Читать книгу In guter Gesellschaft - Kerstin Chavent - Страница 8
ОглавлениеMikroorganismen sind ein hochaktuelles und viel bearbeitetes Feld. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht etwas Neues über das kleine Leben an die Öffentlichkeit gelangt. Über viele Kanäle werden heute Bakterien, Viren und Co. einem immer breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die Gefahr globaler Epidemien konfrontiert uns mit einem hochsensiblen Thema. Covid-19 hat uns gezeigt, dass der Umgang mit dem kleinen Leben die gesamte Erde in den Ausnahmezustand versetzen kann. Wie funktionieren die kleinsten und ältesten Bewohner unseres Planeten? Welche Macht haben sie über uns? Wie schaffen wir es, mit ihnen auszukommen und möglichst friedlich mit ihnen zusammenzuleben? Können Mikroorganismen uns helfen, den gigantischen Herausforderungen einer Zeit zu begegnen, in der unser Überleben auf der Erde ungewiss ist?
Es sind die grundsätzlichen Fragen des Lebens, die mich zu diesem Thema inspiriert haben. Als Nicht-Biologin interessieren mich die Zusammenhänge zwischen allen Lebensbereichen: Gesundheit, Ernährung, Zusammenleben. So ist hier nicht ein weiteres Werk zu dem ungeheuer komplexen und wundersamen Verhalten der Mikroben entstanden, sondern ein Überblick über das Wirken des kleinen Lebens, ein kritischer Blick darauf, wie wir damit umgehen, und die Konsequenzen und Möglichkeiten, die sich für uns daraus ergeben. Anhand dessen, was wir heute über Mikroben wissen, wird durchleuchtet, wie wir uns grundsätzlich zu dem Lebendigen stellen. Schützen wir es oder stellen wir uns ihm entgegen? Wirken wir daran mit, die Dinge immer weiter zu spalten oder sie wieder zusammenzubringen? Begegnen wir einander als Feind oder als Freund?
In einer Epoche, von der wir glaubten, alle Krankheiten besiegt und die Geheimnisse des Lebens entschlüsselt zu haben, wird zunehmend deutlich, dass wir uns geirrt haben. Zwar halten viele von uns weiter an dem Traum von der steigenden Lebenserwartung fest, doch bei vielen melden sich Zweifel, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Überall auf der Welt protestieren Menschen gegen zunehmend katastrophale Lebensbedingungen für Pflanze, Tier und Mensch. Sie engagieren sich für den Schutz des Lebendigen und führen der Gesellschaft vor Augen, dass grundsätzlich etwas nicht stimmt.
Wir wollten uns über das Leben erheben, es uns gänzlich untertan machen und werden nun zunehmend mit der Tatsache konfrontiert, dass uns das nicht gelingt. Wir sind heute verletzlicher und krankheitsanfälliger denn je. Jeder Zweite muss damit rechnen, in seinem Leben eine Krebsdiagnose zu bekommen. Herz- und Gefäßkrankheiten, Diabetes, Autismus, Alzheimer, Karies, Gicht, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Neurodermitis, Allergien, Übergewicht, Essstörungen, Depressionen, Burn-out, Angstzustände und Infektionen gehören zu den großen Krankheiten unserer Zivilisation. Gesunde Menschen werden in unserer Gesellschaft zu einer Rarität. Epidemien machen vor keiner Landesgrenze halt und können den gesamten Planeten in Aufruhr bringen.
Vor diesem Hintergrund wage ich mich an ein Thema, das nicht nur hochkomplex ist, sondern auch hochexplosiv. Das ist auch nach meinen Büchern Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist und Die Waffen niederlegen eine ganz besondere Herausforderung für mich. Den Mut dafür trainiere ich mir als ehrenamtliche Autorin für das Internetmagazin Rubikon und Mitverantwortliche für dessen Redaktion Aufwind an. Denn hier geht es darum, auch hinter die Kulissen zu blicken und sich auf neue Wege zu wagen, auf denen wir zunächst alleine sind.
Um den Schleier vor unseren Augen beiseitezuschieben – so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Apokalypse –, muss ganz genau hingesehen werden. Hierbei können uns die Mikroorganismen helfen. Sie eröffnen uns ebenso erstaunliche wie Hoffnung spendende Perspektiven. Immer wieder zeigen sie uns, dass der Schein oft trügt. Das, was wir bisher als schmutzig, eklig oder überflüssig angesehen haben, erweist sich als absolut lebensnotwendig. Die winzigen Lebewesen, denen wir zu Unrecht immer wieder die Schuld für unsere Krankheiten zuschieben, sind im Grunde unsere besten Freunde. Vor allem gute Freunde können uns ärgern und uns zu schaffen machen. Es geht ihnen dabei nicht darum, uns zu schaden, sondern uns dabei zu helfen, uns zu unserem eigenen Besten weiterzuentwickeln.
Es erfordert Mut, diese Sicht auf die Dinge zuzulassen und das gängige Weltbild damit quasi auf den Kopf zu stellen. So geht es im Folgenden um weit mehr als um eine Darstellung des Nutzens der Mikroorganismen. Es geht darum aufzuzeigen, dass unser bisheriger Umgang mit dem kleinen Leben uns in eine Sackgasse geführt hat. Es wird an den Säulen unserer Vorstellungen zu Gesundheit und Krankheit gerüttelt und schließlich ein ganzes System infrage gestellt. Die Mikroben, diese seit Jahrmillionen trainierten Anpassungs- und Lebenskünstler, weisen uns dabei den Weg. Sie zeigen uns, dass das Leben nicht in seine Einzelteile zerlegbar ist und nur im Zusammenhängenden zu erfassen. Und schließlich konfrontieren sie uns mit der alles entscheidenden Frage: einzeln untergehen oder zusammen leben?