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Ein Blick – und Kelly Ridenour war verliebt.

Mit einer Länge von 330 Metern und dreizehn Decks hoch war die Emerald Duchess das größte Schiff der Flotte von Emerald Cruise Line. Sie hob sich leuchtend von der funkelnden Fassade des Biscayne Bay ab, des dritthöchsten Wolkenkratzers von Miami. Aus ihren hohen Schornsteinen stiegen silberne Rauchsäulen auf und verflüchtigten sich im strahlend blauen Himmel.

Yvonne Mooney machte einen Schnappschuss aus dem Taxi, als es den Scheitelpunkt der Brücke erreichte, die zum Kreuzfahrtterminal führte. »Da ist es – unser Zuhause für die nächsten zwölf Tage – fern von daheim.«

Mit dem Finger in der Luft zählte Kelly die Reihen der Fenster ab bis zu Deck 9, einem der Decks, die über Balkone verfügten. Ihre Kabine war irgendwo achtern, in der fünften Reihe von oben. »Am Ende der Reise musst du mich vielleicht mit Gewalt von Bord schaffen. Rochester im Januar ist grauenhaft.«

»Deshalb war es das perfekte Weihnachtsgeschenk, das Steph und ich uns gegenseitig gemacht haben.«

»Und ich mir«, erwiderte Kelly.

Yvonne verrenkte sich, um das Schiff im Sucher zu behalten, und schoss ein weiteres Foto, als das Taxi zum Ablegeterminal einbog. »Jetzt müssen wir Steph bloß noch für ein paar Stunden von ihrem Blackberry loseisen, und dann machen wir tatsächlich Urlaub.«

Kelly lachte leise. »Vielleicht hättest du sie kidnappen und zwingen sollen, mit uns vorab zum Tauchen herzukommen.« Das letzte Mal, als sie sich mit Yvonne und ihrer Partnerin getroffen hatte, waren sie zum Abendessen in einem irischen Pub verabredet gewesen. Steph, eine Immobilienmaklerin, hatte den Großteil des Abends damit zugebracht, eine Rechtstitelversicherung zu formulieren, um einen Vertragsabschluss in die Wege zu leiten.

»Das wäre vermutlich keine gute Idee gewesen. Steph hat mit allem, was mit Wasser zu tun hat, nicht viel im Sinn. Ich wette, sie wird ihre Nase die ganzen nächsten zwölf Tage in ein Buch stecken.«

Kelly wunderte sich wieder einmal, wie Yvonne und Steph es schon achtzehn Jahre miteinander aushielten, obwohl sie so wenig gemeinsam hatten. Sie sahen sogar vollkommen gegensätzlich aus – Yvonne war groß und sportlich mit kurzem Stachelhaar, Steph klein und zierlich mit langen prachtvollen Locken, die ein Eigenleben zu führen schienen.

»Zumindest werden wir es eine Zeitlang warm haben«, fügte Yvonne hinzu. »Steph erinnert mich jeden Winter daran, dass es in Memphis, wo sie aufgewachsen ist, kaum je geschneit hat.«

»Schon erstaunlich, dass du sie dazu bewegen konntest, nach Rochester zu ziehen.«

»Das ist noch gar nichts. Natalie ist sogar von Mississippi fortgezogen, um in unserer Nähe zu sein. Sie hat Pascagoula aber auch keine Träne nachgeweint.«

Natalie Chatham, die Kelly noch nicht kannte, war Stephs und Yvonnes alte Freundin aus College-Zeiten. Sie hatte sich in letzter Minute entschlossen, mitzukommen, und Kellys Angebot, sich eine Kabine zu teilen, angenommen. »Ich bin gespannt darauf, sie kennenzulernen.«

»Glaub bloß nicht, dass du sie ins Wasser kriegst. Sie ist noch mehr Prinzessin als Steph.«

»Ich erzähle es deiner Freundin, dass du sie Prinzessin genannt hast.«

»Das stört sie nicht. Beide würden das als Kompliment betrachten. Und was Zimperlichkeit angeht, kann keine von ihnen Didi und Pamela das Wasser reichen. Die beiden sind wirklich unschlagbar.«

Kelly kicherte vor sich hin, während das Taxi sich in die Schlange an der Gepäckabgabe einreihte. Zufälligerweise mochte sie zimperliche Frauen. Sie wollte bloß keine von ihnen sein. »Um wie viel Uhr kommen die anderen?«

»Ihr Flieger soll um Viertel nach zwei landen, aber wer weiß, ob sie pünktlich sind. Steph hat angerufen, als du heute Morgen in der Dusche warst und meinte, in Rochester hätte es über Nacht fünfzehn Zentimeter Schnee gegeben.«

»Na, bist du nicht froh, dass wir früher gefahren sind?« In den vergangenen drei Tagen waren sie Hochseefischen gewesen und hatten an einem Tauchkurs im Korallenriff des John Peenekamp State Park in Key Largo teilgenommen, bei dem Yvonne ihren Tauchschein gemacht hatte. Kelly war bereits hochqualifiziert – sie hatte dreizehn Jahre zuvor ihren PADI Divemaster-Schein erworben, als sie der Navy angehörte und in Key West stationiert gewesen war. »Zumindest wir beide werden an Bord sein, wenn die Emerald Duchess ablegt.«

Yvonne verstaute ihre Kamera in ihrer Tasche. »Wir sollen ja erst um fünf ablegen, aber dieser Sturm hat den ganzen Nordosten ziemlich gebeutelt. Es würde mich nicht überraschen, wenn wir auf die Nachzügler warten.«

»Mir würde es nichts ausmachen, die ganze Zeit im Hafen zu verbringen. Das Schiff ist echt der Hammer.«

»Aber solange wir im Hafen liegen, bleiben die Casinos geschlossen. Glücksspiel ist nur in internationalen Gewässern erlaubt.«

Kelly blieb vor Überraschung der Mund offenstehen. »Willst du damit sagen, du hockst lieber bei einer Reihe von Spielautomaten in einem düsteren verrauchten Raum, als auf einem sonnigen Deck zuzusehen, wie die Frauen im Bikini vorüberflanieren?«

Yvonne legte den Kopf schräg. »Also wenn du es so formulierst …«

Das Taxi kam an der Gepäckannahme zum Stehen, wo die Gepäckträger des Schiffes sich eilig anschickten, ihr Reisegepäck aus dem Kofferraum zu holen. Yvonne hatte ihre beiden Taschen bereits mit den farbcodierten Gepäckanhängern der Kreuzfahrtgesellschaft versehen, so dass sie gleich zu ihrer Kabine geschafft werden konnten.

Kelly schnappte sich ihren Seesack, der nicht mit einem Gepäckanhänger versehen war. »Den kann ich selbst nehmen.«

»Du solltest ihn den Gepäckträgern überlassen«, sagte Yvonne und wies auf die vielen Grüppchen von Passagieren, die sich auf dem Weg zum Ablegeterminal befanden. »Vielleicht müssen wir eine Stunde oder noch länger anstehen.«

»Der ist nicht schwer. Ich habe nicht viel dabei.«

»Wie kannst du mit nur einem einzigen Seesack auf eine zwölftägige Kreuzfahrt gehen? Ach, warte. Ich weiß. Du hattest beim Packen keine Steph Sizemore an deiner Seite, die dafür gesorgt hätte, dass du dich dreimal täglich komplett umziehen kannst.«

»Ganz genau«, erwiderte Kelly. »Bei der Navy habe ich gelernt, mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein und meine Sachen kurz durchzuwaschen.«

Yvonne beäugte Kellys Seesack und den Rucksack, den sie sich über die Schulter geschlungen hatte. »Hast du auch irgendwas an Abendgarderobe dabei?«

»Dies und jenes. Ich verspreche dir, euch nicht zu blamieren.«

»Oh, mich kannst du so schnell nicht blamieren. Aber in Anbetracht der Größe deines Seesacks werde ich schwer beeindruckt sein, wenn ich dich in mehr als drei verschiedenen Outfits sehe.«

Am Eingang des Terminals zeigten sie ihre Ausweispapiere und ihre Boarding-Pässe vor und folgten den anderen Passagieren zu den Fahrstühlen zum Check-in. Wie Yvonne vorausgesagt hatte, zog sich eine lange breite Schlange von mehreren Hundert Passagieren durch das Terminal, zumeist Paare – müde Männer in Khakihosen und Poloshirts, beladen mit Schultertaschen, und Frauen in ihrem ersten farbenfrohen Urlaubsoutfit. Es war kein Wunder, dass sie auch Kinder im Schlepptau hatten, schließlich waren Ferien.

Eine vergnügte Frau in einem farbenprächtigen Rock mit Bluse begrüßte sie. »Es ist nicht so schlimm, wie’s aussieht. Wir haben über dreißig Check-in Agents. In dreißig Minuten werden Sie an Bord sein und einen Rum Runner Cocktail genießen.«

Kelly stellte ihren Seesack ab und schob ihn mit dem Fuß weiter. »Sag mir noch mal, wer all die Leute sind. Wir sind zu sechst, richtig?«

»Richtig. Das sind du und ich, Steph, Natalie … Steph und Natalie sind seit dem College beste Freundinnen – Seelenverwandte sozusagen.«

»Bist du nie eifersüchtig?«

»Quatsch. Mit Natalie macht Steph all die Sachen, die mich in den Wahnsinn treiben würden. Du kennst doch diese Frauen, die shoppen bis zum Umfallen?«

Kelly nickte.

»Siehst du. Ich kann nur shoppen, bis ich am liebsten jemanden killen würde. Aber die beiden schaffen das tagelang, ohne Luft zu holen. Und sie tauschen Rezepte aus und verschlingen all diese Interior Design Magazine.«

»Mir gefallen diese Magazine auch.« Kelly zuckte die Achseln, als Yvonne sie ungläubig ansah. »Als ich für meinen Dad gearbeitet habe, haben wir viele Modernisierungen durchgeführt. Ich sehe mir gern an, was andere für Ideen haben.«

»Dann habt ihr ja jede Menge Gesprächsstoff – du und Natalie. Sie hat sich letztes Jahr ein Haus gekauft, das einiges an Arbeit erfordert.«

»Sie sollte sich besser in Acht nehmen. Wenn ich erst mal anfange, habe ich eine Idee nach der anderen.« Plötzlich ging es ein gutes Stück voran; sie bogen um die nächste Windung und rückten weitere zehn Meter vor. »Also du und ich, Steph und Natalie. Wer sind die anderen beiden?«

»Didi Caviness und Pamela Soundso. Ich hab ihren Nachnamen vergessen. Didi und Natalie sind Besitzerinnen der – in den Augen der meisten Menschen – besten Modeboutique in Rochester. Natürlich bin ich keine Expertin, was das angeht. Ich gebe nur wieder, was Steph sagt.«

»Und Pamela ist ihre Freundin?«

»Ja, ihre Neue. Sie sind seit ungefähr sechs Monaten zusammen. Davor waren Didi und Natalie sechs Jahre zusammen, aber sie haben sich vor zwei Jahren getrennt.«

»Ich gehe mal davon aus, dass sie immer noch befreundet sind und nicht nur Geschäftspartnerinnen, sonst würden sie nicht zusammen auf Kreuzfahrt gehen.«

»Seit ihrer Trennung haben sie sich besser verstanden denn je – bis Pamela ins Spiel kam. Natalie hatte gehofft, dass sie und Didi wieder zusammenkommen, aber ich bin nicht sicher, ob sie sich das wünscht, weil sie Didi immer noch liebt. Ich glaube, es hat mehr damit zu tun, dass Pamela in Manhattan lebt und will, dass sie die Boutique dorthin verlegen. Didi ist Feuer und Flamme, aber Natalie nicht.«

Kelly stöhnte. »Dyke Drama. Wollen wir hoffen, dass sich die nächsten zwölf Tage alle von ihrer besten Seite zeigen.«

»Bisher sind sie sich noch nicht an die Gurgel gegangen.«

»Das ist vermutlich ein gutes Zeichen.«

Yvonne lachte, während sie wieder ein Stück vorwärtsrückten. »Es ist ein ziemlich gutes Zeichen, wenn du mich fragst. Ich hätte Didi wahrscheinlich längst gekillt, wenn sie nicht Natalies Freundin wäre.«

»Ist sie so schlimm?«

»Nein, eigentlich nicht. Meistens ist sie echt nett und unkompliziert. Aber sie ist der totale Fashion Victim. Ich wette, sie hat doppelt so viele Klamotten dabei wie alle anderen, und sie wird immer tadellos zurechtgemacht sein – ob sie beim Galadinner erscheint oder an der Poolbar sitzt. Sie sieht grundsätzlich umwerfend aus, und das weiß sie. Ihr Problem ist, dass sie ihre kritischen Anmerkungen in Sachen Mode nicht lassen kann, und das nervt manchmal.«

»Manchmal?« Kelly sah an ihrem Outfit hinunter – ein weißes Baumwollhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, olivgrüne knielange lässig-weite Shorts und Birkenstocks. »Dann wird sie mit mir ihren Spaß haben. Ich hätte eine meiner alten Navy-Uniformen anziehen sollen. Zumindest passen meine Shorts zu meinem Hemd.«

Yvonne lachte und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Ich finde, du siehst ganz passabel aus. Schließlich ist das hier eine Kreuzfahrt und keine Modenschau. Trag nur keine silberne Uhr mit goldenen Ohrringen wie Steph letztens, als wir zusammen aus waren. Didi hat sich gar nicht mehr eingekriegt.«

Kelly zupfte an ihren Ohrläppchen, die nicht gepierct waren. »Die Gefahr besteht nicht. Glaubst du, sie möchte mein Tattoo sehen?«

»Du hast ein Tattoo?«

Kelly zog ihren Kragen beiseite und beugte sich vor, um Yvonne ein kleines schwarz-gelbes Motiv oben auf ihrem Schulterblatt zu zeigen.

»Oh, Mann! Das musst du Steph zeigen. Ich will schon seit Jahren eines haben, aber sie ist dagegen.«

»Das ist eine SeaBee, Abzeichen der Bautruppen der Navy. Eines Abends in Key West hat sich unsere ganze Einheit volllaufen lassen, und am nächsten Morgen sind wir allesamt dekoriert aufgewacht. Zum Glück hatte ich noch Verstand genug, mir eine kleine Variante auszusuchen.«

Schließlich standen sie vorn in der Schlange und mussten sich kurz trennen, um an zwei verschiedenen Schaltern einzuchecken. Kelly ging zum Schalter ganz links und sah sich einer jungen Frau asiatischer Herkunft gegenüber, deren dunkle Uniform saß wie angegossen.

»Herzlich willkommen auf der Emerald Duchess …«

Kelly registrierte das vertraute Zögern, als die Angestellte – Kim aus Taiwan, wie ihr Namensschild verriet – darauf wartete, dass sie ihren Namen nannte.

»Hallo, ich bin Kelly Ridenour … Kelly Ann Ridenour.« Ihre schlichte Kleidung, ihr kurzes Haar und ihr Verzicht auf Make-up und Schmuck ließ Fremde oft rätseln, welchem Geschlecht sie angehörte, zumal ihre Stimme tiefer war als die der meisten anderen Frauen.

»Ist das Ihre erste Kreuzfahrt, Ms Ridenour?«

»Die erste mit Emerald. Ich habe schon einige kürzere gemacht, als ich in Key West stationiert war. Ich freue mich schon auf die östlichen Karibik-Inseln.« Sie reichte der Frau ihre Reiseunterlagen und wartete, bis Kim den Check-in abgeschlossen hatte.

»Das ist unsere beliebteste Route. Und wir haben extra für Sie perfektes Wetter beantragt.«

»Großartig!« Und großartig war auch Kims Lächeln, in dessen Genuss Kelly nun kam. »Ich wette, Ihnen macht es Spaß, Menschen auf ihre Traumreise zu schicken.«

»Insbesondere weil ich mit von der Partie sein werde.« Kim reichte Kelly ihre Visitenkarte. »Wenn Sie an Bord irgendeinen Wunsch haben, zögern Sie nicht, mich als Ihre Gästebetreuerin zu kontaktieren.«

»Mache ich«, antwortete Kelly und fragte sich, ob »irgendein Wunsch« einschloss, mit Kim zu Abend zu essen. Sie ging in Richtung Gangway und wartete auf Yvonne. »Der Mann, bei dem du eingecheckt hast – hat er dir seine Visitenkarte gegeben?«

Yvonne steckte ihre Reiseunterlagen ein und schlang sich die Kameratasche um die Schulter. »Ja, und er hat sogar gesagt, ich könnte mich an Bord an ihn wenden, wenn ich irgendeinen Wunsch hätte.«

»Mist! Ich hatte gehofft, die Frau am Check-in flirtet mit mir.« Als sie das eindrucksvolle Atrium des Schiffes betraten, in dem noch ein mächtiger Weihnachtsbaum aufragte, holte Kelly tief und befriedigt Luft. Kim hin oder her – dies würde der beste Urlaub ihres Lebens werden.

Yvonne fasste sie beim Ellenbogen und wies auf die Galerie zwei Decks über ihnen. »Ich werde mein Zeug in die Kabine bringen und checken, ob ihr Flieger schon gelandet ist. Dann können wir uns da oben treffen und zusehen, wie sie an Bord kommen.«

Kelly grinste. »Ich werde da sein, mit einem Rum Runner in jeder Hand.«

Natalie drückte ihr Gesicht gegen das Flugzeugfenster, um die Küstenlinie Südfloridas direkt unter ihnen zu verfolgen. Sie hoffte, dass ihre kurzfristige Entscheidung, diese Kreuzfahrt mitzumachen, sich nicht als kolossaler Fehler erweisen würde. Als Steph und Yvonne das erste Mal davon gesprochen hatten, eine zwölftägige Kreuzfahrt durch die östliche Karibik zu machen, klang das nach einer tollen Idee, aber je länger sie darüber nachdachte, desto größere Sorgen machte sie sich, ob sie es mit Didi und Pamela, dem frischverliebten Paar, so lange aushalten würde. Am Ende hatte sie beschlossen, sich zusammenzureißen und die Reise mitzumachen, weil sie lieber in Gesellschaft von Freundinnen in der Karibik unglücklich war als allein zu Hause bei Eis und Schnee.

Nicht dass sie Pamela Roche nicht gemocht hätte. Die junge New Yorker Designerin war sich bewusst, dass sie es mit einer Ex-Geliebten und einer nicht ganz einfachen Situation zu tun hatte, als sie anfing, sich mit Didi zu treffen, und bei ihren regelmäßigen Besuchen im Laden war sie Natalie gegenüber stets reizend gewesen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass Natalie noch immer Gefühle für Didi hegte – Gefühle, auf denen jedes Mal herumgetrampelt wurde, wenn sie mit ansehen musste, wie die beiden miteinander turtelten, wie sie es in diesem Moment vorne in der Ersten Klasse taten.

»Woran denkst du?«, fragte Steph und hakte sich bei Natalie unter. Großzügig wie immer hatte sie ihren Gangplatz für den Platz in der Mitte eingetauscht, so dass sie und Natalie nebeneinandersitzen konnten.

Natalie seufzte. »Ich frage mich, ob das wirklich eine gute Idee ist.«

»Natürlich ist das eine gute Idee. Nur eine Idiotin würde Schnee in Rochester dem sonnigen Strand von Barbados vorziehen.« Sie drückte ermutigend Natalies Arm. »Yvonne und ich fanden es toll, als du gesagt hast, dass du mitkommst. Du und ich werden jeden Laden in der ganzen Karibik durchstöbern, und wer weiß – vielleicht begegnet dir deine Traumfrau auf dieser Kreuzfahrt.«

»Du meinst eine Frau, die reich ist und absolut hinreißend und mir zu Füßen liegen möchte?«

Und als wäre es nicht genug, Didi und Pamela als verliebtes Pärchen zu ertragen, lag Didi ihr auch noch ständig in den Ohren, Natalie solle ihr ihren Anteil an der Boutique verkaufen, damit Didi nach New York übersiedeln könnte. Natalie hatte immer gewusst, dass Didi davon träumte, in Manhattan als Modepäpstin groß herauszukommen, und als ihre Lebensgefährtin hätte Natalie sie darin vielleicht am Ende unterstützt, aber sie war nicht bereit, einfach so zuzusehen, wie Didi sich endgültig aus ihrem Leben verabschiedete. Acht Jahre zuvor, als sie und Didi ein Paar wurden, hatte sie ihre gesamten Ersparnisse in Didis Traumprojekt gesteckt, von ihrem Arbeitseinsatz ganz zu schweigen. Und nun, wo das Unternehmen erfolgreich war, wollte sie ihren Triumph mit Didi genießen und dafür sorgen, dass ihrer beider Zukunft finanziell abgesichert war.

»Bitte sag, dass Kelly nicht erst achtundzwanzig ist«, sagte sie in Anspielung auf Pamela und den Altersunterschied von vierzehn Jahren, der zwischen ihr und Didi bestand.

»Sie sieht eher so aus, als wäre sie in unserem Alter. Sie arbeitet schon seit ein paar Jahren für die Stadtverwaltung, und davor hat sie in Buffalo gelebt.«

»Wie habt ihr sie kennengelernt?«

»Kelly hatte eine Knieverletzung und ist zur Physiotherapie zu Yvonne in die Klinik gekommen. Sie haben sich auf Anhieb gut verstanden und sich bald auch privat getroffen.« Steph sah auf die Büchertasche zu ihren Füßen. »Falls du anfangen solltest, dich zu langweilen, kann ich dir ein paar von meinen Lesbenromanen leihen. Eine heiße Liebesschmonzette ist nicht zu toppen.«

»Bloß nicht!«, wandte Natalie ein und wies mit dem Kopf auf die Erste Klasse. »Die beiden reichen mir vollauf!«

Steph erhob sich halb, um zu Didi und Pamela hinüberzusehen. »Wie kommt es eigentlich, dass die beiden Erster Klasse fliegen? Ich dachte, wir hätten alle zusammen gebucht?«

»Didi hat noch mal angerufen und mit ihren Vielfliegermeilen ein Upgrade herausgehandelt«, antwortete Natalie. »Sie meinte, sie hätte keine Lust, ihren Urlaub zu ruinieren, indem sie Holzklasse fliegt. Ich hoffe, dass wir dieses Divengehabe nicht die ganze Zeit über ertragen müssen. Das habe ich schon tagtäglich auf der Arbeit.« Sie hoffte sogar, dass sie den Turteltauben so viel wie möglich aus dem Weg gehen konnte, obwohl sie nichts dagegen hätte, hin und wieder mit Didi allein zu sein. Wer weiß – vielleicht würde es ihr sogar gelingen, sie zur Einsicht zu bringen.

Steph beugte sich über sie, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, als das Flugzeug die Küstenlinie überquerte und durch eine der wogenden weißen Wolken stieß, die den Himmel über Miami tupften. »Sind wir schon da?«

»Gleich.« Sie klopfte Steph liebevoll auf den Rücken.

Steph und Yvonne waren ihre liebsten Freundinnen; sie hatten ihr praktisch das Leben gerettet, indem sie sie zwölf Jahre zuvor ermutigten, von Pascagoula nach Rochester überzusiedeln. Mississippi sei kein Ort für Lesben, hatten sie gesagt, und das wussten sie alle aus ihrer College-Zeit an der Ole Miss, der Universität von Mississippi. Dem Himmel sei Dank für Yvonnes Softball-Stipendium und ihre anschließende Rückkehr ins heimatliche Rochester, wohin Steph und Natalie ihr gefolgt waren und ein neues Leben begonnen hatten. Abgesehen davon, dass die Leute sie tagtäglich wegen ihres Südstaaten-Dialekts anpflaumten, fühlte Natalie sich in Upstate New York vollkommen zu Hause.

Als das Flugzeug gelandet war, sah Natalie auf die Uhr und stellte fest, dass sie zwar vierzig Minuten Verspätung hatten, dass aber immer noch genug Zeit blieb, das Schiff zu erreichen. Nicht schlecht in Anbetracht ihrer Zweifel am Morgen, ob es ihnen wegen des Schneefalls überhaupt gelingen würde, in Rochester loszufliegen.

Didi und Pamela warteten schon in der Lounge, als sie über die Fluggastbrücke ausstiegen. Beide hatten sich mächtig in Schale geworfen – sie trugen elegante Hosen aus feinem Wollstoff, schicke Pullover und erlesenen Schmuck und – für Natalies Geschmack – eine Spur zu viel Make-up. Pamelas Outfit war auf eine mädchenhafte Figur zugeschnitten – tiefe Taille und enganliegendes Oberteil –, was den Altersunterschied zwischen ihr und Didi noch zu betonen schien. Oder vielleicht war Natalie auch nur erbittert, dass ihre Ex mit einer so viel jüngeren Frau liiert war.

»Wir hatten absolut köstliche Shrimps in Hummersauce«, rief Didi ihnen entgegen. »Habt ihr da hinten auch was Gutes zu essen bekommen?«

»Sehr witzig. Wir haben uns einen Granola-Riegel geteilt und ihn mit einer Flasche Wasser runtergespült.« Steph streckte die Hand aus und zerstrubbelte Didis perfekte Frisur. »Wo wir gerade beim Thema sind: Die nächsten zwölf Tage esse ich, wozu ich Lust habe, und ich will keine blöden Bemerkungen darüber hören. Ich habe einen ganzen Monat lang Salat gegessen, damit ich jetzt richtig schwelgen kann.«

»Ich finde, du siehst großartig aus«, sagte Natalie, und ihr fiel wieder ein, wie Didi sich früher immer bei ihr beklagte, wenn sie anderen Komplimente gemacht hatte. Steph war es nicht leichtgefallen, sich über Thanksgiving und Weihnachten die ganzen zusätzlichen Kalorien zu versagen, damit sie die reichhaltige Küche an Bord ohne Schuldgefühle genießen konnte, und dafür verdiente sie ein großes Lob. »Du hast wirklich noch nie besser ausgesehen.«

Sie gingen inmitten der anderen Fluggäste zur Gepäckausgabe und waren kaum angelangt, als das Karussell sich auch schon zu drehen begann. Gepäckstücke, die Kreuzfahrtpassagieren gehörten, waren bereits mit entsprechenden Anhängern versehen, so dass man sie direkt zu den Kabinen bringen würde. Sie mussten sie nur vom Band nehmen und auf den Gepäckwagen neben dem Angestellten der Kreuzfahrtgesellschaft stellen.

Natalie erspähte ihre braune Hartmann-Tweedtasche und schob sich näher an das Gepäckkarussell. Sie streckte gerade die Hand nach dem Griff aus, als Didis Hand plötzlich aus dem Nichts auftauchte und sie ihr vor der Nase wegschnappte. »Das ist meine, Nat. Ich habe mir schon gedacht, dass du deine auch dabeihast, und deshalb habe ich eine Schleife um den Griff gebunden.«

Verdrossen trat Natalie einen Schritt zurück. Koffer und Taschen aus derselben Gepäcklinie zu haben schien damals, drei Jahre zuvor, als sie noch ein Paar waren, eine gute Idee zu sein. Jetzt war es nur noch eine bittere Erinnerung an eine Beziehung, die in die Brüche gegangen war.

»Hier ist deine, Natalie«, rief Pamela munter. »Ich nehme sie für dich herunter.« Sie wuchtete die Tasche vom Band und stellte sie neben Didis.

»Danke.« Es war unmöglich, Pamela nicht zu mögen, aber ebenso unmöglich, sich darüber zu freuen, dass Didi eine so nette Frau als neue Geliebte hatte. »Ich habe noch eine von der Sorte – falls du sie siehst …«

»Didi auch. Und sie hat auch ihren großen Kleidersack dabei.«

Na klar, was sonst. Ohne ihren halben Kleiderschrank ging Didi nirgendwohin. Natalie beschloss, vom Band zurückzutreten und es Pamela zu überlassen, sich die Taschen zu schnappen. Sie biss sich auf die Zunge, um Didi nicht zu beglückwünschen, dass sie jemanden gefunden hatte, die ihr in den goldenen Jahren beistehen würde. »Wir haben es verdient, es uns die nächsten zwölf Tage gutgehen zu lassen, Didi. Wir haben kaum Urlaub gemacht im letzten Jahr.«

»Es war ein gutes Jahr«, sagte Didi. »An der Eighth Avenue hätte es allerdings noch besser sein können.«

Natalie seufzte. »Lassen wir das Thema, okay? Lass uns einfach nicht davon sprechen, solange wir im Urlaub sind.«

»Unter einer Bedingung«, erwiderte Didi und sah ihr in die Augen. »Du versprichst mir, dass wir ernsthaft darüber reden, wenn wir wieder zu Hause sind. Und ich meine damit nicht, dass ich dir wieder meinen Vorschlag unterbreite und du wieder einfach nein sagst. Ich meine damit, dass wir uns ernsthaft zusammensetzen und besprechen, unter welchen Umständen du ja sagst. Ich bin bereit, dir für deine Hälfte der Boutique ein großzügiges Angebot zu machen, aber das kann ich nur, wenn du mir auch zuhörst.«

Was Natalie anging, so würde ein wirklich großzügiges Angebot einschließen, dass Didi Pamela den Laufpass gab und zu ihr zurückkehrte. Welche Differenzen sie auch gehabt hatten, sie konnten einen Neuanfang machen und für alles eine Lösung finden. Sobald ihre Beziehung wieder im Lot war, würde Natalie sogar in Erwägung ziehen, das Geschäft nach New York zu verlegen. »Wir werden darüber sprechen.«

»Versprochen?«

»Versprochen«, sagte sie schroff und fühlte sich wegen ihres Tons sofort schuldig. »Ich verspreche, dass wir uns zusammensetzen, wenn wir wieder in Rochester sind. Aber während dieser Reise wollen wir uns mit unseren Freundinnen amüsieren.« Sie bückte sich und griff nach ihrer Tasche.

»Das ist meine.«

»Ist es nicht. Deine hat die –« Sie nahm das Schild genauer in Augenschein und verglich die Kabinennummer. »Verdammt!«, fluchte sie innerlich. Nicht genug, dass sie zusammen auf Kreuzfahrt gingen. Didi und Pamela hatten auch noch die Kabine direkt neben ihrer.

2

Kelly nickte anerkennend, als sie die Kabine betrat, die mit Einbaumodulen in rotbraunem Kirschholz zweckmäßig ausgestattet war. Zu ihrer Rechten befand sich ein kleines Bad mit Toilettennische und Duschkabine. Auf den Doppelbetten, die durch einen Nachttisch getrennt waren, lagen freundlich aquamarinblaue Überdecken, die zu den Vorhängen der Tür passten, die zum Balkon hinausführte. Eine kleine Couch und ein Tischchen standen an der Wand zwischen den Betten und der Glasschiebetür. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich ein Schminktisch, eine Kommode und ein Schreibtisch, über dem ein kleiner Fernseher hing.

Die Kabine war kaum geräumig zu nennen, bot aber mehr Raum, als die Navy vier Besatzungsmitgliedern an ihrem Stützpunkt in Key West zugestanden hatte. Kelly zog den Reißverschluss ihres Seesacks auf, nahm ihren Toilettenbeutel heraus und stellte ihn auf das Regal neben dem Waschbecken. Sie lächelte, hielt ihre Hand unter den Wasserhahn und glättete den Haarwirbel über ihrer Stirn.

Dann räumte sie methodisch ihre Kleidung ein, sortierte Unterwäsche und Pyjamas hierhin, Strand- und Sportsachen dorthin. Anschließend zog sie drei frischgestärkte weiße Hemden hervor, die fein säuberlich in einem Wäschesack eingerollt waren, um sie vor Knitterfalten zu schützen. Die letzten Dinge – Khaki-Chinos, legere Denimjeans, zwei Stoffhosen, einen Abendanzug und eine schwarze Seidenweste – waren ebenso sorgsam verstaut gewesen und vollkommen knitterfrei.

Sie hängte einiges in den Schrank, legte den Rest in die große unterste Kommodenschublade und ließ die oberen drei frei. Sie dachte sich, dass Natalie, ihre Kabinengenossin, den zusätzlichen Platz sicher zu schätzen wüsste – und die Bequemlichkeit, sich auf engstem Raum nicht bücken zu müssen. Natalie sollte sich auch aussuchen, welches Bett sie gern haben wollte.

Ihre letzte Tat – auf die sie sich am meisten gefreut hatte – bestand darin, ihre Uhr abzunehmen und sie auf die Frisierkommode zu legen. Während der nächsten zwölf Tage würde Zeit keine Rolle für sie spielen.

Sie vergewisserte sich, dass sie ihre Schlüsselkarte einstecken hatte – die sie auch brauchte, um an Bord zu bezahlen und nach einem Landgang wieder an Bord zu gehen – und stieg die zwei Treppen hinunter zur Galerie des Internetcafés, die sich um das große Atrium zog. Yvonne stand schon an der Reling und beobachtete die Neuankömmlinge, wie sie an Bord kamen.

»Ist ihre Maschine gut gelandet?«

»Ja, ich habe gerade mit Steph gesprochen. Sie sind vor ungefähr einer Stunde gelandet und stiegen gerade am Ablegeterminal aus dem Bus. Sie müssten jeden Moment auftauchen.«

Kelly beugte sich vor, als zwei Frauen an Bord kamen. »Na, das ist ja das schrägste Paar, das ich je gesehen habe.« Die eine hatte knallrotes Haar und schäumte geradezu über vor Aufregung und Ehrfurcht. Die andere, gesetzt und mit braunem Haar, war beträchtlich jünger und zurückhaltender. Sie war schwer beladen mit Handgepäck, einschließlich einer riesigen Fototasche, aus der ein vertrautes Buch herauslugte. »Habe ich das Buch nicht letztens auf deinem Küchentresen liegen sehen?«

Yvonne kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, Steph hat das. Eine dieser Anthologien lesbischer Erotik.«

»Dann können wir wohl davon ausgehen, dass die beiden zur Familie gehören.«

»Sehe ich auch so. Ein echt schräges Pärchen.«

Kelly fiel die Kinnlade herunter, als eine wohlgeformte Frau mit langen blonden Haaren an Bord kam. »Bitte sag, dass das Natalie ist.«

Yvonne schnaubte. »Nicht ganz.«

Eine zweite Frau, elegant, Mitte vierzig, schätzte Kelly, deren kurzes Haar blonde Highlights aufwies und modisch gestylt war, tauchte aus dem Durchgang auf und trat neben sie.

»Die Jüngere ist Pamela, und die andere, die aussieht, als warte sie auf jemanden, der sie die Stufen zum Thron hinaufträgt, ist Didi.«

»Ich muss schon sagen, ein eindrucksvolles Paar«, erwiderte Kelly, als die beiden Frauen in einen Fahrstuhl traten und aus ihrem Blickfeld verschwanden.

»Wenn du Pamela angräbst, bringt Didi dich um.«

Kelly lachte. »Ich betrachte mich als gewarnt.«

»Da kommt deine Kabinengenossin.« Yvonne winkte und versuchte die Aufmerksamkeit der beiden Frauen, die eben das Atrium betraten, auf sich zu lenken, aber vergeblich.

Kellys Blick ging erst zu Steph, dann zu einer großen Frau mit kurzem schwarzem Haar. »Natalie sieht aus wie eine Läuferin.«

»Das ist nicht Natalie«, sagte Yvonne, als ein Mann erschien und die große Frau beim Arm ergriff. »Natalie ist die in dem beigen Pullover.«

Kelly blickte ein Stück weiter zu einer schlanken Frau mit üppigem rotbraunem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel und ihr Gesicht einrahmte. Aus der Entfernung von zwei Stockwerken sah Natalie recht attraktiv aus, stach aber nicht so ins Auge wie Pamela oder Didi. Sie wäre noch hübscher gewesen, wenn sie nicht so grimmig dreingeschaut hätte. »Sieht sie immer so glücklich aus?«

»Um die Wahrheit zu sagen: Sie ist in letzter Zeit ziemlich knatschig wegen Didi. Ich hoffe bloß, dass es durch diese Reise nicht noch schlimmer wird.«

»Warum macht sie die Kreuzfahrt dann überhaupt mit?«

Yvonne zuckte die Achseln. »Sie und Didi arbeiten ja immer noch tagtäglich zusammen, deshalb glaubt sie vermutlich, sie kriegt das mit dem gemeinsamen Urlaub schon hin. Außerdem sind sie und Steph beste Freundinnen. Ich wundere mich, dass du nicht mich als Kabinengenossin bekommen hast.«

Ihren hängenden Schultern nach zu schließen, war Natalie nicht nur knatschig, sondern auch noch müde. Außerdem sah sie aus wie jemand, die alle Freundinnen brauchte, die sie bekommen konnte, und das war etwas, das Kelly gut verstand. Wenn sie dazu beitragen konnte, dass Natalies Stimmung sich aufhellte und sie selbst womöglich eine neue Freundin gewann, dann würde diese Reise umso erinnernswerter sein.

»Ich gehe mal nach unten und sehe in unserer Kabine nach Steph. Warum gehst du nicht auf einen Drink aufs Pooldeck, und wir bringen Natalie mit, damit ihr euch kennenlernt?«

»Okay, aber lass dich von deiner Freundin nicht so sehr ablenken, dass du mich vergisst.«

Natalie runzelte die Stirn, als sie an Didis und Pamelas Kabine vorbeikam. Mehr als tausend Kabinen auf diesem Dampfer, und sie musste die Kabine gleich nebenan haben.

Ihre Stimmung, die seit dem Aufstehen morgens um vier bei fünfzehn Zentimeter Schnee im Keller gewesen war, hob sich, als sie die Kabine betrat. Die Innenausstattung bot einen gelungenen Balanceakt zwischen Zweckmäßigkeit und Komfort und erzeugte ein heiteres Ambiente. Natalie durchquerte den Raum, öffnete die Glasschiebetür und trat auf den Balkon hinaus, der ihr einen großzügigen Blick auf die hochaufragenden Hotels von Miami Beach erlaubte.

»Großartig, nicht?« Links von ihr standen Didi und Pamela an der Reling.

Nostalgie überkam sie, während sie stumm nickte. Obwohl sie Didi und Pamela schon oft zusammen gesehen hatte, war sie eifersüchtiger denn je, denn für die beiden war die Reise eine romantische Auszeit, während sie selbst überzählig war. Steph hatte zwar versprochen, ihr Gesellschaft zu leisten, weil Yvonne das Casino besuchen und mit ihrem Kumpel tauchen gehen wollte, aber mit der besten Freundin abzuhängen war etwas anderes als mit einer Geliebten den Mond über karibischen Gewässern zu betrachten.

Sie schüttelte den Gedanken ab und kehrte in die Kabine zurück. Ihr Blick fiel auf die Uhr, die auf der Frisierkommode lag. Das hieß wohl, dass ihre Kabinengenossin schon hiergewesen war.

Sie öffnete den Schrank und musterte den dunklen Anzug, die weißen Hemden, die schwarzen Anzugschuhe und die Sneaker. Keine Röcke, keine Kleider. Keine Pumps. Keine leuchtendbunten Hawaiihemden. »Na super. Eine Leichenbestatterin als Kabinengenossin.«

Natalie konnte dem Drang nicht widerstehen. Sie zog die Schubladen auf, bis sie auch die übrigen Dinge ihrer Mitbewohnerin gefunden hatte: Cargo-Shorts, noch mehr Hemden, Tank Tops in verschiedenen Farben und einige Boxer-Shorts, wie sie ein Teenager tragen mochte. Nicht sehr abwechslungsreich, überhaupt kein Flair.

Im Bad fand sie etwas, das aussah wie der Rasierbeutel eines Mannes. Schuldbewusst angesichts ihrer Schnüffelei schaute sie dennoch hinein. Darin befanden sich ein Rasierer, Sonnencreme, Babyshampoo und alles für die Zahnpflege. Nicht das geringste Make-up. Keine Gesichtscreme. Keine Feuchtigkeitscreme. Wie konnte eine Frau ohne Feuchtigkeitscreme überleben?

Als es an der Tür klopfte, ließ sie das Necessaire erschrocken fallen. Schnell hob sie es auf und stellte es auf die Ablage zurück.

Es war Steph. »Gefällt dir deine Kabine?«

»Prima. Wo seid ihr?«

»Wir sind eine Etage tiefer. Und wir haben keinen Balkon, nur ein großes Fenster.«

»Ihr könnt jederzeit kommen und unseren benutzen, wenn es euch nichts ausmacht, dass Pamela und Diva gleich nebenan wohnen.«

»Du meinst Didi.«

»Sag ich doch.«

Steph lachte. »Vielleicht funkt es ja zwischen dir und deiner Kabinengenossin – dann könnt ihr die beiden die ganze Nacht mit eurem Gestöhne wachhalten.«

Natalie schauderte und öffnete die Schranktür, um Steph die schlichte Kleidung zu zeigen. »Ich glaube kaum. Irgendwas sagt mir, dass sie nicht mein Typ ist.«

»So würde Yvonnes Kleiderschrank auch aussehen, wenn ich ihr nicht die Sachen kaufen würde, in denen ich sie sehen möchte.« Sie schloss die Schranktür und öffnete die Kabinentür. »Lass uns nach oben gehen und die anderen begrüßen. Yvonne schlug vor, dass wir uns alle auf dem Pooldeck zu einem Drink treffen. Zeit, die Party in Gang zu bringen.«

»Du hast vollkommen recht«, erwiderte Natalie mit wachsender Entschlossenheit. Sie schickte sich an zu gehen, wandte sich dann aber noch einmal um, nahm ihre Uhr ab und legte sie neben die andere auf die Frisierkommode.

Steph war völlig außer Atem, als sie über die mit Teppich ausgelegten Stufen auf Deck 11 anlangten. »Ich fasse es nicht – ich habe null Kondition.«

»Du könntest den Urlaub nutzen, um wieder in dein Fitnessprogramm einzusteigen.«

»Warum sollte ich? Wenn ich nicht esse, will ich im Liegestuhl liegen und lesen. Und künftig nehme ich vielleicht einfach den Fahrstuhl.«

»Albernes Huhn. Es waren doch nur zwei Treppen.«

»Yvonne steht da drüben an der Reling.«

Natalie erblickte das vertraute Gesicht, konnte die Frau dahinter allerdings nicht richtig ausmachen. Sie sah nur lange Beine in olivgrünen Cargo-Shorts und Sandalen.

Yvonne winkte und stieß die Frau neben sich mit dem Ellbogen an.

Die Frau richtete sich auf und lächelte in ihre Richtung. Beim Anblick ihrer Erscheinung wäre Natalie fast stocksteif stehengeblieben. Sie war groß und schlank, ihr dunkelbraunes Haar war nirgendwo auf dem Kopf länger als zwei Zentimeter, und unter ihrem weißen Hemd trug sie nichts als ein schwarzes Tank Top.

»Bist du sicher, dass das eine Frau ist?«, fragte Natalie Steph, möglichst ohne ihre Lippen zu bewegen und heftete sich ein Lächeln ins Gesicht.

»Sei nett.« Steph legte Yvonne den Arm um die Taille und wandte sich um, um die anderen einander vorzustellen.

Natalie wartete nicht darauf. »Du musst Kelly sein.«

»Schuldig«, antwortete diese und bot ihr die Hand an. Ihre kristallklaren blauen Augen blickten fest in Natalies. »Und du musst Natalie sein. Ich freue mich, dass du mit von der Partie bist.«

»Ja … ja, danke«, stammelte Natalie. »Danke, dass du angeboten hast, deine Kabine mit mir zu teilen.«

»Sie ist ja nicht groß, aber ich glaube, wir haben Platz genug. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass wir uns viel dort aufhalten werden, wo es an Bord so viel zu unternehmen gibt.«

Natalie plante auf der Stelle all die Dinge, die sie unternehmen würde, um sich beschäftigt zu halten. Die Vorstellung, Zeit mit Didi und Pamela zu verbringen, erschien ihr gar nicht mehr so abwegig. »Und so viele Häfen … Ich wette, wir werden kaum etwas voneinander sehen.«

»Außer dass wir jeden Abend wie die Kühe zum Stall zum Dinner streben.«

Ein entzückendes Bild, dachte Natalie.

Ein Kellner blieb stehen, um ihnen eisgekühlte Getränke in Erinnerungsgläsern anzubieten.

»Diese Runde geht auf mich«, sagte Kelly gutgelaunt. »Ich empfehle den Rum Runner. Das ist der rote.«

Natalie pflückte sich ein Glas vom Tablett. »Auf eine gute Zeit.«

»Und neue Freundinnen«, erwiderte Kelly.

Kelly stopfte sich das Hemd in die Hose und zog den Reißverschluss ihrer Chinos hoch, die ihr locker auf den Hüften saßen. Die Hosen stammten aus der Zeit, als eine Knieverletzung sie zu einer Joggingpause gezwungen hatte. Innerhalb von zwölf Wochen hatte sie acht Pfund zugenommen, diese aber rasch wieder verloren, als sie ihr Trainingsprogramm wieder aufnahm. Sie gab es auf, ihren Haarwirbel glätten zu wollen und trat auf den Balkon, um auf Natalie zu warten, die sich im Bad zum Dinner ankleidete. Wie sie das in dem winzigen Raum schaffte, war Kelly ein Rätsel, aber sie wusste es zu schätzen, dass nicht alle Menschen jede Schamhaftigkeit abgelegt hatten, wie es bei ihr nach vier Jahren Navy der Fall war.

Natalie war eine interessante Frau und aus der Nähe betrachtet noch viel attraktiver, als es von der Galerie über dem Atrium aus den Anschein gehabt hatte. Ihr Haar war glänzend und geschmeidig, und das Rotbraun brachte ihre wunderschönen grünen Augen gut zur Geltung. Gewöhnlich stand Kelly nicht auf Make-up, aber Natalie trug genau die richtige Menge – sie betonte ihre natürlichen Vorzüge, übermalte sie aber nicht. Sie besaß eine straffe Figur, doch bei näherem Hinsehen waren wohlgeformte Hüften und hohe kurvenreiche Brüste auszumachen. Nicht dass Kelly darauf geachtet hätte.

Irgendwie hatten sie anscheinend keinen guten Start gehabt. Seit ihrer ersten Begegnung am Pool hatte Natalie sich eng an Steph gehalten, als hätten die beiden nicht schon den ganzen Tag miteinander verbracht. Selbst während der obligatorischen Sicherheitseinweisung hatte sie lieber mit ihrer Ex geplaudert, als die Gelegenheit zu nutzen, Kelly näher kennenzulernen. Es war schwer, nicht auf die Idee zu kommen, dass sie irgendwas an Kelly abstoßend fand … Und das musste ihre äußere Erscheinung sein, denn etwas anderes gab es nicht.

Das war eine weitverbreitete Reaktion, die Kelly schon vor Jahren akzeptiert hatte – als Konsequenz ihrer Entscheidung, sich in Bezug auf ihr Aussehen nicht der Norm zu beugen, sondern ihrem Wohlbefinden Vorrang einzuräumen. Schon als Kind hatte sie sich den Bemühungen ihrer Familie widersetzt, sie wie andere Mädchen anzuziehen, und sich sogar selbst das Haar kurzgeschnitten. Dafür war sie bestraft worden, was sie aber hingenommen hatte, um ihr Selbstbild zu wahren. Doch Reaktionen wie Kims beim Check-in oder Natalies ließen sie nicht unberührt.

Natalie trat in adretten Leinenhosen und einem ärmellosen Top aus dem Bad. Sie schlang sich einen langärmeligen Strickpulli um die Schultern und schlüpfte in ein Paar Sandalen. Ihre Füße waren wie ihre Hände – lang und zartgliedrig, mit leuchtendrotem Nagellack. »Bist du fertig?«

»Ja. Du siehst sehr hübsch aus.«

Ihre Augen begegneten sich kurz. Dann sah sich Natalie nach ihrer Handtasche um. »Danke. Ich habe Sachen eingepackt, die ich gut miteinander kombinieren kann, damit ich nicht zweimal dasselbe Outfit tragen muss.«

»Ich bin sicher, wir alle werden unsere Sachen zweimal tragen«, erwiderte Kelly. Sie würde alle vier Tage waschen oder nackt herumlaufen müssen. »Und selbst wenn ich jedesmal etwas anderes anziehe, wird es vermutlich doch so ähnlich aussehen wie das, was ich am Tag zuvor anhatte.«

»Ich glaube, Didi und Pamela haben genug dabei, um sich fünfmal am Tag umzuziehen, ohne irgendwas zweimal zu tragen. Ich habe keine Ahnung, wo sie das alles unterbringen.«

»Ich habe Pamela auf dem Balkon gesehen. Mir war nicht klar, dass sie gleich nebenan sind.«

Natalie schnaubte. »Das ist einer dieser kosmischen Späße, die Gott sich gern mit Natalie Chatham erlaubt.«

»Falls es dich tröstet – ich schnarche nicht, ich brauche nicht viel Platz, ich lasse meine Sachen nicht herumliegen und ich nehme das Bad nicht stundenlang in Beschlag. Im Grunde bin ich wie ein Cockerspaniel, nur dass meine Ohren beim Trinken nicht nass werden.« Sie wusste das kleine Lächeln, das sie erntete, zu schätzen.

»Ich werde versuchen, all das auch nicht zu tun … Nur wenig Platz beanspruche ich nicht gerade. Ich habe sämtliche leeren Schubladen in Beschlag genommen und jeden freien Kleiderbügel, und meine Sachen sind im ganzen Bad verteilt.«

»Kein Problem.« Kelly hielt Natalie die Tür auf und folgte ihr den engen Korridor entlang zu der Treppe mittschiffs, die zum Hauptspeisesaal auf Deck 5 hinunterführte.

Als sie den Speisesaal betraten, kamen sie an dem Paar vorbei, das Kelly vorher schon aufgefallen war. Sie nickte der jüngeren Frau zu und sah, dass deren rothaarige Begleiterin Natalie anstrahlte, die jedoch weiterging, ohne es zu bemerken.

Die anderen saßen bereits an einem runden Tisch am Fenster.

»Tut mir leid, dass wir uns verspätet haben«, sagte Natalie und griff nach dem Stuhl neben Steph.

Kelly warf einen flüchtigen Blick zum Fenster hinaus. Der Sonnenuntergang hatte den Himmel in Flammen gesetzt. Natalies Aussicht würde von den Vorhängen halb verdeckt sein. »Setz dich hierher, Natalie. Hier hast du einen besseren Ausblick.«

Natalie lächelte schüchtern und wechselte zu dem angebotenen Platz.

»Schöne Hose«, bemerkte Didi, die Kellys Chinos musterte. »Länge zweiunddreißig?«

»Einunddreißig Regular«, erwiderte diese amüsiert. Didis Herablassung angesichts der Männerhosen entging ihr keineswegs. »Fang keine Modediskussion mit mir an. Alles, was ich darüber weiß, habe ich in der Navy gelernt.«

»Ach, wie interessant«, antwortete Pamela. »Warst du auf einem Schiff wie diesem hier?«

»Ich habe nicht viel Zeit auf See verbracht, und nie auf einer Lady wie … ich meine, einem Schiff wie diesem. Ich war die meiste Zeit am Marinestützpunkt in Key West stationiert.«

»Was genau hast du da eigentlich gemacht?« Steph und Yvonne stießen sich gegenseitig in die Rippen, weil sie dieselbe Frage gestellt hatten.

»Ich war bei den SeaBeas, das sind die Bautruppen der Navy. Die meiste Zeit haben wir Gebäude auf dem Stützpunkt errichtet. Und zwischendurch war ich für sechs Monate in Dubai und habe an einer Flugpiste mitgebaut.«

Natalie sah sie neugierig an. »Das muss enttäuschend gewesen sein – zur Navy zu gehen und dann die ganze Zeit Sachen zu bauen, die mit dem Meer nicht das Geringste zu tun haben.«

Kelly schüttelte ihre Serviette auf und legte sie sich auf den Schoß. Dann beugte sie sich vor und sah von einer zur anderen, während sie sich an den ganzen Tisch wandte. Nur Didi schien kein Interesse an ihrer Antwort zu haben. »Keineswegs. Ich hatte gerade meinen Abschluss als Bauingenieurin gemacht, von daher passte das gut. Vielleicht hätte ich bei der Navy Karriere gemacht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. So aber bin ich heimgekehrt und habe ihn bei der Leitung seiner Firma unterstützt – er war Generalunternehmer –, aber er ist vor einigen Jahren gestorben, und dann habe ich meinen Anteil an der Firma meinem Bruder verkauft und bin nach Rochester gezogen.«

»Na, wenn das keine gute Idee ist«, sagte Didi. »Den eigenen Firmenanteil an einen Partner zu verkaufen.«

Natalie drohte ihr von der anderen Seite des Tisches aus mit dem Finger. »Du hattest versprochen, das Thema ruhen zu lassen.«

Didi hob die Hände. »Entschuldige.«

Kelly erinnerte sich daran, dass Yvonne ihr erzählt hatte, Didi wolle Natalies Anteil an der gemeinsamen Firma übernehmen, und sie bereute, das Thema angeschnitten zu haben. »Dieses Wetter bringt die Erinnerung an die Zeit in Key West zurück. Im Sommer war es echt heiß, aber den Schnee im Januar habe ich kein Stück vermisst.«

Didi stöhnte und erzählte, wie problematisch es am Morgen auf dem Flughafen in Rochester gewesen war. Während sie sprach, registrierte Kelly amüsiert, dass sie und Pamela sich nicht nur für die Sailaway-Party umgezogen hatten, sondern auch noch einmal zum Abendessen.

Während des Dinners plauderten die sechs Frauen angeregt über ihre Pläne – nicht nur was das Schiff anging, sondern auch die verschiedenen Häfen. Kelly war froh zu hören, dass Yvonne zu allem aufgelegt war, was mit Wasser zu tun hatte. Steph sagte, sie würde überlegen, vom Strand aus zu schnorcheln, aber nicht von einem Boot aus. Didi, Pamela und Natalie wollten sich gar nicht ins Wasser begeben – sie wollten nur am Strand liegen und sich sonnen.

»Möchtest du meine Crème brûlée probieren?«, fragte Kelly Natalie, die ihre Schokoladentorte nur gekostet hatte. »Du scheinst mit deinem Nachtisch nicht glücklich zu sein, und mir ist das viel zu viel.«

»Bist du sicher?«

Kelly schob ihr den Teller hin. »Nur zu.«

Natalies Gesicht hellte sich auf, als sie kostete. »Das ist viel besser als das, was ich bestellt habe.«

»Iss es auf.« Kelly schenkte ihr noch eine Tasse koffeinfreien Kaffee ein und sah zu, wie Natalie Sahne und Süßstoff hinzugab. Ihr machte es Freude, Natalie Freude zu bereiten. »Hat irgendjemand Pläne für heute Abend? Ich glaube, um acht tritt eine Zauberkünstlerin auf.«

»Ich schau mal im Casino vorbei«, meinte Yvonne. »Ich weiß ja nicht, wie munter ihr alle überhaupt noch seid.«

»Steph und ich gehen in die Ladenpassage und schauen uns Badeanzüge an«, sagte Natalie.

Didi schob ihren Stuhl zurück und wartete, bis Pamela aufstand und ihre Hand nahm. »Wir ziehen uns zu einer Privatparty in unsere Kabine zurück.«

Kelly sah aus dem Augenwinkel, wie Natalie die Lippen zusammenpresste. »Als eure nächste Nachbarin kann ich nur hoffen, dass ihr es ernst meint, was den privaten Part angeht.«

Didis empörte Miene war unbezahlbar, aber Natalies zufriedenes Grinsen toppte alles.

3

Natalie schob vorsichtig eine Hand unter der Bettdecke hervor, um sich die Nase zu kratzen, und war irritiert von dem ungewohnten Liegegefühl. Sie drehte sich auf den Rücken und versuchte sich in der fremden Umgebung zu orientieren – sie lag in einem der beiden Betten in einer Kabine an Bord der Emerald Duchess. Entweder hatte sich der leichte Seegang gelegt, der sie am Abend zuvor in den Schlaf gewiegt hatte, oder sie hatte sich bereits an das stete Schwanken gewöhnt.

Sie setzte sich auf und blinzelte, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Das einzige Licht drang an den Rändern der Verdunklungsgardine ein. Ihre Kabinengenossin war fort. Das überraschte Natalie, denn es war schon nach Mitternacht gewesen, als Kelly auf Zehenspitzen hereingeschlichen war, und die Digitaluhr zeigte jetzt zehn nach sieben an. Wenn das Kellys Vorstellung, sich eine Kabine zu teilen, entsprach, dann war Natalie sehr damit einverstanden.

Ehrlich gesagt, über Kelly konnte sie sich nicht beklagen. Doch ihre geheime Wunschphantasie, sich auf ein kleines Abenteuer mit ihrer Kabinengenossin einzulassen, nur um Didi eines auszuwischen, war hundertprozentig geplatzt, da sie diese Art Frau nicht im Geringsten anziehend fand. Das wusste Didi auch, und somit würde sie Natalie sofort durchschauen. Aber dennoch schien Kelly sehr nett zu sein, und ihr ungewöhnliches Leben würde interessanten Gesprächsstoff bieten, falls sie sich zusammen in der Kabine aufhielten.

Natalie schwang die Füße aus dem Bett und tappte vorsichtig um die Sitzecke herum, um einen Blick nach draußen zu werfen. Die Sonne stand bereits hoch, der Himmel war blau und klar, und die See verhältnismäßig ruhig. Natalie konnte nicht widerstehen – sie öffnete die Schiebetür einen Spaltbreit und atmete die warme, feuchte Luft ein. Es war das pure Glück.

Im Schrank hingen zwei Bademäntel bereit, und sie wickelte sich in einen davon ein, bevor sie auf den Balkon hinaustrat. Ein Karibik-Trip mitten im Winter war eine hervorragende Idee – eine Idee, die sie in ihren offiziellen Jahresterminplan eintragen würde, gleich neben die Inventur zum Jahresende, die Steuertermine und die Frühjahr/Sommer Fashion Week in New York. Nicht dass sie sich das jedes Jahr würde leisten können – aber es war schön, davon zu träumen. Wenn Didi je zur Vernunft kam und begriff, welch komfortables Leben sie in Rochester haben könnten, dann konnten sie sich Reisen wie diese regelmäßig gönnen.

Das Geschäft nach New York zu verlegen konnte sie beide ruinieren. Die Modewelt der Eighth Avenue war knallhart. Ein Laden, der nicht von Anbeginn seine Nische fand, konnte in sechs Monaten pleite sein, und dann wäre all ihr Kapital weg. Natürlich glaubte Didi schon längst nicht mehr, dass Natalie den Umzug nach Manhattan mitmachen würde. Seit zwei Jahren, zwei Monaten und … neun Tagen, um genau zu sein. An dem Abend hatten sie sich getrennt.

Anfangs hatte Natalie geglaubt, ihre Trennung könnte sich letzten Endes doch als Segen erweisen – als die Auszeit, die ihre Beziehung brauchte. Plötzlich kamen sie bei der Arbeit besser miteinander aus – es gab kein Gezanke mehr um jede Kleinigkeit. Die Kehrseite jedoch war, wie sie schnell begriff, dass sie sich schon bald von ihrem eigenen Unternehmen entfremdet fühlte, weil die glamouröse Modeseite des Geschäfts Didis Bereich war, während sie selbst für die betriebswirtschaftliche Seite zuständig war. Ohne die frühere Begeisterung, mit der sie jede neue Lieferung auspackte, und Didis extravagante Präsentation wurden die Kisten mit topmodischen Trapez- oder Shirtkleidern nur mehr Waren, die entweder gut gingen oder nach einem festen Zeitplan, der ihnen einen steten Zugang frischer Waren ermöglichte, reduziert wurden. Was den Glamourfaktor ihres Arbeitsbereiches anging, hätte Natalie genauso gut einen Laden für Klempnerbedarf führen können.

Trotz ihrer nachlassenden Begeisterung für die Modebranche konnte Natalie die Vorstellung jedoch nicht ertragen, sich von diesem Leben zu verabschieden und im Alter von siebenunddreißig Jahren zurück auf Los zu gehen. Erst als Pamela sechs Monate zuvor auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie begriffen, dass die Vorstellung, eine neue Geliebte zu finden, ebenso beängstigend war, wie die Vorstellung, sich eine neue berufliche Perspektive zu schaffen. Am liebsten hätte sie das Leben zurückgehabt, wie es zwei Jahre zuvor gewesen war … oder fünf oder sechs … wann immer sie und Didi noch zusammen glücklich gewesen waren.

Sie ließ sich im Liegestuhl nieder und drapierte den Bademantel so, dass die Morgensonne auf ihre Beine schien. Doch so sehr sie auch versuchte, sich zu entspannen, es war unmöglich, das Debakel zu vergessen, das aus ihrem Leben geworden war, insbesondere mit der noch frischen Erinnerung daran, wie Didi und Pamela es letzte Nacht unter großem Geseufze und Gestöhn getrieben hatten. Für das viele Geld hätte Natalie sich eine bessere Lärmdämmung gewünscht.

Die Schiebetür öffnete sich, und Kellys rotes Gesicht erschien. »Gut geschlafen?«

»Muss wohl. Ich erinnere mich an nichts.«

Kellys Abwesenheit am frühen Morgen erklärte sich von selbst, als sie in Joggingshorts, Tank Top und Turnschuhen auf den Balkon trat und zwei Tassen Kaffee in den Händen balancierte, während sie die Tür zuschob. »Du nimmst Kaffeesahne und dieses blaue Zeug, richtig?«

»Du hast mir Kaffee mitgebracht! Wie reizend!«

»Kein Ding. Ich brauche nach dem Laufen immer eine Dosis Koffein, und ich habe mitbekommen, dass du beim Dessert gestern Abend Kaffee getrunken hast.«

»Ich liebe Kaffee – ganz besonders als Allererstes am Morgen.« Genießerisch trank sie den ersten Schluck. »Ich bin Sport ja zu jeder Tageszeit eher abgeneigt, aber dass du am ersten Urlaubstag in aller Frühe aufgestanden und Laufen gegangen bist …!« Es war kaum möglich, die gut definierten Muskeln von Kellys Beinen und Schultern nicht zu bewundern. Natalie hätte wetten mögen, dass sich unter dem Tank Top ein Sixpack verbarg. Es war kein besonders weiblicher Körper, aber er war auch nicht unattraktiv.

»Mir macht das Spaß. Ich laufe jeden Morgen drei, vier Meilen, am Wochenende manchmal auch mehr. Gewichte stemmen finde ich auch nicht schlecht, aber Laufbänder kann ich nicht leiden. Zum Glück haben sie einen Jogging-Parcours auf dem Promenadendeck. Nach fünfzehn Runden habe ich vergessen zu zählen.«

Natalie schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum überrascht mich das nicht? Hier an Bord gibt’s wirklich alles. Steph und ich haben gestern Abend sogar ein Filmtheater entdeckt.«

»Prima. Vielleicht gucken wir uns die Tage mal einen Film an.« Kelly legte den Kopf in den Nacken und trank den letzten Schluck Kaffee. »Soll ich dir noch eine Tasse Kaffee holen, bevor ich duschen gehe?«

»Nein, danke. Aber Kaffee gebracht zu bekommen war prima.«

»Was hast du heute vor?« Der Reiseplan sah vor, dass sie den ganzen Tag auf See waren – mit Ziel San Juan.

»Ich habe Didi und Pamela zugesagt, mit ihnen ins Spa zu gehen. Zum – ich kann es selbst kaum glauben – Wachsen der Bikinizone. Ich habe Steph das Versprechen abgerungen mitzugehen. Wenn sie nicht auftaucht, bin ich auch verschwunden.«

Kelly lachte. »Ja, ich verstehe, dass man dafür moralische Unterstützung braucht. Übrigens, diese sogenannte Privatparty von Didi und Pamela – das war der Grund, warum ich gegangen und so lange weggeblieben bin.«

»Ich habe die beiden gehört, als ich reinkam. Das ganze verdammte Schiff hat sie vermutlich gehört. Es klang, als hätte man einen Hund und eine Katze zusammengebunden«, erwiderte sie und konnte kaum verhehlen, wie peinlich berührt sie war.

»Wenn du mich fragst – ich glaube, dass war alles nur Show.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht. Es klang einfach gekünstelt – als wäre es viel lauter, als es eigentlich hätte sein müssen.«

Natalie spürte, wie ihr das Gesicht brannte bei der Vorstellung, dass Didi das Ganze nur inszeniert hatte, um sie zu demütigen. Wenn das der Fall war, dann war das ein Zeichen dafür, dass der Wind rauer wurde. Didi hatte sich schon einiges geleistet – sie war überkritisch gewesen, herablassend, anstrengend, aber nicht absichtlich gemein.

Auf der Suche nach einem freien Liegestuhl schlenderte Kelly im schattigen Bereich des Pooldecks umher. Anders als den meisten Gästen war ihr nicht daran gelegen, braun zu werden. Während ihrer Zeit in Key West hatte sie Hunderte von Frauen gesehen, die weit älter aussahen als sie waren, weil sie sich zu sehr der Sonne ausgesetzt hatten. Außerdem – wenn sie sich in Cargo-Shorts und Tank Top sonnte, würde es doof aussehen, wenn sie anschließend etwas anderes trug.

Eine Frau in ihrer Nähe sammelte ihre Sachen zusammen und ging, und Kelly schnappte sich ihren Liegestuhl. Sie freute sich, als sie feststellte, wer neben ihr saß: die junge Frau, die sie zusammen mit der Rothaarigen gesehen hatte. »Hallo, ich habe dich gestern Abend beim Dinner gesehen.« Sie streckte die Hand aus. »Kelly Ridenour.«

»Tach, Mensch. Jo Atkinson.«

»Ah, Australierin.« Kelly wusste die Begrüßungsfloskel richtig zuzuordnen. »Woher kommst du?«

»Brisbane. Kennst du das?«

»Nein, aber es steht auf meinem Wunschzettel. Du hast ja einen langen Weg hinter dir.«

Jo nickte und legte ihr Buch beiseite. »Ich bin mit meiner großen Schwester unterwegs. Sie wollte noch mal richtig einen draufmachen, bevor sie fünfzig wird.«

Schwestern – das erklärte den vertraulichen Umgang der beiden miteinander, dachte Kelly. »Wie ich sehe, liest du das gleiche Buch wie eine der Frauen aus meiner Gruppe. Sie verschlingt diese Bücher geradezu, und ich glaube, sogar ihre Partnerin schnappt sich manchmal eines davon.« Das war Kellys Art, die lesbischen Karten auf den Tisch zu legen.

Jo grinste wissend. »Ich habe einen ganzen Koffer voll mit. Ich bin ein Liebesroman-Junkie.«

»Und wo ist deine Freundin?«

»In meinem Fall gibt’s keine Freundin. Die kriegt meine Schwester Julie immer alle ab.«

»Deine Schwester ist auch lesbisch?«

»So ist es. Scheint doch genetisch zu sein.«

Mit ihrer Sonnenbrille auf der Nase sah Kelly zu, wie Natalie an Deck kam und ihr Handtuch auf einem Liegestuhl am Pool ausbreitete. Sie war so in die Betrachtung versunken, wie Natalie sich aus ihrem Pareo wickelte, unter dem ein blauer Bikini zum Vorschein kam, dass sie nicht mitbekam, was Jo gesagt hatte. »Wie bitte?«

»Ich sagte, die hübschen Mädel kriegen immer die hübschen Mädel ab.« Jo griff nach ihrem Glas mit dem spiralförmigen Strohhalm und trank einen Schluck Frozen Lemonade. »Sieh selbst.«

Während Kelly sich Jo zugewandt hatte, war die rothaarige Schwester erschienen und hatte den Liegestuhl neben Natalie in Beschlag genommen.

»Fremde kennt Julie nicht. Sie könnte Unterricht im Flirten geben.«

»Sie hat demnach auch keine Freundin?«

»Sie hat Dutzende.«

»Dutzende?« Kelly fand den Gedanken alarmierend, dass Natalie einer australischen Nymphomanin zum Opfer fallen könnte, die es einzig auf ein sexuelles Abenteuer abgesehen hatte, und sie verspürte den wilden Drang, zu ihr zu eilen und ihr eine Warnung zuzuflüstern. Dann schaltete sich ihr gesunder Menschenverstand wieder ein, und sie schüttelte den Kopf angesichts ihrer Überreaktion. Wenn Natalie sich an Bord mit einer attraktiven Frau anfreunden wollte, war das ihr gutes Recht. »Wie kommt’s, dass du keine Freundin hast? Julie lässt doch sicher die eine oder andere übrig?«

Jo zuckte die Achseln. »Es gibt da eine, die mir gefällt, aber ich weiß nicht, wie sie mich findet. Tja … Ich glaube, sie mag mich schon, aber vielleicht nicht so. Sie hält mich wahrscheinlich bloß für eine gute Freundin.« Die mangelnde Zuversicht stand Jo ins Gesicht geschrieben.

»Vielleicht fragt sie sich aber auch, warum du dich nicht mit ihr verabredest.«

»Weil ich ein Schisshase bin.« Sie hob ihr Buch hoch. »Ich lebe in dieser Welt.«

Plötzlich tauchte Julie bei ihnen auf, schnappte sich den Drink ihrer Schwester und nahm einen großen Schluck. »Gottverdammt heiß hier draußen.«

Jo stellte sie einander vor. »Soll ich dich darauf hinweisen, dass deine zehn Minuten in der Sonne neun Minuten zu lang waren?«

»Ich weiß, aber sie war so süß.« Julie sah Kelly an und wies mit dem Kopf zu Natalie hinüber. »Findest du nicht, dass sie süß ist?«

»Ich finde, sie ist …« Sie wandte sich zu Natalie um und sah, wie Steph sich auf die Liege neben ihr fallen ließ. »Ich finde, sie ist sehr süß.«

»So lässt sich’s aushalten, oder?«, meinte Steph und unterschrieb den Beleg für ihre Bloody Mary. Ihr Badeanzug war ein Einteiler mit einem grün-gelben Blumenmuster. »Yvonne war im Internetcafé und hat gelesen, dass in Rochester letzte Nacht noch mal fünfzehn Zentimeter Schnee gefallen sind.«

Natalie nahm ihren Orangensaft und stieß mit Steph an. »Als ich heute Morgen auf dem Balkon saß, dachte ich, dass ich das jeden Winter machen möchte.«

»Können wir doch! Du verkaufst an Didi, und wir gehen alle zusammen auf Kreuzfahrt, bis dir das Geld ausgeht.«

»Sehr witzig.«

»Im Ernst, Nat. Ich weiß nicht, warum du mit dem Kapitel nicht endlich abschließt. Die Arbeit in der Boutique macht dir doch gar keinen Spaß mehr. Überlass sie Didi und mach was anderes.«

»Zum Beispiel? Ich habe mich aus einem tollen Job verabschiedet und alles, was ich hatte, in den Laden gesteckt.«

»Aber es war immer Didis Laden, vor allem seit er angefangen hat, Gewinn zu machen. Davor hat sie deine Investition gebraucht. Jetzt, wo sich das bezahlt macht und ihr euch den Gewinn teilt, hat sie beides – den Profit und das Prestige.«

»Und ich bin nichts. Willst du das sagen? Nachdem ich mich acht Jahre lang abgerackert habe?«

»Du bist nicht nichts. Ich denke, du hast allen bewiesen, dass du weißt, wie man ein Unternehmen zum Erfolg führt. Aber jetzt bist du unglücklich in dem Laden, warum also bleiben? Du könntest vermutlich zu Kodak zurückkehren, wenn du wolltest, oder dein eigenes Unternehmen aufziehen.«

»Ich könnte wieder glücklich werden mit meiner Arbeit. Mir gefällt nämlich, was ich tue. Mir gefällt nur nicht, wie die Sache mit Didi läuft … und mit Pamela.«

Steph lehnte sich zurück und zog ihre leuchtendgelbe Sonnenblende tiefer in die Stirn. »Ich sage es dir nur ungern, aber der Zug ist abgefahren. Außerdem ging es dir total gut mit der Trennung, bis Pamela aufgetaucht ist. Ein ganz normaler Fall von Eifersucht. Das geht vorbei.«

Das hatte Natalie sich selbst auch schon tausendmal gesagt. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass der Umzug in ihr Eigenheim in Corn Hill – ein renovierungsbedürftiger Altbau, den Steph für sie gefunden hatte – ein willkommener Neustart gewesen war nach der tristen Langeweile, die ihr Leben mit Didi zum Schluss bedeutet hatte. Anfangs hatte sie die Hoffnung gehegt, jemand Neues kennenzulernen, eine Frau, die nicht jede ihrer Entscheidungen kritisierte, wie Didi es praktisch vom Augenblick ihres Kennenlernens an getan hatte. Doch nach einigen Monaten hatte sie gemerkt, dass sie einsam war und sich nach der vertrauten Zweisamkeit, wenn nicht gar Intimität zurücksehnte. Sie hatten nach der Arbeit wieder mehr Zeit miteinander verbracht, waren zusammen essen und einkaufen gegangen, und Natalie hatte angefangen, mit dem Gedanken zu spielen, sie beide könnten wieder zusammenkommen. Dann war plötzlich Pamela aufgetaucht, und Natalies Zwiespältigkeit hatte sich in besagte Eifersucht verwandelt.

»Wie ist deine Kabinengenossin?«

Die Frage unterbrach Natalie in ihren Gedanken, und sie blickte automatisch dort hinüber, wo sie Kelly mit der jungen Australierin hatte plaudern sehen, der Schwester der attraktiven Rothaarigen, die zu ihr gekommen war und sich vorgestellt hatte. »Sie ist … ganz in Ordnung. Sie hat mir heute Morgen Kaffee gebracht.«

»Ach, wirklich?« Steph richtete sich auf und betrachtete sie interessiert.

Natalie winkte Kelly zu, als diese zu ihnen hinüber sah. »Keine große Sache. Offenbar läuft sie morgens als Erstes ein paar Runden auf dem Promenadendeck, und als sie sich einen Kaffee geholt hat, hat sie mir eben einen mitgebracht.« Natalie erzählte nicht, dass Kelly Milch und Süßstoff hinzugefügt hatte – genau so, wie sie ihren Kaffee mochte.

»Yvonne mag sie sehr. Und ich auch. Sie hat irgendwas an sich, das ich nicht genau benennen kann, aber ich wette, es macht Spaß, mit ihr zusammenzusein.«

»Was meinst du damit – sie hat irgendwas an sich?«

»Ich weiß nicht. Sie ist irgendwie so ungekünstelt – nach dem Motto: Was du siehst, ist genau das, was du kriegst. Sie täuscht nichts vor, versucht nicht, es allen recht zu machen. Es hat mir gefallen, wie sie Didis Kommentar zu ihrer Hose pariert hat – als ob es ihr völlig egal wäre, was Didi denkt.«

»Aber mal im Ernst – was für eine Frau trägt Männerhosen?«

»Sag du’s mir. Trägt sie Boxershorts oder Herrenslips?«

Natalie merkte, dass sie leicht errötete. »Keine Ahnung. Und ich habe nicht vor, es herauszufinden.«

Steph zuckte die Achseln. »Ich finde, sie ist irgendwie sexy … auf eine raue, animalische Art.«

»Seit wann das denn? Sie sieht praktisch aus wie ein Mann. Und sie unternimmt nicht den geringsten Versuch, den Leuten einen anderen Eindruck zu vermitteln. Sie könnte zumindest Ohrringe tragen oder so, damit man nicht zweimal hingucken muss, um herauszufinden, was sie ist. Ich hatte schon halb erwartet, Aftershave in ihrem Kulturbeutel zu finden.«

»Du hast in ihrem Kulturbeutel herumgeschnüffelt?«

Natalie wurde knallrot. Ihre Angewohnheit, genau das zu sagen, was sie dachte, war schon immer ein Nachteil gewesen. »Ich konnte nicht anders. Ich musste einfach wissen, wie eine Frau es schafft, ihre ganze Kosmetik in einem kleinen Necessaire unterzubringen.«

»Ich vermute, das macht einen Teil ihres Reizes aus. Yvonne ist auch so. Ich habe zehn Jahre gebraucht, um sie davon zu überzeugen, dass es in Ordnung ist, wenn eine Physiotherapeutin gelegentlich Nagellack trägt.«

»Aber Yvonne hält niemand für einen Mann. Sie hat einen modischen Haarschnitt und sie hat keine Scheu, ihre Augen ein bisschen zu betonen. Und sie kauft ihre Sachen nicht in der Herrenabteilung.«

Steph schüttelte missbilligend den Kopf. »Wie du redest … Du klingst wie Didi.«

»Quatsch!«

»Doch, tust du! Was bedeutet es schon, wie jemand aussieht, wenn sie glücklich damit ist? Ich wäre gern glücklich mit diesem Rettungsring um meine Taille. Das Leben wäre um vieles leichter, wenn ich ihn einfach akzeptieren und meine Kleider eine Nummer größer kaufen würde.«

»Still! Sie kommt.«

Kelly trat zu ihnen und nahm Natalie die Sonne aus dem Gesicht. Sie schob ihre Sonnenbrille hoch und lächelte. »Das Wetter ist kaum auszuhalten, stimmt’s?«

Steph und Natalie lachten und nickten.

»Passt auf, dass ihr euch keinen Sonnenbrand holt. Bei der steten Brise merkt man gar nicht, wie die Sonne brennt.«

»Wir bleiben nicht mehr lange«, gab Steph zurück. »Hat Yvonne dir erzählt, dass wir uns zum Mittagessen am Terrassenbuffet treffen wollen?«

Kelly nickte. »Ich werde da sein.« Sie sah Natalie an und lächelte noch einmal, bevor sie ihre Brille wieder aufsetzte und davonschlenderte.

Steph kicherte frohlockend. »Hast du den Blick gesehen? Sie hat mit dir geflirtet!«

»Blödsinn!« Natalie hatte auch den Eindruck gehabt, wenn auch nur für ein, zwei Sekunden.

»Hat sie wohl!«

»Tja, dann hat sie Pech. Sie ist nicht mein Typ.«

4

Kelly schlenderte über das Deck und suchte nach vertrauten Gesichtern. Schließlich entdeckte sie Steph und Yvonne, die bereits an einem großen Tisch knapp im Schatten saßen und aßen. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber sie war froh, dass Yvonne Shorts und ein T-Shirt trug. Zumindest war sie nicht die Einzige in der Gruppe, die kein Fashion Victim war. »Wo stecken die anderen?«

»Natalie versucht sich zu entscheiden, was sie essen möchte«, antwortete Yvonne, vor sich einen übervollen Teller mit Hühnchenstreifen, Gemüse und Brot, dazu Dessert.

»Ich habe ihr geraten, es so zu machen wie ich und von allem etwas zu probieren«, fügte Steph hinzu. Ihr Teller war bis zum Rand gefüllt mit einer Vielzahl winziger Kostproben.

Kelly war nicht an üppige Mittagsmahlzeiten gewöhnt und entschied sich für das Salatbuffet, wo Natalie bereits ihre Auswahl traf. Und wieder ertappte sie sich dabei, wie sie Natalie musterte. Sie trug nun Shorts und ein Wickeloberteil über ihrem Badeanzug, was jedoch ihre feminine Figur keineswegs verbarg. Sehr schöne Beine für jemanden, die behauptete, für sportliche Aktivitäten nichts übrig zu haben. Und dann ihre Hände – lang und schmal, mit kurzen lackierten Fingernägeln. Lesbische Hände, eindeutig.

Den ganzen Morgen schon bereute es Kelly, den nächtlichen Lärm, den Didi und Pamela veranstaltet hatten, angesprochen zu haben. Natalie war verärgert über die Sache gewesen, und das war vollkommen verständlich. Niemand wollte zuhören, wie die Ex sich mit einer anderen im Bett vergnügte. Leider schien es keine Möglichkeit zu geben, sich dafür zu entschuldigen, ohne es noch schlimmer zu machen.

Sie trat zu Natalie, als diese sich gerade bedienen wollte. »Das würde ich bleiben lassen, wenn ich du wäre«, sagte Kelly und legte ihr sachte die Hand auf den Arm.

»Das ist Waldorfsalat. Den liebe ich.«

»Ja, schon, aber …« Sie senkte die Stimme, damit das Servicepersonal sie nicht hörte. »Alles mit Mayonnaise ist ein Risiko, insbesondere bei einem Buffet, das lange der Wärme ausgesetzt ist.«

Natalie verzog enttäuscht das Gesicht.

»Vertrau mir in diesem Fall. Auf einer Kreuzfahrt krank zu werden wünscht man sich nicht gerade.«

»Da hast du recht.« Sie besah sich den Sesam-Nudelsalat auf Kellys Teller. »Wo hast du den her?«

Kelly ging mit ihr um das Buffet herum und wies sie auf einige ungewöhnliche Speisen hin. »Ich gehe nicht oft essen, aber wenn, dann nehme ich gern Dinge, die ich mir zu Hause nie mache.«

»Du kannst also kochen?«

»Gelten Mikrowellengerichte als kochen?«

Natalie sah sie ungläubig an. »Unter keinen Umständen!«

»Dann muss ich es verneinen.« Kelly legte noch einige Scheiben Cantaloupe-Melone und Ananas auf ihren Teller und wandte sich dann dem Tisch zu. »Meine häuslichen Fähigkeiten gehen mehr in Richtung Renovierungsarbeiten.«

»Das kann auch sehr praktisch sein, aber ich verstehe nicht, wie jemand, die jeden Tag läuft, sich nicht besser um ihre Ernährung kümmert.«

Kelly wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie bezweifelte, dass Natalie sich wirklich Sorgen machte, weil ihr Abendessen gewöhnlich aus Pasta mit einer Fertigsauce bestand und dem einen oder anderen Bier dazu, was ihr genug Energie für ihre Joggingrunde am nächsten Morgen lieferte. »Tja, was soll ich sagen? Jede Frau hat ein, zwei Laster, meinst du nicht?«

»Mindestens.«

Sie war enttäuscht, als sie beide ihren Tisch erreichten und Natalie sich ans andere Ende setzte.

Natalie wandte sich an Steph. »Hast du gesehen, dass sie eine Kunstauktion veranstalten? Ich überlege, hinzugehen und mir anzuschauen, was sie zu bieten haben.«

Yvonne nickte heftig. »Die Galerie ist gleich neben dem Casino. Wir haben einige ernsthafte Kunstsammler an Bord. Sie waren heute Morgen schon da und haben Fotos mit ihren iPhones gemacht.«

»Hatten sie Empfang?«, fragte Steph. Es war eindeutig, dass sie an ganz was anderem als Kunst interessiert war.

»Nein, Schätzchen. Hier draußen empfängt niemand ein Signal.«

»Dein Blackberry funktioniert an Bord nicht?«, fragte Natalie.

»Nein«, erwiderte Steph verdrossen.

»Das heißt, dass sie nicht arbeiten kann«, sagte Yvonne und stieß sie in die Rippen. »Ich liebe Kreuzfahrten!«

»Du reißt den Mund ganz schön weit auf. Dabei machst du mich zur Casino-Witwe.«

Yvonne grinste und klimperte unschuldig mit den Wimpern. »Ich habe ein System, mit dem man gegen das Haus gewinnen kann. Also gegen das Schiff. Ich hab mit hundert Mäusen angefangen und fast eine Stunde gespielt. Dann hatte ich dreißig Mäuse gewonnen, also habe ich die hundert wieder in mein Portemonnaie getan und bloß noch mit den dreißig weitergespielt. Jetzt bin ich bei fünfundsechzig.«

»Wenn du so weitermachst, hast du die Reisekosten bald wieder drin«, sagte Natalie.

»Ermutige sie nicht auch noch«, meinte Steph. »Ich habe heute Morgen festgestellt, dass meine sechs Bücher nicht für zwölf Tage reichen, wenn Yvonne praktisch im Casino lebt.«

Kelly kam in den Sinn, was Jo über den Koffer voller Bücher gesagt hatte. »Hey, ich habe heute Morgen mit einer Frau gesprochen, die meinte, sie fährt total auf diese Liebesromane ab, die du auch immer verschlingst. Vielleicht leiht sie dir ein paar.«

»War das die Frau, mit der du am Pool geredet hast?«

»Ja. Jo heißt sie. Sie kommt aus Australien. Und die Rothaarige, mit der sie zusammen ist, ist ihre Schwester Julie.«

»Die habe ich auch gesehen. Heißer Feger. Sie hat Natalie angegraben«, sagte Steph.

Natalie verschluckte sich fast an ihrem Drink. »Hat sie nicht. Sie ist nur rübergekommen und hat hallo gesagt.«

»Ich liebe ihre Aussprache. Fandest du sie nicht attraktiv?«

Kelly wartete höchst gespannt auf Natalies Antwort. Julie schien auf alle Fälle interessiert gewesen zu sein, hatte aber nicht durchblicken lassen, ob das Interesse auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Sie war ganz okay, aber ich habe kaum ein Wort verstanden von dem, was sie gesagt hat.«

Yvonne lachte herzlich. »Darauf wette ich. Ist schließlich noch gar nicht so lange her, dass du die New Yorker nicht verstanden hast.«

»Jetzt mach dich nicht auch noch darüber lustig, wie ich rede.« Natalie bewarf Yvonne mit einer Weintraube. »Weißt du, inzwischen rede ich schneller als irgendjemand in Pascagoula, und dort versteht mich kein Mensch mehr.«

Didi und Pamela kamen an den Tisch und setzten sich auf die letzten beiden freien Stühle. Ihre Teller waren mit Waldorfsalat beladen.

Kelly sah kurz zu Natalie hinüber, die ihren Blick mit einem leichten Lächeln erwiderte. »Sieht köstlich aus.«

»Ich hoffe, er schmeckt auch so«, erwiderte Didi. »Es ist nicht leicht, einen guten Waldorfsalat zu bekommen außer … nun ja, außer im Waldorf-Astoria.«

Natalie verdrehte die Augen, und Kelly zwinkerte ihr zu.

»Habt ihr heute Morgen auch das Geschrei gehört, als Steph und Natalie sich ihre Bikinizone haben wachsen lassen?«, fragte Didi. »Vielleicht dachtet ihr aber auch, das wäre die Schiffssirene.«

Steph schlug die Hände vors Gesicht. »Ich dachte, ich werde ohnmächtig.«

»Du hast dir die Bikinizone enthaaren lassen?« Ivonne sah aufgeregt aus.

»Nur an den Rändern.«

»Pamela und ich haben uns für den French Bikini Wax entschieden, was, wie ihr vielleicht wisst, heißt: fast alles.«

Kelly warf Natalie einen Seitenblick zu. Sie sah alles andere als glücklich aus.

»Und was ist mit dir, Nat?«, fragte Didi neckend. »Wo hast du die Grenze gezogen?«

»Das geht dich nichts an.« Ihrer Stimme war anzuhören, dass der Spaß vorbei war.

»Ach, nun komm schon. Uns kannst du es doch sagen. Wir erzählen es auch nicht weiter. Nun sag schon: Wo hast du die Grenze gezogen?«

»Wer sagt, dass ich eine Grenze gezogen habe?«

»Die sind sehr schön«, sagte Natalie, als sie den Stapel Bilder durchging. »Ich wünschte, ich könnte mir eines davon leisten. Mein Haus könnte ein bisschen Farbe gebrauchen.«

»Dein Haus braucht mehr als das«, wandte Steph ein. »Zum Beispiel eine neue Küche … ein neues Bad … von Schränken ganz zu schweigen. Haben die Leute früher keine Kleider gehabt?«

»Hör dir das an. Du warst doch diejenige, die mich überhaupt erst dazu überredet hat, das Haus zu kaufen. Und jetzt zählst du mir auf, was damit alles nicht in Ordnung ist.« Natalie war nicht wirklich verärgert. Sie hatte genau gewusst, dass das Haus eine Menge Arbeit erfordern würde, und anfangs hatte sie sich auch darauf gefreut, sich ans Werk zu machen. Dann war es auf der Arbeit immer schlimmer geworden und sie hatte das Interesse an dem Projekt verloren. Im Grunde hatte sie das Interesse an fast allem verloren.

Selbst die Idee, über Silvester eine Kreuzfahrt durch die Karibik zu machen, hatte sie anfangs nicht in Begeisterung versetzt. Bis Steph ihr erzählt hatte, dass Didi und Pamela auch mitkämen. Natalie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre besten Freundinnen zusammen mit ihrer Ex und deren neuer Geliebter die Inselwelt bereisen würden. Das ging gar nicht. Sich zu trennen und eine neue Beziehung anzufangen war eine Sache, aber Didi würde nicht auch noch ihre besten Freundinnen in Beschlag nehmen.

»Was ist dir über die Leber gelaufen, Nat?«

Nur zwei Menschen nannten sie Nat – Steph und Didi.

Als sie keine Antwort gab, nahm Steph ihre Hand und zog sie in eine ruhige Ecke. »Didi hat dich beim Mittagessen ganz schön gepiesackt, nicht?«

Natalie seufzte und biss frustriert die Zähne zusammen. »Wie kann sie mich bei einer so intimen Sache so in die Enge treiben und Pamela sitzt direkt daneben? Das ist einfach respektlos – uns beiden gegenüber.«

»Du weißt doch, wie sie ist. Didi kennt keine Tabus. Sie ist nicht zimperlich, und sie kapiert nicht, dass andere Leute an manchen Dingen Anstoß nehmen.«

»Wer immer sie programmiert hat, hat den Sensibilitätschip vergessen.«

»Kannst du mir mal verraten, warum es dich immer noch so sehr interessiert, was Didi denkt? Ich kapiere nicht, warum jemand mit einer Frau zusammensein möchte, die jede einzelne Minute in erster Linie an sich denkt, deren erste Worte sich immer darum drehen, dass die Farbe, die du trägst, deinem Haar nicht schmeichelt, oder dass deine Schuhe vor sechs Monaten schon out waren.«

»So habe ich das nie empfunden. Sie hat mir immer geholfen, mich gut zu fühlen. Wenn ich unter ihrem beifälligen Blick zur Tür hinausgetreten bin, dann wusste ich, dass ich spitzenmäßig aussah. Ich fühlte mich glamourös und mondän. Glaub mir, in Mississippi habe ich mich nie so gefühlt.«

»Außer bei Theresa.«

Die Parallele zwischen Didi und Natalies erster Geliebter war unausweichlich. Theresa Payne war eine Studentin höheren Semesters an der Ole Miss gewesen und hatte Natalie mit ihrer Schönheit und Kultiviertheit im Sturm erobert. »Ich kann es nicht ändern, Steph. Das ist nun mal die Art Frau, die mich fasziniert. Und was Didi angeht, habe ich schon eine Menge investiert.«

»Willst du mir erzählen, du stehst auf Frauen, die dich die ganze Zeit runtermachen?«

»Natürlich nicht. Didi verhält sich allen gegenüber so. Sie meint es nicht böse.«

»Willst du die Wahrheit hören? Wenn du nicht wärst, dann wären Yvonne und ich bestimmt nicht mit Didi befreundet. Wir haben ja kaum das erste Jahr eurer Beziehung überstanden.«

Natalies Beziehung mit Didi war schwierig, aber Liebe war nun mal Liebe, und sie konnte sie nicht einfach abschalten. »Kann ich dich was fragen, Steph? Wirst du Yvonne für den Rest deines Lebens lieben?«

»Was soll die Frage?«

»Beantworte sie einfach.«

»Na schön, die Antwort lautet: ja.«

»Was ist, wenn etwas passiert und ihr nicht mehr zusammensein wollt? Hörst du dann auf, sie zu lieben?«

Steph sah sie verdutzt an. »Ich kann mir nicht vorstellen, sie nicht mehr zu lieben.«

»Siehst du. Manche Menschen liebt man sein Leben lang. Man kann es nicht ändern, und egal, was passiert, deine Gefühle ändern sich nicht.«

»Soll das heißen, dass du nie über Didi hinwegkommen wirst?«

»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich nie aufhören werde, sie zu lieben.« Sie blickte sich um und vergewisserte sich, dass ihnen niemand zuhörte. »Ich finde es schrecklich mitanzusehen, wie sie sich mit Pamela lächerlich macht. Welche Achtundzwanzigjährige will eine Frau, die vierzehn Jahre älter ist? Wie wird Pamela sich in ein paar Jahren fühlen, wenn Didi in die Wechseljahre kommt, während sie selbst ihre Blütezeit erlebt? Ich sage dir, die Sache ist irgendwann vorbei und dann wird Didi todunglücklich sein.«

Steph schüttelte den Kopf. »Um Didi würde ich mir Sorgen machen, wenn sie wirklich total verknallt in Pamela wäre. Aber wir beide wissen es besser. Pamela ist bloß eine Trophäe, und sollte Didi todunglücklich werden, ist sie selbst schuld.«

»Es ist mir egal, wessen Schuld es ist. Ich möchte nicht zusehen, wie sie gedemütigt wird. Wir waren so nah dran« – sie zeigte einen hauchdünnen Spalt zwischen Zeigefinger und Daumen – »wieder zusammenzufinden, als Pamela anfing, dauernd im Laden aufzukreuzen. Und plötzlich fuhr Didi jedes Wochenende nach New York. Woher weiß ich, dass es Pamela nicht bloß darum geht, die Boutique zu übernehmen? Das könnte passieren, wenn ich Didi meinen Anteil verkaufe.«

»Aber es ist nicht deine Aufgabe, Didi vor sich selbst zu retten. Du musst dich um Natalie kümmern, denn sonst tut das niemand.«

Natalie blickte hoch und sah, dass Didi und Pamela die Kunstgalerie betraten und auf sie zukamen. »Wenn man vom Teufel spricht …«

»Das hast du gesagt.«

»Hallo, die Damen«, sagte Didi und schaute sich um. »Wo ist deine Kabinengenossin, Natalie? Erzähl’s mir nicht. Sie ist unten und wartet die Schiffsmotoren.«

»Sehr witzig«, entgegnete Natalie und bereute insgeheim, dass sie Didi vor Steph in Schutz genommen hatte. Sie konnte manchmal so gemein sein. »Ich kann dir versichern, dass Kelly wirklich sehr nett ist.«

»Nett mag sie ja sein, aber sie sieht ziemlich merkwürdig aus.« Didi tat, als würde sie ihren Bizeps vorführen.

»Irgendwie mag ich ihren Look«, sagte Pamela. »Er steht nicht jeder, aber Kelly macht eine wirklich gute Figur. Sie ist ja nicht klobig oder so, nur muskulös.«

»Wenn du meinst«, lenkte Didi ein und zuckte die Achseln.

Natalie war leicht geschockt. Didi wich kaum jemals von ihren Ansichten ab, und schon gar nicht, wenn es um das Aussehen anderer ging.

Pamela fuhr fort: »Vielleicht rede ich mal mit ihr und frage sie, ob sie mir einen Rat geben kann, was ich für meine Oberarme tun könnte.«

»Ich glaube, sie zeigt dir gern ihr Trainingsprogramm«, erwiderte Natalie. »Wie gesagt, sie ist sehr nett.« Sie funkelte Didi an; dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Vom Balkon aus betrachtete Kelly eine Insel in der Ferne. Sie hätte sich keinen schöneren Tag wünschen können, keine komfortablere Kabine, keine entspanntere Atmosphäre. Wenn ihr überhaupt etwas auf dieser Kreuzfahrt fehlte, dann war es Gesellschaft. Sie hatte sich ein bisschen mehr Gruppenzugehörigkeit erhofft, aber offenkundig hatten die anderen Frauen bereits ihre bevorzugten Konstellationen. Vor allem Natalie klebte geradezu an ihrer besten Freundin Steph, was wenig Gelegenheit ließ, die einzige andere Single-Frau ihrer Gruppe näher kennenzulernen. Zumindest auf Yvonne konnte sie zählen, aber sie hatte kein Interesse daran, ins Casino zu gehen. Es würde gezielte Bemühungen erfordern, in den Kreis der Freundinnen einzudringen.

Die Schiebetür der Nachbarkabine wurde mit einem lauten Knall aufgeschoben.

»Komm raus an die frische Luft!«, rief Pamela. »Vielleicht hilft das.«

»O Gott!«, murmelte Didi. »Mir ist kotzübel.«

Kelly hörte, wie Didi mit qualvollem Stöhnen wieder hineinging.

»Beeil dich da drin! Ich muss auch kotzen!«, rief Pamela.

Der Waldorfsalat? Kelly trat an die Reling und beugte sich vor. Sie sah, wie Pamela tiefe Atemzüge tat. »Alles in Ordnung mit euch beiden?«

»Nein. Irgendwas Fieses hat aus heiterem Himmel zugeschlagen und uns beide gleichzeitig erwischt.«

»Wie das?«

»Das ganze Paket – Übelkeit, Durchfall … Didi sagt, sie schwitzt wie eine Hure beim Gottesdienst.«

Seit dem Mittagessen waren fast vier Stunden vergangen, Zeit genug für nicht ganz einwandfreie Mayonnaise, tief in den Verdauungstrakt vorzudringen. »Vermutlich ist es nur eine bakterielle Infektion – vielleicht habt ihr irgendwas Verdorbenes gegessen. Ist sonst noch jemandem übel?«

»Nicht dass ich wüsste.« Pamela presste sich die Hände auf den Leib und verzog das Gesicht. »Beeil dich!« Sie lief hinein, und gleich darauf erschien Didi auf dem Balkon.

»Ich habe gerade zu Pamela gesagt, dass es nach einer Lebensmittelvergiftung klingt. Vielleicht solltet ihr einfach ein, zwei Tage in eurer Kabine bleiben. Das gibt sich schon wieder.«

»Glaub mir, ich geb’s schon wieder.«

»Soll ich den Schiffsarzt holen? Der kann euch bestimmt irgendwas verordnen.«

»Der Mensch, den ich brauche, sitzt zu Hause im Reisebüro. Ich will mein Geld zurück.« Sie krümmte sich und rief in die Kabine: »Ich bin wieder dran!«

Pamela tauchte erneut auf, ein bisschen grün um die Nase. »Ich glaube, wir brauchen Medikamente.«

Kelly blätterte rasch durch das Schiffsverzeichnis, fand die Nummer der Krankenstation und rief an. »Sie schicken jemanden hoch. Ihr sollt in eurer Kabine bleiben. Ich schätze, sie haben Angst, dass es was Ansteckendes sein könnte.« Es war möglich, dass die beiden sich irgendeinen Erreger eingefangen hatten – Magen-Darm-Infektionen kamen an Bord von Kreuzfahrtschiffen nicht selten vor, weil sich die Leute nicht immer die Hände wuschen –, aber Kelly tippte immer noch auf den Waldorfsalat, vor allem wenn sonst niemand aus ihrer Gruppe krank wurde.

Aus der benachbarten Kabine hörte sie fortwährendes Würgen, gelegentliches Stöhnen und böses Fluchen.

Kurze Zeit später kam Natalie hereingestürmt, ihr Gesicht von Sorge gezeichnet. »Was ist nebenan los? Ich habe gerade die Krankenschwester herauskommen sehen.«

Kelly sprang auf. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja, klar. Warum?«

»Ich glaube, es war der Waldorfsalat. Didi und Pamela fühlen sich beide hundeelend.«

Einem lauten Stöhnen nebenan folgte ein Fluch und dann wieder ein Würgen.

»Aber sie erholen sich doch bald wieder?«

»In ein paar Stunden sind sie sicher wieder auf dem Damm. Aber im Augenblick geht’s beiden ziemlich mies.« Sie führte Natalie auf den Balkon und schaute um die Trennwand herum. »Pamela?«

Die jüngere Frau trat auf den Balkon hinaus. »Wir müssen zweiundsiebzig Stunden in der Kabine bleiben. Das sind drei ganze Tage!«

»Ihr werdet San Juan verpassen!«, jammerte Natalie.

»Und St. Thomas und Tortola«, fügte Pamela hinzu. »Aber sie haben uns Gutscheine gegeben, damit wir die nächste Kreuzfahrt zum halben Preis machen können.«

»Was wir nächstes Jahr tun werden, sofern wir das hier überleben«, sagte Didi gequält. Sie war im Türrahmen erschienen.

»Was ist mit euren Mahlzeiten?«

»Sie bringen sie uns her, aber ich habe der Schwester gesagt, dass ich jeden umbringe, der heute Abend mit einem Essenstablett vor der Tür steht.«

Die beiden kamen sich an der Tür ins Gehege, als sie beide gleichzeitig versuchten, ins Bad zu stürmen.

»Die Armen«, sagte Natalie. »Sie werden einen Koller kriegen.«

»Spaß beiseite: Vielleicht sollten wir uns in Acht nehmen, wenn sie auf dem Balkon sind. Wenn sich herausstellt, dass sie was Ansteckendes haben, könnten wir auch krank werden.« Kelly senkte die Stimme. »Aber höchstwahrscheinlich war es wirklich die Mayonnaise.«

»Danke, dass du mich davor bewahrt hast.«

Kelly sah sie schuldbewusst an. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts gesagt habe, als sie mit ihren Tellern ankamen.«

»Mach dir darüber keine Gedanken. Didi hätte sowieso nicht auf dich gehört. Wahrscheinlich hätte sie sich sogar noch einen Nachschlag geholt, nur um es dir zu zeigen.«

»Übrigens – ich habe mir das Tagesprogramm durchgelesen. Heute Abend läuft der neue James Bond im Kino. Er fängt gleich nach dem Essen an. Glaubst du, jemand kommt mit?«

»Klingt gut! Soll ich Steph anrufen?«

»Klar. Es wäre schön, wenn wir mal alle zusammen was unternehmen.« Und sogar noch schöner, weil Didi und Pamela in ihrer Kabine bleiben mussten. Vielleicht würde Natalie sich dann ein bisschen entspannter zeigen.

5

Als sie am zweiten Morgen aufwachte, wusste Natalie sofort, wo sie war. Ihr größter Hinweis war Kelly, die am Fuß ihres Bettes stand, zwei Tassen Kaffee in der Hand, erhitzt und schweißnass vom Joggen.

»Wir sind in San Juan. Ein atemberaubender Anblick da draußen.«

Natalie setzte sich auf und räkelte sich. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie ihr Haar aussah. »Du hast mir wieder Kaffee mitgebracht. Ich muss mir was einfallen lassen, wie ich mich dafür revanchieren kann.«

»Das ist nicht nötig. Es macht mir wirklich nichts aus. Ich habe überlegt, ob ich dich schlafen lassen soll, aber ich vermute, dass der Kapitän jeden Moment durchsagt, dass wir an Land gehen können.«

Natalie schwang die Beine aus dem Bett und griff nach ihrem Bademantel. »Ich weiß gar nicht, was ich heute machen soll. Eigentlich wollte ich mit Didi und Pamela shoppen gehen, aber sie dürfen ja nicht von Bord, und allein habe ich keine Lust dazu.«

»Fährst du gern Fahrrad? Ich habe mich zu einer Radtour angemeldet. Wir legen eine etwa fünfzehn Kilometer lange landschaftlich schöne Strecke zurück und enden schließlich an einem Strand, wo wir ein paar Stunden Zeit haben.« Kelly hatte ihren Kaffee abgestellt und verstaute Obst und Brot in ihrem Rucksack.

»Ich glaube, dazu reicht meine Kondition nicht.«

»Ich glaube doch. In der Broschüre war von einer leichten Tour die Rede.«

Obwohl es verlockend klang, wollte Natalie sich nicht blamieren, indem sie schon nach dem ersten Kilometer schlappmachte. Dann würde Kelly sich genötigt sehen, sich zurückfallen zu lassen und sich ihrem Tempo anzupassen, obwohl jemand in solcher Topform wie sie die Tour ansonsten wohl angeführt hätte. »Ich glaube, ich verzichte lieber … Es sei denn, sie haben Räder mit diesen kleinen Beiwagen, bei denen die eine die ganze Arbeit macht, während die andere auf ihrem Allerwertesten sitzt wie eine Nacktschnecke.«

Natalie trat mit dem Kaffee in der Hand auf den Balkon und stellte erstaunt fest, dass ein weiteres imposantes Kreuzfahrtschiff neben ihnen festgemacht hatte.

Kelly trat hinter sie. »Die haben angedockt, als ich vorhin laufen war.«

»Das Schiff ist ja riesig!«

»Unseres ist dennoch größer. Das wirst du sehen, wenn wir an Land gehen.« Sie setzte sich in den Liegestuhl und legte die Füße auf die Reling. »Wenn du heute was anderes machen möchtest, kann ich meine Radtour auch absagen. Als ich in Key West stationiert war, habe ich einige dieser Inseln besucht, von daher würde ich nichts versäumen, was ich nicht schon kenne.«

Natalie war versucht, das freundliche Angebot anzunehmen, aber sie bezweifelte ernsthaft, dass Kelly an der Art von Sightseeing und Shopping, wie sie ihr vorschwebte, Gefallen finden würde. »Das kann ich auf keinen Fall zulassen. Ich kann bestimmt mit Steph und Yvonne losziehen. Sie sind es mittlerweile weiß Gott gewöhnt, mich als ihren Schatten dabeizuhaben. Ich hänge ja schon seit zwanzig Jahren mit ihnen herum.«

»Man merkt, dass ihr euch schon lange kennt. Vor allem du und Steph.«

»Wir haben uns alle an der Ole Miss kennengelernt, als ich dort anfing zu studieren. Steph kam aus Memphis und Yvonne aus Rochester – sie hatte ein Softball-Stipendium, weil sie ihren High-School-Coach eingestellt haben.« Noch während sie sprach, wurde ihr klar, dass sie die Woher-wir-uns-kennen-Geschichte schon seit Jahren niemandem mehr erzählt hatte. Sie und Didi hatten ein geselliges Leben geführt, aber Natalie hatte sich außer Steph und Yvonne nie jemandem besonders nahe gefühlt – bestimmt nicht nahe genug, um in allen Einzelheiten zu erzählen, wie schwer es ihr gefallen war, sich später wieder in Mississippi einzuleben und wie sie sich mit ihrer Familie zerstritten hatte, als sie ihre Heimatstadt endgültig verließ.

»Ich hätte dich nicht als Softball-Groupie eingeschätzt.«

»Das war ich auch nicht. Aber ich bin mit Steph zu den Spielen gegangen, weil Yvonne ihre« – sie malte Anführungszeichen in die Luft – »›beste Freundin‹ war. Ich hatte damals nicht den leisesten Schimmer. Sie mussten es mir buchstabieren, ehe ich kapierte, dass sie miteinander schliefen.«

Kelly lachte leise. »Ich glaube, wir sind alle mal so naiv gewesen. Zum Glück habe ich es kapiert, bevor ich zur Navy gegangen bin, sonst hätte ich dagestanden wie ein Kind im Bonbonladen. Die Hälfte der Frauen an meinem Stützpunkt waren lesbisch, aber ich war zumindest schlau genug, mich bedeckt zu halten und nicht erwischt zu werden.«

»Das muss ganz schön heikel gewesen sein.«

»Stimmt. Aber wir hatten unseren kleinen Sub. Alle wussten, wer lesbisch war, und solange du keine angemacht hast, die nicht lesbisch war, wurdest du in Ruhe gelassen.«

Die Stimme des Kapitäns erklang über den Lautsprecher und hieß sie offiziell in Puerto Rico willkommen.

Kelly trank ihren letzten Schluck Kaffee und streckte sich. »Ich schätze, ich sollte unter die Dusche gehen, damit ich anschließend losziehen und wieder in Schweiß geraten kann. Musst du ins Bad?«

»Nein, geh nur.« Als Kelly verschwunden war, überlegte Natalie, ihr Angebot doch anzunehmen und die Radtour mitzumachen. Steph und Yvonne würde es zur Abwechslung vermutlich gefallen, mal einen Tag für sich zu haben. Doch dann stellte sie sich wieder vor, wie sie sich keuchend auf dem Rad abstrampelte und ihre Beine gequält protestierten. Es wäre nicht nur peinlich, sondern würde wahrscheinlich auch keiner von ihnen Spaß machen. Als sie Didi kennenlernte, hatte sie sich von allen sportlichen Freizeitaktivitäten verabschiedet – für Didi lief schon das Zücken ihrer Kreditkarte unter sportiver Betätigung.

Kaum dachte sie an Didi, öffnete sich die Schiebetür auf dem Balkon nebenan. Das tiefe Stöhnen verriet, dass Didi eine scheußliche Nacht hinter sich hatte.

»Hallo, da drüben!«, rief sie.

»Zumindest sagst du nicht guten Morgen. Ich müsste dich umbringen.«

»Ist euch beiden immer noch schlecht?« Sie ging zur Reling und spähte um die Trennwand herum.

»Ich glaube, das Schlimmste ist vorbei. Pamela hat die ganze Karaffe Orangensaft ausgetrunken, als ich unter der Dusche war. Egoistische Ziege.«

Natalie grinste innerlich – Didi war schon wieder ganz die Alte. »Was macht ihr zwei heute?«

»Wir bleiben drinnen und streiten uns ums Klo. Wir haben ja keine andere Wahl.«

»Mit wem sprichst du?« Pamela trat auf den Balkon hinaus.

»Natalie … Obwohl ich nicht kapiere, wieso sie hier an Bord ist, wo es ihr doch freisteht, an Land zu gehen und durch das wunderschöne San Juan zu flanieren.«

Es war schwer, kein Mitleid für die beiden zu empfinden. Als wäre es nicht genug, sich von einer scheußlichen Brech- und Durchfallattacke zu erholen, gingen sich die beiden mittlerweile vermutlich ganz schön auf die Nerven – immerhin waren sie inzwischen schon achtzehn Stunden auf engstem Raum zusammengepfercht. Und es würde noch schlimmer werden. »Ich denke, ich ziehe allein los. Soll ich euch irgendwas mitbringen?«

»Du meinst, so was wie ein T-Shirt, auf dem steht: ›Meine Freundin war in San Juan, aber ich hatte ’ne Lebensmittelvergiftung‹?«

»Es tut mir echt leid, dass ihr die Insel verpasst. Vielleicht könnt ihr noch mal herkommen, wenn ihr euren Gutschein einlöst.«

»Den kriegen vermutlich nur Leute, von denen sie denken, dass sie sowieso sterben.«

Natalie kicherte. Didi hatte wirklich einen makaberen Sinn für Humor. »Quatsch, du kriegst ja nur fünfzig Prozent Nachlass. Sie schätzen deine Chancen also fifty-fifty ein. Ich halte mal nach was Schönem Ausschau. Möchtest du, dass ich Steph bitte, dir ein paar Bücher zu leihen, die sie schon ausgelesen hat?«

»Sie bringen uns nachher ein paar Filme auf DVD«, antwortete Pamela. »Ich gehe wieder ins Bett.«

»Wo willst du hin, Nat?«

»Ich laufe einfach ein bisschen in der Stadt rum. Kelly hat mich gefragt, ob ich sie auf einer Radtour begleiten will, aber ich glaube nicht, dass ich mit ihr mithalten könnte.«

»Aufs Bike mit Spike?«

»Benimm dich. Kelly ist sehr nett« – sie senkte dramatisch die Stimme –, »auch wenn ich ihr Aussehen befremdlich finde.«

Didi erschauderte sichtlich. »Das kannst du laut sagen. Welche Lesbe, die auch nur einen Funken Selbstrespekt hat, läuft so rum?«

»Ich habe zu Steph gesagt, da könnte man ja gleich mit einem Mann zusammensein«, flüsterte sie zurück, und beide kicherten.

»Hey, weißt du noch, wie wir beide die Magen-Darm-Grippe hatten?«

Natalie nickte grimmig. »Zumindest hatten wir zwei Badezimmer.«

Didi blickte über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Pamela wirklich außer Hörweite war. »Am besten erinnere ich mich daran, wie du treppauf, treppab gerannt bist, um dich um mich zu kümmern, und dabei warst du genauso krank wie ich.«

»Das lag daran, dass es anstrengender war, dein Gejammer anzuhören, als krank zu sein.«

»Ich weiß, aber Pamela ist echt nicht zu gebrauchen. Sie denkt immer bloß an ihr eigenes Elend.«

Didi als pflegeaufwendig zu bezeichnen war untertrieben, aber Natalie hatte das nicht viel ausgemacht. Didi hatte sie in anderer Hinsicht verwöhnt: Sie hatte ihr teuren Schmuck und wunderschöne Kleider gekauft. »Ich würde dir ja beistehen, aber an eurer Tür hängt ein Hinweis, dass ihr ansteckend seid.«

»Ach ja? Hör mal, wenn sie uns auf See bestatten, sorg dafür, dass ich mein moosbeerenfarbenes Halston-Kleid anhabe. Ich würde mich totärgern, wenn ich es nie getragen hätte.«

»Vergiss es. Das Kleid behalte ich für mich. Außerdem werden sie dich wahrscheinlich in dein Bettzeug einwickeln.« Es tat gut, gemeinsam mit Didi zu lachen. Sie hatten inzwischen kaum noch Gelegenheit, allein miteinander zu reden.

»Amüsier dich gut, Natalie. Wenn du später mit mir reden möchtest, klopf einfach an die Wand, dann komme ich raus.«

»Gute Besserung! Es tut mir echt leid, dass du nicht mitkommen kannst.« Sie hatte leichte Schuldgefühle, weil sie Kellys Warnung in Sachen Waldorfsalat nicht weitergegeben hatte, und die verstärkten sich noch, weil sie sich wünschte, nur Pamela wäre krank geworden. Dann hätten sie und Didi den Tag gemeinsam in San Juan verbringen können.

Kelly stieg hinter Natalie die Stufen zu Deck 2 hinab. Dort standen bereits Trauben von Passagieren, die von Bord gehen wollten. Sie war fasziniert von Natalies Hüftschwung und enttäuscht, als sie am Fuße der Treppe anlangten. »Deine letzte Chance, mit auf die Radtour zu kommen.«

»Danke, aber ich glaube, durch die Altstadt von San Juan zu bummeln, entspricht mehr meinem Tempo.«

»Plan genügend Zeit für das Fort ein. Das ist der interessanteste Teil, wenn du mich fragst.« Kelly war nicht sicher, was sie davon halten sollte, dass Natalie ihr Angebot, die Radtour abzusagen und mit ihr bummeln zu gehen, ausgeschlagen hatte, um Stephs und Yvonnes Einladung dann wiederum anzunehmen. Angeblich wollte Natalie nicht, dass Kelly ihretwegen ihre Pläne aufgab, aber Kelly vermutete, dass mehr dahintersteckte. Natalie schien Distanz zu wahren, aus welchem Grund auch immer – vor allem wenn die anderen in der Nähe waren. Wenn sie zusammen in ihrer Kabine waren, war Natalie sehr freundlich, aber offenkundig bevorzugte sie die Gesellschaft ihrer besten Freundinnen. Manche Menschen waren eben so, dachte Kelly. Vielleicht war Natalie schüchtern, oder sie brauchte eine Weile, bevor sie sich neuen Bekanntschaften gegenüber öffnete.

Steph und Yvonne warteten auf der Pier auf sie. »Kommst du mit uns?«, fragte Steph Kelly.

Das hättet ihr mich auch früher fragen können, dachte sie. »Ich mache eine Radtour«, antwortete sie.

»Das hätten wir auch machen sollen«, meinte Yvonne. »Ein bisschen Bewegung wäre nicht schlecht gewesen.«

»Herumlaufen ist auch Bewegung«, erwiderte Natalie. »Außerdem hätten Steph und ich nie mit dir und Kelly mithalten können.«

Am Ende der Pier stand eine Frau und hielt ein Schild mit der Ankündigung für die Radtour hoch. Wie es aussah, war der kleine Bus fast voll.

»Das ist meine Gruppe«, sagte Kelly. »Amüsiert euch gut!«

Sie freute sich auf die Radtour, konnte aber ihre leichte Enttäuschung darüber, allein unterwegs zu sein, nicht abschütteln. Ein Ziel dieser Kreuzfahrt war schließlich, neue Freundschaften zu schließen, aber es war nicht zu übersehen, dass sie nicht zu den anderen passte – von Yvonne abgesehen. Und obwohl sie es ungern zugab, konnte sie dem vertrauten Gefühl der Trostlosigkeit, das sie von der High-School kannte, wo sie aus der Clique der beliebten Mädchen ausgeschlossen gewesen war, nicht entrinnen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass die Navy der einzige Ort gewesen war, an dem sie sich je zugehörig gefühlt hatte, und dort hatte sie die ganze Zeit über nach dem Motto »Don’t ask, don’t tell« leben und ihr Lesbischsein verschweigen müssen.

»Hey, Kumpel!«

Sie blickte auf. Jo war im Begriff, sich auf den Platz neben ihr zu setzen. Wie Kelly war sie lässig in Shorts, T-Shirt und Turnschuhe gekleidet. »Hey, ganz allein unterwegs?«

»Ja. Radfahren entspricht nicht gerade Julies Vorstellung von Freizeitvergnügen. Durch die Stadt bummeln und shoppen ist mehr ihr Ding.«

»Kommt mir bekannt vor. Meine Kabinengenossin macht genau dasselbe.«

»Das ist die hübsche Frau mit den dunkelbraunen Haaren … Natalie – richtig?«

»Ja.«

»Nicht deine Freundin?«

»Nein. Ich kenne sie erst seit zwei Tagen. Freundin einer Freundin. Sie hat sich erst in letzter Sekunde zu der Kreuzfahrt entschlossen.«

»Prima. Ich glaube, Julie ist scharf auf sie. Sie hofft, ihr heute in der Stadt zu begegnen.«

Kelly war schlagartig die Laune verdorben. »Hm.« Das hatte sie nicht laut sagen wollen.

»Sie kommt dir doch nicht in die Quere, oder?«

»O nein! Auf keinen Fall. Es ist nur so …« Ja, wie? »Natalies Herz hängt noch an jemand anderem.«

»Das ist für Julie kein Hinderungsgrund. Nach dem Motto: Lieber den Spatz in der Hand …«

»Hm.«

»Was ist los, Kumpel? Du hast mich angeflunkert, stimmt’s?«

»Was meinst du damit?«

»Du hast es doch selbst auf sie abgesehen.«

Kelly musste darüber nachdenken. »Vielleicht. Ein bisschen.«

»Warum bist du dann hier und sie woanders?«

»Ich habe sie gefragt, ob sie mitkommen will, aber sie hat nein gesagt. Ich habe das Gefühl, ich bin nicht ihr Typ.«

»Wie ist denn ihr Typ?«

Kelly zog eine Grimasse. »Vermutlich wie Julie.«

Jo nickte. »Wie ich dir gestern gesagt habe. Die hübschen Mädel kriegen immer den Hauptgewinn. Der Rest von uns kriegt den Trostpreis.«

Tief in ihrem Inneren wusste Kelly, dass Jo recht hatte, zumindest was Natalie anging. Endlich legte sie den Finger auf das, was bis dahin ein unbestimmtes Gefühl gewesen war: Sie gehörte nicht zu Natalies Clique, weil sie nicht deren stilvollen femininen Look besaß. Selbst Yvonne, die ebenso sportlich war wie sie, erschien in einer Seidenbluse mit Tuch zum Dinner, mit dezentem Schmuck und Make-up. Ihr jedoch war das nicht möglich. Sie war, wie sie war, nicht mehr und nicht weniger. Ihr gefiel ihr Aussehen, von dem Haarwirbel vielleicht abgesehen.

Der Bus hielt vor einer Hütte, bei der etliche Reihen Fahrräder derselben Marke in der Sonne funkelten, die sich nur in Farbe und Rahmen voneinander unterschieden. Kelly schlang sich ihren Rucksack um und wartete mit etwa zwanzig weiteren Menschen in der Schlange, um sich dann ein blaues Rad auszusuchen. Als sie hinter Jo aufschloss, stellte sie fest, dass die anderen keineswegs durchweg sportliche Typen waren, was sie noch einmal in ihrem Wunsch bestärkte, Natalie hätte sich ihr angeschlossen.

»Einmal im Leben würde ich auch gern den Hauptgewinn kriegen, Jo, verstehst du?«

»Ich auch, Kumpel, aber ich trau mich einfach nicht ran.«

»Erzähl mir von deiner Flamme.«

»Sarah.« Jos Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Sie arbeitet in der Bäckerei ihrer Mutter. Ich kaufe mir dort praktisch jeden Tag Ingwerkekse.« Sie klopfte sich auf den runden Bauch. »Wie unschwer zu übersehen ist.«

»Ist sie hübsch?«

»Bildhübsch. Langes blondes Haar und blaue Augen, die dich noch aus zehn Meter Entfernung umhauen.«

Genau das dachte Kelly von Natalies grünen Augen. »Und wie ist sie so?«

»Sie hat einen ziemlich schrägen Sinn für Humor. Sie nimmt mich andauernd auf die Schippe … aber nicht gemein oder so. Aus reinem Blödsinn. Und ich liebe ihr Lächeln.«

Sie bogen in einen Weg ein, der aus festgestampfter Erde und Muscheln bestand und von Mangroven gesäumt war. Auf der einen Seite zog sich eine sattgrüne Hügellandschaft entlang, auf der anderen Seite das aquamarinblaue karibische Meer.

»Klingt doch, als könnte sie sich für dich interessieren.«

Prompt wurde Jo rot. »Schön wär’s. Aber ich hab zu viel Schiss, es herauszufinden.« Sie hielten an einer Lichtung in den Mangroven, die ihnen einen prachtvollen Blick aufs Meer eröffnete, und Jo machte ein paar Fotos. »Ich habe Angst, dass ich alles vermassele, verstehst du?«

»Du meinst, wenn du sie fragst, ob sie mit dir ausgeht und sie nein sagt, dann könnt ihr nicht mehr befreundet sein?«

»Genau. Das wäre echt peinlich.«

»Steht sie denn auf Frauen?«

»Ich glaube schon … Vielleicht. Ich habe noch nie erlebt, dass sie mit irgendwelchen Typen so herumgeblödelt hat. Bei denen ist sie immer ganz geschäftsmäßig.«

Sie fuhren weiter, diesmal einzeln hintereinander. Während sie so dahinradelten, dachte Kelly darüber nach, wie es mit ihr und ihrer faszinierenden Kabinengenossin lief. Ihr bisher tiefgehendstes Gespräch hatte an diesem Morgen stattgefunden, als Natalie erzählt hatte, wie sie damals im College aus allen Wolken gefallen war, als sie feststellte, dass ihre besten Freundinnen lesbisch waren, ohne jedoch ins Detail zu gehen. Sie beide brauchten mehr Zeit miteinander – entweder in ihrer Kabine oder beim Sightseeing. Oder vielleicht bei einem Spaziergang auf dem Promenadendeck. Das Problem war, Natalie von ihren Freundinnen loszueisen. Vielleicht konnten sie nach dem Abendessen –

»Wow!« Die Fahrradkolonne kam unvermittelt zum Stehen, und Kelly musste abrupt ausweichen, um nicht auf Jo aufzufahren. Ihr Vorderrad prallte gegen einen fußballgroßen Stein, blockierte und knickte ab, und ehe sie sich’s versah, flog Kelly in hohem Bogen durch die Luft. »Verdammte –«

»Alles in Ordnung, Kumpel?« Jo war sofort an ihrer Seite.

Zum Glück war sie in dem hohen Gras gelandet, das die Straße säumte. »Ja, ich glaube schon. Nur einen Hirnschaden.«

»Was ist mit deinem Rad?«

Kelly inspizierte es und stellte erleichtert fest, dass es keinen größeren Schaden genommen hatte. »Fährt noch.«

»Gut! Bloß dass wir gar nicht weiterfahren. Wir sind am Strand.«

Tatsächlich – vor ihnen erstreckte sich eine kristallklare blaue Lagune.

Sie schoben ihre Räder zum Leiter der Tour, der eine kleine Crew beim Verladen der Fahrräder in einen Transporter überwachte, der sie zum Ausgangspunkt zurückbringen würde. Ihr Bus war in einer schattigen Ecke geparkt, wo verschiedene Händlerinnen ihre Waren auf Strohmatten und Decken ausgebreitet hatten.

Kelly öffnete ihren Rucksack und folgte Jo zu einem Getränkestand. »Darf ich dir ein Bier ausgeben?«

»Ich trinke nicht – nur Limonade.«

Kelly legte ihre Hand auf Jos, als diese nach ihrer Brieftasche griff. »Ich lade dich ein. Eine Limonade, ein Medalla«, bestellte sie und lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie sie das letzte Mal genüsslich ein puertoricanisches Bier getrunken hatte. Das war noch in der Navy gewesen, mit Sandra, an einem ihrer freien Wochenenden.

Jo ging zu einigen Liegen unter einem Sonnenschirm hinüber. Kelly folgte ihr gleich darauf und reichte Jo ihr kühles Getränk.

»Ich habe noch mal über deine Frage nachgedacht … wie Sarah so ist. Ich habe genau das ausgelassen, was mir am meisten gefällt.«

»Und zwar?«

»Früher habe ich immer eine Sonderbehandlung genossen, wenn ich in den Laden kam. Sie hat mir zum Beispiel was zurückgelegt, wenn es das Letzte war und sie wusste, dass ich es gern aß. Oder wenn es voll war, hat sie meine Bestellung schon fertig gehabt, wenn ich hereinkam.«

»Und was hast du für sie gemacht?«

Sie zuckte die Achseln. »Was immer anstand. Wenn viel los war, bin ich rumgegangen und hab die benutzten Teller und Servietten eingesammelt.«

»Bist du nie gegen Feierabend hingegangen und hast sie nach Hause begleitet?«

»Also das wäre ja fast wie ein Date! Ich hab dir doch gesagt, dass ich dazu viel zu viel Schiss habe.«

»Warum denn? Du begleitest sie doch bloß auf dem Heimweg.« Kelly schüttelte über sich selbst den Kopf. Da gab sie gute Ratschläge, wie man sich an Frauen heranmachte, und dabei hatte sie selbst nicht ein einziges Date gehabt, seit sie zwei Jahre zuvor nach Rochester gezogen war.

»Vielleicht mache ich das eines Tages.« Jo streckte sich in ihrem Liegestuhl aus. »Weck mich, wenn der Bus losfährt. Oder wenn meine Füße in der Sonne sind.«

»Alles klar. Ich gehe mal rüber und schau mir die Souvenirs an.« Kelly nahm ihren Rucksack und kehrte in den Schatten zurück, wo sie auf der Stelle von mehreren buntgekleideten Frauen in Beschlag genommen wurde, die alle gleichzeitig ihren hübschen Nippes anpriesen und Kelly zum Kaufen aufforderten. Kelly brauchte nichts davon, und daheim in Rochester erwartete niemand ein Mitbringsel, aber sie wollte die einheimische Wirtschaft unterstützen.

»Das hier gut für dich«, sagte eine der Frauen und hielt ihr eine schmale Halskette mit einer geschnitzten Meeresschildkröte hin.

Nicht schlecht, dachte Kelly. Ein schlichter Halsschmuck, mit dem sie ihre Strandkleidung aufpeppen konnte. Er mochte sogar zu dem weißen Hemd und dem schwarzen Anzug, den sie für förmliche Anlässe dabei hatte, gut aussehen. »Was kostet sie?«

»Zwanzig Dollar.«

Kelly nahm die Halskette genauer in Augenschein. Sie war nicht besonders solide gearbeitet, würde aber die nächsten beiden Wochen halten. »Haben Sie die gemacht?«

Die junge Frau nickte. »Fünfzehn … zwölf …«

»Fünfzehn ist in Ordnung. Das ist ein angemessener Preis.«

Kelly verstaute die Halskette in ihrem Rucksack und betrachtete die übrigen ausgelegten Dinge. Nichts Außergewöhnliches … Nichts, das sich als schönes Geschenk für jemanden wie Natalie geeignet hätte, die sicher einen unfehlbaren Geschmack hatte, was Schmuck anging. Ihre Ohrringe, ihre Armbänder und Ketten schienen alle perfekt aufeinander abgestimmt zu sein und akzentuierten ihr jeweiliges Outfit.

Am Ende der Reihe stand ein dünner dunkelhäutiger Mann und starrte auf die Lagune hinaus. »Dir gefällt unser Strand?«, fragte er, und sein Englisch war leicht zu verstehen.

»Sehr.« Kelly schaute über das Wasser und erinnerte sich an all die Dinge, die ihr in Key West großen Spaß gemacht hatten. »Es ist wunderschön hier.«

»Schenke ich dir.« Er griff in eine gewebte Tasche und holte mehrere kleine Aquarelle hervor. »Ich male sie jede Stunde. Dies ist deine Stunde – das Wasser wie jetzt.«

»Wow!« Sie wusste, dass sie damit ihre Verhandlungsposition geschwächt hatte, aber er hatte die Farbe des Wassers im Licht der Nachmittagssonne aufs Schönste eingefangen. »Zehn Dollar, okay?«

»Fünfzig.«

Sie lächelte vor sich hin und öffnete ihre Brieftasche. Es würde Natalie gefallen.

6

An Bord legte Natalie ihre Einkaufstüten auf das Band am Durchleuchtungsgerät und sammelte sie auf der anderen Seite wieder ein. Ausnahmsweise war das Einkaufen ihr erst nachträglich in den Sinn gekommen – in letzter Minute hatte sie die Verkaufsstände am Eingang zum Dock abgeklappert, weil sie Didi ein Mitbringsel versprochen hatte.

Ihr Tag in der historischen Altstadt von San Juan war faszinierend gewesen, vor allem das Fort, das Kelly erwähnt hatte und wo Julie sich zu ihrer Gruppe gesellt hatte. Sie beide hatten sich nach dem Mittagessen abgesetzt; das war zum einen ihre Chance gewesen, sich besser kennenzulernen, aber wichtiger noch war es Natalie, dass sie Steph und Yvonne auf diese Weise ermöglichte, Zeit zu zweit miteinander zu verbringen. Die beiden hatten zwar nichts gesagt, aber ihnen war anzusehen gewesen, dass sie sich freuten, den Nachmittag für sich zu haben.

Sobald sie sich getrennt hatten, überkamen Natalie allerdings Zweifel. Julie entpuppte sich als Meisterin im Flirten. Die Australierin machte kein Geheimnis daraus, dass sie sich für alles, was Natalie anbetraf, interessierte, so dass Natalie das Gespräch schon bald von persönlichen Themen fortlenkte und sich auf die malerischen Aspekte von Old San Juan konzentrierte.

»Heute Abend gibt’s eine Show«, sagte Julie einladend und hakte sich bei Natalie ein, als sie die Treppen hinaufgingen.

»Steph hat heute Morgen davon erzählt«, log Natalie. »Wir wollen gleich nach dem Abendessen hingehen und uns gute Plätze sichern. Warum kommt ihr nicht mit – du und deine Schwester?«

Julies Enttäuschung, nicht mit Natalie allein zu sein, war offenkundig, aber sie willigte ein. »Das hier ist mein Deck«, sagte sie nach zwei Treppen. Sie gab Natalie einen Kuss auf die Wange. »Danke für den wunderschönen Nachmittag. Vielleicht wiederholen wir ihn morgen in St. Thomas.«

Natalie lächelte matt und nickte. Sie hatte Verehrerinnen noch nie gut abwimmeln können – ein Unvermögen, das sie vermutlich ihrer Herkunft zu verdanken hatte: In den Südstaaten galt es als höflich, jede Einladung mit liebenswürdigem Lächeln anzunehmen. Das hatte zu mehr hoffnungslosen Verabredungen geführt, als ihr lieb gewesen war, denn gewöhnlich wusste sie schon nach ein paar Minuten, ob ihr eine Frau gefiel oder nicht. Julie war hübsch, interessant und nett, entzündete aber keinen Funken. Und obwohl Natalie sich stillschweigend die Erlaubnis erteilt hatte, an Bord eine unverbindliche Affäre zu haben – vor allem eine, die Didi womöglich eifersüchtig machen würde –, gehörte sie nicht zu den Frauen, die um jeden Preis auf Sex aus waren. Entweder wurde sie von der Hitze des Augenblicks davongetragen, von einer unbezähmbaren Leidenschaft, ausgelöst durch einen feurigen Kuss – oder sie ließ es bleiben.

Liebe in Sicht

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