Читать книгу ORANGE UND RUND - Kerstin Strato - Страница 5
Neunzehn Jahre später – Der Termin
ОглавлениеMüde sah Marie durch die Windschutzscheibe. Es dämmerte. Dichtes Schneetreiben behinderte ihre Sicht und machte das Fahren zur Tortur. Obendrein schmierte der Scheibenwischer. Marie war es leid. Seit dem frühen Nachmittag ging das nun so. Als sie am Morgen losgefahren war, hatte nichts auf diesen Wetterumschwung hingedeutet. Im Gegenteil, die Straßen waren trocken gewesen. Doch nun wollte es nicht aufhören zu schneien. Am Straßenrand türmten sich inzwischen Schneewehen, die vom Wind gebaut und wieder zerstört wurden. Besonders die Fichten bogen sich unter ihrem weißen Kleid und auch die Straße war unter einer Schneedecke verborgen, die Schneeschieber kamen gegen die weiße Last nicht an. Lautlos fielen die tanzenden Flocken vom Himmel und wurden vom Wind genau dahin getragen, wo sie liegen sollten. Immer an der für sie richtigen Stelle, fügten sie sich dann mit den anderen zu einem perfekten Bild zusammen.
Für Marie allerdings war das Bild alles andere als perfekt. Schritttempo, Stillstand, Schritttempo. Der Stand der Tankuhr nötigte sie, nicht länger zu warten. Also nahm sie die nächste Möglichkeit wahr und bog ab. Sie kam in eine kleine Ortschaft und lenkte den Wagen auf einen Supermarkt-Parkplatz, wo sie fröstelnd ausstieg. Der heiße Kaffee hauchte ihr ein wenig Leben ein, auch wenn das aufgeweichte Brötchen zwischen den Zähnen klebte.
Die Bedienung des kleinen Steh-Cafés sah sie fragend an: »Tankstelle? Klar, keine zehn Minuten von hier. Nur – da kommen Sie nicht hin, gesperrt, die Hauptstraße meine ich. Bis morgen Mittag.«
Entsetzt starrte Marie die Frau mit der gelben Bluse und den spröden Haaren an. Sie konnte ihren Termin nicht platzen lassen! Monate hatte sie darauf hingearbeitet; nicht zu denken an die vielen Überstunden! Doch der viele Schnee, die gesperrte Straße und der leere Tank zwangen sie, in den Ortskern zu fahren und vor einem kleinen Hotel haltzumachen. »Was denken Sie sich? Ich kann doch nicht im Auto übernachten«, mit zornigen Augen fuhr sie den Mann hinter der Rezeption an.
Der zuckte nur mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. In dem Ort gab es nur dieses eine Hotel. Und das war ausgebucht.
»Ich glaub’ das nicht. Ich glaub’ das einfach nicht.«
Marie stieg wieder ins Auto und fuhr orientierungslos durch die gleich aussehenden Straßen. Sie parkte schließlich auf einem kleinen Parkplatz. Reichweite 0 km, zeigte der Bordcomputer. Sie wickelte sich ihren Schal um den Kopf und stöckelte entschlossen in eine kleine Seitengasse, an deren Ende sie ein Schild leuchten sah. Wenig später stand sie erleichtert vor der Eingangstür eines Gasthauses. Durchgefroren trat sie in den altmodischen und dunklen Gastraum, wo ihr warme und verbrauchte Luft entgegenschlug.
Sie ging zur Theke und sagte: »Ich muss dringend telefonieren. Und ich brauche ein Zimmer.« »Guten Abend«, murmelte der etwas ungepflegte Gastwirt, während er ein Bier zapfte.
Klappernd stellte er ihr ein schmuddeliges Telefon auf den Tresen, wobei er die fremde Frau wortlos musterte. Marie würdigte ihn keines Blickes und wischte betont angewidert den Hörer an der Hose ab, bevor sie ihn ans Ohr hielt. Wieso muss gerade jetzt der Akku leer sein und wieso habe ich das Aufladekabel zuhause liegen lassen? Während diese Fragen durch ihren Kopf schossen und sie sich gleichzeitig ihre Wortwahl für das bevorstehende Telefonat überlegte, ließ sie abrupt den Hörer sinken. Gleichzeitig drehte sich ihr der Magen um. Die Nummer war im Handy gespeichert, das im Auto lag!
Nach kurzem Überlegen rief sie im Büro an: »Hey Alex, gut, dich zu hören! Ich sitze hier in so einem Kaff, das im Schnee versinkt und brauche die Nummer von Johannson … Mein Handy? Hab’ ich nicht bei mir. Ja, ich warte.«
Sie notierte die Nummer und legte auf. »Alles gut. Ich hab’ alles im Griff«, flüsterte sie mehrmals und machte ihre Atemübung, um ihre Magenschmerzen zu lindern. Mit rotem Kopf und konzentrierter Miene wählte sie Johannsons Telefonnummer, erreichte aber nur seine Sekretärin: »Bestellen Sie ihm, dass ich den morgigen Termin auf den Nachmittag verschieben muss und ich mich gleich morgen früh bei ihm melde. Ja, ich weiß, dass Herr Johannson nicht länger warten kann. Nur bis morgen Nachmittag. Auf Wiederhören.«
***
»Hast du noch eins?« Der Junge stand vor der Alten und sah an ihr hoch. Sie lächelten sich an. »Komm sofort her! Ich will nicht, dass du …«, herrschte seine Mutter ihn an, die auf der anderen Straßenseite stand.
Die Alte winkte nur freundlich über die Straße, was der Mutter die Sprache verschlug und sie mitten im Satz verstummen ließ. Dann wandte sich die Alte wieder dem Jungen zu, der erwartungsvoll vor ihr stand, und gab ihm etwas Kleines, in Papier Gewickeltes, das sie aus einer ihrer Rocktaschen hervorholte. »Hier. Das macht gute Laune«, sagte sie aufmunternd. Der Junge ging einen Schritt zurück und musterte die alte Frau. Die zwinkerte ihm mit ihren warmen Augen zu, um sich dann umzudrehen und weiterzugehen, doch der Junge hielt sie zurück.
»Warte«, begann er und wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Die Alte legte ihre Hand auf seine Schulter:
»Ist schon gut. Du gehst nicht gern zur Schule, kann das sein?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, sagte sie: »Besuch mich mal wieder, dann gebe ich dir einen Tee, der wird dir helfen. Wenn du den regelmäßig trinkst, kannst du dich besser konzentrieren und das Lernen fällt dir leichter.«
»Meine Mama will nicht, dass ich dich besuche«, mit ehrlichen Augen sah er die Alte an.
»Spielst doch noch Fußball?«
»Jaha.«
»Wann denn?«
»Immer jeden Mittwoch, warum?«
»Da warte ich mit dem Tee auf dich. Kannst du Tee kochen?«
»’Türlich, hab’ ich schon gemacht.«
»Du musst mir versprechen, auf das heiße Wasser Acht zu geben. Nun gut, dann haben wir jetzt eine Verabredung, mein kleiner Freund«, lächelte sie und nahm ihren Fußmarsch vorsichtig wieder auf.
Vorsorglich stützte sie sich auf ihren Gehstock. Der Stock, der Mantel, der ihr fast bis auf den Boden reichte, und das schwarze Kopftuch gaben ihr von weitem ein hexenähnliches Aussehen. Doch ihr glattes und gütiges Gesicht mit den klaren Augen war das genaue Gegenteil. Viele Wochen war sie nicht mehr im Ort gewesen, doch heute musste es sein. Warum, ahnte sie noch nicht. Doch alles Weitere würde sich ergeben, das wusste sie.
***
»Ist Ihnen nicht gut?«
Der Wirt tippte der jungen Frau an die Schulter. Sie saß mit gebeugtem Rücken zu ihm und hatte die Arme vor sich verschränkt: »Haben Sie was für meinen Magen?« Ein Lächeln huschte durch seine Augen und er befüllte ein Schnapsglas mit einer dunklen Flüssigkeit, die er aus dem Gefrierschrank holte.
Nach dem zweiten Glas murmelte Marie: »Was soll ich nur machen?« Der Wirt sah sie über seine Brillengläser an und wartete.
»Ich verliere gerade den größten Auftrag, den ich bisher hatte. Und warum? Weil’s ein bisschen schneit.«
»So schlimm wird’s schon nicht sein.«
»Haben Sie nicht richtig zugehört? Ich verliere gerade viel Geld, wegen nichts!«
Der Wirt machte sich daran, Gläser zu spülen und wischte mit einem Lappen die Theke ab. Angewidert nahm Marie etwas Abstand.
»Was machen Sie denn beruflich?«
»Denke nicht, dass Sie davon was verstehen«, war die Antwort.
Der Wirt runzelte nur die Stirn, stellte vier frisch gezapfte Biere aufs Tablett und ging zu den Kartenspielern in der hinteren Ecke des Gastraums. Dann verschwand er in der Küche. Maries Magen gab etwas Ruhe und der Alkohol begann zu wirken. Ihr Blick fiel auf die Kartenspieler. Was es doch für einfache Menschen gibt. Laut sagte sie in Richtung geöffneter Küchentür: »Ich brauche ein Zimmer.« Die junge Frau wippte unaufhörlich mit dem Fuß und warf ungeduldige Blicke zur Küche. Sie konnte den Wirt zwar hören, aber nicht sehen. »Verdammter Mist«, schimpfte sie vor sich hin und zerrupfte einen Bierdeckel. Der Wirt tauchte mit einem dampfenden Teller Suppe auf, den er ihr vor die Nase stellte. »Denke, die tut Ihnen jetzt gut.« Dann ging er, ohne sie weiter zu beachten, wieder seiner Arbeit nach. Marie hob erstaunt die Augenbrauen, wusste aber nichts Passendes zu sagen und begann, wortlos die Suppe zu löffeln.
»Gehört hier jemandem ein weißer Sportwagen? Am Ende der Gasse, auf dem Parkplatz?«
Die laute und angespannte Stimme erschreckte Marie so sehr, dass sie sich verschluckte. Ein feuriger Stich in der Magengegend folgte. Sie drehte sich um und ein Feuerwehrmann stand direkt hinter ihr. »Ihr Wagen?«
Ohne dass Marie antworten konnte, hastete er zur Tür und rief über die Schulter: »Sie haben Glück, dass Sie hier sitzen. Die Fichte war wahrscheinlich morsch. Und dann der viele Schnee … Totalschaden.«
Marie schnappte nach Luft: »Machen Sie Witze?«
»Kommen Sie«, sagte er nur und eilte nach draußen. Marie stürzte hinter dem Mann her, Handtasche und Mantel ließ sie achtlos auf dem Hocker liegen. Zitternd vor Kälte stand sie etwas später neben ihrem völlig demolierten Auto, dessen Dach von einer Fichte fast vollständig eingedrückt war. Ihr Haar und ihre Schultern waren nach dem kurzen Weg bereits mit Schnee bedeckt.
»Hier, Ihre Tasche«, einer der Feuerwehrmänner warf sie Marie vor die Füße.
»Sind Sie sicher, dass mein Laptop und mein Handy nicht mehr zu retten sind?«
Die junge Frau war wie betäubt. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
»Sehen Sie selbst.«
Der Helfer, der die Tasche aus dem Wageninneren gefischte hatte, kletterte ungelenk aus dem Autowrack und drehte sich zu ihr um. Da überquerte Marie bereits die Straße. Sie hatte genug gesehen.
***
Lautlos erreichte die Alte das Gasthaus. Sie kannte es von früher, doch jetzt kam es ihr unwirklich vor, hier einmal regelmäßig Gast gewesen zu sein. Beim Eintreten fiel ihr Blick auf die städtisch gekleidete Frau, die mit übereinandergeschlagenen Beinen vor der Theke saß, während sie mit geschäftsmäßigem Ton telefonierte. Sie trug einen teuren Hosenanzug und ihre Handtasche aus Krokodilsleder stand auf dem Hocker neben ihr. An ihren edlen Schuhen zeichneten sich bereits Schneeränder ab. Trotz ihrer zierlichen Figur und ihres sorgfältigen Make-ups hatte sie wenig Feminines an sich. Ihre kurzen, blondierten Haare waren streng nach hinten frisiert.
Der Alten entging der abschätzige Blick der jungen Frau nicht, als sie sich zur anderen Seite drehte. Sie gestikulierte wild mit einem Arm, um die Nachhaltigkeit ihrer Worte zu unterstreichen. Dass ihr Gesprächspartner sie nicht sehen konnte, schien sie nicht zu kümmern.
Die Alte legte ihren Stock und ihr Kopftuch ab und ging langsam durch den Raum. Sie hatte die Eckbank im Visier, ganz in der Nähe der Kartenspieler. Sie setzte sich und wartete. Ihr war unwohl. Sie kannte dieses Gefühl und hatte mit den Jahren gelernt, es zu deuten. Die Ursache war nicht die Örtlichkeit oder der Schnee und schon gar nicht der lange Heimweg. Es war die überdrehte junge Frau, die sich scheinbar für das Maß aller Dinge hielt.
Nach einer ganzen Weile stand die Alte auf und bewegte sich leise, wie es ihre Art war, zur Theke. Genau in dem Moment stürzte die junge Frau mit einer großen Tasche von draußen herein, ihre Lippen waren blau vor Kälte.
»Kann ich Ihnen helfen, Kindchen?«
Marie klopfte sich den Schnee von den Schultern und schickte sich an, den Mantel anzuziehen, was ihr einige Schwierigkeiten bereitete, denn sie zitterte am ganzen Körper.
»Ich bin nicht Ihr Kindchen!«
»Kann ich Ihnen helfen?«
Abfällig taxierte Marie ihr Gegenüber. Der dunkle, lange Rock und der braune, grobe Strickpullover waren alt, abgetragen und völlig außer Mode. Das dunkle Haar der Alten war nach hinten gesteckt und seltsamerweise von keinem grauen Haar durchzogen. Sie lächelte und ihr gütiges Gesicht strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Ihr Lächeln warf kleine Falten um ihre klaren Augen, ansonsten war ihre Haut ungewöhnlich glatt und ebenmäßig. Die geschwungenen Lippen ihres großen Mundes entblößten weiße, etwas auseinanderstehende Zähne. Sie roch nach Kernseife.
Marie hatte sich wieder gefangen und bellte: »Sie wollen mir helfen? Sie? Ist ja lächerlich! … Ich brauche ein Auto, einen Laptop und ein Handy! Und – ein Wunder, das mich morgen früh zu meinem Termin bringt! Haben Sie das? Nein? Dann lassen Sie mich in Ruhe!«
Nach diesem Wortschwall knallte sie einen Geldschein auf den Tresen, stürmte nach draußen und ließ die Tür mit Schwung hinter sich ins Schloss fallen. Die Alte und der Wirt blicken sich verdutzt an und keiner von beiden sagte ein Wort. Als sich die Alte zum Gehen wandte, sagte der Wirt schließlich:
»Soll ich dich fahren, Matilda?«
»Ich hab’ noch was zu erledigen, danke. Du hast noch ein Essen bei mir gut, vergiss das nicht.«
»Wie könnte ich?«
Er nickte ihr freundlich zu und Matilda verschwand im Schneegestöber.
***
Der kleine Ort war menschenleer. Die parkenden Autos, die Blumenkübel vor den Geschäften, der Brunnen auf dem Marktplatz, alles war im Schnee versunken. Es dauerte nicht lange, bis die Alte die junge Frau entdeckte. Sie stand im Eingang des kleinen Hotels und redete mit Händen und Füßen auf den Mann hinter der Rezeption ein.
Die alte Frau blieb stehen und schaute nach oben. Vor dem schwarzen Himmel, im Schein der Straßenlampe, glitzerten die herunterfallenden Schneeflocken. Die winzigen Eiskristalle hatten die Kontrolle dem Wind überlassen und trotzdem, oder gerade deshalb schien es, als stieße keine Flocke mit einer anderen zusammen. Es war ein geordnetes Chaos, fast schon ein Tanz und ein wunderbar leises Schauspiel.
Die Alte war so versunken in den Anblick, dass sie Marie nicht hörte, die plötzlich neben ihr stand: »Was machen Sie denn hier?«
Der friedliche Moment zerbarst wie ein Eiszapfen, der krachend auf den Gehweg fiel. Doch der Zorn der jungen Frau war der Verzweiflung gewichen, das bemerkte die Alte sofort, ohne den Blick von den tanzenden Flocken zu nehmen. Mit einem Seufzer senkte sie den Kopf und sah Marie an. Die junge Frau schluckte.
»Es ist nur, weil …«
Die Alte hob die Hand. Marie verstummte. »Ich kenne Sie zwar nicht, aber Sie können gerne bei mir übernachten.«
Genug der Rede, mehr war nicht zu sagen. Die Alte drehte sich um und machte sich mit behutsamen Schritten auf den Rückweg, gefolgt von der verwunderten Marie. Die beiden Frauen gingen schweigend durch die Straßen und Marie wagte nicht, auch nur ein Wort zu sagen, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein großer Hund auftauchte. Er wedelte freudig mit dem Schwanz, um dann neben seinem Frauchen herzutrotten.
»Das ist Sam. Er holt mich ab«, sagte die Alte, als wenn es das Normalste der Welt wäre. Mich wundert gar nichts mehr, dachte Marie nur.
Sie ließen das Städtchen hinter sich und folgten einem Feldweg, wo ihnen der Wind unangenehm stark entgegenblies. Es war ein mühsames Stück Weg. Der Schnee war so hoch, dass der schwere Mantel der alten Frau eine Spur zog. Vor Kälte spürte Marie ihre Füße nicht mehr, die im tiefen Schnee einsackten. Sie sah sich ängstlich um. Kein Haus weit und breit, nur Felder und ein Waldstück.
»Wollen Sie etwa in den Wald?«, wagte Marie zu fragen.
»Da wohne ich«, war die knappe Antwort.
Der jungen Frau wurde schwindelig. Sie hatte nicht allzu viel gegessen, war müde und voller Sorge. Sie hoffte inständig, dass sie es irgendwie doch schaffte, ihren Termin am nächsten Tag wahrzunehmen. Als sie näher kamen, wurden, wie von Geisterhand, die Bäume zur Seite geschoben und es tat sich eine Lichtung auf, in dessen Mitte ein ansehnlicher Bungalow stand.
Vor der Haustür brannte einladend ein Licht, und als sie eintraten, umhüllte wohlige Wärme die durchgefrorenen Frauen. Vom Eingangsbereich aus konnte Marie einen Teil der Küche und des Wohnzimmers sehen, denn die Räume waren offen miteinander verbunden. Alles war hell und freundlich. Keine unaufgeräumte und schmutzige Bruchbude, wie es Marie erwartet hatte.
»Hier ist das Gästezimmer, Ihr Bad ist gleich die Tür gegenüber«, unterbrach die alte Frau Maries Gedanken und zeigte auf die ersten beiden Türen. Sie gingen weiter und sie deutete mit dem Kopf zur Küche: »Falls Sie noch Hunger haben, es ist genug im Kühlschrank. Fühlen Sie sich wie zuhause.« Während die Alte sprach, gelangten sie ins Wohnzimmer.
»Wenn Sie mich brauchen, ich bin in meinem Arbeitszimmer. Schlafen Sie gut«, sagte sie freundlich. »Vielen Dank.« Das war das Einzige, was Marie über die Lippen brachte.
Sie lugte in den Gang, der Alten hinterher, und sah an dessen Ende eine Zimmertür, die die Alte hinter sich schloss. Der Flur schien zwei Gebäude miteinander zu verbinden, war an einer Seite komplett verglast und mit einer Schiebetür versehen, die auf die Terrasse führte. Er stand voll mit fremdartigen Pflanzen, die Marie noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Blick fiel auf Sam, der auf seiner Decke neben dem Kamin lag und sie neugierig ansah. Verloren sah Marie noch einmal zur Tür des Arbeitszimmers. Als sie dann den vollen Kühlschrank begutachtete, war ihr Hunger verschwunden. Ich stehe vor Lebensmitteln, die mir nicht gehören und soll mich bedienen? In einem fremden Haus, bei einer wildfremden Frau? Und soll mich wie zuhause fühlen? Sie fuhr sich durchs Haar und ging kopfschüttelnd in ihr Zimmer.
***
Am nächsten Tag schreckte Marie aus dem Schlaf und sprang sofort aus dem Bett. Zögernd ging sie in die Küche, wo ihre Gastgeberin mit der Essensvorbereitung beschäftigt war. Ihr Herz klopfte bis zum Hals.
»Da sind Sie ja. Haben Sie gut geschlafen?«
Marie starrte auf die Küchenuhr an der Wand, dann auf die alte Frau, dann wieder auf die Uhr. Sie atmete tief ein und aus und stammelte: »So spät? Das kann nicht sein. Sie steht, stimmt’s?«
»Machen Sie sich frisch, das Essen ist gleich fertig«, sagte die Alte nur. Marie stand wie angewurzelt da und griff sich an den Bauch.
»Ich habe kein Telefon«, sagte die Alte und beantwortete damit Maries Frage, bevor sie sie stellen konnte.
Sie rührte weiter in ihren Töpfen und schnitt frisch aussehende Kräuter auf einem Holzbrett. Die junge Frau musste sich setzen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und auf ihrer Oberlippe. Der Alten entging das nicht, denn sie goss bereits heißes Wasser auf ein paar widerspenstige Blätter, die in einer breiten Tasse bereitstanden: »Hier, Kindchen. Oh, Entschuldigung. Das meine ich nicht böse. Ist so eine Redensart von mir.«
Es folgten ein paar Minuten Stille und Marie trank den Tee. Die alte Frau musterte sie besorgt: »Das haben Sie doch schon gestern gewusst. Außerdem haben Sie Fieber und gehören ins Bett.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie die Kochplatten aus und band sich die Schürze ab.
»Wie heißen Sie?«
Die junge Frau starrte auf den Fußboden.
»Was habe ich schon gestern gewusst?«
»Dass der Schnee die Kontrolle übernommen hat. Dass Sie hier festsitzen.«
Marie sah die Alte verständnislos an und erhob sich mühsam vom Stuhl. Sie war blass geworden. »Marie. Ich heiße Marie«, sagte sie und ging leicht gebeugt, ohne zu widersprechen, zurück in ihr Zimmer.
Es war schon früher Abend, als die beiden Frauen am Esstisch in der Küche saßen. Marie spürte, dass ihr das Essen gut tat: »Was ist das?«
»Reis«, die Alte schaute verschmitzt.
»Das ist Gemüse aus meinem Garten und jede Menge Kräuter, auch aus meinem Garten. Ist gut für Ihren Magen.«
Marie räusperte sich: »Schmeckt lecker, danke. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, wegen gestern.« Nach einer kleinen Pause fragte sie zaghaft: »Darf ich noch eine Nacht bleiben, bis ich morgen ein neues Auto organisiert habe? Ich bezahle natürlich.« Erwartungsvoll sah Marie die Alte an.
»Das Zimmer steht sowieso leer. Sie können gerne bleiben, bis sich die Wetterlage beruhigt hat. Als mein Gast.«
Marie errötete: »Denken Sie nicht, dass ich immer so bin!« »Was meinen Sie?« Marie schnappte nach Luft: »Es ist nur … der ganze Stress.«
Weiter sprach sie nicht, denn sie hatte keine Lust, der alten Frau etwas zu erzählen, was sie nichts anging und nicht verstehen würde.
»Schon gut. Machen Sie sich keinen Kopf«, sagte die Alte, ohne weiter darauf einzugehen, und wandte sich wieder ihrem Essen zu. Marie zeichnete mit der Gabel Striche in die Soßenreste auf ihrem Teller. Was wissen Sie denn schon?