Читать книгу Meine Mutter, der Indianer und ich - Kerstin Groeper - Страница 7
Von Traktoren und musikalischen Kühen
ОглавлениеFelix schmierte sich in der angenehm kühlen Küche ein Brot und biss schon mal ab, während er gleichzeitig für seine Mutter eine Scheibe herrichtete. „Mama!“, brüllte er durch das Haus. „Essen ist fertig!“
Summend trabte seine Mutter die Treppe herunter und strahlte zufrieden. „Hey, super! Sieht lecker aus! Wie findest du dein Zimmer?“
„Es geht so!“, brummte er mit vollem Mund. „Und bei dir?“
„Das Schlafzimmer ist fast fertig. Dann richte ich mein Büro ein. Du weißt schon, das Zimmer mit dem Blick auf den Wald. Es ist geradezu perfekt!“
„Genau! Mit ein bisschen Einbildung siehst du dann, wie sich die Indianer ans Haus heranschleichen“, feixte Felix.
„So ist es! Sei froh! Mit meiner Fantasie verdiene ich doch ganz gut!“, schoss seine Mutter zurück.
Felix seufzte tief. „Ja, aber kannst du nicht was Cooles schreiben? Über Ritter oder Templer? Stell dir vor – Indiana Jones, der von Außerirdischen entführt wird. Das wäre echt geil!“
„So einen Blödsinn kannst du dir ja im Kino anschauen! Mein Thema sind eben die Indianer! Da bin ich drin und authentisch!“ „Darauf pfeif ich! Bitte, Mama, versprich mir, dass du hier niemandem etwas davon erzählst, sonst bin ich sofort untendurch. Indianer! Die sind mega-out!“ Seine Mutter machte irgendwie ein trauriges Gesicht, und fast tat es ihm leid, dass er so unsensibel gewesen war. „Früher haben dir meine Geschichten gefallen“, verteidigte sie sich mit leiser Stimme.
Er schluckte schwer und schlug einen versöhnlicheren Tonfall an. „Früher war ich ein Kind! Jetzt bin ich erwachsen, und da sind Indianer eben nicht gefragt. Ich habe ja nicht gesagt, dass mir deine Bücher überhaupt nicht gefallen.“
„Meinen Lesern gefallen sie aber!“
„Mama! Deine Leser sind weltvergessene Spinner, die am liebsten selbst mit Indianerklamotten herumlaufen würden. Hier sind Indianer out. Verstehst du? Vergessen, gestorben, ausgerottet – eben out!“
Seine Mutter biss beleidigt die Lippen zusammen und schüttelte stur den Kopf. „Im Moment lebst du von meinen Spinnereien nicht schlecht. Vielleicht sollte ich dir wegen erwiesener Undankbarkeit das Taschengeld kürzen?“
„Mama! Ich bin nicht undankbar! Ich habe einfach nur Angst, dass ich bei diesen Hinterwäldlern erledigt bin, wenn sie erfahren, dass du Indianerbücher schreibst. Das ist alles!“
„Na schön!“, willigte seine Mutter widerstrebend ein. „Ich erzähle kein Wort. Vorerst!“
Sein Seufzen kam aus tiefster Dankbarkeit. „Lass mich erst ein paar Kontakte knüpfen – erst mal die Leute abchecken! Irgendwann erfahren sie es ja doch, aber bis dahin habe ich vielleicht schon ein paar Freunde.“
„Hast du schon jemanden getroffen?“, wechselte seine Mutter das Thema.
„Nee, nur so ein paar freche Mistmaden, die meinen, dass der Weiher ihnen gehört!“
„Aha, daher also die Blutstropfen auf deinem T-Shirt!“, stellte seine Mutter messerscharf fest.
Er fühlte, wie er rot wurde, und allein dafür hasste er sich. Warum konnte er sich schon bei so kleinen Lappalien nicht besser-trollieren? In ihm konnte man lesen wie in einem offenen Buch. „‘ne kleine Auseinandersetzung mit drei Deppen, aber Georg hat mir geholfen!“, erklärte er lahm.
„Wer ist Georg?“
„Der Dorfvorstand!“
„Was?“
„Der Dorfvorstand! So ein Vereinsfuzzi, verstehst du! Hier haben sie noch so was wie einen Blockwart!“, lästerte er.
„Werde nicht frech!“, schimpfte seine Mutter etwas entsetzt.
„Mit so etwas macht man keine Späße!“
„So sind die Jugendlichen aber drauf! Wir wollen hier keine Fremden!“, äffte er mit der Stimme von Seppi nach. „Ausländer raus!“
„Wie redest du denn über die Kinder hier?!“, schimpfte seine Mutter aufgebracht. „Schaffst du dir bereits am ersten Tag Feinde?“
„Ach wo!“, versuchte er sie wieder zu beruhigen. „Ganz im Gegenteil! Nachher holt mich der Siggi mit dem Traktor ab.“
Ihr verblüfftes Gesicht entschädigte ihn für diese kleine Auseinandersetzung. Er nahm einen weiteren Bissen und machte eine lässige Handbewegung. „Wahrscheinlich sucht er jemanden, der ihm hilft den Kuhstall auszumisten. Ich übernehme keine Garantie für den anschließenden Gestank. Du wolltest ja unbedingt hierher!“
„Ich habe kein Problem mit Kuhmist. Ich liebe Stallgeruch“, flötete sie enthusiastisch, und er glaubte ihr das sofort.
„Was machst du eigentlich mit dem dritten Zimmer?“, erkundigte er sich diplomatisch.
Sie errötete sichtlich und strich sich fahrig eine Strähne ihres Ponys zur Seite. „Ach, ich weiß noch nicht. Im Moment wollte ich es eigentlich nur als Gästezimmer nutzen.“
„Für Papa?“, hoffte er sehnsüchtig.
„Bestimmt nicht!“, betonte sie ungewohnt scharf.
„Schade! Findest du das Haus nicht ein bisschen groß für uns beide?“
„Wieso? Willst du lieber wieder in die Zwei-Zimmer-Wohnung zurück?“
„Nee, auf keinen Fall! Aber gleich ein ganzes Haus?“
„Ich brauche einfach mehr Platz für mich! Und ein eigenes Büro, wo ich nicht immer meinen Computer wegräumen muss, wenn es Essen gibt.“
Vor dem Haus tuckerte plötzlich der Leerlauf eines Traktors und Felix ruckte mit seinem Kopf. „Ich glaube, mein neuer Freund ist da! Darf ich gehen?“
„Klar! Aber komm nicht zu spät wieder! Wir wollten doch essen gehen.“
„Mach ich!“, versprach er hastig, dann sauste er bereits durch die Tür.
Bewundernd stellte er sich vor den eindrucksvollen Traktor und stemmte die Hände in die Hüften: „Cooles Teil! Hast du schon einen Führerschein?“
Der Junge hinter dem riesigen Lenkrad grinste breit. „Freilich! Und nächstes Jahr mache ich den Mofaschein!“
Felix kletterte zu dem Jungen auf den Bock und fachsimpelte über die besten Motorräder. Schnell hatte er festgestellt, dass ihn ähnliche Interessen mit dem fremden Jungen verbanden. Außerdem wusste Siggi viel über Technik, konnte bereits kleinere Reparaturen an diversen Maschinen selbst ausführen. „Wo fahren wir überhaupt hin?“, erkundigte sich Felix.
„Auf‘s Feld! Ich brauche Grünfutter für die Kühe!“
Schweigend beobachtete Felix, wie Siggi bei einer riesigen Scheune geschickt den Anhänger ankoppelte und wieder ins Führerhaus kletterte. Mit Vollgas ratterte er den Feldweg entlang, wich einem Radfahrer aus, der anschließend in einer riesigen Staubwolke verschwand und schimpfend hinter ihnen herbrüllte. Mit einem vergnügten Grinsen kurvte Siggi den Traktor samt Anhänger auf eine mit üppigem Gras stehende Wiese und brachte dabei den Anhänger ganz schön ins Schlingern.
Langsam wurde es Felix bei den Fahrkünsten des Bauernjungen zu heiß. „Fährst du immer so?“, wagte er zu fragen.
„Freilich!“, gab Siggi zurück. „Ich muss doch für meine Xbox üben! Need for Speed!“
„Super! Aber da fliegst du nicht in echt von der Strecke!“
„Hast du auch eine Xbox?“, fragte Siggi interessiert.
Erleichtert bemerkte Felix, dass der Traktor nun in mäßigem Tempo über die Wiese rollte und gleichzeitig mähte. Der Geruch nach frisch geschnittenem Gras stieg ihm in die Nase, irgendwie angenehm und beruhigend.
„Hmh!“, brummte er vorsichtig. Er hatte nämlich ziemlich viele Ballerspiele, die erst ab achtzehn Jahren freigegeben waren. Sonst war das sein Einstieg in die virtuelle Erwachsenenwelt, zu seinem „Clan“, aber er wusste noch nicht, ob er sich auf die Verschwiegenheit seiner neuen Bekanntschaft verlassen konnte.
„Cool! Vielleicht komme ich nach dem Stall noch vorbei!“, schlug Siggi begeistert vor.
„Nach dem Stall?“, erkundigte sich Felix irritiert. Es klang nach irgendeinem geheimen Treffpunkt oder so was.
„Ja, nach dem Melken! Dann habe ich frei!“
Felix tat, als wäre das selbstverständlich, obwohl er sich im Grunde über sich selbst ärgerte. Stall! Aber klar! Er war hier schließlich in einem Kuhdorf!
„Arbeitest du schon?“
„Nö! Das ist unser Hof! Aber heute bin ich mit Stallmisten dran.“
„Hast du noch Geschwister?“
Siggi nickte wichtig. „Einen Bruder und eine kleine Schwester! Und du?“
Felix schüttelte den Kopf. „Nee, ich bin allein!“ Es klang neutral, als mache ihm das nichts aus. Inzwischen hatte er akzeptiert, dass seine Eltern keine Kinder mehr wollten. Wahrscheinlich war auch er nur ein „Unfall“ gewesen, ein Ausrutscher, der in der lauen Nacht eines teuren Urlaubs entstanden war. Na ja, und jetzt lebten seine Eltern eh getrennt. Manchmal wünschte er sich, dass er überhaupt nicht auf der Welt wäre! Was wäre er dann? Eine Blase im Kosmos? Ein leichter Gedanke, der anderen Menschen im Kopf herumspukte? Ein Windstoß? Oder wie hier – der Geruch des geschnittenen Grases? Mann, er philosophierte schon genauso wie seine Mutter!
„Kann ich zuschauen?“, fragte er.
„Bei was?“
„Na, beim Melken?“
„Klar!“, freute sich Siggi. „Dann ist es nicht so langweilig! Du kannst dir auch die Musik aussuchen!“
„Die Musik?“ Felix verstand kein Wort.
„Ja! Die Kühe geben mehr Milch, wenn sie Musik hören! Sie stehen auf Volksmusik, sagt mein Vater, aber das stimmt nicht! Sie mögen auch Ed Sheeran!“
Felix lachte hemmungslos. Noch nie hatte er einen solchen Schwachsinn gehört! Kühe, die auf Musik stehen! Oh Himmel! In was für einen Film war er hier geraten?
Er begleitete Siggi zum Kühemelken, staunte, als er ihnen tatsächlich Ed Sheeran und Adele vorspielte, und half zum ersten Mal in seinem Leben beim Stalldienst. Mit einer großen Mistgabel verteilte er das Gras, streichelte die feuchten Nüstern eines Kalbes und fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. Ging es seiner Mutter ebenso, wenn sie schrieb? Eintauchen in eine völlig fremde Welt?
Er verabredete sich für den Abend mit Siggi und trabte wieder nach Hause. Niemand begegnete ihm, anscheinend war der Rest der Jugend noch bei dem Dorfweiher, und er ließ seinen Blick durch die Gärten schweifen. Überall standen Schaukelgestelle und diese riesigen Trampoline herum. Fast in jedem Garten, als wären es Statussymbole. Gab es hier keinen Spielplatz? Warum brauchte jedes Kind einen eigenen Sandkasten?
Seine Mutter hatte sich bereits umgezogen und wartete auf ihn. „Na, schon einen Freund gefunden?“
„Kann schon sein! Siggi kommt nachher vorbei! Gehen wir jetzt essen?“
„Sicher! Wenn du noch ein sauberes T-Shirt findest.“
Felix rannte die Treppe hoch und wühlte in seinem Schrank nach einem sauberen T-Shirt. Nachdem er sich grundsätzlich viermal am Tag umzog und anschließend die gebrauchte Wäsche wieder in den Schrank warf, war es schwierig zu entscheiden, welche Hemden noch am wenigsten getragen waren. Er machte mehrere Geruchsproben und entschied, dass einige Sachen doch in die Wäsche gehörten. Schließlich schlüpfte er in ein Baseball-T-Shirt, ganz ohne Flecken, setzte eine neue Kappe auf und sprang,drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe nach unten.
Seine Mutter fuhr ausgerechnet zum einzigen Gasthof des Dorfes, eigentlich hätten sie auch zu Fuß gehen können! Missmutig zog Felix die Kappe tiefer ins Gesicht und hoffte, dass keiner dieser Dorfdeppen ausgerechnet jetzt auftauchte. Ausgehen mit Mami! Noch tiefer sinken konnte er eigentlich nicht.
Der Wirt war ganz nett. Er stellte keine unangenehmen Fragen, fragte nicht nach dem Wohin und Woher, brachte sofort die Getränke und ließ seine Mutter in Ruhe. Felix entspannte sich sichtlich, auch, weil bisher nur wenige Gäste in der gemütlichen Bauernstube saßen. Zwei kleine Kinder kreischten in voller Lautstärke, ohne von ihren Müttern zur Ordnung gerufen zu werden, und er runzelte genervt die Augenbrauen. „Kleine Mistmaden!“, murmelte er leise.
„Wer?“, wunderte sich seine Mutter.
„Na, die kleinen Biester dort! Ich hätte mich nie so aufführen dürfen!“
Seine Mutter kniff vergnügt die Augenbrauen zusammen und betonte: „Du hast dich ganz genauso aufgeführt!“
„Hab ich nicht!“, wehrte sich Felix entrüstet.
„Doch, natürlich!“
Seine Mutter war sichtlich erschöpft, und so wurde die Unterhaltung einseitig. Felix spekulierte über die neue Schule, über die Jugendlichen in diesem Ort, wie er seine alten Freunde einladen konnte; dann kam endlich das Essen, und jeder konzentrierte sich auf seinen Teller. Es war köstlich! Wenigstens ein Vorteil, den dieses Kaff hatte! Einen guten Wirt!
Dann ließ seine Mutter die Katze aus dem Sack. Reichlich unvermittelt meinte sie: „Wir bekommen übrigens bald Besuch! Anfang Oktober kommt ein Bekannter aus Amerika!“
„Na prima, dass wir jetzt ein Gästezimmer haben!“, brummte Felix mit vollem Mund.
„Nicht wahr!“, strahlte seine Mutter. „Ray hilft mir bei meinen Recherchen, und nun möchte er mal Deutschland kennen lernen.“
„Hej, dann können wir ihm ja das Oktoberfest zeigen!“
Seine Mutter lachte viel zu heftig, und eigentlich hätte Felix jetzt misstrauisch werden müssen, aber er fand jede Gelegenheit gut, seine Mutter auf das Oktoberfest zu schleppen.
„Gute Idee! Das wird Ray bestimmt gefallen!“
„Amerikaner stehen auf Bier und Oktoberfest!“, erklärte Felix im Brustton der Überzeugung. „Aber ich komme auch mit!“
„Selbstverständlich!“, meinte seine Mutter seltsam friedlich.
„Jetzt richten wir erst einmal das Haus fertig ein, und dann konzentrieren wir uns auf deine Schule!“ Seine Mutter zwinkerte vertraulich.
„Wir?“, argwöhnte er. „Ich gehe in die Schule, nicht du!“
„Nun, bis du deinen Abschluss in der Tasche hast, gehen wir wieder gemeinsam in die Schule, mein Schatz!“
„Ich schaff das schon!“, erklärte er unwillig. Nichts war schlimmer, als von seiner Mutter wie ein Baby gegängelt zu werden.
„Natürlich! Trotzdem schadet es nicht, wenn ich einen Blick auf deine Englisch- und -Hausaufgaben werfe!“
„Mama!“, stöhnte er empört. „Ich dachte, du willst schreiben?!“ „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“
Am Abend stand tatsächlich Siggi vor seiner Tür, und seine Mutter vollbrachte das Wunder, unsichtbar im Hintergrund zu verschwinden. „Schön, dass du da bist!“, grüßte Felix und winkte Siggi nach oben. Natürlich sah er die neugierigen Blicke des Jungen, und plötzlich war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob Siggi nicht doch als Spion geschickt worden war. „Wir sind noch nicht ganz fertig“, erklärte er unsicher.
„Schon klar!“, brummte Siggi. „Ganz schön großes Haus!“
„Meine Mutter ist Schriftstellerin!“ Felix zuckte mit den Schultern und tat so, als würde das alles erklären.
„Wirklich?“ Die Augen des Jungen wurden rund. „Was schreibt sie denn?“
Felix schloss die Augen vor Entsetzen, dann schob er Siggi ein Stockwerk höher. „Esoterik, Fantasy und so!“, rettete er sich mit einer Notlüge.
„Cool!“, staunte Siggi neidlos. „Aber ich lese nicht viel.“
Felix öffnete die Tür in sein Reich und schnaufte hörbar durch, dass er es doch noch geschafft hatte, halbwegs Ordnung zu schaffen.
„Geil!“, lobte Siggi begeistert. „Wohnst du hier allein?“
„Ja, sicher!“, antwortete Felix ein wenig verwundert. „Wieso?“
„Na, so ein großes Zimmer! Ich wohne mit meinem Bruder zusammen.“
„Nö, der Dachboden gehört mir allein. Nur das Badezimmer muss ich mit meiner Mutter teilen. Aber wir haben unten noch ein Klo!“ Oh je! Er hörte sich an wie ein Immobilienmakler. Fehlte nur noch, dass er von den Vorzügen des Ortes sprach!
„Wieso mit deiner Mutter? Hast du keinen Vater?“, fragte Siggi verwundert.
Bang! Der nächste Volltreffer! Rochen diese Bauern so etwas? Stand es auf seiner Stirn geschrieben? Oh Mann!
„Mein Vater ist andauernd im Ausland! Mit dem arrangiere ich mich schon, wenn er da ist!“, meinte er ausweichend.
„Ach so!“
Felix lenkte die Aufmerksamkeit seines Gastes auf seine imposante Xbox-Spiele-Sammlung. Siggi staunte sichtlich, zog dann begeistert ein Spiel über die Besiedelung eines fremden Planeten aus dem Regal. „Wie ist´n das?“
„Super! Wollen wir spielen?“
„Hast du auch Xbox live?“
„Klar! Ich bin in einem Clan! Am Samstag haben wir wieder ein Clanspiel!“ Es klang, als wäre es nichts Besonderes, dabei war Felix mächtig stolz darauf, in Deutschland unter den Top Ten zu spielen. Siggi dagegen schien mit der Information nichts anfangen zu können. „Ich habe keinen Internetzugang!“, meinte er bedauernd.
Felix zuckte kurz die Schultern, sagte aber nichts. Eben doch ein Bauerndorf!
Sie spielten den ganzen Abend, und Felix machte sich einen Spaß daraus, Siggi in Grund und Boden zu ballern. Chancenlos! Trotzdem wurde Siggi nicht wütend, sondern lachte harmlos über sich selbst.
Pünktlich um zehn Uhr sprang Siggi auf und verabschiedete sich. „I muaß jetzt geh‘n !“
„Bist du ein Baby? Wartet deine Mami auf dich?“
Siggi lächelte verschmitzt, war weder beleidigt noch wütend.
„Schon! I muaß früa aufsteh‘n und in den Stall!“
Felix ärgerte sich über sich selbst. Der erste Freund, den er hier hatte, und ständig musste er den coolen Macker heraushängen lassen. Wahrscheinlich würde Siggi nie wieder kommen! „Schau halt wieder vorbei!“, murmelte er verlegen.
„Mach ich!“, erklärte Siggi freundlich, dann verschwand er durch die Tür.
Felix trabte wieder die Treppen nach oben, warf sich auf sein Bett und zappte sich mit der Fernbedienung durch die Fernsehprogramme. Er blieb bei einem alten Western hängen. Selbst er wusste so viel über Indianer, dass er erkannte, dass der Film Schrott war. Tomahawk schwingende Wilde, die auf brave Siedler losstürmten, mit einem Indianermädchen, das zum Schluss sterben musste, damit der Held eine weiße Frau heiraten konnte. Trotzdem sah er ihn sich an und freute sich schon darauf, am Morgen mit seiner Mutter darüber zu diskutieren. Sie würde wieder predigen – und er darauf beharren, dass er den Film toll gefunden hatte!
Das erste Frühstück in dem neuen Haus verlief allerdings nicht so, wie er es erwartet hatte. Seine Mutter beachtete seine Sticheleien gar nicht, sondern schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. „Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt.
„Doch, wieso?“
„Na, sonst lieferst du mir immer wieder flammende Wortgefechte, wenn ich was gegen deine Indianer sage.“
„Wozu sollte ich mich über einen Film aufregen? Wenn er dir gefallen hat, ist das deine Sache! Geschmack ist eben Geschmack!“ Felix starrte seine Mutter überrascht an. Sonst zeigte sie sich keineswegs so liberal, zumindest nicht, wenn es um ihre Lieblinge ging.
„Ich brauche noch einige Dinge für das Haus. Kommst du mit?“, wechselte seine Mutter unvermittelt das Thema.
„Wohin?“
„Ich fahre in die Stadt. Dort gibt es ein großes Möbelhaus!“
„Okay! Ich bräuchte auch noch eine Lampe. Bekomme ich die?“
„Kein Problem! Lampen brauchen wir ohnehin.“
Felix nickte und sah auf die vielen Drähte an der Decke, an denen gerade mal eine Glühbirne baumelte. Sie brauchten eine Menge Lampen!
Sie verbrachten fast den ganzen Tag in dem Möbelhaus, verpassten unter der Klimaanlage einen wunderschönen Sommertag, aber am Ende hatte seine Mutter das ganze Möbelhaus leergekauft. Sie war in einen wahren Kaufrausch verfallen, hatte nicht nur Lampen, sondern Terrassenmöbel, Rasenmäher, Regale, ein neues Doppelbett, Teppiche, Geschirr, Handtücher, neue Bettwäsche und eine Lavalampe für sein Zimmer besorgt.
„Wozu brauchst du denn das alles?“, fragte er misstrauisch.
„Ich will es richtig schön haben“, erklärte sie mit fester Stimme.
„Vorher war es doch auch schön!“
„Ach, mein Schatz, davon verstehst du nichts.“
Bong! Da war es wieder! Dieses Gefühl, dass er in ihren Augen nie erwachsen sein würde.
„Ich brauch noch ein paar Sachen für die Schule“, murmelte er unwillig.
„Warum wartest du nicht auf den ersten Schultag? Die Lehrerin wird euch bestimmt eine genaue Liste geben, was ihr braucht.“
Musste seine Mutter immer so vernünftig sein? Gerade eben hatte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, zehntausend Euro für eine neue Einrichtung ausgegeben, und nun knauserte sie – nur weil er etwas haben wollte. „Ich brauche einen neuen Rucksack. Der alte ist kaputt.“
„Der alte ist überhaupt nicht kaputt. Für das eine Schuljahr geht er schon noch.“
„Er ist total versifft! Mit so was kann ich nicht in eine neue Schule gehen.“
„Er ist versifft, weil du ihn immer in die schmutzigsten Ecken wirfst! Pass halt besser auf deine Sachen auf!“
„Bekomme ich nun einen neuen Rucksack – oder nicht?“, giftete er sie an.
„Du hast doch Taschengeld!“, zankte sie in bissigem Ton zurück. „Mama! Wenn ich am ersten Tag mit so einem abgefuckten Ranzen auftauche, bin ich doch gleich untendurch. Außerdem brauche ich noch Hausschuhe. Hat der Rektor gesagt!“
Verärgert biss seine Mutter die Zähne zusammen, dann blickte sie in seine trotzigen Augen. „Na schön! Ranzen und Hausschuhe. Aber dann ist Schluss!“
„Und die neuen Schulhefte“, setzte er nach.
„Vielleicht auch gar nichts!“, fauchte sie wütend. „Du undankbare kleine Mistmade!“
„Mistmaden sind die anderen, nicht ich“, erklärte er selbstgefällig. „Ich bin dein Schatz! Und ein Schatz bekommt einen neuen Schulranzen.“
Sie kicherte erheitert, konnte ihm von einer Sekunde auf die andere nicht mehr böse sein. „Aber komm mir nicht nächstes Jahr mit der gleichen Story!“, warnte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Aber nein!“, wischte er ihre Sorgen beiseite. Nächstes Jahr war nächstes Jahr!