Читать книгу Vagos, Mongols und Outlaws - Kerrie Droban - Страница 10

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Die Vagos brauchten Schlägereien wie andere einen Drogen-Fix. Es war egal, wem es an den Kragen ging oder ob überhaupt ein Sinn dahintersteckte – das Spiel des Gewinnens oder Verlierens verschaffte den Bikern eine Art Erleichterung. Meine Nächte verwandelten sich in einen undurchdringlichen Nebel aus Faustschlägen und Nackenhebeln. Mein Gesicht schlug so lange auf dem Betonboden auf, bis die Zähne die Wangeninnenseiten blutig aufrissen. Meine Augen waren geschwollen, so dass ich nur noch durch schmale Schlitze blinzeln konnte, und meine Stiefel hinterließen blutige Abdrücke auf den Fliesen. Die Polizei schritt niemals ein, da kein Opfer sie je verständigte. Zwischen all dem Grunzen, dem Krach und den hysterischen Schreien tat ich mein Bestens und schlug zu – immer und immer wieder, bis die Gewalt mich nicht mehr juckte, zur Gewohnheit wurde. Ich erwartete sie förmlich. Schlag. Ducken. Schlag. Wegducken. Mein Leben bestand nur aus dem blitzartigen Auflodern der Brutalität vor einer tiefen Finsternis. Die Angst, die ich mal gehabt hatte, schwand mit jedem Zweikampf mehr. Auch wenn ein stechender Schmerz meine rechte Schulter durchzuckte oder mein Kopf dröhnte, machte mir das nichts mehr aus.

Meine Haltung blieb den Bikern nicht verborgen, und so lud mich Terrible zur Feier des achten Gründungstags des Victor-Valley-Chapters ein. Sie fand im Screaming Chicken Saloon in Devore statt, einem Gebiet des San Bernardino County, auf das der Sheriff keinen Zugriff hatte und das zwischen zwei Freeways an der Route 66 lag. Der Saloon, eine umgebaute Tankstelle aus den Vierzigern, schenkte nur Bier und Wein aus, keine harten Alkoholika. Innen drin war es verdammt staubig. Die Barkeeper sahen ziemlich abgerissen aus, wie Fossilien aus einer längst vergangenen Ära, die mal dringend ein gründliches Bad nötig gehabt hätten. Dollarscheine flatterten an der Wand. Ein großes Motorradschutzblech hing ebenfalls dort, gleich neben den grellen Neonröhren, die ein „V“ bildeten. Mehr als 200 Vagos hatten sich in den Laden gequetscht und vermischten sich mit den Mitgliedern anderer Chapter oder von Clubs, die sie unterstützten. Der Tresen war so lang, dass er bis in einen überdachten Außenbereich hineinragte, in dem man mit Hufeisen Wurfübungen machen konnte. Um mich herum sah ich das metallische Glitzern von Waffen und Stahlketten. Pinkfarbene Flyer, die für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zur Unterstützung einer Kampagne gegen Brustkrebs warben, lagen auf dem Boden und klebten an den Stiefeln der Männer. Die Frauen stolzierten in Bikinis durch den Laden.

Einige Vagos trugen noch ihre Helme, die an die Nazi-Sturmtruppen des Zweiten Weltkriegs erinnerten. Vor der Bar standen Bikes aneinandergereiht – meist in Schwarz, Bronze, Silber, Rot oder Blau –, deren Lenker mit Walküre-ähnlichen Metallschwingen verziert waren. Das Leben der Onepercenter drehte sich vornehmlich um Motorräder und das Ausschlachten alter Maschinen bzw. den Diebstahl von Ersatzteilen. Terrible drängte sich zwischen den Leuten hindurch und kam auf mich zu, in der Hand ein großes Glas mit kühlem Bier. Er wirkte heute besonders aufgeregt, denn die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er sprach davon, es Drogendealern heimzuzahlen, die Stoff mit gefälschten Banknoten gekauft hatten, von einer Jagd auf Menschen, die er anleiere, da sie den Vagos Kohle schuldeten, von Anschlägen, die er verüben wolle, und Gesichtern und Augenhöhlen, die er in blutigen Brei zu verwandeln gedachte. Von ihm unbemerkt steuerte ich den Rekorder aus.

Terrible machte mich verdammt nervös. Es war nicht nur seine dämonenhafte Erscheinung, sondern seine Unberechenbarkeit. Er prügelte sich, ohne provoziert worden zu sein, verlor beim Erzählen den roten Faden und beendete Gespräche mitten im Satz. Wenn er unter Stress stand, schlug er auf imaginäre „Schattenmenschen“ ein. Doch er war für mich auch der ideale Türöffner, um an Schlüsselfiguren wie Twist vom Victor-Valley-Chapter oder Rhino vom Victorville-Chapter heranzukommen. Die beiden tauchten just in diesem Moment im dunklen Eingang des Screaming Chicken auf und trugen Tüten voll mit weißem Pulver. In den vorderen Taschen der Kutten steckten kleinkalibrige Pistolen. Ich prägte mir die tätowierten, muskulösen Arme ein und die überdimensionalen Piercings in Rhinos Ohrläppchen. Die beiden durchdrangen mich beim Näherkommen mit ihrem ausdruckslosen Starren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie eine schwere Kindheit hinter sich hatten, in ihren frühen Jahren emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt waren und sich mit den ständigen Gewaltdarstellungen im Fernsehen konfrontiert sahen, während ihre Eltern aus der Arbeiterschicht einen beständigen Kampf führten, damit genügend Essen auf dem Tisch stand. Ich kannte sie gut, Menschen, die so drauf waren wie diese beiden. Gespräche führten da zu nichts. Niemand stellte sich gegen von ihnen gefällte Entscheidungen. Es war ja auch egal. Widerworte hätten sie wahrscheinlich nur zu einem Schlag in die Fresse provoziert. Und mal davon abgesehen, bestand mein Job darin zu beobachten, Gespräche aufzuzeichnen und zu manipulieren, und nicht darin, solche Typen zu läutern, aus ihnen womöglich noch gute Menschen zu machen.

In dieser Nacht ahnte ich noch nicht, dass ich zwei der brutalsten Killer der Vagos begegnet war.


Zu Beginn des Jahres 2004 kontaktierte die Criminal Intelligence Division aus San Bernardino Special Agent John Carr vom Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives [ATF], um sich zu erkundigen, ob er mich für eine sinnvollere Aufgabe einsetzen konnte. Special Agent Carr und Special Agent Darrin „Koz“ Kozlowski trafen sich also mit Vertretern der DEA und mir im Büro in San Bernardino. Carr hatte schon einen Informanten, der in Riverside bei einer Ermittlung gegen die Vagos eingesetzt wurde. Das ATF und die DEA kamen schließlich zu einer Übereinkunft, und von nun an stand ich auf der Gehaltsliste des ATF. Der legendäre Koz, ein Bundesagent, der die Vagos 1997 in einem Undercover-Einsatz infiltriert und es sogar bis zum Rang eines Vollmitglieds geschafft hatte, fungierte als mein Kontaktmann.

Um in die Gang zu kommen, hatte er einen Informanten wie mich eingeschleust, der aber schon einen Monat später bei einem schweren Motorradunfall auf dem Hollywood Boulevard ums Leben gekommen war. Die Vagos besorgten sich daraufhin den Unfallbericht vom LAPD und erfuhren so, dass die Karre auf eine Regierungsstelle zugelassen war. Die Biker nahmen sich die Frau des Spitzels zur Brust und wollten wissen, warum ihr Mann ein Bike der Regierung „geschrottet“ habe. Die arme Frau wurde bedroht – entweder rede sie, oder man schlachte ihre Familie ab. Schließlich gab sie die wahre Identität ihres Mannes preis und verriet, dass er als ATF-Informant gearbeitet habe. Gleichzeitig zeigte sie den Vagos Koz’ Visitenkarte, die ihn als Bundesagenten auswies. Die Biker machten es von da an zu ihrer dringlichsten Aufgabe, den Mann namens Koz zu eliminieren. Zum Ende der ATF-Ermittlung im Jahr 1998 hin fanden die Typen seine Privatadresse heraus, terrorisierten ihn und bedrohten ihn mit Mord, weshalb das ATF ein bewaffnetes Krisenteam zur Überwachung seines Hauses abstellte. Die Vagos verzogen sich daraufhin – und Koz zog den Undercover-Job unbeeindruckt bis zum Ende durch, da noch niemand sein Gesicht gesehen hatte!

Als Koz mir die Hand schüttelte, umspielte ein sympathisches Lächeln seine Lippen. Er warnte mich: „Sie wissen, dass wir alles improvisieren?“ Bedächtig erläuterte er die Mission. Ich sollte im Rahmen der Operation 22 Green in den inneren Kreis der Vagos vordringen. Das Ziel: Den Vagos Verstöße gegen das Bundesgesetz VICAR (Violent Crime in Aid of Racketeering4) nachzuweisen, bei dem im Gegensatz zum RICO-Act den Bikern nur ein einziger Gesetzesverstoß nachgewiesen werden musste, und die Identifikation der Chefs des Clubs und der Anführer der einzelnen Chapter.

„Was haben Sie für einen Rang bei den Vagos?“

„Meinen Rang?“

„Ja, was machen Sie da?“

„Ich hänge mit denen ab!“

„Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet?“ Ein Anflug des Zweifels huschte über Koz’ Gesicht, während er mir die Club-Hierarchie erklärte. Das Ziel jedes Hangers oder Abhängers war es, sich zum Prospect hochzuarbeiten und schließlich Vollmitglied zu werden. Die besonders vielversprechenden Vollmitglieder nahmen dann Führungspositionen ein: Präsident, Vizepräsident, Sekretär, Schatzmeister und Waffenmeister. Besondere Brutalität wiederum qualifizierte einen Mann für die Elite-Kampftruppe des Clubs – er konnte Killer werden, Dealer oder spezielle Härtefälle übernehmen. Jeder Outlaw-Club besaß so eine Truppe, die auch einen Namen trug. Bei den Outlaws war es die SS, für die Hells Angels erledigten die Filthy Few oder die Death Squad die Drecksarbeit, bei den Pagans stand die Black T-Shirt Squad Gewehr bei Fuß, und das Nomad Chapter übernahm die Jobs bei den Bandidos.

„Die Vagos sind da anders gestrickt“, warnte mich Koz. „Sie behandeln alles diskret.“

Die Schwierigkeit lag nun darin, die großen Nummern zu identifizieren. Und ohne ein Bike käme ich da nie rein.

„Wir arbeiten daran“, versicherte mir Koz.


Das nächste geplante Treffen der Vagos fand in Lake Havasu in Arizona statt, gelegen am Colorado River, 60 Meilen südlich von Bullhead City. Der Wüstenfluss, umgeben von roten und ockerfarbenen Bergen und steilen Wänden, war ein Reservoir des Colorado River, das sich bei der Fertigstellung des Parker-Staudamms 1938 gebildet hatte. Die wunderschöne Kleinstadt zeichnete sich durch die berühmte London Bridge und ein nachempfundenes britisches Dörfchen voller Geschäfte und Restaurants aus und zog eine hochexplosive Mischung aus Studenten und Outlaws an. Die Palmen und der idyllische Strand bildeten einen starken Kontrast zu den maßlosen und überschwänglichen Partys, die allerorten gefeiert wurden. Die Tour nach Havasu war eine exklusive Veranstaltung der Vagos und fiel zufälligerweise mit der Tour nach Laughlin zusammen.

Da ich immer noch kein Bike besaß, fuhr ich mit einigen Männern des Victorville-Chapters in einem Wohnmobil. Die Motorräder wurden auf einem Anhänger befördert. Zumindest bot der Wagen Schutz vor der brütenden Hitze, denn hier stiegen die Temperaturen leicht über 40 Grad. Die Hells Angels hatten Arizona wie auch einen großen Teil der Westküste fest in der Hand. Allerdings hatten sie es noch nicht geschafft, sich die Vagos einzuverleiben, die Südkalifornien beherrschten. Lake Havasu stellte einen wichtigen Punkt auf der Landkarte der Biker dar, denn hier stand die schlichte Präsenz im Vordergrund und nicht irgendeine Strategie. Als Abhänger schloss man mich von den wirklich wichtigen Gesprächen aus. Stattdessen verbrachte ich einige Stunden damit, den Mitgliedern Bier und Zigaretten zu beschaffen – und Head Butts Plastikbett aufzublasen, dann die Luft rauszulassen und es später wieder aufzublasen. Darüber hinaus musste ich die Biker standesgemäß unterhalten. Nach einer Weile forderte die Anweisung „Runter auf den Boden und 22 Liegestütze machen“ ihren Tribut. Erschöpft, dehydriert und umgeben von abgefüllten Bikern und Prospects, die mir Meth ins Gesicht bliesen, stellte ich mir einen Gefängnisaufenthalt als ein wahres Vergnügen vor.

Die Vagos hatten ein komplettes Hotel in Beschlag genommen und machten es sich jetzt erst mal auf dem Parkplatz bequem, durch Zelte vor der Sonne geschützt. Terrible, der erst einige Wochen vor der Tour offiziell zum Prospect ernannt worden war, zerfloss förmlich in der Hitze. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt, um zu erfahren, wo die Aufgaben eines Prospects lagen, doch der Unterschied zwischen unser beider Rollen war eher marginal. Immer wenn sich mir die Gelegenheit bot, steckte ich den anderen, dass ich mir ein Bike zugelegt hatte. Ich wusste, dass ich damit in den Augen der Vollmitglieder sofort auf einer höheren Stufe stand und schneller befördert werden würde. Besonders Head Butt interessierte sich für die Information. Er ahnte natürlich nicht, dass es noch Wochen dauern sollte, bis das ATF das sprichwörtliche rote Band der Bürokratie durchtrennen und mir die Karre liefern konnte.

Tagelang versuchte ich, wenigstens einige Minuten zu schlafen – auf nackten Fliesen, auf dem Randstein, auf einer schäbigen Couch. Doch entweder rissen mich die Geräusche von Fußgängern aus dem Schlaf oder laute Stimmen – oder auch die Klangkulisse des Sex weckte mich auf, die von den Wohnwagen oder aus irgendeinem Gebüsch an mein Ohr drang. Ich schnappte auch einige Wortfetzen auf. Es ging um Waffen- und Drogenschmuggel und um bevorstehenden Ärger mit den Angels. Doch nie bot sich mir die Möglichkeit, ein Gespräch konzentriert zu belauschen. Stattdessen drückte ich mich schon vor Sonnenaufgang an den grauen Wänden rum und empfand die Welt als ein verworrenes Durcheinander.

Terrible bewachte den Campingwagen. Mit den Hörnern, den zusammengepressten Augen und den Tattoos wirkte er wie eine mythische Kreatur, die gerade irgendeinem geheimnisumwitterten Gewässer entstiegen war. Als Junkie kam er tagelang ohne Schlaf und Nahrung aus – der ideale Soldat, der von einer verrückten Dienstauffassung bestimmt zu sein schien. Er strahlte eine verflucht gefährliche Energie aus, die mich beunruhigte und innerlich verkrampfen ließ. Obwohl ich den Gedanken hasste, noch mehr Zeit mit dem Kerl zu verbringen, war mir klar, dass ich nur durch ihn an die wichtigen Biker herankommen konnte.

Dann kam der dritte Tag unseres Aufenthalts. Die Sonne ging gerade hinter dem Fluss unter, und ich hatte mir bereits mein 22. Bier geschnappt. Terrible war völlig übermüdet und sah so aus, als werde er gleich umkippen. Die Vagos hatten ihm befohlen, eine geschlagene Stunde auf einem Bein zu tanzen – Spielchen, die Prospects über sich ergehen lassen müssen. Psycho, der Präsident des Chapters, gab an diesem Abend die Beförderung von Head Butt bekannt. Wir drängten uns alle in das Wohnmobil und beobachteten, wie Psycho Head Butt das Abzeichen, den Center Patch, überreichte, das er mittig auf der Kutte annähen durfte. Sie gaben ihm dafür 15 Minuten Zeit. Terrible kramte in seiner Gürteltasche und holte Nadel und Faden raus. Psycho bot ihm daraufhin sein altes Motorrad an.


Nach der Havasu-Tour lud mich Terrible in das Meth-Haus ein, in dem er mit Rhino und Twist wohnte. In den engen Räumen standen halbnackte Frauen in den Türrahmen, die menschlichen Skeletten glichen und darauf warteten, Sex gegen Meth einzutauschen. Ineinander verschlungene und an die Wand gelehnte Körper stöhnten lustvoll, und am Boden standen Schalen mit Meth. Über einer alten Couch, die vom weißen Pulver ganz verdreckt war, hing eine von hinten angestrahlte Nazi-Flagge. Das schwarze Hakenkreuz warf düstere Schatten an die Decke. Vor die Fenster gespannte Folie ließ nicht den winzigsten Sonnenstrahl in das Innere des Gebäudes. Es stank nach durchnässtem Mauerwerk und Bier. Von dem ganzen Drogennebel begannen meine Augen zu tränen. Mehrere AK-47, die legendären Sturmgewehre, standen neben der Tür, als gehörten sie zum Mobiliar. Pitbulls lagen auf dem Boden, und Fliegen krochen ihnen ins Ohr. Verklumpter Hundekot lag in Nähe der Drogen. Twist grunzte zur Begrüßung und steckte sich eine Glaspfeife an, die .380er-Pistole in seinem Gürtel.

Ich lehnte mich gegen eine Wand, hörte das Klatschen von Haut auf Haut, genussvolles Lecken und kaum verständliches Geschnatter, das mich an eine seltene Vogelart erinnerte. Im Zwielicht warf Rhinos Körper einen langen Schatten. Er spielte gedankenverloren mit den Titten einer Frau, wobei das lange Messer aus seinem Gürtel hervorblitzte. Er sammelte Frauen wie andere Waffen. Seine Alte stand in einer Ecke und wirkte wie ein riesiger Dreckfleck. Einige spindeldürre Bräute mit eingefallenen Augen versuchten Rhinos Aufmerksamkeit zu erregen. Sie standen im Flur, im Schlafzimmer oder saßen auf der Couch oder auf dem Boden. Rhinos Freundin schien das überhaupt nicht zu beeindrucken. Wenn ich nicht noch mehr sinnlose Nächte mit dem Beobachten von benebelten Sex-Miezen verschwenden wollte, musste ich dringend etwas unternehmen.

Ich machte dann den ersten Schritt, spürte dabei jede Nervenfaser. Die Angst steigerte meine Aufmerksamkeit.

„Ich hab dich doch schon mal gesehen.“ Rhino nickte. Keiner reichte dem anderen die Hand. Hätte ich als x-beliebiger Abhänger das Gespräch mit einem Vollmitglied begonnen, wäre das mein erster Fehler gewesen.

„Ich kriege das Bike in einem Monat, habe den Bock schon bezahlt“, versuchte ich eine Unterhaltung anzuleiern. Eine merkwürdige Stille machte sich zwischen uns breit. Rhinos blutunterlaufene Blicke durchdrangen mich. Während einiger quälend langer Sekunden zwinkerte keiner von uns.

Und dann – als hätte ich einen imaginären Test bestanden – meinte er bloß: „Ich werde dich fördern.“

Meine Zunge klebte am Gaumen. „Ich fühle mich geehrt.“ Das war’s. Ich war drin. Vielleicht wirkte ich in diesem Augenblick etwas zu aufgeregt oder erleichtert, denn Rhinos Gesicht verfinsterte sich wieder für einige Sekunden, und er riet mir mit tiefer Stimme: „Lass mich niemals wie ein dummes Arschloch dastehen.“


Terrible klärte mich später auf. Er hatte gehörte, dass „Vollidioten“, dazu zählten illoyale Prospects und angebliche Informanten, zusammengeschlagen und auf die Hochplateaus in der Wüste draußen gebracht worden waren, wo man ihnen den Mund mit Gaffa-Tape zuklebte und sie hinrichtete. Ich versprach ihm, nicht zu den Idioten zu gehören. Doch damit man offiziell Prospect wurde, musste der Club zuerst bei der nächsten Vollversammlung, dem Church-Meeting, abstimmen. Als Abhänger hatte ich schon Informationen über die Clubhierarchie der Vagos gesammelt, einige der Codes gelernt und wusste auch, wie eine Vollversammlung ablief. Hinter Gesetzen und der Clubsatzung verbargen die Vagos ihre kriminellen Aktivitäten und die perverse Interpretation biblischer Gebote. Die Vollversammlungen, bei denen nur Mitglieder anwesend sein durften, waren für sie wie Kirchgänge. Bei solchen Treffen kümmerten sie sich um „das Geschäftliche“.


An einem kühlen Sonntagabend hielt Psycho dann eine Versammlung in seinem in der Einfahrt geparkten Wohnmobil ab. Rhino, Spoon, Powder, Sonny und Chains verschwanden mit einigen Mitgliedern, um über mein Schicksal zu beratschlagen. Ich setzte mich an eine Bordsteinkante, ließ Kies durch die Finger rieseln und dachte über die letzte Woche nach. Bislang war nicht Nennenswertes passiert. Stunde um Stunde voller Langeweile, Bier, Billard, sinnlose Scherze hatten sich aneinandergereiht. Ich wartete auf eine Chance, eine Begegnung, um die Ermittlung voranzutreiben. Und nun war da plötzlich Terrible, ein waschechter Schwerverbrecher, der mir augenblicklich den Hals umdrehen würde, wüsste er von meiner wahren Identität.

Die Tür des Wohnmobils flog mit einem lauten Knall auf. Ich erkannte Psycho, der von der nackten Glühbirne im Wagen angestrahlt wurde und einen langen Schatten warf. Er winkte mich herein. Drinnen roch es nach Plastik und abgestandenem Qualm. Der riesige Campingwagen, sicherlich mehrere hunderttausend Dollar wert, diente ihm als Symbol für seinen Erfolg in der Welt der Drogen. Solche Kisten bedeuteten Macht! Aber mittlerweile kannte ich seinen gehetzten und gejagten Gesichtsausdruck. Die Paranoia im Dunkel der Nacht machte aus ihm einen übervorsichtigen, ruhelosen und emotional leeren Menschen.

Einige Mitglieder mit grünen Kopftüchern und verdreckten Kutten saßen in einem Halbkreis vor mir. Das waren roboterartige Soldaten, hervorragend ausgebildet, bewaffnet und ohne jegliche Gefühle.

„Du willst also Prospect werden?“ Psycho verschränkte die Arme vor der Brust und wirkte eher wie ein Sergeant bei den Marines als ein Krimineller. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Von draußen hörte ich das Zirpen der Grillen.

„Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen.“ Mein Herz hämmerte in der Brust.

„Du weißt, was das bedeutet?“ Bevor ich antworten konnte, lehnte er sich zu mir herüber und flüsterte: „Du wirst ein Sklave sein, für die Vagos 24 Stunden am Tag erreichbar. Man kann alles von dir verlangen.“ Der Ton seiner Stimme ließ erkennen, dass er damit auch „Geschäftliches“ meinte – Selbstaufopferung, Gefängnis, sogar den Tod im Dienste des Clubs eingeschlossen.

„Und wenn ich eines Tages denke, dass ich dich nicht leiden kann, könnte ich dir den Befehl erteilen, dich auf der Straße umfahren zu lassen.“

Ich nickte, wusste ganz genau, was Psycho meinte. Ich hatte schon im Zusammenhang mit anderen Chaptern Gerüchte über Entführungen und Folter gehört.

„Und wenn wir in den Krieg ziehen müssen“ – er legte eine dramatische Pause ein –, „dann wird von dir erwartet, dass du kämpfst, dass du tötest!“ Ich sagte nichts, doch mir wurde verdammt mulmig.

Psycho überreichte mir den Bottom Rocker. „Kauf dir eine Kutte und näh ihn dir dran.“


Als ich einige Stunden später in die Slapshot Bar fuhr, konnte ich das Lenkrad des Wagens kaum halten, so sehr zitterten meine Hände. Spoon und einige Biker wollten dem neuen Prospect einige „Ratschläge“ geben. Mir kam das alles recht seltsam vor. Kaum vier Monate war ich dabei, und schon wurde ich aufgenommen – ohne weitere Fragen. Ich fühlte mich, als hätte ich meine Jungfräulichkeit verloren: Ich besaß weder ein Bike noch eine Kutte, aber trotzdem hatten sie mich in ihren Kreis aufgenommen. Niemand bat mich um eine Art Bewerbung – gleich welcher Art –, und niemand überprüfte meine kriminelle Vorgeschichte. Im Gegensatz zu Undercover-Agenten, die sich eine falsche Identität zulegen mussten, einschließlich angeblicher Verhaftungen, gefälschter Konten, eines Eintrags in das Kraftfahrzeugregister unter dem neuen Namen und einer Auflistung der bisherigen Jobs, hätte ich mit einem echten Strafregister aufwarten können. Und nun spielte gerade ich einen „Kriminellen“.

Spoon bestellte ein Bier und strich sich über den langen Ziegenbart, der ihm bis auf die Wampe reichte. Die Matte schwarzen Haars hing bis auf seine Schultern. Ein Kopftuch verdeckte seine Halbglatze. Im gedämpften Grün des Lichts rezitierte Spoon den Prospect-Song, den ich wiederholen musste:

I’m a Vago prospect, it’s plain to see.

I wish they’d hurry up and give me my patch

So everyone will quit fucking with me.

Er überreichte mir ein Notizbuch und einen Bleistift, befahl mir, alles mitzuschreiben und immer auf der Hut zu sein. Ich fühlte mich wie bei den Pfadfindern. Er zählte eine Liste der wichtigsten Dinge auf, die ich in meiner „Überlebensausrüstung für Prospects“ mitführen musste: Kondome, Tylenol gegen Schmerzen und Fieber, Nadel und Faden (für den Fall, dass ein Prospect sich einer anderen Gruppe anschloss und man ihm den Aufnäher entfernte), Tampons (um die Blutung einer Schusswunde zu stoppen), Schnürbänder, verschiedene Glühbirnen für das Bike und das Schmerzmittel Vicodin. Spoon bestellte sich dann noch Bier, und wir saßen bis in die Morgenstunden zusammen.


Bei Sonnenaufgang fuhr ich Terrible nach Hause. Erschöpft, aber emotional aufgewühlt, registrierte ich kaum noch, dass ich in drei Stunden bei Napa Auto Parts meinen regulären Job beginnen musste. Lizard und die anderen Biker fuhren in ihrem Wagen einige Meter vor uns. Plötzlich sah ich Bewegung auf dem Rücksitz. Lizard drehte sich schwerfällig auf der Rückbank, wackelte herum und hielt auf einmal seinen nackten Arsch durch das Fenster. Was zum Teufel macht der da? Von all den Mitglieder der Vagos, die ich bislang getroffen hatte, war Lizard der abgefuckteste, ein Typ, der in bizarren Sphären schwebte, für immer und ewig in einem LSD-Flashback steckte. In der „realen Welt“ wäre er wahrscheinlich in die Klapse gebracht, offiziell für „nicht zurechnungsfähig“ erklärt und mit Medikamenten abgefüllt worden, doch die Vagos stuften ihn lediglich als einen „Exzentriker“ und in keinster Weise als Psychopathen ein. Sie hätten nicht im Traum daran gedacht, ihn wegen des Alters oder einer psychischen Krankheit auszuschließen. Ich lernte schnell, dass es unter Gangstern verschiedene Stufen des Wahnsinns gab. Unter seinesgleichen präsentierte Lizard gemeinhin eine perfekte Fassade. Er wurde zu einem Teil der Dunkelheit, erkannte aber längst nicht mehr, was um ihn herum wirklich vor sich ging. Doch es war egal, dass er zu den verlorenen Seelen zählte – denn sie alle waren verloren. Es scherte niemanden, dass er psychisch krank war, denn alle Biker waren mehr oder weniger durchgeknallt. Er war eine Missgeburt unter Missgeburten. Und sie alle versuchten eine gewisse Ordnung, wenn auch in pervertierter Form, in das Chaos ihres Lebens zu bringen.

Terrible öffnete das Fenster. Der eisige Wind drang in den Wagen. Lizard beförderte etwas auf die Straße. Es landete mit einem Platschen auf dem Asphalt. Dicke Tropfen spitzten auf meine Windschutzscheibe – braun und flüssig wie …

„Scheiße!“ Terrible hielt sich Mund und Nase zu und kurbelte die Scheibe so schnell wie möglich hoch. „Diese Drecksau hat ’nen Dünnen und uns voll angeschissen!“ Ich brauchte einen Moment, um Terribles Statement zu verstehen. Das Ganze war nicht verrückt oder exzentrisch, sondern auf eine bestimmte Art und Weise ein Abbild der Realität, denn wir saßen alle in der Scheiße – und machten uns gegenseitig fertig.


Zu Hause angekommen, ließ ich mich ins Bett fallen und steckte mir die Ohrstöpsel rein. Wie sich herausgestellt hatte, war es viel zu anstrengend gewesen, drei oder vier Mal die Woche die 40 Meilen von Upland nach Victorville zu düsen, um mit den Vagos abzuhängen. Deshalb hatte ich mir ein billiges Apartment in der Altstadt von Victorville gemietet, in einem überwiegend von Latinos bewohnten Viertel, nahe den Kaschemmen der Vagos. Ich war kaum eingeschlafen, als ich ein aggressives Klopfen an meiner mit einer Stahlplatte gesicherten Tür hörte. Vor nicht einmal zwei Monaten hatten mir Justizbeamte einen unerwarteten Besuch abgestattet. Von da an wurde ich die Angst vor ungebetenen nächtlichen Gästen nicht mehr los.

Irritiert schlug ich die Decke zurück und zog mir ein Hemd an. Hercules flitzte blitzschnell durch die Wohnung und bellte die Lichtkegel der Scheinwerfer an, die über eine Wand huschten. Ich warf einen Blick auf die Straße und erwartete den grellen Schein der Maglites-Stabtaschenlampen der Cops. Nichts. Plötzlich stand ich voll unter Strom. Ich tapste zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Die unheimliche Stille raubte mir noch den Verstand.

Als ich mich wieder ins Bett legte, winselte Hercules. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Dort draußen war etwas – ich sah es nur nicht! Während der nächsten zwei Stunden hörte ich nur das Pochen meines Herzens. Der Wecker klingelte um halb sieben. Ich streifte mir die Malocherklamotten über und öffnete die Tür. Uniformierte Beamte standen auf der Straße. Ein Officer kniete auf dem Asphalt und zeichnete Kreidekreise um Blutflecke.

„Was ist hier passiert?“, presste ich zwischen den Lippen hervor. Gleichzeitig fühlte ich mich erleichtert. Das hatte also nichts mit mir zu tun. Ich gehörte jetzt zu den „guten Jungs“, ein merkwürdiges Gefühl, wenn man so viele Jahre als Krimineller gelebt hatte.

„Das können Sie mir ja verraten“, erwiderte der Cop voller Sarkasmus.

„Ich habe nichts gesehen.“ Ich spürte sofort, dass er mir nicht glaubte.

„Natürlich haben Sie nichts gesehen.“ Der Beamte zeigte auf Dellen in meiner Eingangstür. „Irgendein Typ hat ein paar Kugeln in den Arsch gekriegt.“

Jetzt wurde mir alles klar! Was ich als Klopfen interpretiert hatte, waren in Wirklichkeit Schüsse gewesen!

4 Abgedeckt werden dadurch Gewalttaten im Zusammenhang mit Formen der Organisierten Kriminalität, von Drogengeschäften bis hin zu Schutzgelderpressungen.

Vagos, Mongols und Outlaws

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