Читать книгу Jungs sind wie Kaugummi - süß und leicht um den Finger zu wickeln - Kerstin Gier - Страница 6
EINS
ОглавлениеLove is in the air, schrieb ich und kaute am Stift. Was für eine geniale erste Zeile. Ich schreibe immer Songs oder Gedichte, wenn ich inspiriert bin. Und heute war ich offenbar besonders inspiriert.
»Gibt es schon«, sagte Valerie neben mir.
»Was?«
»Love is in the Air gibt es schon«, wiederholte Valerie und summte leise eine Melodie. »Alt, aber existiert. Lieblingslied meiner Oma.«
»So ein Mist«, sagte ich. Irgendwie scheint es alles immer schon mal irgendwo gegeben zu haben. Das ist frustrierend, oder nicht?
»Geometrie is in the air«, sagte Valerie und kicherte. »Gibt’s garantiert noch nicht. Wetten, du musst wieder an die Tafel?« Plötzlich war ich nicht mehr inspiriert.
»Ein Rechteck ist sieben Komma fünf Zentimeter breit und drei Komma fünf Zentimeter lang«, sagte das Gürteltier, unsere Mathelehrerin. Sie malte das Rechteck an die Tafel. »Wie lang ist ein Rechteck gleichen Inhalts, das zehn Zentimeter breit ist?«
Woher sollte man das denn wissen? Und vor allem – wozu?
Das Gürteltier drehte sich zu uns um. »Na?«, fragte es aufmunternd. »Wer will nach vorne kommen?«
Keiner meldete sich, nicht mal Jakob, das Mathegenie, obwohl er ganz sicher hätte punkten können. Meinrad Sost bohrte wieder mal in der Nase, das Nebelding schrieb eine Nachricht auf ihrem Handy, Lena und Kati flüsterten miteinander, Simon Drücker war offensichtlich eingeschlafen und der Rest der Klasse guckte aus dem Fenster oder an die Decke.
»Sissi«, sagte das Gürteltier und warf mir die Kreide zu. Ich fing sie seufzend auf. Das war eine neue Taktik vom alten Gürteltier, mich ständig an die Tafel zu rufen. Wahrscheinlich dachte es, ich würde endlich wieder besser in Mathe werden, wenn ich mich nur oft genug blamierte. Das Gürteltier glaubte nämlich steif und fest, ich wäre nur zu faul und zu störrisch, um Geometrie zu begreifen, es wollte und konnte nicht akzeptieren, dass Mathe einfach zu hoch für mich war. Geometrie sah zwar auf den ersten Blick viel leichter aus als diese Prozent- und Zinssache, aber in Wirklichkeit war es weitaus heimtückischer. Mit Faulheit hatte das nichts zu tun. In den anderen Fächern war ich nämlich genauso faul und verstand trotzdem noch alles, vorausgesetzt, ich hörte zu, was – je nach Lehrer – nicht immer so einfach ist. Dass ich da auch schlechtere Noten bekommen hatte, hat im Grunde nichts zu sagen, die Lehrer nehmen es einem nur übel, wenn man seine Hausaufgaben nicht macht oder sich anmerken lässt, wie langweilig man ihren Unterricht findet.
Aber das sah das Gürteltier natürlich ganz anders. Auf dem letzten Elternsprechtag hat es meiner Mutter gesagt, ich sei auf dem besten Wege »abzustürzen«, wenn es, also das Gürteltier, das nicht gemeinsam mit meiner Mutter verhinderte. Meine Mutter fährt leider auf dramatische Formulierungen ab und das Wort »abstürzen« hat sie in höchste Alarmstufe versetzt. Sie hat Papa am Telefon angebrüllt, jetzt hätten sie den Salat, das seien die Spätfolgen der Scheidung, sie habe immer gewusst, dass es so kommen müsste, und das sei alles nur seine Schuld, weil er sich vor seinem Anteil drücke und das Schulthema immer an ihr hängen bleiben würde. Nun sähe man ja, wohin das führe. Völlig hysterisch, die Gute.
Ich wüsste zu gern, wie sie sich noch steigern will, wenn ich erst mal mit Jungs, Schuleschwänzen und Drogen anfange.
Die erste Gegenmaßnahme, die das Gürteltier und meine Eltern ergriffen, um meinen sogenannten Absturz zu verhindern, waren Nachhilfestunden. Das Gürteltier hatte jemanden aus der Zehnten für mich engagiert. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht die bebrillte Ziege war, die einen immer vollmeckert, wenn man die Abkürzung durch den Mittelstufenraum nimmt und sich nicht die Schuhe abputzt. Die sieht nämlich aus, als sei sie gut in Mathe.
»Ich und meine Kollegen werden Sissi vermehrt unsere Aufmerksamkeit schenken«, hatte das Gürteltier außerdem verkündet und meine Mutter hatte gestrahlt.
»Ich bin ja so froh, dass Sissi so eine engagierte Lehrerin wie Sie hat, liebe Frau Gürteltier«, hatte sie gesagt. Frau GÜRTELTIER, lieber Himmel! Die arme Frau heißt in Wirklichkeit »Gürteler« und ich wollte eigentlich nicht, dass sie weiß, wie ich sie getauft habe. Na ja, dazu war es jetzt leider zu spät.
Ich ging zur Tafel, nahm das Monstergeodreieck in die Hand und sah Hilfe suchend hinüber zu Jakob. Der hielt zwei Finger hoch, also schrieb ich eine Zwei an die Tafel. Dann sah ich wieder zu Jakob. Er schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Ach so, die zwei Finger waren nur ein aufmunterndes Siegeszeichen gewesen. Na toll.
Das Gürteltier schüttelte ebenfalls den Kopf. »Was soll das, Sissi? Konzentrier dich doch mal. Ich weiß, dass du das kannst. Und hör auf, zu Jakob rüberzugucken, der kann dir jetzt auch nicht helfen.«
Ich warf Jakob einen wütenden Blick zu, wischte die Zwei wieder weg und tat, was ich immer tat: Zeit schinden und auf ein Wunder hoffen. Dreimal brach die Kreide ab, und als das Gürteltier die Geduld verlor und mir die Kreide aus der Hand nehmen wollte, ging die Tür auf und unsere Schulsekretärin brachte eine neue Schülerin herein, mitten im Unterricht und mitten im Schuljahr.
Wenn das kein Wunder war!
»Das ist Alyssa Kirschbaum«, sagte die Schulsekretärin und ich wurde sofort schwer neidisch. Alyssa Kirschbaum – ein Name wie ein Gedicht. Und wenn diese hellbraunen Kringellocken auch noch echt waren, dann war diese Alyssa wirklich ein Glückspilz.
Namen sind im Augenblick mein neuestes Interessengebiet. Ich finde es faszinierend zu sehen, wie der Name einen Menschen prägt. Oder ist es umgekehrt? Namenskunde sollte ein Unterrichtsfach sein – statt Mathe zum Beispiel. Ich selber habe einen grässlichen Namen: Elisabeth. Das ist hebräisch und heißt »Gott ist mein Eid«. Als ich geboren wurde, war Mama noch sehr katholisch. Aber je älter sie wurde, desto weniger katholisch wurde sie. Nach ihrer Scheidung ist sie sogar aus der Kirche ausgetreten. Und ich stehe jetzt da mit meinem Namen. Das Grässlichste an Elisabeth ist, dass man es abkürzen muss, weil man sonst über dem Aussprechen graue Haare bekommt. Mein Vater nennt mich »Lisa«, allein schon, um sich vom Rest der Familie abzuheben. Er hat sich vor fünf Jahren von uns getrennt, und Mama sagt, das sei ganze fünfzehn Jahre zu spät gewesen. Sie vergisst allerdings dabei, dass weder ich noch meine Schwester Anna unter diesen Umständen geboren worden wären, und das wäre doch sehr schade gewesen, vor allem um mich.
Unser Englischlehrer nennt mich »Beth« oder »Lisbeth«, er hat uns allen englische Namen gegeben, damit wir fortan englisch fühlen und denken. Er überschätzt unsere Sprachkenntnisse deutlich. Wenn wir wirklich englisch denken müssten, wären unsere Gehirne öde und leer. Lisbeth und Beth sind jedenfalls schreckliche Namen. Die würde man allenfalls einem Pickel geben. Valerie gibt allen ihren Pickeln Namen.
»Gustav ist fast abgeheilt«, sagt sie zum Beispiel.
»Aber dafür habe ich an Kunigunde zu früh herumgequetscht. Die ist heute doppelt so dick wie gestern und so glasig, dass der Abdeckstift nicht drauf hält. Am liebsten wäre ich zu Hause geblieben.«
Ich warte nur darauf, dass ihr auf der Nase eine dicke Lisbeth wächst oder eine eitrige Beth.
Meine Oma hat der ganzen Sache die Krönung verpasst, sie nennt mich »Elli«, was einer Ohrfeige gleichkommt. Sie selber heißt Herta, und das sagt eigentlich schon alles über sie. Mein Vater hat ihr mal ein T-Shirt geschenkt mit dem Aufdruck: Das Leben ist hart. Ich bin Herta! Aber das hat er sich erst nach der Scheidung getraut. Soviel ich weiß, trägt meine Oma das T-Shirt gerne bei Tennisturnieren, wenn sie ihre Gegner einschüchtern muss.
Mama (und der Rest der Welt) nennt mich »Sissi«, weil sie sagt, dass ich Ähnlichkeit mit Romy Schneider habe, das ist die Schauspielerin, die vor tausend Jahren die österreichische Kaiserin Sissi im Film gespielt hat. Die Filme zu schauen, ist Weihnachten ein festes Ritual bei uns, leider kann ich nur nicht die geringste Ähnlichkeit feststellen. Aber die Kleider sind echt der Wahnsinn.
Sissi ist von allen Namen das kleinste Übel, und da sonst niemand so heißt, finde ich es eigentlich ganz cool. Meine Freundinnen sind sowieso ganz wild auf ein i am Ende. Katarina heißt »Kati«, Lena macht daraus »Leni«, weil Heidi Klums Tochter so heißt, und am schlimmsten ist es bei Valerie. Sie besteht darauf, »Walli« genannt zu werden. Wie bitte klingt denn das? Ich nenne sie weiterhin Valerie, irgendwann wird sie es mir danken, dass durch mich ihr richtiger Name nicht in Vergessenheit geraten ist. Alyssa Kirschbaum mit dem Namen wie ein Gedicht musste sich auf den freien Platz neben Simon setzen. Der Platz ist eigentlich immer frei, weil Simon seit Beginn der sechsten Klasse aufgehört hat, sich zu waschen. Er hat auch nur zwei Pullover, die er im Wechsel anzieht, und was die Hose angeht: Es laufen jede Menge Wetten, dass die von allein stehen kann.
»Herzlich willkommen, Alyssa. Alyssa ist ab heute Mitglied in unserer Klassengemeinschaft«, sagte das Gürteltier warm. »Klassengemeinschaft« ist eins ihrer Lieblingsworte. Sie benutzt es ständig. »Alyssas Eltern sind erst kürzlich mit ihr hierhergezogen.«
»Von wo denn?«, fragte Meinrad Sost.
»L. A.«, sagte Alyssa und setzte ein wenig gönnerhaft hinzu: »Los Angeles, meine ich.«
»Boah«, sagte Meinrad. »Hast du da mal Billie Eilish getroffen?« Das war mal wieder typisch für Meinrad, er musste uns alle blamieren und als Landeier hinstellen. Ein bisschen mehr Coolness wäre angebracht gewesen. Alyssa sah auch dementsprechend gelangweilt aus und sagte nichts mehr. Sie zwirbelte nur ihre Locken um die Finger. Vielleicht stand sie aber auch unter Schock wegen Simon. Wenn Simon nicht gerade vor sich hin stinkt, dann drückt er mithilfe eines Systems aus Handspiegeln seine Mitesser und Pickel aus. Von Nahem sieht er deshalb wirklich furchterregend aus – wie ein Stück vom Mond, mit all seinen Kratern. Für diese unappetitliche Angewohnheit mache ich seinen Nachnamen verantwortlich: Er heißt Simon Drücker. Jetzt drückt er nur Pickel, aber später verkauft er sicher mal Staubsauger-Roboter an Haustüren.
Als dem Gürteltier wieder einfiel, dass ich ja noch an der Tafel stand, zusammen mit dem doofen Rechteck, klingelte es und ich war erlöst.
»Denk an deine Nachhilfestunde heute Nachmittag, Sissi«, sagte das Gürteltier nur noch. »Dein Lehrer wartet um drei Uhr vor E 5.«
Ha! Lehrer. Männlich! Das hieß, ich blieb von der bebrillten Meckerziege verschont.
Auf dem Weg vom Schulbus nach Hause gabelte mich meine Schwester in ihrem Auto auf und ersparte mir mindestens fünfhundert Meter zu Fuß bergauf. Meine Schwester heißt Anna, ist neunzehn und studiert im ersten Semester Medizin. Weil sie die Ältere ist, hat sie nicht nur den schöneren Namen und den deutlich höheren Intelligenzquotienten, sondern auch das bessere Zimmer. Ihrs hat einen Balkon, meins nicht. Aber wenn Anna auszieht, bekomme ich beide Zimmer. Ich hatte ja gehofft, dass Anna sofort auszieht, wenn sie mit dem Studium beginnt, aber die langweilige Kuh hat sich von allen Unis dieser Welt ausgerechnet die in Köln ausgesucht, und die ist nur eine halbe Stunde weg von zu Hause. Das coole Leben in einer Studenten-WG lockt Anna leider auch nicht und für eine eigene Wohnung reicht das Geld nicht. Im Augenblick habe ich allerdings berechtigte Hoffnungen darauf, dass Anna früher oder später zu Jörg-Thomas zieht, ihrem neuen Freund. Jörg-Thomas sieht zwar nur unwesentlich besser aus, als sich sein Name anhört, aber er ist schon Arzt im Praktikum und der erste Typ von Anna, der sein eigenes Geld verdient und uns nicht ständig den Kühlschrank leer frisst.
Wegen seiner Arbeit hat er fast keine Zeit für Anna, und wenn Ärzte nicht arbeiten, dann müssen sie ja auch noch gegen die Gesundheitsreform protestieren, also sehen die beiden sich höchst selten. Aber Anna findet ihn trotzdem ganz toll und auch sein Name scheint sie nicht wirklich zu stören. Neulich hat sie sich eine Frauenzeitschrift mit einem Hochzeitssonderteil gekauft und das Bild von einem schneeweißen Tüllkleid ausgeschnitten. Es hängt an der Innenseite ihres Kleiderschranks, weil sie denkt, dass es dort keiner sieht. Aber ich sehe es zwangsläufig immer dann, wenn ich mir was von Annas Sachen ausborge. Das passiert ziemlich häufig, weil ich viel zu wenig eigene Klamotten besitze. Nicht, dass Annas Sachen besonders abgefahren wären, aber auf die Kombination kommt es an.
Ich bin Weltmeisterin im Kombinieren. Da Mama mir im Monat nur ein absolut lächerliches Taschengeld gibt, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu kombinieren und zu improvisieren.
Ich habe herausgefunden, dass eigentlich alles angesagt ist, was man mit Selbstbewusstsein trägt. Man muss es nur mit etwas kombinieren, das nach Meinung der anderen auf jeden Fall total in ist. Dabei hilft mir nicht nur der Zugriff auf Annas und Mamas Kleiderschränke, sondern auch der Fundus bei Oma auf dem Speicher.
Was ich bei uns in der Klasse schon alles in Mode gebracht habe: Kniebundhosen mit Hosenträgern, Kasperlepuppen, die man sich auf die Schulter näht, Einkaufskörbe statt Rucksäcke und – Persianermäntel. Obwohl ich das inzwischen bereue, denn bei Persianer handelt es sich um das Fell echter Tiere, ekelhaft. Zu meiner Ehrenrettung: Ich war völlig ahnungslos, die Löckchen von Omas altem Mantel sahen so unecht aus – ich meine, welches Tier dreht sich schon Lockenwickler ins Fell?? – und der Mantel hat mir wirklich supergut gestanden.
Augenblicklich sind Kopfbedeckungen bei uns der letzte Schrei, allerdings hat noch niemand die blaue Federkappe nachahmen können, die ebenfalls von Omas Speicher stammt. Ehrlich gesagt ist sie ziemlich scheußlich, aber mir steht sie und ich mag es, wenn ich die Einzige bin, die etwas besitzt.
»Mit deinem jungen, glatten Gesichtchen kannst du eben einfach alles tragen, Ellilein«, sagt Oma immer und seufzt dabei. Seit sie sechzig geworden ist, ist sie schrecklich eitel. Sie geht zweimal im Monat zur Kosmetikerin und trägt nur Sachen von Jil Sander und Armani. Leider, leider hält Oma ihre Kleiderschränke unter Verschluss, sodass ich nicht damit experimentieren kann. Immerhin, mir bleibt der Speicher und da habe ich neulich den absoluten Knüller entdeckt: Omas Brautkleid. Sie und mein Opa haben ungefähr in der Steinzeit geheiratet, als es noch üblich war, einen Busen mit in das Oberteil einzunähen. Ein bisschen blöd, wenn man schon einen Busen hat, aber sehr praktisch, wenn man noch keinen hat wie ich. Im Sommer werde ich mit Kleid und Busen zur Schule gehen und alle werden staunen.
»Na, wie war es heute in der Schule?«, fragte Anna. Seit sie ihr Studium begonnen hat, tut sie so, als sei Schule das Wunderbarste auf der Welt. Um sie nicht unnötig neidisch zu machen, berichtete ich nur von den unangenehmen Dingen, der Neuen mit dem schönen Namen, der Gleichung mit Unbekannten, dem Geschichtstest morgen und dem Mundgeruch unseres Deutschlehrers, Alke.
Anna verzog das Gesicht. Auch sie hatte Alke in Deutsch gehabt, sie kannte seinen Mundgeruch.
»Wie fauliges Katzenfutter«, sagte sie.
»Wie vergorene Milch«, ergänzte ich, und obwohl beide Geruchsrichtungen einander nicht unbedingt gleichen, nickten wir in schönstem Einvernehmen. Der Alke roch nach beidem, nach fauligem Katzenfutter und vergorener Milch.
Mama hatte es wieder mal nicht rechtzeitig von der Arbeit nach Hause geschafft, obwohl donnerstags eigentlich ihr freier Nachmittag war. Sie war gestresst, das sah man schon an der lieblosen Art und Weise, in der sie die Verpackung der Tiefkühlbaguettes aufriss und die Dinger in den Backofen warf. Die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen sah aus wie ein Ausrufezeichen und an ihrem Hals hatte sie rote Flecken, wie immer, wenn sie in Hektik war.
»In der Firma ist die Hölle los«, sagte sie. Ihr linkes Auge war geschminkt, komplett mit braunem Lidschatten, Wimperntusche und Kajal, ihr rechtes war völlig nackt. Ich nahm nicht an, dass sie das mit Absicht gemacht hatte, obwohl es ihr Gesicht irgendwie interessant machte. Die zwei Seiten der Corinna R. Die junge und die alte. Die müde und die wache. Die hübsche und die hässliche. Die wahre und falsche. »Ich muss heute Nachmittag noch mal hin. Könntest du bitte Sissi zum Nachhilfeunterricht fahren, Anna?«
»Ich schreibe Montag Klausur«, maulte Anna. »Da wollte ich eigentlich lernen und nicht Chauffeur spielen.«
»Und du hast doch versprochen, nachher mit mir Schuhe zu kaufen«, maulte ich.
»Herrgott noch mal!«, rief Mama. »Ihr seht doch, wie ich hier rotiere!« Und dann sagte sie, was sie ungefähr dreimal täglich sagt: »Ich habe auch nicht darum gebeten, auf einmal als Alleinerziehende mit Fulltime-Job dazustehen, ja, das war das Letzte, was ich wollte. Aber jetzt ist es nun mal so und da müssen wir alle Zugeständnisse machen! Alle außer eurem Vater natürlich, der hält sich aus allem fein raus und macht sich mit seiner Tröte ein schönes Leben.«
»Dörte«, verbesserte Anna automatisch. Als ob Mama das nicht selber wüsste. Dörte war die neue Frau von meinem Papa und sie konnte von Glück sagen, dass sie so gar nicht wie eine Dörte aussah. Also nicht klapprig, groß, mit durchscheinender Kopfhaut und vorstehenden, viel zu großen Vorderzähnen. Nein, Dörte sah eher aus wie eine Juana oder eine rassige Penelope. Aber das sagte ich Mama nicht, sie war so froh, dass Dörte wenigstens Dörte hieß, auch wenn sie nicht so aussah.
»Mach dir um die Nachhilfe keine Sorge«, bot ich großmütig an. »Wir könnten doch anrufen und absagen.«
Aber Mama wollte davon nichts wissen. »Kommt nicht infrage! Ich habe der netten Frau Gürteltier versprochen, dass wir das diesmal konsequent durchziehen. Abgesehen davon, glaub ja nicht, dass du bei deinen miserablen Noten auch noch mit neuen Schuhen belohnt wirst.«
Ich ersparte mir einen Kommentar. Mama dachte immer noch, dass Gürteltier ein Name sei, den man durchaus im Telefonbuch finden könne. Zur Strafe, dass sie mir wieder keine Schuhe kaufen wollte, würde ich ihr auch nicht sagen, dass sie vergessen hatte, das linke Auge zu schminken. Sollten die Leute in der Firma ruhig sehen, dass sie eigentlich aus zwei Persönlichkeiten bestand.
Anna maulte noch ein bisschen herum, aber schließlich erklärte sie sich doch einverstanden, mich zu fahren. Im Grunde ist sie leicht weichzuklopfen. Mama war wieder verschwunden, ehe wir unsere Baguettes aufgegessen hatten.
»Gesund ist das ja nicht«, sagte Anna missbilligend. »Da könnte ich genauso gut in der Mensa essen. Dort gibt es wenigstens Salat.«
»Ja, ab und an mal ein paar Vitamine und etwas Mutterliebe könnten nicht schaden«, stimmte ich zu. »Schließlich bin ich noch im Wachstum.«
Als Anna mich zwei Stunden später wieder vor der Schule absetzte, zeigte sie auf die Uhr im Armaturenbrett und sagte mürrisch: »In genau einer Stunde bist du wieder hier, klar? Ich ruiniere mir so lange in der Eisdiele meine Figur. Deinetwegen.«
»Vielen Dank«, sagte ich. Ich hätte gern mit ihr getauscht, ein fettes Spaghetti-Eis statt Mathenachhilfe, das wär’s gewesen. »Du könntest hingehen und dich als mich ausgeben«, schlug ich Anna vor. »Das wäre doch superlustig.«
»Das ist wohl kaum der Sinn der Sache«, sagte Anna, langweilig wie immer, und so machte ich mich höchstpersönlich auf den Weg zu E 5.
E 5 ist unser Klassenraum. Schon der Name ist öde, oder? Obwohl ich auf die Minute pünktlich ankam, war von meinem Nachhilfelehrer noch keine Spur zu sehen. Ich drückte probeweise die Klinke herab und siehe da – die Tür war offen. Na ja, im Grunde überraschte mich das nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand freiwillig in diesen Raum schleicht. Selbst die Putzfrauen ziehen nur eine müde Schleife über das Linoleum und zu klauen gibt es hier auch nichts.
Obwohl – Kreide konnte man eigentlich immer gebrauchen. Ich steckte mir ein paar Stücke in die Tasche. Dann öffnete ich die Fenster weit. Es stank nämlich hier vorne. Alkes Mundgeruch hing zwischen Pult und Tafel wie ein böser Fluch.
Durch die Zugluft fiel die Tür hinter mir ins Schloss. Es war ein komisches Gefühl, so ganz allein in der Klasse zu stehen. Ich schlenderte durch alle Reihen und sah in die Fächer unter den Tischen. Das wenige, was ich fand, war ziemlich unappetitlich. Bei Melanie Nebelding lag eine Haarbürste voller Haare, Valerie hatte ihr Französisch-Vokabelheft vergessen, unter Simon Drückers Tisch fand ich vier Handspiegel mit diversen Mitesserresten, bei Meinrad Sost verschimmelten Pausenbrote vom letzten Sommer. Außerdem klebte dort eine ganze Batterie Kaugummis in unterschiedlichen Grautönen – uah, erst Alkes Mundgeruch und jetzt auch noch das! Mein vitaminloses Tiefkühlbaguette kam mir beinahe wieder hoch, weshalb ich beschloss, lieber zu lesen, was auf den Tischen stand.
Es ist uns bei Androhung der Todesstrafe verboten, die Tische zu bekritzeln, aber eine alte Schülersitte lässt sich so ohne Weiteres nicht unterdrücken. Die kritzelfeindliche Resopaloberfläche unserer Tische war von mehreren Schülergenerationen gezeichnet worden, und das konnte man sich zunutze machen. Wer konnte schon beweisen, dass nicht schon im letzten Jahr jemand Alke ist doof auf den Tisch geschrieben hatte? Das ist schließlich ein zeitloser Tatbestand, genau wie Alke stinkt. Das hatte jemand in der vorderen Reihe mit einem spitzen Gegenstand brutal in die Tischplatte geritzt.
Bei Simon Drücker stand Clearasil ist voll die Verarsche, das war in Anbetracht seiner Hautprobleme vielleicht ein bisschen verräterisch, wenn auch nicht ganz so wie beim Nebelding: Das hatte ungefähr vierzig Mal mit einem Permanentmarker Melanie Nebelding quer über das Pult geschrieben und sie würde wohl kaum jemandem weismachen können, dass ein Schüler vor ihr das Pult beschmiert hatte, sozusagen in weiser Voraussicht, dass hier einmal eine Melanie Nebelding sitzen würde.
Wirklich, das Nebelding war dumm wie ein Kotelett. Leider war es bei uns nicht viel besser, musste ich feststellen. Bei Leni stand: Liebe Leni, bitte sag Walli, sie soll Sissi sagen, dass ich mich gerade schrecklich langweile. Und bei Valerie stand: Liebe Walli, Kati lässt Sissi ausrichten, dass sie sich gerade schrecklich langweilt. Und bei mir stand: Liebe Sissi, Leni schreibt, dass Kati dir ausrichten lässt, dass sie sich gerade schrecklich langweilt. Gut, dass wir den Rest dann über unsere Chat-Gruppe geklärt haben. Was sollen zukünftige Schülergenerationen denn von uns halten? Na ja, schlimmer als Meinrad, wo ist dein Rad, das ist doch mein Rad war es dann auch nicht.
Die interessanteste Entdeckung machte ich bei Jakob. Dort stand nämlich mein Name, Sissi, umrahmt von einem Herzen. Nicht, dass mich das wirklich erstaunte, ich meine, das wusste eigentlich jeder, dass Jakob in mich verknallt war, aber es so filzstiftblau auf Resopalbraun zu sehen, war irgendwie was anderes.
Jakob und ich waren schon im Kindergarten die besten Freunde und später in der Grundschule haben wir nebeneinandergesessen. Wir wohnten in derselben Straße. Früher hatten wir eine Seilbahn von Jakobs Kinderzimmerfenster zu meinem und darin transportierten wir Playmobilmännchen und geheime Botschaften, geschrieben in einer Geheimsprache, die nur wir kannten. Leider musste die Seilbahn vor ein paar Jahren abgerissen werden, als Schulze-Reimpels, die Leute, die zwischen uns wohnen, ein weiteres Geschoss auf ihr Flachdach setzten. Jetzt gucke ich – anstatt zu Jakob rüber – direkt in das Zimmer von Oma Schulze-Reimpel und in diesem Zimmer passiert wirklich überhaupt nichts. Die Oma sitzt den ganzen Tag wie scheintot auf ihrem Sessel am Fenster und glotzt zu mir rüber. Ich habe schon mal überlegt, ob die Schulze-Reimpels sie nicht ausgestopft haben, damit sie weiterhin die Rente für sie kassieren können. Gruselig, den ganzen Tag von einer ausgestopften Oma beobachtet zu werden, oder?
Jakob ist jedenfalls bis heute der Einzige, dem ich je erlaubt habe, mit meiner Arielle-Barbie zu spielen, und das soll wirklich was heißen. Das Wasserschloss, das er mir für Arielle aus Schuhkartons gebastelt hat, habe ich immer noch. Es hat vier Türme und ist mit Glitter, Muscheln und anderen Meerestieren beklebt. Die Dachpfannen sind Fischschuppen aus grüner Glitzerfolie und alle Fenster kann man auf- und zumachen. Ich bewahre meine Lieblingsbücher darin auf und niemand sonst hat so ein Regal. Arielle sitzt auf dem Dach und passt auf.
Bis letztes Jahr oder so bin ich immer einen Kopf größer gewesen als Jakob, aber mittlerweile hat er mich überholt, und das freut mich für ihn, denn ich bin gerade mal einen Meter achtundvierzig groß und ich befürchte, so furchtbar viel werde ich wohl auch nicht mehr wachsen, meine Mama und Anna sind nämlich auch so kleine Stumpen von knapp eins sechzig.
Wie gesagt, ich wusste, dass Jakob in mich verknallt war, das ist er schließlich seit dem ersten Schuljahr, und hey, man muss schon ganz schön doll verliebt sein, wenn man einem Mädchen ein Glitzerschloss aus Schuhkartons bastelt, aber bisher hatte er noch nicht öffentlich darüber geredet. Dass er den Namen jetzt gleich in ein Herz schrieb, war mir irgendwie gar nicht recht. Ich meine, ich mochte Jakob wirklich sehr, manchmal sogar noch lieber als meine Eltern und vielleicht sogar unseren Kater Murks, aber deshalb würde ich seinen Namen nicht gleich in ein Herz schreiben. Ich versuchte, den Filzstift mit etwas Spucke zu verwischen, aber es klappte nicht, ich bekam nur eine blaue Fingerkuppe davon. Schließlich resignierte ich und sah zur Uhr. Schon Viertel nach drei. Der Nachhilfefritze würde wohl nicht mehr kommen.
Ich kann nicht sagen, dass ich darüber betrübt war. Im Gegenteil, jetzt konnte ich mich zu Anna in die Eisdiele aufmachen, um gleichermaßen meine Figur zu ruinieren. Ich würde Fruchteis nehmen, beschloss ich. Ein paar Vitamine braucht schließlich jeder Mensch.
Als ich die Tür öffnete, fiel ein Junge ins Klassenzimmer, der mit dem Rücken dagegengelehnt hatte. Er konnte sich gerade noch fangen.
»’tschuldigung«, sagte ich und wollte an ihm vorbei.
»Hey!« Der Junge hielt mich am Ärmel fest. »Kennst du vielleicht eine Elsbeth Raabe? Die sollte schon vor einer Viertelstunde hier sein.«
Oh nein! Das war der Nachhilfelehrer. Doch kein Eis für mich.
»Ich bin Elisabeth Raabe«, sagte ich seufzend. »Aber alle nennen mich Sissi.«
»Scheiße«, sagte der Junge.
»Nein – Sissi!« Ich sah mir den Typ genau an. Er war groß und trug Jeans mit Löchern. Seine Haare waren ziemlich lang und fielen in zerzausten Strähnen in sein Gesicht. Aber sie sahen frisch gewaschen aus und waren von einem sehr hellen Blond.
»Du solltest um drei hier sein«, sagte er unfreundlich.
»Das war ich ja auch.« Durch die blonden Haarsträhnen sah ich immerhin ein Auge, und das war so blau, dass es schon fast unecht wirkte. Entweder, der Typ trug farbige Kontaktlinsen oder er hatte Augen wie ein Wick-Hustenbonbon.
»Vor der Tür«, sagte er. »Wir waren vor der Tür verabredet. Ich wollte gerade gehen.«
»Ich auch.« Ich sah nicht ein, warum ich die ganze Schuld auf mich nehmen sollte. Wenn er ein bisschen intelligent gewesen wäre, hätte er mal reingeguckt. Das hatte ich ja schließlich auch getan.
Er sagte nichts mehr, guckte mich nur griesgrämig an. Ich wartete einige Sekunden ab. Wir steckten wohl in einer Art kommunikativer Sackgasse.
»Und jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt haben wir nur noch eine halbe Stunde«, knurrte er und latschte vor mir in den Klassenraum. »Aber dass das klar ist, ich nehme trotzdem das Geld für die volle Zeit. Ist ja nicht meine Schuld.«
Ist auch nicht mein Geld, dachte ich und folgte ihm achselzuckend. Wenigstens roch er nicht ekelhaft und hatte auch keins dieser unappetitlichen Bärtchen, die sich so viele Jungs an unserer Schule wachsen ließen, einmal rund ums Kinn oder in merkwürdigen Linien quer durchs Gesicht, keine Ahnung, was das sollte, ich kannte jedenfalls kein einziges Mädchen, das darauf stand.
Mein bartloser Nachhilfelehrer deutete auf einen Tisch in der ersten Reihe, ausgerechnet auf Nebeldings Platz. »Setz dich.«
Ich setzte mich zwei Plätze weiter.
Ein Wick-Hustenbonbon-Auge guckte genervt zwischen den Haaren hindurch, als der Typ sich auf den Stuhl neben mich setzte und einmal vernehmlich aufseufzte. »Okay, also, kann ich mal dein Mathebuch sehen und dein Heft?«
»Wie heißt du bitte?«, fragte ich. Hallo? Noch unhöflicher ging’s ja wohl nicht.
Wieder ein Seufzer. »Konstantin Drücker«, sagte er dann und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ich sah, dass das andere Auge genauso blau war. Wahnsinn.
»Ich hab echt nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Drücker?«
Noch ein Seufzer. »Mein Bruder Simon müsste in deiner Klasse sein.«
In der Tat. Das war er. Simon und seine Handspiegel. Ich suchte in Konstantins Gesicht nach Ähnlichkeiten mit Simon. Sie waren durchaus vorhanden: die gleiche lange Nase, eine ähnliche Augenpartie, nur vom armen Simon nahm man eben zuerst die Akne und den Schweißgeruch wahr. Ich fand, es gehörte wirklich Charaktergröße dazu, zuzugeben, dass man mit Simon verwandt war.
»Trägst du Kontaktlinsen?«, fragte ich.
»Was? Nein«, sagte Konstantin. »Also, fangen wir endlich an, oder möchtest du noch wissen, ob ich Nagellack benutze?«
»Nein«, sagte ich. Also echt!
»Was nehmt ihr gerade durch?«
Ich schob ihm meine Mathesachen rüber. »Winkel und Dreiecke und so was«, sagte ich.
»Geometrie!« Konstantins Miene hellte sich auf. Als er die erste Zeichnung erblickte, lächelte er sogar. Er hatte schöne Zähne, blendend weiß, ein wenig nach innen gekippt. In seinen Mundwinkeln bildeten sich niedliche Grübchen. Ich weiß nicht, warum, aber in diesem Augenblick wünschte ich mir, selber eine Matheaufgabe zu sein.
In meinem Magen machte sich ein seltsames Gefühl breit. Erst wollte ich es auf die Tiefkühlbaguettes schieben, aber dann merkte ich, dass es an Konstantin lag. Konstantin schlug mir auf den Magen. Und dann auch auf die Lunge: Plötzlich konnte ich gar nicht mehr normal atmen.
»Wunderbar«, sagte Konstantin. »Dann fangen wir mal an. Zeichne einen Winkel von hundertvierundvierzig Grad und unterteile ihn in vier gleich große Teilwinkel.«
Jetzt klopfte auch noch mein Herz wie verrückt. Was zur Hölle war denn nur mit mir los?
»Kannst du Erste Hilfe?«, fragte ich.
Konstantin sah mich verwirrt an. Diese Bonbonaugen!
Über dem linken Auge teilte eine kleine weiße Narbe die Augenbraue. Die Art und Weise, wie er seine Augenbrauen jetzt zusammenzog, sodass sich über der Nase eine unwillige Doppellinie bildete, ließ auch noch meine Knie ganz weich werden.
Da wusste ich, was mit mir los war. Die weichen Knie kamen nämlich in fast jedem Buch, Film oder Song vor. Und sie bedeuteten immer nur das eine.
»Du – sollst – die – sen – Win – kel – zeich – nen«, sagte Konstantin ganz langsam.
Aber das konnte ich beim besten Willen nicht. Ich hatte mich nämlich soeben verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben.
Es fühlte sich seltsam an, wie der Beginn einer schlimmen Grippe, kombiniert mit dem mulmigen Gefühl, das man hat, wenn man dem Buskontrolleur sagen muss, dass man den Fahrausweis zu Hause vergessen hat – und doch war es ein gutes Gefühl.
Wären wir in einem Buch, einem Song oder einem Film gewesen, hätte Konstantin jetzt das Geometriearbeitsheft zur Seite geschoben und mich geküsst.
Aber ganz offensichtlich schien er meine Gefühle nicht zu teilen – eher im Gegenteil. Seine Augenbrauen trafen sich in der Mitte, so finster guckte er mich an. »Hör mal, Elsbeth, kriegst du überhaupt die Zähne auseinander oder bist du tatsächlich so blöd, wie du dreinschaust?«
Er mochte mich nicht. Er fand mich blöd. Und er nannte mich ELSBETH.
Okay, das waren definitiv keine guten Voraussetzungen. Aber es machte nichts. Ich war so schlecht in Mathe, dass wir noch genug Zeit miteinander verbringen würden. Früher oder später würde er meine Qualitäten schon erkennen.
Für heute aber hatte ich genug. Ich erkannte eine festgefahrene Situation, wenn ich sie vor mir hatte. Es war Zeit für einen strategischen Rückzug und die Sissi-Raabe-Magenverstimmungsshow.
»Ich habe schreckliche Bauchschmerzen«, sagte ich. »Die Tablette wirkt nicht, außer dass sie ganz schwindelig im Kopf macht. Meinst du, wir können die Stunde verschieben?« Und ehe Konstantin böse werden konnte, setzte ich hastig hinzu: »Natürlich bezahle ich trotzdem.«
»Von mir aus«, sagte er. »Aber ich kann erst wieder nächsten Donnerstag.«
»Gut«, sagte ich. Dann hatte ich eine ganze Woche Zeit, mich auf ein neues Zusammentreffen vorzubereiten. Ich überreichte Konstantin die zwölf Euro, die mit Mama und dem Gürteltier als Honorar vereinbart worden waren.
Er bedankte sich nicht. »Das kann ja heiter werden«, sagte er nur.
Er mochte mich nicht. Noch nicht.
Mit vorgebeugtem Oberkörper, die Hand auf den Magen gelegt, schlurfte ich von dannen, wie es sich für eine Todkranke gehört.
Und ein bisschen so fühlte ich mich auch. Krank vor Liebe. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass man daran nicht sterben konnte. Oder vielleicht doch?
»Die große Liebe kommt entweder schleichend oder mit einem großen Knall«, sagte ich, weil ich das mal irgendwo gelesen hatte und es mir jetzt wieder einfiel. »Das ist bei jedem anders. Ich bin offenbar der Große-Knall-Typ und was für ein Typ bist du?«
»Auf jeden Fall habe ich keinen Knall«, reimte Anna. Wie zu erwarten, hatte sie noch in der Eisdiele gesessen, vor zwei leeren Milchshakegläsern. Sie wollte sofort nach Hause und erlaubte mir nicht, einen Eisbecher zu bestellen. Dabei hatte ich auf den Schreck hin unbändigen Appetit auf etwas Süßes bekommen. Ich nahm ersatzweise vier Eiskugeln in der Waffel auf die Hand, Tiramisu, dunkle Schokolade, Heidelbeere und Stracciatella, die ich auf dem Weg zum Auto vertilgte.
»Ich meine es ernst …« Ich stockte. Dummerweise kreuzte nämlich Konstantin in etwa zwanzig Metern Entfernung unseren Weg und er sah genau in unsere Richtung. Ich blieb erschrocken stehen. Selbst auf diese Entfernung musste mein Eis riesenhaft aussehen und nicht wie etwas, das eine Magenkranke anstelle von Medizin einnehmen würde.
»Halt mal«, sagte ich zu Anna, drückte ihr das Eis in die Hand und bückte mich hastig, als ob ich meine Schnürriemen neu knoten müsste. Vielleicht glaubte Konstantin ja, dass ich das Eis nur für Anna getragen hatte. Vielleicht hatte er mich auch gar nicht erkannt.
Als ich wieder hochkam, war von ihm keine Spur mehr zu sehen.
»Hey«, sagte ich zu Anna. »Ich hab nicht erlaubt, dass du dran leckst! Gib her, das ist mein Eis!«
»Knalltüte«, sagte Anna.