Читать книгу REBELLION DER GEFÜHLE - Kerstin von Schuckmann - Страница 4
TAG ZWEI
ОглавлениеLopez wippte ungeduldig auf seinem abgewetzten Bürostuhl hin und her. Er schaute auf seine kitschige Wanduhr. Diese bestand aus einem Brett aus Olivenholz mit dem bunten Motiv einer Ziege. Der kleine Zeiger stand bereits in Höhe der Ziegenhörner und er wusste, dass die Pathologie in den nächsten Minuten anrufen würde. Dennoch erschrak er, als genau in dieser Sekunde sein Telefon klingelte. Allerdings war es kein interner, sondern ein externer Anruf.
„Buenos días Kommissar Lopez. Ich bin von der Guardia Civil in Campos. Wir wurden heute Morgen früh von einem Bauern angerufen. Er entdeckte ein Fahrrad, das neben einem Brunnenschacht auf seinem Feld nahe seiner Finca in El Palmer lag. Zunächst dachte er, dass es geklaut wurde und der Dieb es aus schlechtem Gewissen einfach spontan entsorgte. Beim Herunterschauen in den Schacht allerdings machte er eine grausige Entdeckung. Metertief lag unten ein blutiger, regungsloser Körper im Wasser. Wir sind vor Ort, und es sieht wirklich schrecklich aus. Der Brunnen ist circa zehn Meter tief, und Gott sei Dank nicht wie andere auf unserer Insel, dreißig oder vierzig. Wir haben bereits die Spurensicherung informiert und bitten Sie auch sofort hierher zu kommen.“
Lopez schob die stillose, leere Vase auf seinem Tisch nach vorne und nach hinten. Er wusste, dass seine wenigen Kollegen mit Kriminalfällen aller Art mehr als versorgt waren. Auch Antonio Díaz erstickte vor Arbeit. Der Einzige, der im Vergleich dazu noch etwas Luft hatte, war er selbst. Sein geplanter Tagesablauf war damit Geschichte.
„Vale, ich bin in vierzig Minuten bei Ihnen und mache mir ein Bild. Hasta luego.“
Lopez fuhr mit Zigarette im Mund die MA-19 entlang und fragte sich, was ein Radfahrer im Brunnenschacht zu suchen hatte. Seine Gedankengänge wurden abrupt gestoppt, als ein Anruf ertönte.
„Pathologie, guten Morgen. Dank einiger Überstunden können wir Ihnen bereits einige Ergebnisse unserer bisherigen Untersuchungen mitteilen. Kapitän Sturm wurde auf jeden Fall mit einem stumpfen Gegenstand von hinten erschlagen. Vermutlich mit einer Metallstange. Man sieht die geformte Hautblutung noch als Teilabdruck des Instruments. Es gibt die sogenannte „Hutkrempenregel“, das heißt, wenn die Verletzung oberhalb der Hutkrempe ist, handelt es sich um fremde Gewalteinwirkung. Ist die Verletzung auf oder unterhalb der Hutkrempe, weist dieses auf einen Sturz hin. Er musste bereits tot gewesen sein, als ihn der Mörder mit einem Anker am Boden fixierte. Insofern hat er nicht sehr gelitten. Danach wurde ihm die Zunge abgeschnitten. Die Spurensicherung konnte die Zunge nirgendwo finden. Wir vermuten, dass er sie entweder mitgenommen hat oder direkt im Meer verteilte, wo sie von den Fischen verspeist wurde. Die zweite Möglichkeit scheint wahrscheinlicher. Sandproben, die unsere Kollegen im Umkreis von circa dreißig Zentimetern um die Siurell herum mitnahmen, wurden auf Haare untersucht. Allerdings waren in den Proben keine zu finden. Der Mörder könnte vom Land aus tauchend zum Schiff gekommen sein. Das dürfte bei dem ruhigen Seegang der letzten Tage und der Nähe des Schiffes zum Festland kein Problem gewesen sein. Nachdem er Sturm dann erschlagen, den Zettel unter der Eisenstange fixiert und im Neptungras mit einem weiteren Anker versenkt hatte, wird er ihm, so vermuten wir es, die Zunge abgeschnitten haben. Die Kappe nahm er beim Zurückschwimmen mit an Land. Diese war unseren Untersuchungen nach ursprünglich nass und salzig sowie mit einigen Algen versehen. Auch die Siurell muss er die ganze Zeit in seiner Hosentasche gehabt haben, denn auch diese war vom Salzwasser angegriffen. An Land angekommen legte er diese in den Sand, die Kappe darüber und flüchtete. Persönliche Fußabdrücke haben wir keine, da der Täter Badeschuhe getragen hat. Wir konnten diese Abdrücke in einiger Distanz zu den letzten Ausläufern der Wellen finden. Glücklicherweise waren keine Flut und kein starker Seegang. Wir haben dadurch das Profil und die Größe der Schuhe, nämlich einundvierzig. Ohrringe hat der Kapitän nicht getragen, aber das wussten Sie ja schon. Tätowierungen oder sonstige auffällige Merkmale hat das Opfer nicht. Die KTU untersucht derzeit noch den Ohrring auf Hautschuppen.“
Lopez bedankte sich, während er langsam eine rote Ampel überfuhr. Er war bereits kurz vor El Palmer. Das geschehene Verkehrsdelikt schob er auf seine derzeitig mentale Belastung zurück. In diesem Augenblick war er froh, beruflich und nicht privat unterwegs gewesen zu sein. Durch die weitläufigen Felder zogen sich Schotterwege, die auch von vielen Radfahrern zu Touren benutzt wurden. Leider bewahrheitete sich das an dem teilweise rücksichtslos hinterlassenen Müll. In der Ferne winkte bereits der Kollege der Guardia Civil. Der Bereich um den Brunnen war großzügig durch die Spurensicherung abgesperrt. Neugierige Radfahrer wurden sofort durchgewunken. Lopez fuhr mit seinem SUV etwas aufs Feld und lief direkt zum Brunnen. Beim Anblick der Leiche erkannte er unter Zuhilfenahme der Lampe eines Kollegen, dass es sich um einen mit einer Radhose und einem Trikot bekleideten mittelalten Mann handelte. Er schien sich den Hals gebrochen zu haben. Abgesehen von Brüchen anderer Körperteile.
„Señor“, fragte Lopez den Bauern. „Wie kann es sein, dass das Opfer überhaupt in Ihren Brunnen fallen konnte?“
„Kommissar, die Öffnung ist schon ewig mit Pflanzen bewachsen. Ich weiß es, und fremde Personen dürfen eigentlich nicht auf mein Feld. Insofern bin ich nicht schuld.“
„Darum geht es jetzt nicht. Sollte es sich um einen Mord gehandelt haben, müsste jemand gewusst haben, dass hier ein Brunnen ist, den man im Falle eines Mordes dazu nutzen könnte. Es gibt so viele alte, teilweise auch versteckte Brunnen auf Mallorca und Hunderte von circa dreißig Zentimetern breiten Bohrlöchern, mit denen das unterirdische Wasservorkommen getestet werden soll. Warum wurde dann gerade dieser Brunnen genommen? Wem haben Sie jemals von ihm erzählt, oder wer hat ihn in der Vergangenheit jemals wahrgenommen?“
Der alte Bauer seufzte verzweifelt.
„Eigentlich wusste es nur meine Frau, und sie ist vor drei Jahren gestorben. Sie mochte den Brunnen auch nicht sehr. Er war ihr immer zu unheimlich. Helligkeit wie Sonne, Meer und leuchtende Felder, das waren eher ihre Farben. Radfahrer konnten den Brunnen nie sehen. Sie heizen vorbei, da dieser Weg eine der beliebtesten Routen durch das Landesinnere der Insel ist. Sie werfen höchstens mal die Verpackung ihres Riegels in die Natur und fahren dann schnell weiter.“
Lopez wusste, dass die Arbeiten der Spurensicherung noch lange andauern würden und auch das Bergen des Opfers erst gegen Abend erfolgen dürfte.
„Ich werde direkt auf meinem Rückweg die Pathologie um eine Art Nachtschicht bitten, da ich so schnell wie möglich wissen muss, ob es sich hierbei um Mord, Suizid, oder einfach nur um einen unglücklichen Zufall handelt. Die Identität des Opfers benötigen wir auch noch, um Zeugenaussagen zu erhalten. Nach dem Bergen der Leiche dürften wir weitere Informationen erhalten.“
Lopez beschloss zurück zum Präsidium nach Palma zu fahren, dabei aber vorher noch dem rechtsmedizinischen Institut einen Besuch abzustatten.
„Buenos días Carmen! Ihnen wird nachher ein Opfer vorbeigebracht werden, das in einem Brunnen tot aufgefunden wurde. Ich bitte Sie, die Untersuchungen auf folgende Punkte besonders zu überprüfen: Wurde der Tote ermordet, und wenn ja, durch was oder wie. Oder handelte es sich um einen Suizid? Oder war es Zufall? Der Tote ist Radfahrer. Ansonsten benötige ich Auffälligkeiten und generelle Angaben.“
Carmen schüttelte den Kopf und lachte laut. „Rafael, das sind ja ganz neue Aufgaben für mich. Kann es sein, dass Sie etwas überarbeitet sind?“
Lopez war beleidigt, musste aber böse Miene zum guten Spiel machen, da die Ergebnisse noch bis heute Nacht erarbeitet werden sollten.
„Ich kann es ja nicht so gut nachvollziehen, dass Sie, als Pathologin gerne gegrilltes Fleisch essen. Schaffen Sie es allerdings noch heute Nacht wichtige Beweise herauszufinden, würde ich Sie dafür auch gerne in ein Steakhouse Ihrer Wahl einladen.“
Sie lachte erneut.
„Ich wusste doch, dass Sie noch etwas wollen, aber einem so gutaussehenden Mallorquiner wie Ihnen schlägt man seine Wünsche auch ohne Restaurantbesuch nicht aus. Außerdem ist es mein Job. Und den mache ich gerne.“
Lopez hatte sich die Nummer des Fahrradverleihers und des Fahrrads notiert, um an weitere Informationen kommen zu können. Entgegen erster Vermutungen handelte es sich nicht um den größten Verleiher der Insel, sondern um einen kleineren der vielen Anbieter direkt im Zentrum von Palma. Er beschloss dorthin zu laufen, da es in den engen Gassen in diesem Viertel keine Parkplätze gab. Beim Vorbeigehen an den alten Klöstern, Kirchen, Herrenhäusern und Plätzen wurde ihm wieder bewusst, in welcher schönen Stadt er doch wohnte. Geschichte verbunden mit Meer, Genuss und purem Leben. Er betrat den Fahrradverleih, in dem noch circa fünfzig weitere Fahrräder auf ihre Mieter warteten.
„Buenos días, Kommissar Lopez, ich benötige ein paar Informationen von Ihnen.“
Er zog sein Handy aus der Tasche und öffnete seine Bildergalerie.
„Dieses Fahrrad, laut Aufkleber Ihres Ladens mit der Nummer 6611, wurde gestern ohne seinen Fahrer auf einem Feld gefunden. Deshalb benötige ich dringend Informationen über ihn. Name, Adresse, Alter und sonstige Daten, die Sie von ihm haben. Ihr Fahrrad bekommen Sie wieder. Unsere Spurensicherung muss es nur noch untersuchen. Ich hoffe für Sie, dass er per Vorauskasse gezahlt hat.“
Lopez lachte kurz. Der Mitarbeiter zeigte keinerlei Emotionen und tippte wortlos die Fahrradnummer in sein Notebook ein.
„Unser Kunde heißt Michael Dreschke, wohnhaft in Freiberg, Sachsen. Geboren 1980. Privatadresse schreibe ich Ihnen auf. Also kein Mallorquiner, sondern ein strohblonder Deutscher.“
„Ich benötige nicht nur seine Privatadresse in Deutschland, sondern auch seinen Aufenthaltsort auf Mallorca.“
Murrend suchte der Verleiher erneut in den ihm zur Verfügung stehenden Daten.
„Er wohnt immer in dem kleinen Hotel namens „Esperanza“ in der Calle de Cervantes. Nicht luxuriös, aber sauber und mitten in der Stadt. Er hat bei mir schon oft Fahrräder aller Art geliehen, am liebsten aber Geländeräder, genannt Crossbikes. Solche, mit denen man so richtig fett über Wiesen und Felder durch die Natur heizen kann. Rücksicht auf die Vegetation wird hier nicht genommen. Hauptsache schnelles und kraftvolles Fahren. Dreschke lieh sich von Zeit zu Zeit aber auch Rennräder aus, um über die Berge zu kommen. Er war ein absoluter Einzelgänger. Er fuhr nie in Gruppen oder zu zweit. Dieses hat er mir sogar einmal selbst gesagt.“
„Freiberg/Sachsen“. Sofort kam Lopez erneut der letzte Fall gemeinsam mit Kommissar Gerhard Voigt in den Sinn. Irgendwie vermisste er seinen deutschen Kollegen und könnte ihn jetzt zudem gut gebrauchen. Vielleicht hatte er Hinweise zu Dreschke in seinem Informationssystem.
Lopez bedankte sich und lief zügigen Schrittes zurück zum Präsidium. Im Büro angekommen merkte er, dass er zunächst eine kleine Pause machen musste, um sein hörbar schweres Atmen zu reduzieren. Erst danach griff er zum vergilbten Telefonhörer.
„Hola Gerhard! Hier ist Rafael aus Palma.“
„Dorheeme is am scheensten. Für Sie auf Hochdeutsch Rafael, „Zu Hause ist es am schönsten.“ Das dachte ich bis jetzt, aber wenn ich an Mallorca denke, stimmt dieser Spruch nicht mehr so ganz. Was kann ich für Dich tun?“
„Wir haben einen toten Radfahrer in einem Brunnenschacht gefunden. Er heißt Michael Dreschke, wohnhaft bei Dir im Erzgebirge in Freiberg. Kannst Du spontan irgendetwas über ihn herausfinden?“
Voigt tippte hörbar auf seiner Tastatur.
„Ei verbibbsch. Siehe da. Dreschke hat diverse Male strafbare Eingriffe in die Natur vorgenommen, indem er zum Beispiel illegal Fäkalien in einen Bach laufen ließ. Hinzu kam, dass er mit seinem Motocross Rad nie die extra dafür gebauten Anlagen nutzte, sondern aggressiv zerstörend damit im Freiberger Biotopschutzgebiet herumfuhr.“
„Hervorragend Gerhard. Das reicht schon. Bis demnächst.“
„Nu, ma guggen.“
Lopez hielt es nicht länger auf seinem Lederstuhl aus. Er lief diverse Runden durch sein nicht allzu großes Zimmer und blieb abrupt am Fenster stehen. Er hielt den Griff desselben verkrampft in der Hand und schaute auf die belebte Hauptstraße. Sollte es Mord gewesen sein, stellt sich die Frage, ob beide Taten miteinander zusammenhängen könnten. Allerdings konnte er bei diesen Toten selbst mit noch so großer Kreativität keinen Zusammenhang erkennen. Ein Kreuzfahrtkapitän und ein Radfahrer. Zwei Welten trafen aufeinander. Lopez ließ den Griff los, um sich einen Cafe con leche zu holen. Auf dem Gang hörte er in der Ferne seinen bis zum Anschlag eingestellten Klingelton. Fluchend rannte er zurück in sein Büro und nahm schwer atmend den Hörer ab.
„Wo habe ich Sie denn hergeholt? Die Kriminaltechnische Untersuchung hat ergeben, dass am Ohrring des Mörders von Kapitän Sturm tatsächlich Hautschuppen gefunden wurden. Es liegt uns hierzu leider nur keine Vergleichsprobe vor. Der Verdächtige ist bisher nicht in einer DNA-Kartei gespeichert, woraus man schließen kann, dass er bis zum heutigen Zeitpunkt keine Verbrechen begangen haben dürfte. Auch die Schrittgröße zu den Badeschuhen hilft uns nicht weiter. Leider ist unsere Arbeit im Fall des Mordes an Sturm bisher ergebnislos geblieben. Erfolgsversprechender allerdings sind die Untersuchungen zum Tode des Radfahrers. Neben den dicht bewachsenen Sträuchern lag erbrochenes Essen des Opfers. Er musste dieses kürzlich zu sich genommen haben. Was den Tatort am Brunnen betrifft, so konnten hier keine Haare gefunden werden, da die ruppige Vegetation, die ihn überwuchert, dies nicht zuließ. An einem Strauch allerdings waren Blutspuren, die entweder vom Täter oder vom Opfer selbst stammen mussten. Dieses können wir aber erst herausfinden, nachdem die Pathologie ihre Arbeit getan hat. Beim Herausziehen der Leiche aus dem Brunnen stellten wir fest, dass der rechte Fuß des Opfers fehlte. Er wurde abgehackt. Voraussichtlich mit angezogenem Schuh. Wir konnten trotz intensivster Suche weder den Fuß noch den dazugehörigen Schuh finden. Er hatte, wie viele Radfahrer eine in diesem Fall günstige Pulsuhr am Arm. Diese wurde beim Aufprall beschädigt und ist seit halb elf, also seinem Todeszeitpunkt, stehen geblieben. Wir konnten die aktiven Zeiten des Vortages herausfinden und ich werde sie Ihnen gleich per E-Mail schicken.“
Lopez bedankte sich und nahm einen erneuten, erfolgreichen Anlauf zum Kaffeeautomaten, um den bevorstehenden langen Abend zu überstehen. Früher als geplant meldete sich Carmen Perez, die Lieblingspathologin von Lopez.
„Sitzen Sie Rafael? Die Obduktion ergab, dass das Opfer zunächst vergiftet wurde. Sein Mörder musste ihm beim Abendessen eine Überdosis von Cholinesterasehemmern in sein Getränk getan haben. Die Toxikologie hat mir das auch noch einmal bestätigt. Diese Überdosis führte beim Opfer zunächst zu Erbrechen. Das Erbrochene lag, wie mir die Spurensicherung erzählte, auch direkt neben den Sträuchern. Danach muss bei ihm eine zentrale Atemlähmung sowie der Herzstillstand eingesetzt haben. Oft wird diese Todesursache bei Morden angewandt, die wie Selbstmorde aussehen sollen. Aber das ist nicht alles. Die Blutgruppe, die auf den Pflanzen gefunden wurde, ist auch die des Opfers. Der Mörder muss Dreschke nach seinem Tod noch einmal mit seinen Armen von der Mauer heruntergezogen haben. Das erkennt man an den starken Kratzspuren, an den Waden vom Opfer, sowie an den Hautzellen, die vom Brunnenrand entnommen wurden. Danach muss er ihm den rechten Fuß abgehackt sowie den Körper umgedreht haben, um ihn noch einmal mit einer Glasflasche von hinten zu erschlagen. Vielleicht wollte er unter Adrenalin stehend, sicher sein, dass er wirklich tot ist. Danach muss er den schweren Körper wieder zum Brunnen geschliffen und ihn auf der Mauer liegend hinuntergeworfen haben. Wie Sie selbst gesehen haben, hatte das Opfer noch den Sturzhelm an. Die Brüche und Ödeme zeigen die genauen Aufschlagbereiche. Ich hoffe, das reicht Ihnen zunächst. Sie müssen auch nicht mit mir essen gehen.“
Lopez lachte. „Woher kann der Täter die Cholinesterase-Hemmer bekommen haben?“
„Diese Medikamente werden unter anderem zur Behandlung von Alzheimer Patienten genommen. Eine Überdosierung hat wie bei sehr vielen pharmazeutischen Produkten eine verheerende Wirkung.“
Lopez grübelte. Der Täter musste jemanden kennen, der diese Medikamente einnahm oder legal oder illegal verkaufte. Er und sein Opfer mussten längeren Kontakt zueinander gehabt haben. Lopez schaute sich das Zeitaktivitätsprotokoll an. Leider hatte dieses Modell keine GPS-Fähigkeit und damit keine Routenvisualisierung. Aber das wäre auch zu einfach gewesen, dachte er sich. Die Aktivität startete gegen zehn Uhr morgens. Am frühen Nachmittag wurde eine kurze zehnminütige Pause angezeigt. Danach fuhr Dreschke bis neunzehn Uhr weiter, und es erfolgte eine lange Unterbrechung über drei Stunden. Einer erneuten Aktivität von fünf Minuten folgte die nächste erst nach einer viertel Stunde. Und diese betrug wieder lediglich fünf Minuten. Danach wurde nichts mehr aufgezeichnet. Lopez war sich sicher, dass Dreschke seinen Mörder in einem Restaurant kennengelernt haben musste. Dreschke hätte normal noch zwei Stunden mit dem Fahrrad zurück nach Palma fahren müssen, und das hätte er im Dunkeln nicht erst um zehn Uhr abends gemacht. Jemand hatte ihm vielleicht vorgeschlagen, ihn mit zurückzunehmen. Die kurze Aktivität danach dürfte zum Beispiel auf das Heraufladen seines Fahrrads auf das Auto des Mörders zurückzuführen sein. Nach zehn Minuten Fahrt war der Brunnen erreicht. Sie setzten sich nach dem groben Freimachen auf den Rand, und der Täter ermordete Dreschke nach erwähntem Ritual. Er lehnte das Fahrrad nach dem Tod an die Sträucher der Mauer, so dass es wie ein Selbstmord aussehen sollte. Lopez positionierte den Brunnen auf seiner Karte und berechnete den innerhalb von zehn Minuten mit dem PKW zu erreichenden Umkreis. Dabei gab es nur einen Ort, der überhaupt in Frage kam. Ses Covetes war der Name des kleinen Dorfs. Hier gab es nur eine Tapas Bar, die bei Radfahrern besonders beliebt war. Lopez beschloss direkt morgen zur Öffnungszeit vor der Türe zu stehen. Sein Ziel war es, den Tatvorhergang bildlich nachvollziehen. Zuvor jedoch musste er noch früh Kontakt zum Hotel Esperanza aufnehmen, um zumindest einige Informationen über das Opfer herauszufinden. Trotz fortgeschrittener Stunde rief er die Spurensicherung an und bat sie erneut am folgenden Tag nach eventuellen Reifenspuren eines PKWs oder Kleinlasters zu suchen, mit dem Dreschke zum Tatort gebracht worden sein musste. Was für ein Tag dachte sich Lopez, während er sich einen Zigarillo der teureren Sorte anzündete und ermattet, aber zufrieden nach Hause fuhr.