ihr. Vieles war ihr zuwider.

Aber ihre Tochter Mei hatte sich geirrt. Nur weil sie eine feste Meinung besaß und sie auch vertrat, hatte das doch noch lange nichts mit Sturheit oder gar Starrsinn zu tun? Wo käme die Welt denn hin, wenn sich alles bloß nach den Kindern richten müsste? Nein, ihre mittlere Tochter war ungerecht zu ihr gewesen. Wahrscheinlich hatte ihr auch dieser verdammte Philippine vieles eingeredet. Sie hatte diesem Chufu Lederer noch nie über den Weg getraut. Zu geschniegelt und geschliffen und glatt war er in ihr Leben getreten, hatte sich bei Zenweih eingeschleimt, versuchte Ähnliches auch bei ihr. Doch da hatte sich der junge Kerl gehörig geschnitten. Ihr Gatte mochte eine degenerierte Ausgabe eines echten Chinesen sein. Immerhin hatte er nie in der alten Heimat gelebt. Sie hingegen konnte sich kaum mit einem Philippinen an der Seite ihrer leiblichen Tochter abfinden. Diese Rasse war nicht gut genug für jemanden aus dem Reich der Mitte. Niemals.

Ihre Gedanken waren abgeschweift und der Espresso in der Tasse längst abgekühlt. Trotzdem schluckte sie den bitteren Trank, sog ihn in einem Zug hinunter. Den Rest der Kanne leerte sie in die Schütte, stellte sie daneben, schlurfte in ihren Pantoffeln wieder die Stufen der Treppe hoch in ihr Schlafzimmer, zog den Bademantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne und sich selbst ins Bett.

Was konnte sie denn noch unternehmen, um endlich zu erfahren, was ihre Mutter in ihren Träumen zu suchen hatte?

*

Es war ein stürmischer Morgen am Moray Firth, der großen Meeresbucht an der Ostküste Schottlands. Heftig aufkommende Winde peitschten die Wasseroberfläche. Langgezogene Wellen brandeten weit höher und stärker als gewöhnlich gegen die Kaimauern des Hafens von Fraserburgh. Am Himmel türmten sich dunkle Wolken, als stünde das Jüngste Gericht bevor.

Die wenigen angetauten Fischerboote hoben und senkten sich heftig in den Wogen des Wassers. Schon vor Stunden hatte ein höchst unangenehmer Nieselregen eingesetzt, dämpfte mit seinem Nebel gleichermaßen die Sicht aufs offene Meer, wie auf die bunt bemalten Fassaden der Häuser um das Hafenbecken herum.

Adair McNeill stand an einem der Piere, blickte hinaus auf das trübe Wasser und hinein ins Grau und Schwarz des Himmels, sah nicht die Wellen kommen, spürte den Regen nicht, achtete auch nicht auf die wenigen Möwen, die in den Böen taumelten und schrien, schaute nur in die Ferne, suchte den Horizont ab und dabei vielleicht auch lang vergangene Bilder.

Die Ölhaut mit der weiten Kapuze hielt ihn trocken. Nur sein wettergegerbtes Gesicht mit den wie aus Stein gemeißelten Zügen war klatschnass. Doch der Alte schien dies nicht zu spüren und schon gar nicht zu beachten. Zu sehr plagten ihn die Sorgen. Aber nicht um seinen Trawler Fenella. Den steuerte sein Neffe Gavin seit Jahren sicher. Auch nicht wegen des heftigen Wetterumschwungs. Stürmische See waren alle Fischer hier im Norden Europas gewohnt. Nein, den Alten hatte einzig die Sorge um den Fang so früh am Morgen in Wind und Wetter getrieben. Denn bereits seit einiger Zeit war der Bestand an Kaisergranat im Moray Firth nicht mehr gesichert. Hatte sich der Mensch über viele Jahrzehnte hinweg ungestraft am ungeheuren Krebsreichtum der See bedient, so schien die Natur, aus welchen Gründen auch immer, nun doch allmählich erschöpft. Woran das lag, das wusste niemand zu sagen.

Manche vermuteten den Einfluss der Erdöl- und der Gas-Förderung vor der Küste. Irgendwelche unentdeckte Lecks in den unterseeischen Pipelines. Oder die ständige Verschmutzung des Wassers durch die Versorgungsschiffe der Plattformen.

Andere machten den Klimawandel verantwortlich. Der musste mittlerweile für alles und jedes herhalten, selbst fürs Wetter von heute und morgen.

Adair McNeill hatte keine Meinung dazu. Er beobachtete bloß und machte sich immer größere Sorgen. Denn was nutzten all die Spekulationen? Auf das Öl und all das Gas würden die Leute niemals verzichten. Und Klimawandel hatte es schon immer gegeben, ob durch den Menschen verursacht oder nicht. Auch damit hatten sie hier am Moray Firth seit Jahrhunderten zu leben gelernt.

Irgendwelche Umweltschützer reklamierten allerdings lautstark, dass vor allem das Fischen mit Schleppnetzen die Schuld am Rückgang der Zehnflusskrebse trug. Doch was wussten diese Studierten schon? Seit vielen Jahrzehnten jagten die Fischer hier in Schottland auf diese Weise den Krebsen nach, ohne dass die Bestände bis vor einiger Zeit zurückgegangen wären. Und heute gab es doch weit weniger Boote als noch vor dreißig Jahren? Weniger Fischer, weniger Umweltzerstörung und trotzdem gingen die Bestände weiter zurück. Diese Logik focht die Umweltschützer jedoch keineswegs an. Was hatte er in der Zeitung vor ein paar Monaten über Trumps Pressesprecherin gelesen? Sie hatte wohl von alternativen Fakten gesprochen. Für Adair McNeill war sogleich klar gewesen, was die US-Administration damit gemeint hatte, nämlich Tatsachen, die der Gegenseite nicht ins Konzept passten und die deshalb von ihr unbeachtet und unerwähnt blieben. Die Welt hatte es anders gesehen.

Als Alternative zu den Schleppnetzen hatten diese sieben-gescheiten Umweltschützer vorgeschlagen, nur noch mit Hilfe von Köderkörben den Kaisergranat zu fangen, so wie man es im Mittelmeer seit vielen Jahren erfolgreich tat.

Fallen versenken und nach einiger Zeit wieder hochholen und leeren? Was hatte das mit Fischfang zu tun? Dem ehrlichen Gewerbe, das er und seine Vorfahren schon seit vielen Generationen ausübten? Der Kaisergranat gehörte zu den wichtigsten Einnahmequellen in Fraserburgh, wo zwei von drei Arbeitsplätzen direkt vom Fischfang abhingen. Neben den Zehnfußkrebsen wurden aber auch von November bis März nach Kammmuscheln gefischt. Vor allem die Jakobsmuschel war begehrt. Man nannte sie auch Pilgermuschel, denn sie war dem Heiligen Jakobus postum als Erkennungszeichen zugedacht worden. Fortan trug sie der Kirchenmann auf allen Abbildungen und Statuen, entweder am Hut oder am Gürtel. Und da Jakobus als der Schutzpatron aller Pilger gilt, wurde die Muschel rasch zum Symbol und Erkennungszeichen all derer, die sich auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela aufmachten. Bereits im Mittelalter wanderten die Pilger nach dem Besuch der Grabstätte des Heiligen weiter zum sechzig Kilometer entfernten Cap Finistere und fischten sich dort eine echte Muschel aus dem Meer. Sie wurde als Beweis einer erfolgreichen Pilgerreise stolz in die Heimat getragen und so mancher Christ ließ sich später mit ihr begraben.

Die Jakobsmuschel konnte sich schwimmend im Meer bewegen. Entsprechend wuchtig war ihr Muskel im Inneren ausgebildet. Um sie einzusammeln verwendeten die Fischer sogenannte Dreschen, Schleppnetze mit kleinen, spitzen Kanten, welche die Muscheln vom Meeresboden wegrissen. Von der Jakobsmuschel wurden nur der weiße Muskel und der Rogensack, den man Corail nannte, gegessen, wobei letzterer einen derart intensiven Meeresgeschmack aufwies, dass er wirklich nicht jedermanns Sache war. Doch der weiße Muskel, vor allem heiß geräuchert, war eine echte Delikatesse unter Kennern.

Der Beifang bestand gewöhnlich aus Kabeljau, Nagelrochen und Kaiserhaien, die allesamt selbst Jagd auf die Zehnfußkrebse machten. Doch seit die EU überall die Fangquoten verringert hatte, mussten sie hier am Moray Firth viel von diesem Beifang wieder über Bord werfen. Das war die Logik von reinen Schreibtischtätern, von idiotischen Beamten im fernen Brüssel, die wertvolle Nahrung lieber wegwarfen, als sie für den Menschen zu nutzen. Und das Ganze verkauften diese Möchtegern-Napoleons dann auch noch als Umweltschutz.

Adair McNeill sog den Rotz aus seiner Nase in den Mundraum und spuckte ihn angewidert aus, ins schäumende Wasser unter ihm.

Was wussten diese EU-Heinis von ihren Problemen? Oder überhaupt über das Meer und die Natur? Statt dass sie die kleinen Fischer unterstützten, subventionierten sie diese riesigen, hässlichen Industrie-Pötte, die irgendwelchen reichen Arschlöchern gehörten und auf denen nur die billigsten Afrikaner und Asiaten ein bisschen Lohn und Brot fanden, zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben, auf jeden Fall nicht genug, als dass ein Europäer seine Familien damit hätte durchfüttern können.

All das wurde doch nur unternommen, damit der europäische Konsument möglichst günstigen Fisch in mieser Qualität kaufen konnte, währenddessen sie hier am Moray Firth durch idiotische Quote für den Beifang um ihre Existenz gebracht wurden.

Womöglich konnte das all aber nun ändern? Sobald Großbritannien aus der verdammten Union ausgeschieden war?

Adair McNeill glaubte nicht daran. Die Mächtigen ließen sich nie die Butter vom Brot nehmen und der EU würden bestimmt irgendwelche Tricks einfallen, wie sie weiterhin die reichen Fanggebiete der Nordsee zum Schaden der lokalen Fischerei von den Industrie-Kähnen ausbeuten lassen konnte.

Noch einmal spuckte der alte Mann ins Wasser.

Weiterhin zeigte sich kein einziges Boot am Horizont. Doch zumindest das Wetter schien sich ausgetobt zu haben, denn die Sicht wurde etwas besser. Adair McNeill wusste, je später die Fischer zurückkehrten, je länger sie auf der Jagd nach dem Kaisergranat draußen sein mussten, desto mieser fiel das Fangergebnis aus.

Doch warum dieser plötzlich so starke Niedergang der Quoten gerade in den letzten paar Monaten? Ein riesiges, noch unentdecktes Leck in einer der Öl- oder Gaspipelines? Doch das hätten diese Kerle auf den Förderplattformen doch längst bemerkt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Und sie als Fischer hätten bestimmt davon erfahren. Denn das war das einzig Gute an all den Nichtregierungs-Organisationen, die sich in den Fischfang und die Nutzung der Meere einmischten. Sie hörten das Seegras wachsen, hielten ihren Daumen ständig am Puls der Tiden und veröffentlichten regelmäßig negative Kommentare, enthüllten viele Fehlentwicklungen, stellten dazu aber auch immer neue Forderungen an die Regierungen und feindeten im Grunde genommen jeden an, der nicht ihrer Meinung war.

Endlich.

Adair McNeill kniff die Augenlider etwas zusammen, erkannte nun den ersten Masten am Horizont mit völliger Sicherheit, wenig später einen zweiten, dann vier, fünf. Die Fischer kehrten zurück und so bestimmt auch sein Neffe Gavin mit dem Trawler.

Der Alte dachte an die nächste Kreditrate, die für sein Boot bald fällig wurde. Die Generalüberholung im letzten Herbst hatte einfach zu viel Geld gekostet, riss ein so großes Loch in die Familienkasse, dass sie einen hochverzinslichen Kredit von der Bank benötigt hatten. Auch eine Folge des ständigen Niedergangs der Fangquoten. Es kam bereits seit Jahren zu wenig Geld herein, als dass man die notwendigen Rücklagen hätte bilden können.

Selbstverständlich ging Sicherheit an Bord vor. Doch all die neuen Geräte und Einrichtungen, welche die EU-Bestimmungen und die Fischereibehörden von ihnen verlangten, schienen Adair McNeill weit übertrieben. Was für die Hochseefischerei notwendig war, wo Wellen von zehn und mehr Metern auftraten, das galt doch nicht hier am Moray Firth? Sie waren auch keine ungebildeten Asiaten oder Afrikaner, die keine Ahnung von der Nordsee und ihren Gefahren hatten, die als halbe Sklaven auf den Weltmeeren herum geschippert wurden und die angestammten Fanggründe der hiesigen Fischerei zerstörten. Nein, hier in Schottland hatten sie allesamt das Handwerk von ihren Vätern und Großvätern übernommen, hatten von ihnen gelernt, das Meer und den Himmel zu lesen, die Gezeiten zu nutzen, dem Wetter in jeder Jahreszeit zu trotzen. Sie waren zu einem Teil des Wassers geworden und das Wasser war längst ein Teil von ihnen.

Noch einmal zog der Alte den Rotz aus der Nase und spuckte aus. Weniger angewidert als zuvor. Sogar mit einem Anflug eines stolzen Lächelns in seinem sonst so unbeweglichen Gesicht. Trotz all der Sorgen.

Bereits konnte Adair McNeill einzelne Fischerboote erkennen, zählte unhörbar ihre Namen auf.

Adele Two.

Waterfowl.

The Rocket von Gordon Blair.

Doch wo blieb Gavin mit seiner Fenella?

Adair starrte noch angestrengter zu den übrigen, sich nun rasch nähernden Booten hinüber, erkannte weitere Namen und dann, endlich, auch sein Schiff.

Unbeweglich wartete der Alte nun auf das Einfahren der Fischer. Adele Two von Abercrombie war das erste Boot. Wallace stand im Ruderhaus, blickte zu ihm hinüber, schüttelte missmutig seinen Kopf. Er schien verzweifelt.

Der alte Adair spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Wiederum nichts. Erneut zu wenig Fang. Seine Brust verengte sich und McNeill schnaufte ärgerlich-wütend und voll banger Furcht auf. Noch konnte der Alte allerdings hoffen, wollte einfach daran glauben, dass Gavin mit seiner Fenella in dieser Nacht weit besser abgeschnitten hatte als Wallace Abercrombie mit seiner Adele Two.

Es fuhren weitere Boote ein und jeder der Skipper schüttelte mit finsterem Blick seinen Kopf in Richtung McNeill. Äußerlich unerschüttert stand der Alte weiterhin an der Pier, spürte die Blicke der ankommenden Fischer wie Messerstiche, fühlte zudem, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Alle seine Hoffnungen schwanden und bei einer der nächsten Böen schwankte Adair McNeill sogar, ähnlich einer alten, knorrigen Eiche in ihrem letzten Gewitter.

Auch Gavin McNeill kam nun in den Hafen eingefahren, sah seinen Großvater dort stehen, schüttelte ebenso verneinend seinen Kopf, zeigte dasselbe hoffnungsloses Gesicht wie all die anderen zuvor.

Der Alte nahm dies kaum noch wahr, dachte weder an die lästigen EU-Beamten noch an die Ölfirmen oder Umweltschützer, spürte nur die übergroße Furcht vor der so ungewissen Zukunft.

Adair McNeill wandte sich ab und ging langsam und etwas schwankend nach Hause. Nein, er würde sich nicht mit Gavin und den anderen im Pub treffen, wollte nicht die niedergeschlagene Stimmung oder die Wut oder die Ohnmacht der Fischer sehen und hören und spüren müssen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er eher unbewusst zu, wie man die wenigen Kisten mit dem Fang von Bord der Schiffe hievte. Er zählte sie nicht, wollte das Trauerspiel nicht mit ansehen, blickte weder nach links noch nach rechts, beantwortete noch nicht einmal den einen oder anderen zugerufenen Gruß.

Denn Adair dachte an früher, an die goldenen Zeiten ohne jede Fangquote, als das Meer noch voller Freiheit, Fische, Krebse und Muscheln war, als man als Eigentümer seines Bootes noch stolz und mit erhobenem Haupt jeden Morgen in den Hafen einlief, weil man wusste, dass man seine Familie, seine Liebsten, mit eigener Hände Arbeit ernähren und versorgen konnte.

Der alte McNeill hielt erst an der Ecke zur Frithside Street inne, drehte sich noch einmal zum Hafen um, schaute ruhig auf das Geschehen, sah möglicherweise aber auch nur die Bilder längst vergangener Tage.

Irgendwann drehte er sich ab und ging er weiter, während stille Tränen über seine Wangen liefen.

Er war noch nicht zu Hause angekommen, als die ersten Fischer lärmend ins Dragon & Lyons eintraten und dort von Kevin Lindsay, dem fünfzigjährigen Wirt, herzlich und mit Vornamen begrüßt wurden.

»Und? Wie war´s diese Nacht«, fragte er, obwohl er die Antwort längst in den Gesichtern seiner ersten Gäste an diesem frühen Morgen hatte ablesen müssen.

»Daingit!«, ereiferte sich der ewig jähzornige Clyde McBain sogleich. Er war Eigentümer und Skipper der Gloria, einem kleineren Trawler, der seine Familie schon früher stets nur knapp über die Runden hatte bringen können, »nicht einmal ein halbes Hundredweight.«

Nur wer wusste, dass ein Fischerboot bei dieser See in einer Nacht Diesel für hundertzwanzig Pfund schluckte, konnte ermessen, wie gering die fünfhundert Pfund Sterling als Tagesverdienst wogen. Sein guter Freund und einziger Matrose Russell Wemyss stand neben McBain und hatte zu den Worten seines Kapitäns nur ernst, stumm und zustimmend genickt. Der Hüne mit den roten Borstenhaaren hieß eigentlich mit Vornamen Rory. Doch den hatte er wohl selbst längst vergessen, so wie alle anderen Menschen im Ort. Er fuhr seit mehr als zwei Dutzend Jahren mit Clyde McBain zum Fang aus, bekam nur unregelmäßig seinen Lohn ausbezahlt, lebte immer noch, und das mit dreiundvierzig Lebensjahren, im Haus seiner Mutter, hatte auch nie geheiratet, hätte mit seinem geringen Verdienst niemals eine Frau oder gar eine ganze Familie durchbringen können. Er war vielleicht auch nicht richtig im Kopf, der gute Russell, hatte schon als Jugendlicher die wildesten und dämlichsten Dinge angestellt, wollte sich auf diese Weise die Anerkennung und Freundschaft seiner Klassenkameraden sichern. So auch einmal im Spätherbst und mit vierzehn Jahren, als er trotz Sturmwarnung mit einem Dinghi hinaus zum Kinnard Head Lighthouse gerudert war, aufgrund einer saudummen Wette und als idiotische Mutprobe. Zwölf Fischerboote liefen damals aus, um den Jungen auf See zu suchen und zu retten. Sie fanden ihn Stunden später völlig durchweicht und vor Kälte zitternd auf den Klippen der Halbinsel, wo sein Boot aufgelaufen und zerschellt war. Sein linker Unterarm war mehrfach gebrochen. Trotzdem oder gerade aufgrund seiner großen Not grinste er seinen Rettern tapfer entgegen. Sein Vater jedoch, der damals noch lebte, schlug seinen geretteten Sohn noch am Hafen grün und blau. Erst danach fuhr er ihn ins Krankenhaus, wo dem Jungen die Brüche gerichtet und die Prellungen und Abschürfungen behandelt wurden. Die Wette um zwei Pfund hatte Russell alias Rory allerdings gewonnen. Und den Wert der von ihm entwendeten und verlorenen Jolle bezahlte er in den nächsten zehn Jahren getreulich und tapfer dem Eigentümer zurück. Denn so war Rory Wemyss nun einmal. Unsicher gegenüber allen anderen Menschen, völlig stur in seinen oft verrückten Handlungen, aber ausgesprochen willensstark, wenn es um seine angebliche Ehre ging.

Ohne dass irgendwas bestellt worden wäre, schob Kevin Lindsay den Fischern mit Ale gefüllte Gläser hin.

»Aufs Haus«, meinte der Pub-Betreiber ruhig und bestimmt, wusste er doch, dass weitere und damit auch bezahlte Gläser folgen sollten.

Nach und nach trafen die anderen Fischer ein, manche laut fluchend, andere sich mundfaul an einen der Tische setzend, alle danach dumpf brütend ihr erstes Gratis-Bier schlürfend. Kevin fand für jeden ein tröstendes oder zumindest aufmunterndes Wort, wusste um die Not eines jeden seiner Gäste, kannte sie und ihre Sorgen wohl auch weit besser als der Pfaffe des Fischerorts.

Plötzlich stieß einer, der in der langen Reihe Schulter an Schulter an der Theke mit anderen stand, zwei Worte aus, laut und voller Bitterkeit, wie ein gemeiner Fluch.

»Verdammte Beatrice.«

Alle im Pub wussten, was Aidan Munro mit seinem gehässigen Ausruf meinte. Keine Frau und auch kein Schiff, oh nein. Denn Beatrice, das war der Name des großen Windparks, den man in der Moray Firth Bucht bauen wollte. Seit mehr als einem Jahr war man daran, die Fundamente für die über hundert Meter hohen Turbinenanlagen im seichteren Meerwasser zu gießen. Vierundachtzig von diesen Monstern sollten insgesamt gebaut werden. Sie kosteten mehr als zwei Komma fünf Milliarden Pfund, würden im besten Fall 450´000 Haushalte mit unstetem Strom versorgen können.

»Verdammte Windräder«, doppelte Aidan Munro nach, auch wenn niemand auf seinen ersten Ausruf hin reagiert hatte. Grollend fügte der Fischer das hinzu, was sie alle schon so viele Male aus seinem Mund vernommen hatten, »sechstausend Pfund Investition pro Haushalt für unnützen Flatterstrom, den niemand wirklich braucht.«

Und er ereiferte sich weiter, so wie fast jeden Morgen im Dragons & Lyons.

»Und wem nützt dieser viel zu teure Strom? Etwa uns, den Fischern, deren Krebsfang immer weiter zurückgeht? Nein. Nur den reichen Geldsäcken in Edinburgh.«

Gavin McNeill, der direkt neben ihm stand, legte seine Hand, wie so oft, beruhigend auf die Schulter von Aidan Munro.

»Immerhin sollen dadurch 18´000 Arbeitsplätze entstehen, wenn man der Regierung glauben mag«, wiederholte er das, was Politiker und Energieberater ihnen immer wieder erzählt hatten.

»Und wie? In dem man zuerst unseren angestammten Broterwerb zerstört?« Aidan Munro war im Grunde seines Wesens gegen jegliche Veränderung. Immer schon gewesen. Als man nach Erdöl und später nach Gas in der Nordsee bohrte, organisierte er den Widerstand in Fraserburgh, allerdings ohne jeden Erfolg. Als später selbsternannte Umweltschützer im Städtchen auftauchten, um die Fangmethode mit den Schleppnetzen anzuprangern, prügelte er sich mit einigen von ihnen herum.

»Schon mein Urgroßvater lebte vom Fang«, war einer seiner Standardsätze, »und auch meine Enkel sollen einmal vom Kaisergranat ihren Unterhalt bestreiten.«

Das war frommer Wunsch, Starrsinn und Realitätsverlust in einem.

Doch einige der anderen Fischer wiegten zustimmend ihre Köpfe. Die ständigen Angriffe von Aidan auf die neue Technologie zeigten erste Erfolge, wenn auch eher aus Verzweiflung über die sinkenden Fangerträge als aus echter Überzeugung. Der Mensch war nun einmal so gestrickt. Man musste bloß eine Vermutung, egal wie wahrscheinlich, nur oft und laut genug wiederholen. Irgendwann schwenkte die öffentliche Meinung um. Das war immer schon so gewesen, vor allem wenn die Leute in echte Not gerieten und keinen Ausweg mehr sahen, aber auch immer dann, wenn sich viele Menschen über etwas sehr ärgerten.

Gavin McNeill, der neben Munro stand, entgegnete nichts auf die Anklagen von Aidan, denn das brachte niemandem etwas ein. Wer sich erst einmal sein eigenes Feindbild geschaffen hatte, den konnte man nicht vom Gegenteil überzeugen. Der musste mit seinem Kopf so lange dagegen anrennen, bis er von selbst aufwachte. Zudem war dem vierzigjährigen Gavin selbst bang ums Herz, wenn er an seine eigene finanzielle und berufliche Zukunft dachte. Er hatte nun mal einzig das Fischen gelernt, kannte sich mit seinem Boot, dem Fanggerät und der See bestens aus, dachte mit Grausen an den Tag, wenn sein Großvater die geliebte Fenella verscherbeln und er als einfacher Angestellter in der örtlichen Fischfabrik arbeiten musste. Falls es diese Arbeit dann noch gab.

Womöglich hatte Munro doch Recht mit seiner Behauptung, die riesigen Fundamente des Windparks beeinflussten die Meeresströmungen? Lenkten sie um und entzogen den Krebsen die Nahrungsquelle? Vom Verstand her war das unmöglich. Zu groß war die Bucht im Nordosten Schottlands, zu klein das von den Stromturbinen beanspruchte Gebiet. Und doch war es seltsam, dass der starke Schwund an Kaisergranaten fast exakt mit dem Aufbau der Anlage zusammenfiel.

Gavin trank sein erstes Glas Ale aus, bekam von Kevin Lindsay sogleich ein neues ungefragt hingestellt.

Gedämpft kamen einige Gespräche zwischen den mehr als zwei Dutzend Fischern auf. Die meisten allerdings brüteten über ihrem Bier, hingen ihren Sorgen und Gedanken nach. Denn wie sollte es weitergehen? Falls die Fangmengen sich noch weiter verminderten? Und die Banken die vergebenen Kredite samt Zinsen zurückbezahlt erhalten wollten?

»Wir sollten das mit den Fangkästen vielleicht doch ausprobieren«, warf Gavin plötzlich mutig geworden laut in die Runde. Auch jetzt nickten einige der Fischer sogleich zustimmend. Es waren die besonders besonnenen, die es gewohnt waren, Probleme ruhig anzugehen und aus eigener Kraft zu lösen. Sie suchten sich keine Schuldigen, um ihn verbal oder handgreiflich anzugehen.

»Blödsinn«, rief Aidan Munro aber auch schon wütend aus.

Er hatte sein drittes Glas bis zur Neige geleert und war etwas angetrunken, »alles Blödsinn. Wir sind Fischer, keine Fallensteller.«

»Aber im Mittelmeer erzielen sie damit durchaus nachhaltigen Erfolg«, begehrte Gavin auf, »sie fangen auf diese Weise vor allem die mobileren Männchen weg, während alle in ihren Höhlen ausharrenden Jungtiere und die Weibchen verschont bleiben. Auf lange Sicht erholen sich die Bestände mit dieser Fangmethode auf jeden Fall.«

Wiederum nickte gut ein Drittel der Anwesenden stumm, während die meisten ablehnend den Kopf schüttelten. Sie mochten die Idee nicht, auf Schleppnetze verzichten zu müssen. Außerdem hätten Fangkästen einen völligen Umbau ihrer Boote bedeutet und damit große Investitionen. Wer konnte sich so was noch leisten?

»Ich mag dich ja gut leiden, Gavin«, behauptete der viele Jahre ältere Aidan Munro großherzig, »aber solange diese Scheißturbinen mit ihren riesigen Fundamenten die Meeresströmungen beeinflussen, so lange werden die Bestände weiter zurückgehen. Man sollte die verdammten Dinger einfach in die Luft sprengen.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich, trotz des Irrsinns der Forderung. Die Meinungen waren einmal mehr gemacht. Auch fehlte den meisten Fischern längst das Geld, um hunderte von Fangkörben anzuschaffen und im Gegenzug die Schleppnetzfischerei aufzugeben. Außerdem dauerte es bestimmt viele Jahre, bis sich die Umstellung auf Köderfallen in den Fangmengen widerspiegelte. Diese Zeitspanne konnten die meisten von ihnen auf keinen Fall mehr überstehen. Schon lange vorher wären sie durch die Kreditraten finanziell zu Grunde gerichtet worden. Die lachenden Dritten wären dann die wenigen, die überlebt hatten, sowie Neueinsteiger, vielleicht sogar Zugezogene?

Ohne Krebsfang konnten sich die meisten von ihnen das Leben nicht vorstellen. Und damit auch nicht ohne Fangnetze, egal, wie groß die Zerstörung auf dem Meeresboden auch ausfallen mochte. Ein Teufelskreis, gebildet aus der Überfischung mit der langfristig wahrscheinlich falschen, selbstzerstörerischen Methode, die ihnen trotzdem als einzige Möglichkeit geblieben war, um nicht schon morgen oder übermorgen ruiniert zu sein.

Gavin McNeill nippte am neuen Glas. Seine Gedanken schwankten zwischen unbändigem Zorn gegen das eigene Schicksal und der Einsicht, nur gemeinsam mit allen anderen etwas daran ändern zu können. Frustrierend war vor allem die Erkenntnis, dass sie als Fischer hier zwar jeden Morgen zusammenstanden oder saßen und trotzdem keine Gemeinschaft bildeten, die am selben Strick zu ziehen vermochte.

Vielleicht waren die EU-Beamten in Brüssel doch die Klügeren, zusammen mit den ungeliebten Umweltschützern, die ständig noch niedrigere Fangquoten verlangten, einen schonenderen Fischfang und weit weniger Raubbau.

Die Zeiten des Überflusses waren schon vor dreißig oder vierzig Jahren überall an der Nordsee zu Ende gegangen. Und die letzte Stunde des freien, selbstständigen Fischers schien auch hier am Moray Firth längst angezählt.

*

Das Pub hieß »African Dragon« und lag an der Warwick Street in Kapstadt, unweit des Hafens. Die meisten Gäste waren Einheimische aus der Mittelschicht, die sich hier über den Mittag eine Kleinigkeit zu Essen gönnten oder am späteren Nachmittag ihr Feierabendbier mit Kollegen und Freunden tranken. Gegen neun Uhr abends schlief der Betrieb in der Regel bereits ein und um halb zehn schloss das Lokal gewöhnlich seine Türen. Trotz des mangelhaften Abendgeschäfts lief das Pub nicht schlecht, ernährte zumindest seine beiden Betreiber.

In der Küche stand Sophie Shi, eine Chinesin von etwas über sechzig Jahren. Die Theke und die Tische bediente derweil ihr Lebenspartner Fu Lingpo, auch schon beinahe im Rentneralter. Sie hatten das heruntergewirtschaftete Lokal erst vor wenigen Monaten übernommen, wollten sich hier endlich die schon lange erhoffte Lebensgrundlage in Afrika aufbauen, nachdem sie zuvor in Kenia gleich zwei Mal, eigentlich sogar drei Mal, gescheitert waren.

Auch hier am Kap der guten Hoffnung war ihnen der Neustart alles andere als leichtgefallen. Denn die mannigfaltigen Vorbesitzer hatten das Lokal von einem hochklassigen Inder, über einen mittelmäßigen Italiener, zu einem bescheidenen Fish&Chips, weiter auf der kulinarischen Leiter hinab zu einem billigen Burger&Pizza-Shop verkommen lassen, der sich vor allem dank der Toleranz gegenüber Drogenhändlern und ihrer Kundschaft noch einige Zeit über Wasser hatte halten können. Irgendwann schritt die südafrikanische Polizei aber doch ein, nachdem sich die Nachbarn oft beschwert hatten. Sie brachte die Betreiber hinter Gitter und schloss das Lokal.

In den folgenden Wochen wurde die verlassene Gaststätte von Einbrechern und Dieben heimgesucht und regelrecht ausgeschlachtet. Nebst allen Maschinen, der gesamten Kücheneinrichtung und sogar der Lüftungsanlage, verschwanden auch die hochwertigen Dielenbretter aus dem Gastraum. Doch im Gegenzug konnten Sophie Shi und Fu Lingpo das ehemalige Restaurant äußerst günstig und langfristig pachten, was ihnen sehr entgegenkam. Sie bezahlten gerade mal zweitausend Rand pro Monat, auf drei Jahre fest, mit der Option zu einer Verlängerung auf zehn Jahr mit dreitausend Rand, ohne Nebenkosten, versteht sich. Im Gegenzug mussten die beiden allerdings über dreihunderttausend Rand aufwerfen, um aus den verwüsteten Räumen so etwas Ähnliches wir ein Irish Pub zu machen.

Weil aber das Lokal bei der Bevölkerung über so viele Jahre im Verruf gestanden hatte, dauerte es entsprechend lange, bis sich die ersten, noch etwas scheuen Gäste, zum Mittagessen einfanden. Fu und Sophie begingen jedoch nicht den Fehler, aufgrund des zuerst äußerst spärlichen Interesses sogleich in Panik zu verfallen und beispielsweise die Preise fürs Essen ins Ruinöse zu senken oder ihr restliches Geld mit irgendwelchen übertriebenen Werbeaktionen zu verschleudern.

»Alles Solide braucht seine Zeit, bevor es Früchte tragen kann«, hatte Sophie Shi an so manchem Abend tröstend zu ihrem Lebenspartner Fu Lingpo gesagt, wenn der die mageren Tageseinnahmen durchzählte, die zu Beginn meist auf ein paar Bieren und wenigen Gläsern Whiskey beruhten, getrunken von Leuten, die sich aus reiner Neugier ins Lokal verirrt hatten.

Doch warum, um Gotteswillen, mochte man sich fragen, betrieb ein älteres, chinesisches Paar ein irisches Lokal im südafrikanischen Kapstadt?

Wohl aus demselben Grund, wie der frühere Inder von einem Pakistani, der Italiener von einem eingewanderten Türken, der Fish&Chips von einem Deutschen mit seiner niederländischen Freundin und die Burger&Pizza-Bude von zwei Thailändern betrieben worden waren. Denn immerhin lebte man am Kap der Guten Hoffnung. Hier war alles schon seit Jahrhunderten Multi-Kulti und Kuddel-Muddel. Fastfood-Kioske und billigste Chinesen fanden sich zudem am Hafen unten in reichlicher Zahl. Mit einem ähnlichen Angebot hätte man wahrlich keinen einzigen Gast hierher an die Warwick Street locken können, außer vielleicht erneut die Drogendealer und Junkies.

Als das Mittagsgeschäft nicht so recht anlaufen wollte, reagierte Sophie Shi rasch und konsequent, wie es ihre Art war. Sie begann eine Art von Irischen Dim-Sum herzustellen, also chinesische Teigtaschen mit einer Irish Stew Füllung, in Bambuskörben gedämpft. Fu Lingpo reichte sie als Gratisbeigabe zu jedem Bier oder auch zu allen härteren Getränken, an Stelle der sonst üblichen einfallslosen Erdnüssen, Salzstangen oder Chips. Die chinesischen Snacks, deren Name auf Kantonesisch »Das Herz berühren« bedeutete, kamen bei den Gästen ausgesprochen gut an und der neue Geist im alten und zuvor verlotterten Lokal sprach sich langsam im ganzen Quartier und auch am Hafen herum. Die ersten Mittagskunden getrauten sich zum Essen hinein, gingen zufrieden weg und machten Mund-zu-Mund-Propaganda. Im dritten Monat begann das Lunch-Geschäft regelrecht zu brummen und ohne Reservierung konnte man nach halb ein Uhr nur noch mit viel Glück einen der Tische ergattern. Da die Gegend aber nicht zur Ausgehmeile von Kapstadt zählte, kamen abends eher selten Gäste zum Essen vorbei. Deshalb hatte Fu Lingpo vor drei Wochen versuchsweise damit begonnen, ein zusätzliches Frühstücksgeschäft aufzubauen. Sophie probierte sich dabei an französischem Gebäck aus, das ihr auch leidlich gut gelang, vor allem die Croissants. Die hatte Fu Lingpo schon während seiner Zeit in Hongkong so sehr geliebt. Während ihren gemeinsamen Jahren hier in Kenia hatte er fast immer auf sie verzichten müssen.

Doch die Einheimischen in Kapstadt schienen weder eine Croissants- noch eine Frühstücks- oder gar eine Kaffeehaus-Kultur zu kennen. Oder sie hatten einfach keine Lust, ihren Arbeitsweg für einen Halt im Pub zu unterbrechen. Und so stand Fu Lingpo zwar weiterhin um sieben Uhr morgens in seinem Laden, heizte den Ofen ein, um bei Bedarf die eingefrorenen Gebäckstücke von Sophie frisch aufzubacken, schenkte jedoch meist bloß ein paar notorischen Alkoholikern ihr Morgenbier mit Schuss aus, vertrieb sich damit vor allem die Zeit, denn in seinem Alter lag er niemals länger als fünf Stunden im Bett.

»Der Rücken«, jammerte er manches Mal seiner Lebenspartnerin am frühen Morgen vor, »mein Rücken bringt mich noch um.«

Sophie Shi lächelte bloß dazu, meistens sogar ziemlich abfällig. Denn sie wusste sehr genau, wie körperlich fit Fu Lingpo tatsächlich noch war. Er konnte es noch mit jedem Dreißigjährigen aufnehmen. Zwar nicht bezüglich Körperkraft oder Beweglichkeit oder gar Schnelligkeit. Doch alle diese Mängel glich der Chinese durch seine Hinterlist und eine schonungslose Brutalität aus. Wenn Fu Lingpo eines konnte, so war es Gewalt. Die hatte er in seinem langen Leben erst kennen und dann anzuwenden gelernt und in seiner ganz persönlichen Weise zu einer echten Blühte gebracht. Ja, Fu Lingpo hatte ausgesprochen gewalttätige Jahrzehnte hinter sich gebracht, musste deshalb kaum noch jemanden fürchten, wusste fast immer, was zu tun war.

Sophie Shi traf jeweils gegen zehn Uhr morgens in der Küche des Pubs ein, hatte zuvor auf dem Markt fürs Mittagsgeschäft eingekauft, kannte ihre Rezepte und die zu erwartenden Mengen auswendig im Kopf, begann um diese Zeit mit den Vorbereitungen für den Lunch, während ihr Lebenspartner die große Schiefertafel mit dem Angebot des Tages beschrieb und nach draußen hängte und zusätzlich am alten Computer zwei Dutzend einfache Handzettel ausdruckte, die er auf den Tischen und auf seiner Theke verteilte.

Die Chinesin war eine schöne Frau gewesen, in ihrer Jugend, hatte ihren mädchenhaften Körper bis ins Alter bewahrt, auch wenn die Runzeln und die zunehmend fleckige Haut ihre übergroße Lebenserfahrung verrieten. Sophie Shi war nämlich schon als kleines Mädchen an ein Bordell verkauft worden, lernte dort das Geschäft von der Pike auf kennen, machte sich später selbstständig, war über viele Jahre in Hongkong sehr erfolgreich tätig gewesen, bevor sie sich mit dem Aufkommen des Internets nur noch als Digital-Hure verdingt hatte. Nichts an möglicher und unmöglicher männlicher Fantasie und Abartigkeit war ihr in diesen Jahren verborgen geblieben. Sophie kannte das Leben mit all seinen Höhen und den sehr viel häufigeren Tiefen, machte sich keine Illusionen mehr.

Doch irgendwann hatten Fu und Sophie das große Glück, einander kennenzulernen. Sie waren Wohnungsnachbarn gewesen im riesigen Apartmenthaus-Komplex in Hongkong, trafen sich so manches Mal eher zufällig vor dem Aufzug. Sie mochten einander von Beginn weg, auch wenn sie nur sehr wenig voneinander wussten. Und ihre Liebe musste erst einige ausgesprochen hohe Hürden überwinden, bevor sie dauerhaft zueinander finden konnten.

Der Chinese war als Waise aufgewachsen, musste schon als Knabe lernen, wie man sich in dieser so harten Welt durchschlägt und gleichzeitig auch noch für zwei jüngere Schwestern sorgte. Bereits als Teenager galt er unter den erwachsenen Gangstern als höchst verschlagen und kompromisslos brutal. Denn Fu Lingpo setzte seine Ellbogen und Fäuste ohne jede Rücksicht ein, wenn er weder Pistole noch Messer oder wenigstens einen Baseball-Schläger zur Hand hatte. Er wurde später Mitglied einer der größten Triaden in Hongkong, war dort vor allem als sogenannter Ausputzer tätig gewesen. Denn Lingpo war zumindest damals noch hart wie Stein gewesen, kannte weder Skrupel oder Scham und schon gar kein Gefühl der Schonung, war ohne jedes Gewissen, hatte sogar Frauen und auch Kinder, ohne zu zögern umgebracht, wenn von ihm verlangt. Auf seine Weise arbeitete er sich in der Verbrecherorganisation hoch, vom Streuner zum Schläger, hin zum Gangster bis zum kaltblütigen Auftragsmörder.

Doch vor einigen Jahren erlebte Fu Lingpo das umgekehrte Stockholm-Syndrom. Er musste damals im Auftrag seiner Triade eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter entführen und tagelang festhalten. Dabei beobachtete er diese Frau und wunderte sich immer mehr über sie und ihre Haltung. Denn diese Mutter zeigte keinerlei Angst und verzweifelte nicht, auch wenn sie große Furcht verspürte. Sie sprach ihrer Tochter trotz eigener Not immer wieder guten Mut zu, ließ sich von ihrer eigentlich völlig hoffnungslosen Lage zu keinem Zeitpunkt überwältigen. Sie bewies eine wahre und zähe Kämpfernatur. Solche Frauen hatte Fu Lingpo nie zuvor kennengelernt, hatte auch nie von ihnen gehört. Der sonst so brutale Gangster und gewissenlose Mörder verliebte sich in sein Opfer und verhalf der Mutter und ihrem Kind wenig später zur Flucht.

Seine Triade bestrafte ihn für den Vertrauensbruch. Doch man tötete ihn nicht, sondern verstieß ihn nur. Warum man ihm damals keine Kugel verpasst oder eine Würgeschlinge umgelegt hatte, wusste Lingpo bis heute nicht zu erklären. Doch er war plötzlich frei. Das erste Mal in seinem Leben. Gleichzeitig begann er zu spüren, dass er sich neue Ziele setzen musste und das auch konnte.

Zuerst besuchte er die von ihm entführte Mutter in der Schweiz, tötete ohne Wissen der Frau einen ihrer früheren, nun erpresserischen Liebhaber. Erst einige Zeit später verstand der Chinese aber, nach was er tatsächlich suchte, nämlich nicht wirklich nach Liebe, sondern einzig nach Heimat. Das war ein Gefühl, das er nie zuvor bewusst empfunden hatte. Diese Frau und Mutter machte ihm das damals klar. Vielleicht konnte sie das, weil sie selbst keine Heimat besaß? Fu Lingpo kehrte jedenfalls zurück nach Hongkong und fand dort Sophie Shi.

Doch auf ihrem neuen Lebensglück lag von Anfang an ein mächtig großer Schatten. Denn seine ehemalige Triade begann das Paar in Hongkong zu verfolgen. Schließlich flohen die beiden nach Afrika, um hier gemeinsam ein neues Leben aufzubauen, versuchten es jedoch ohne großen Erfolg in Kenia, probierten es nun erneut in Kapstadt.

In ihrem Lokal lief den ganzen Tag über der Fernseher an der Wand, war fast immer auf CNN eingestellt, wohl um etwas amerikanisches Flair in das chinesisch-irisch-südafrikanische Pub mit den Frühstücks-Croissants zu bringen. Viele der Gäste über Mittag liebten es allerdings, die neuesten Entgleisungen des US-Präsidenten Trump im US-Morgenfernsehen, stets abfällig von einer Sprecherin oder Sprecher kommentiert, zusammen mit ihrem Essen serviert zu bekommen.

Wie hatten die USA bloß einen solchen Trottel in ein solch hohes Amt wählen können? Dass der eigene Präsident Südafrikas, Jacob Zuma, weitaus unfähiger und korrupter als Trump war, wussten die Gäste selbstverständlich. Doch Zuma war für sie längst zu einer unumstößlichen Tatsache geworden, gehörte als Teil ihrer gemeinsamen Geschichte zu ihnen. Man konnte seinen Werdegang doch weder verleugnen noch ihn austauschen, musste mit ihm leben. Doch diesen Donald Trump hätte man ohne Weiteres verhindern können und auch müssen.

An einem dieser Mittage wurde eine Nachricht verbreitet, die fast alle Gäste zumindest für kurze Zeit elektrisierte. Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un erklärte sich überraschend bereit, den amerikanischen Präsidenten zu treffen und Friedens- und Abrüstungs-Gespräche mit den USA zu führen. Und Trump hatte bereits freudig getwittert, dass er jederzeit bereit wäre, auch ohne jede Vorbedingung, den kleinen, dicken Diktator zu treffen, wie er Kim Jong-un nur wenige Wochen zuvor betitelt hatte.

Die meisten Anwesenden im Pub begannen nun heftig miteinander zu diskutieren. Kaum einer glaubte an irgendeine Form von Ehrlichkeit, weder auf Seiten Nordkoreas noch der USA.

»Kim zieht wieder einmal eine Show ab, verspricht das Blaue vom Himmel, nur damit die Sanktionen der USA gelockert werden. Wenig später lässt er die nächste Rakete über Japan hinweg fliegen. Doch dieser Trottel Trump wird bestimmt auf den kleinen, dicken Kommunisten hereinfallen. Genauso, wie zuvor Obama und auch dieser Bush Junior.«

So führte einer an der Theke das laute Wort. Er hieß Kulang und trank über den Mittag jeweils zwei große Bier, aß dafür nichts, nicht einmal die Gratis-Irish-Dim-Sum von Sophie.

Fu Lingpo wusste zwar um Einiges besser Bescheid als sein Gast, dass beispielsweise Kim Jong-un erst seit 2011 an der Macht war und George W. Bush ergo nur mit dessen Vater Kim Jong-il zu tun bekommen hatte. Doch warum sollte der Chinese einen zahlenden Stammkunden mit seinen Kenntnissen verärgern? So brummte Fu bloß irgendetwas vor sich her, das man ohne weiteres als Zustimmung werten mochte. Auch die Nachbarn von Kulang am Tresen nickten kauend, weniger als ein Zeichen ihres Einverständnisses, als vielmehr zur Beruhigung des laut gewordenen Biertrinkers mit dem gedrungenen, sehr kräftigen Körper.

An den Tischen war die Diskussion allerdings weitaus vielfältiger. Die weniger gut Informierten wurden von anderen darüber aufgeklärt, dass Trump die Daumenschrauben gegenüber Nordkorea doch ganz schön angezogen hatte. Zuerst zwang der US-Präsident die Chinesen dazu, die Unterstützung für ihren kleinen Nachbarn weiter einzuschränken. Beispielsweise wurden chinesische Banken gebrandmarkt, die Geschäfte für Nordkorea abgewickelt hatten. Zugleich hielt sich Trump auch weitgehend den Rücken frei, in dem er sich mit Russland verständigte. Denn solange Kim Jong-un die drei Weltmächte gegeneinander ausspielen konnte, so lange war dem kleinen, dicken Diktator mit Sicherheit nicht beizukommen.

Fu Lingpo war eigentlich vom ersten Moment an sehr zuversichtlich, was das Treffen anbelangte, dass also dem angeblich völlig unfähigen Trump unter Umständen die Quadratur des Kreises tatsächlich gelang und die jahrzehntealte Feindschaft zwischen den beiden Nationen beendet werden konnte. Denn die Perspektiven Nordkoreas mit all den harten Sanktionen waren auf lange Sicht desaströs. Sie mochten vielleicht noch ein paar Jahr lang wie bislang weitermachen und Kim Jong-un konnte den starken Mann und den uneingeschränkten Herrscher mimen. Doch früher oder später würden auch die Europäer gegenüber den USA einknicken müssen und endlich die Bankkonten und all den übrigen Besitz Nordkoreas in der EU einfrieren und so dem Regime in Pjöngjang den allerletzten finanziellen Saft abdrehen.

Seine Lebenspartnerin Sophie Shi hielt allerdings rein gar nichts von Präsident Donald Trump.

»Ein ausgesprochen dummer Mensch«, hatte sie ihn betitelt, als sie ihn das erste Mal am Fernsehen sprechen hörte. Das war während den republikanischen Vorwahlen gewesen.

»Ein gefährlicher Ignorant«, meinte sie wenig später, als sie eine seiner Wahlkampfreden mit dem triefenden Spott und den haltlosen Verdächtigungen gegen Hillary Clinton verfolgte, gewürzt mit primitiven, verbalen Angriffe gegen die Politik Barack Obamas.

»Ein ekelhafter Fatzke«, urteilte sie wenige Monate nach Trumps Amtsantritt und nach all den Personalwechseln im Weißen Haus.

Regelmäßig gerieten sich die beiden Chinesen deswegen sogar in die Haare. Fu Lingpo war zwar auch der Ansicht, dass ein Mensch wie Trump eigentlich nicht wählbar war und blieb. Doch die Alternative hätte Hillary Clinton bedeutet. Wäre sie eine bessere Präsidentin gewesen? Die lügende Hillary, die den Wallstreet-Bankern das Blaue vom Himmel versprach und wenig später ihren Wählern kaltschnäuzig erzählte, sie würde im Amt die Banker in New York in die Schranken weisen? Obwohl diese Finanzjongleure zu den größten Geldgebern ihres Wahlkampfs gehörten?

»Aber all das kam doch nur wegen den Russen und ihren Hackern heraus«, mäkelte Sophie an den Veröffentlichungen herum. Wikileaks hatte Reden von Hillary Clinton vor den Wallstreet-Größen publik gemacht.

»Dann ist dir also lieber, wenn Wähler von ihren Politikern schamlos angelogen und diese Lügen niemand aufgedeckt werden?«, konterte Fu.

»Politiker lügen doch ständig. Sie sind während des Wahlkampfs bloß auf Stimmenfang aus, kennen dabei keinerlei Würde oder Ehrlichkeit. Schau dir doch deinen Trump an? Was der für rassistisches Zeug verzapft hat, nur um seine Nazi-Wählerschaft bei Laune zu halten.«

»Aber Trump hat zumindest keine leeren Versprechungen gemacht, setzt all das um, was er im Wahlkampf den Leuten versprach«, warf Fu dagegen ein.

»Ach ja?«, meinte Sophie spitz, »und wie war das mit Obamacare? Diese sinnvolle, notwendige Krankenversicherung wollte Trump doch in Grund und Boden stampfen?«

»Was kann Trump dafür, wenn der Kongress ihm nicht folgt?«

»Aber sein Gegenvorschlag war derart bescheuert, da konnten ihm nicht einmal seine eigenen Parteigenossen zustimmen«, triumphierte die Chinesin.

»Die gehören doch fast alle zum alten Establishment in Washington. McCain und all die anderen Kerle, die dort oft seit Jahrzehnten hocken und eine fest aufeinander eingeschworene Schattenregierung darstellen. Von Anfang an haben die gegen Trump gearbeitet, wollten am liebsten Bush III in die Wahl gegen Clinton II schicken. Doch Trump setzte sich mit Leichtigkeit gegen alle seine republikanischen Gegner durch und wurde dann sogar zum Präsident der USA gewählt. Ich kann McCain bis zu einem gewissen Grad verstehen, so, wie ihn Trump abgekanzelt hat.«

»Abgekanzelt?«

»McCain war doch ein paar Jahre lang Kriegsgefangener des Vietcong, wurde dort auch grässlich gefoltert, kehrte später als Held in die USA zurück. Trump meinte jedoch zu seinem innerparteilichen Gegner bloß, dass ihm Leute, die sich nicht gefangen nehmen lassen, weitaus lieber wären.«

Sophie winkte ab.

»Donald Trump hätte die Aufgabe, zumindest alle Repräsentanten der eigenen Partei auf seine Linie zu bringen. Doch mit all den abstrusen Ideen, seinen wankelmütigen Ansichten und wirren Querschüssen kann ihm doch gar niemand folgen, der noch alle Tassen im Schrank hat. Trump ist völlig unberechenbar«, konterte Sophie Shi wütend geworden.

»Das ist doch alles Taktik«, versuchte Fu Lingpo wieder Boden wett zu machen, »Zuckerbrot und Peitsche. Und das funktioniert doch auch ganz gut?«

»Du meinst wohl eher: Peitsche, Peitsche, Peitsche, Zuckerbrot, Peitsche und dann nichts mehr?«, höhnte die Chinesin zurück.

»Aber in vielen Punkten hat Trump doch Recht? Der Vertrag mit dem Iran ist schlecht ausgehandelt worden, schränkt die Mullahs bloß bei der Weiterentwicklung der Atombombe und nur für zehn kurze Jahre ein. In dieser Zeit bauen und testen sie dafür ihre Mittel- und Langstreckenraketen. Schon in wenigen Jahren werden die Machthaber aus Teheran halb Asien, halb Afrika und ganz Europa mit ihrer Atombombe bedrohen und so ihre Macht-Fantasien in der gesamten Golfregion verwirklichen. Das aber wird Saudi-Arabien kaum dulden und sich ebenfalls Atomwaffen besorgen, womöglich über die USA oder aber über Russland oder China. Diese Aggressionsspirale wird irgendwann unweigerlich zum Krieg führen.«

»Du siehst die Welt mit der Brille der USA auf der Nase. Doch es gibt weitaus bessere Wege, als ständig mit seinen Muskeln zu spielen. Man muss aufeinander zugehen, offen und ehrlich, miteinander reden und einander zuhören. Nur so entsteht Vertrauen. Und nur aus Vertrauen werden gute, tragfähige und nachhaltige Lösungen geboren. Dieses Dreinschlagen und Säbelrasseln mit dem anschließenden, freundlichen Handshake, wie es Trump praktiziert, ist doch blanker Irrsinn, kann jederzeit außer Kontrolle geraten. Der aktuelle US-Präsident ist ein Risikofaktor für die gesamte Erde.«

»Das siehst du zu einseitig, Sophie. Okay, Trump ist politisch völlig unerfahren. Doch all diese Berufspolitiker in den anderen Ländern wissen das doch ganz genau? Deshalb reagieren sie auf all die Entgleisungen des US-Präsidenten auch so gelassen und abgeklärt. Und deshalb kann Trump erfolgreich auf diese unkonventionelle Strategie setzen.«

Ja, so oder ähnlich liefen einige ihrer privaten Debatten in den letzten Monaten ab. Denn beide waren an Politik sehr interessiert, weitaus mehr als früher, als sie noch in Hongkong lebten. Das war eines der seltsamen Dinge im Leben, auch wenn dies weder Sophie Shi noch Fu Lingpo bewusstwurde. Dass man sich fern seiner Wurzeln plötzlich für die gesamte Welt zu interessieren begann, während man zuvor über viele Jahre hinweg nur auf sich und die lokalen Probleme geschaut hatte.

»Reisen bildet«, lautete ein geflügeltes Wort.

Doch das konnte so kaum stimmen. Denn die meisten Urlauber flogen mit ihren Vorurteilen in die Ferien und kamen mit noch größeren Vorbehalten zurück. Eher müsste man wohl sagen: »Wer für sich selbst eine neue Heimat finden muss, der betrachtet die Entwicklungen auf der gesamten Welt. Wer dagegen bereits eine Heimat besitzt, der nistet sich dort bequem ein.«

Kulang hatte sich in der Zwischenzeit ausnahmsweise sein drittes Bier bei Fu Lingpo bestellt, wandte sich mit der Neige des zweiten an die Gästeschar im Pub.

»Wer für Trump ist, der soll die Hand heben!«, krakelte er angetrunken und laut, blickte sich mit wilden Augen um, suchte nach einem Gegner, den er angehen konnte. Niemand beachtete den kräftigen Südafrikaner. Alle taten so, als hätten sie nichts gehört oder ihn nicht verstanden.

»Na gut ... brave Leute«, kommentierte Kulang die fehlende Reaktion der Gäste, wertete sie als strikte Ablehnung von Trump.

Fu Lingpo stellte das Bier vor dem Angetrunkenen hin, knallte das Glas dabei aber so laut auf den Tresen, dass sich Kulang abrupt zu ihm umdrehte.

»Geht aufs Haus«, meinte der Chinese freundlich grinsend, »aber nur, wenn du aufhörst, über Politik zu reden.«

Das Augenzwinkern des Pub-Betreibers musste dem Trinker entgangen sein, denn er reagierte heftig aufbrausend.

»Waaaas? Du willst mir den Mund verbieten? Wer bist du denn, dass ich deine Erlaubnis zum Sprechen brauche? Du bist doch auch nur einer dieser hergelaufenen Ausländer, die unser schönes Land ausbluten und uns wieder in die Apartheid treiben wollen. Ich hasse alle Ausländer. Sie sind schlecht für unser Land ... für unser geliebtes Südafrika ... unsere Heimat.«

Etwas unbeholfen rutsche er vom Barhocker herunter und machte Anstalten, um den Tresen herum zu gehen, um sich den Wirt vorzuknöpfen. Alle Gäste im Pub beobachteten ihn nun voller Erwartungen und Anspannung, aber genauso richteten sie ihre Blicke immer wieder auf Fu Lingpo, der äußerlich völlig ruhig und gelassen hinter seinem Tresen stand.

»Ich werf dich aus deinem eigenen Lokal«, versprach Kulang nun trunken aber laut dem Chinesen und allen Gästen und ballte dazu seine ziemlich mächtigen Fäuste, »Asiaten haben hier ab sofort Hausverbot«, reklamierte er dummdreist und baute sich drohend vor Fu auf. Der blickte seinen Gast immer noch abwartend an, stand recht locker und mit hängenden Armen da, hatte aber sein Körpergewicht bereits auf die Fußballen verlagert. Als Kulang einen weiteren Schritt auf den Kneipenwirt zumachte und gleichzeitig seine Fäuste hob, sprang Lingpo vor und ganz dicht an den Mann heran, umklammerte dessen Schultern und hieb ihm das linke Knie in die Genitalien. Der Südafrikaner quiekte zuerst erschrocken auf, schrie dann aber mit etwas Verzögerung voller Schmerzen, aber auch voller Wut. Fu drehte den Betrunkenen kurzerhand um dessen Achse und schob ihn in Richtung Ausgang vor sich her, quer durchs gesamte Lokal. An der offenstehenden Tür stieß er den unflätigen Gast einfach nach vorne. Kulang torkelte noch zwei, drei Schritte hinaus auf den Gehsteig, brach dort zusammen und krümmte sich am Boden.

»Du hast ab sofort Hausverbot. Such dir einen anderen Ort, um dich zu besaufen.«

Damit wandte sich der Pub-Betreiber vom Betrunkenen ab.

Es herrschte betretenes Schweigen, als Fu Lingpo wieder hinter seinen Tresen trat. Sophie Shi zeigte sich kurz im Durchgang zur Küche, hatte die veränderte Stimmung im Lokal gehört oder gespürt, vielleicht auch einige der zornig ausgerufenen Worte von Kulang vernommen, tauschte mit ihrem Lebenspartner einen stummen Blick aus. Der hob kurz seine rechte Hand und winkte beruhigend ab. Der Kopf der Chinesin verschwand wieder in der Küche.

Nur langsam erhob sich wieder das Gemurmel an den Tischen.

Fu Lingpo musterte seine Gäste. Die am Tresen schienen seinem Blick mit ihren Augen auszuweichen. Manch einer an den Tischen spähte jedoch zu ihm hinüber, viele von ihnen neugierig, andere jedoch auch ablehnend oder gar drohend. Dem Chinesen erschien es, als braute sich etwas gegen ihn zusammen. Doch das bildete er sich wahrscheinlich nur ein. Denn wenig später setzten seine Gäste ihre Gespräche überall fort, erst eher leise, wenig später aber in normaler Lautstärke.

Kulang kam nicht mehr herein, kroch zuerst auf allen Vieren von der Tür weg, entfernte sich dann gebeugt hinkend und leicht torkelnd. Er verspürte in seinem trunkenen Kopf noch keine Scham. Aber bereits eine ungeheure Wut. Und er sann auf Rache.

Head Game

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