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Erster Teil Japan, 2018

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Meine Finger wandern über verbogene Buchrücken.

Verschwommene Wörter.

Vergilbte Seiten.

»Welches?«, frage ich.

»Such dir eins aus, Mizuki«, murmelt Großvater.

Ich höre seinen Missmut.

Ich schaue hoch.

Reihen von Büchern in

Reihen von Regalen,

die sich unter ihrem Gewicht

zu einem Lächeln formen.

»In Büchern liegt Magie«, hauche ich.

»Das hast du mir gesagt«, flüstere ich.

Von seinem Bett aus spottet er:

»Kinderkram.«

Ich seufze.

Ich vermisse, wie er war,

bevor Großmutter

starb.

Seine Heiterkeit.

Sein Lächeln.

Seine Begeisterung.

»Aber … Geschichten –«, beginne ich.

»Sind bloß Worte«, sagt er. »Mehr nicht.«

Ich drehe mich um, schockiert.

»Lass mich allein.« Seine Stimme bricht.

»Aber –«

»Verschwinde!«, ruft er.

Ich nehme ein Buch aus dem Regal

und schlage

die Tür

hinter mir zu.

Blätter an einem

sterbenden Baum sind unsre

Erinnerungen

Großvaters Buch liegt auf dem Tisch.

Meine Hand folgt den gestanzten Buchstaben.

Innen trommeln die Figuren mit den Fingern.

Wippen mit den Füßen.

Seufzen ungeduldig.

»Bald könnt ihr mir eure Geschichte erzählen«, sage ich zu ihnen.

»Er liest nicht mehr,

aber ich werde euch befreien.«

Als ich jünger war,

hat Großvater mir vorgelesen.

Er saß auf meinem Bett, seine Stimme erfüllte den Raum.

Seine Hände trugen die Wörter durch die Luft.

In seiner Stimme schwangen Gefühle.

Als ich zu alt zum Vorlesen war,

haben wir immer noch Bücher geteilt,

haben wir immer noch geredet,

diskutiert,

uns begeistert

für Geschichten.

Immer für Geschichten.

Doch jetzt nicht mehr.

Als Großmutter starb,

starb auch etwas in ihm.

Ich vermisse es, spüre ich.

Ich vermisse, wer er war.

Meine Mutter gießt Tee ein.

»Was machst du heute?«

Ich esse meinen Joghurt.

»Bibliothek«, antworte ich. »Lernen.«

Ihre Finger umschließen die Tasse.

»Kannst du nicht hier lernen?«

Fünf Wörter verbergen eine Million andere.

Die Tür knarrt.

Er schlurft herein.

»Herrlicher Sonnenaufgang«, sagt er.

Lächelnd.

Ist heute ein guter Tag für ihn?

Oder nur ein Morgen?

Die Zeit wird es zeigen.

Mutter runzelt die Stirn.

Sorge zeichnet ihr Gesicht.

»Kannst du bleiben, Mizuki? Ich muss zur Arbeit.«

»Bleib nicht wegen mir«, sagt Großvater.

»Ich komme bestens allein zurecht.«

Wir sagen nichts.

Keine von uns.

Wir wissen, dass Minuten und Stunden alleine

seine Worte verschlingen werden.

Ich schaue Mutter an.

Wo ist sie,

meine Mutter ohne Kummerfalten?

Ich nicke.

Erleichterung kommt von ihr mit einem Seufzer.

Ihr Lächeln wärmt mein Herz.

Unsere Schuld nagt,

triezt und terrorisiert uns,

bis alles leer ist.

Als die Haustür ins Schloss fällt

und das Tor zuschnappt,

dauert es nicht lange

und in Großvaters Gesicht ist

Traurigkeit.

Schatten der Vergangenheit

zehren an seiner Seele.

Was geschieht in seinem Kopf,

was ihm so zusetzt?

Was bedrückt

den Mann,

der mir einst

das Radfahren

beibrachte?

Der Großmutter drängte,

tanzen zu lernen,

um es dann selbst

zu lernen.

Der mich weckte,

um mir in einer klaren Nacht

die Sterne

zu zeigen.

Der mit Freunden

Schach spielte.

Und jedes Jahr

Marmelade kochte.

Der lächelte

und lachte

und lebte.

Jeden Tag.

Ich vermisse

diesen Mann.

Seine Finger wandern

über das Buch auf dem Tisch.

Seine Hand streift den gebrochenen Buchrücken.

»Hier gibt es keine Magie mehr«, sagt er.

»Ich bin ein schlechter Mensch«, sagt er.

Und geht davon.

Raus aus der Küche,

durch den Flur,

in sein Zimmer.

Ich folge ihm.

Die Bücher auf seinem Regal halten den Atem an.

Was wissen sie?

Was haben sie ihn im Schlaf

murmeln hören?

Das Lächeln des Regals

wird unter der Last

zu einer Grimasse.

Er dreht mir den Rücken zu.

»Ich habe etwas Schlimmes getan, Mizuki.

Ich kann es nicht länger verbergen.

Deine Großmutter hat es verstanden.«

Er hebt einen Arm

und schlägt sich mit seiner Faust

gegen die Brust.

»Sie hat

diesen

Schmerz

verstanden.

Diese

Schuld.

Sie hat mir geholfen,

sie zu tragen.

Sie zu ertragen.

Jetzt bin es nur noch ich,

der sich erinnert.

Doch ich bin alt und bald …

werde ich sterben.

Und dann …«

Er streckt seinen Arm in die Luft.

Er ballt die Finger

Zu einer Faust.

Dann öffnet er sie

weit.

Die Pantomime einer

Explosion.

»Selbst die Erinnerung

an sie

wird verschwinden.«

Seine Melancholie,

seine Traurigkeit,

seine Verzweiflung

sind greifbar.

»Ich verstehe nicht«, sage ich.

»Meinst du Großmutter?

Ich werde mich an sie erinnern.

Immer.«

Er schüttelt den Kopf und

beugt sich zu Boden.

Mit knackenden Knien

holt er eine Kiste

unter dem Bett hervor.

»Du weißt nicht, was ich getan habe«, sagt er.

»Aber ich muss es dir erzählen.

Jemand Jüngeres muss es

erfahren.«

Er nimmt ein Buch aus der Kiste.

Ich habe nie ein älteres gesehen.

Der Einband ist verblichen,

die Bindung gerissen.

Es hat keine Seiten mehr.

Er schlägt es auf.

Ich habe mich geirrt.

Eine Seite ist übrig.

Er reißt sie heraus.

Faltet sie.

Zuerst in die eine Richtung, dann in die andere.

Und weiter.

Kunstvoll.

Präzise.

Bewegungen, die er schon tausendmal

gemacht hat.

»Hör mir zu«, sagt er.

»Dann verurteile mich.

Hasse oder

liebe mich,

vergib mir oder

verachte mich.

Doch zuerst …

musst du zuhören.«

Er stellt

auf das Regal

einen perfekt gefalteten

Papierkranich.

»Und erinnere dich

immer.«


Der letzte Papierkranich - Eine Geschichte aus Hiroshima

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