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Am Urgrund der Nation

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Und doch können die strengen Regelungen die liberalen Impulse auf Dauer nicht verhindern. Ebenso wenig vermögen sie, den wachsenden Patriotismus unter den Bürgern der Habsburger Länder zu unterbinden.

Politische Diskussionen verbanden sich mit sozialen, die wiederum unter nationalen Vorzeichen vorgetragen werden. Die politischen Debatten ziehen an und werden auf den unterschiedlichsten Foren ausgetragen. In Wien finde man die neuesten französischen und englischen Bücher, berichten Reisende, und einer von ihnen, John Paget, notiert in seinem 1839 erschienen Buch Hungary and Transylvania, dass er im westlichen Ungarn ein Schankhaus betreten haben, in dem Porträts der englischen Parlamentsreformer gehangen hätten. Und wenn der tschechische Journalist Karel Havlíček Borovský über die Innenpolitik in Habsburg nicht sprechen durfte, wich er in Erörterungen über den Widerstand irischer Nationalisten gegen die britischen Besatzer aus. Immer zügiger bilden sich nun Debattierklubs und Diskussionsforen heraus. 1841 entsteht in Wien der Juridisch-Politische Leseverein, deren Mitglieder im Freiheitsjahr 1848 eine Bürgerpetition unterzeichnen, die die Offenlegung der Staatsfinanzen und Achtung der Menschenrechte fordert. Einige Jahre vorher, 1827, hat der liberale Graf István Széchenyi in Pest das Nemzeti Casino, das „Nationale Casino“, gegründet, ein Debattenforum, das Adligen und Bürgerlichen gleichermaßen offensteht, die dort gemeinsam Reformen erörtern. So soll, schlagen die Diskutanten vor, der Adel seine Grundstücke verkaufen können – denn nur dann lasse sich in seinen Boden investieren und entsprechender Mehrwert erzeugen – der seinerseits für die Industrialisierung des Landes unverzichtbar ist.

Gleichzeitig erscheinen neue Zeitungen, und einige der bereits gegründeten erhöhen ihre Auflage. Die 1841 gegründete Pesti Hírlap, das größte ungarische Oppositionsblatt, hat 5000 Abonnenten, seine Leserschaft könnte das Zehnfache betragen haben. Und in Prag steigert Karel Havlíček die Auflage der Pražské Noviny („Prager Zeitung“) von 150 auf 1600 Exemplare. Die Journalisten und Herausgeber in den peripheren Ländern müssen sich meist mit kleineren Zahlen zufriedengeben: Oft geht die Zahl der gedruckten Nummern über einige Hundert Exemplare nicht hinaus. Und doch: Dass es sie überhaupt gibt, ist in sich bereits ein Zeichen, deutet an, dass die Regionen und Länder ein erstes Bewusstsein ihrer selbst entwickeln. „Ich danke Gott, dass ich es noch erleben darf, dass literarische Zeitschriften und Zeitungen in unserer Nationalsprache erscheinen“, schreibt ein Priester dem rumänischen Journalisten Gheorghe Baritiu, der 1838 die erste rumänische Zeitung Gazeta de Transilvania mit der Beilage Blätter für den Geist, Herz und Literatur gründete.38

Die Zeitschriften und Debattierklubs weisen weit über sich hinaus. Veränderung liegt im Vormärz in der Luft, und diesem Gefühl geben sie Ausdruck. Landrechte für die einfache Bevölkerung, parlamentarische Vertretung, öffentliche Dienste, die der gesamten Bevölkerung zugänglich sind, eingeschränkte Rechte des Königshauses bei der Gesetzgebung: Das sind die Vorschläge, die in den Debattierklubs und Zeitungen erörtert werden. Aus Sicht des Adels und des gehobenen Bürgertums sollen vorsichtige Konzessionen radikalen Aufständen vorbeugen, dem Zorn der Arbeiter und sonst zu kurz Gekommenen zumindest die gröbsten Anlässe nehmen. Wichtig ist aus ihrer Sicht vor allem eines: dass Staat und Gesellschaft ihre Ordnung grundsätzlich erhalten, die Änderungen im Kleinen dazu beitragen, das große Ganze zu bewahren.

Mehr und mehr mischen sich die sozialen mit nationalen Anliegen. Ganz langsam entwickelt sich an den höheren Schulen und an den Universitäten ein neues Identitätsgefühl, das Adlige, Bürgerliche, aber auch Bauern und arme Schichten ganz allmählich aneinander bindet. Die Mischung ist nicht überall dieselbe: In Ungarn rekrutieren sich die Reformer aus Adligen und Bürgerlichen, während sie sich in Tschechien bereits zu einem Fünftel aus Bauern zusammensetzen. In Wien entstammt 1848 bereits ein Drittel der Studenten aus der ökonomischen Unterschicht. Doch wo immer sie sozial verortet sind: Mehr und mehr entdecken sie den Gedanken der „Nation“, meist allerdings nicht in der Heimat, sondern in den kulturellen Zentren des Reichs, in Wien, Budapest, Prag. So paradox es klingt: Der Nationalismus war von Anfang an ein internationales Projekt. Der slowakische Dichter und Sprachwissenschaftler Pavel Jozef Šafárik unterrichtete an einer Schule im serbischen Novi Sad; der Theologe Josip Juraj Strossmayer, ohne Unterlass für den Zusammenschluss der Südslawen engagiert, erhielt seine Ausbildung in Pest und Wien; dort bekam auch der slowenische Dichter France Prešeren erste Anstöße für seine patriotischen Ambitionen; der serbische Dichter und Philologe Vuk Stefanović Karadžić, der Vorkämpfer des Serbischen, das zu lernen er alle anderen Südslawen aufforderte, verbrachte einen Großteil seines Lebens in Wien; und der auf Serbisch schreibende Romancier Jakov Ignjatović wuchs in Ungarn auf. Alle Volksgruppen griffen die Idee des Nationalismus auf und passten sie der Lage ihrer jeweiligen Heimatländer an. In jenen Jahren zeigte der Nationalismus seine Fähigkeit, Grenzen und Kulturen zu überschreiten, nationale Gruppen, wie immer sie sich definieren mochten, nicht gegeneinander auszuspielen, sondern im Gegenteil miteinander zu verbinden. „Interpretiert von jungen Menschen, animierte der Nationalismus alle nationalen Gruppen, die Prinzipien von Freiheit und Fortschritt in ihren Ländern umzusetzen, damit diese ihre Fähigkeit zur Mitgliedschaft in einer europäischen Gemeinschaft der Nationen demonstrieren konnten. Das Projekt war brüderlich, rational und universell.“39

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