Читать книгу Aliens im Nachbarhaus - Kiara Borini - Страница 5
Nachbarn
ОглавлениеIch hatte mich in den letzten drei Tagen komplett zum Affen gemacht. Neugier war eine meiner herausragenden Charaktereigenschaften geworden. Was hatte ich nicht alles angestellt, nur um endlich zu erfahren, was wir für neue Nachbarn haben.
Dummerweise konnte man aus meinem Zimmer nur auf unseren Garten blicken. Das Haus unserer neuen Nachbarn lag genau auf der gegenüberliegenden Seite. Dennis war da im Vorteil, denn sein Spitzboden hat zwei Dachfenster; eines davon genau in der benötigten Richtung. Dabei konnte er alles durch seine Webcam beobachten, ohne auch nur von seinem Schreibtischstuhl aufzustehen. Ich hingegen hatte mir jeden erdenklichen Grund ausgedacht, nur um aus diesem Fenster zu blicken. Gestern hatte ich mich sogar nicht entblödet, ihm anzubieten, sein Zimmer zu saugen.
Der aufgewirbelte Staub würde seinen empfindlichen Geräten nicht gut tun. Ich stand echt total doof da, wie eine Putzwütige, dabei wollte ich doch nur sehen, was dort drüben vor sich geht. Vorgestern habe ich mein Fahrrad nach vorn auf die Straße geholt und ausführlich angefangen zu putzen. Ich und Fahrrad putzen! Aber so konnte ich wenigsten ab und zu einen Blick auf das Nachbarhaus erhaschen. - Nichts. Gar nichts!
Wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie dort Kisten hineingetragen wurden, ich hätte schwören können, dass dort kein Mensch wohnt.
Mit Dennis hatte ich kaum ein paar Worte gewechselt, seit ich oben bei ihm war, als der Umzugswagen kam. Mit Ma und Pa war das Thema auch nach wenigen Sätzen durch. Etwa in dem Stil: „So, neue Nachbarn – na, hoffentlich sind die ausdauernder als die letzten. Ist doch gar nicht gut für so eine Immobilie, wenn die Leute ständig kommen und gehen. Aber die scheinen in Ordnung zu sein, sonst hätte ich schon längst ein Memo auf dem Schreibtisch liegen.”
„Ach Engländer. Kinder, da könntet ihr endlich mal was für eure Sprache tun. Freundet euch mit denen an. Die wollen doch auch bestimmt unsere Sprache lernen. Ich sollte sie mal fragen, ob sie Tennis spielt.”
Dann war das Thema abgehakt. Ma war auch viel zu beschäftigt. Ihr Yoga-Kurs hatte gerade Heil-Fasten. Da musste sie pünktlich zu den ausgelassenen Mahlzeiten bei der Gruppe sein. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber Pa schien noch seltener zu Hause zu sein als sonst. Wegen irgendeiner Sicherheitslage mussten die Gullydeckel der Stadt mal wieder verschweißt werden, und da durfte er natürlich nicht fehlen. Irgendeiner musste schließlich die Kontrolle haben.
Langsam begann ich an mir zu zweifeln. Die Trostlosigkeit dieser Sommerferien schien meinem Hirn einen Streich zu spielen. Sicherlich war alles ganz anders, als ich es mir einbildete. Nur wie? Wie anders? Dennis war auf jeden Fall anders! Natürlich hatte er früher auch ganze Nächte lang an seinem Computer gesessen und auf Pixelmonster geschossen. Aber seit dem bewussten Nachmittag war er irgendwie verbissener. So als ob er in seiner Ehre gekränkt wäre und nun verzweifelt versuchte, seine Reputation wiederzuerlangen. Große Worte für das Ego eines fünfzehnjährigen Bruders, ich weiß, aber irgendwie wirkte er auf mich verkniffen und noch unnahbarer als früher.
Blieb mir nur, mich in Geduld zu üben und mich so oft und so unauffällig wie möglich vor dem Nachbargrundstück herumzutreiben. Spülmaschine ausräumen war so eine Aktion. Man konnte prima aus den Küchenfenster sehen dabei. Nur, es gab nichts zu sehen. Nichts!
Tisch decken – das gleiche Problem. Müll rausbringen. Briefkasten leeren. Einkaufen. Irgendwann hätten sie mir bestimmt noch einen Orden spendiert, wenn sie nicht plötzlich auf dem Rasen gestanden hätte, als ich gerade mal wieder zum nahegelegenen Supermarkt wollte, um etwas eigentlich völlig Belangloses zu besorgen. Wir sahen uns schweigend eine Zeit an. Sie hatte ungefähr die gleiche Größe wie ich, war vielleicht ein paar Zentimeter größer und sehr schlank. Das Haar war relativ kurz geschnitten und leuchtete in einem goldenen Blond. Ihre Augen waren blau und strahlten. Ihre Gesichtsfarbe war blass mit einem Hauch rosé an den Wangen, wirkte aber auch ungeschminkt sehr klar und rein. Genauso, wie ihr weißer Overall auf eine unglaubliche Weise blütenrein schien. In dieser Kleidung wirkte sie sehr zierlich.
Wenn ich Weiß trage, habe ich meist schon beim Frühstück den ersten kleinen Fleck auf der Kleidung. Das sind zwar meist nur winzige Spritzer, die außer mir niemand sieht, aber ich bin da sehr pingelig.
Keine von uns schien den Anfang für ein Gespräch machen zu wollen. Doch ich konnte die Augen nicht von ihr lassen und spürte gleichzeitig einen mächtigen Sog, der von ihrem Blick ausging. Irgendetwas hinderte mich daran, den Blick abzuwenden.
‘75A, so nennst Du mich. Du sagst, du bist 75B.
Nein, das ist kein Name, das scheint ein Vergleich zu sein. Was von beiden ist besser?’
Ich drehte mich erschrocken um. Ich hatte keine Stimme gehört. Es war sie! Ihre Gedanken entstanden einfach so in meinem Kopf. Ich konnte sogar sagen, wo in meinem Kopf sich diese Worte gebildet hatten. Rechts und links hinter meinen Schläfen. Das war so, als ob man einen Kopfhörer für Gedanken tragen würde, so klar und dreidimensional waren die Gedanken zu hören. - Obwohl sie doch nicht gesagt worden waren.
‘Ich weiß, ich sollte euch keine Gedanken spenden. Aber ist 75A besser oder schlechter als 75B? Ich kenne mich mit eurem System noch nicht aus?’
Mein Lieblingsteddy war früher aus Frottee gewesen. Bloß, als ich eines Tages mein Lieblingsessen nicht in meinem Bauch behalten hatte und es mit besagtem Lieblingsteddy geteilt hatte, beschloss Ma, dass es Zeit für den Teddy wäre, ein Bad zu nehmen. Also wurde er in die Waschmaschine gesteckt und einer gründlichen Hygienemaßnahme unterzogen. Als es ans Schleudern ging, da wollte es der Zufall, dass er genau vor dem Bullauge der Waschmaschine lag und mich mit großen weit aufgerissenen ängstlichen Augen aus dem Bauch der Waschmaschine heraus anstarrte. Ich habe diesen Blick nie vergessen.
So muss ich nun ebenfalls ausgesehen haben.
„Eigentlich beginnt man mit ‘Hallo’„,
versuchte ich meine Fassung wieder zu gewinnen. Dann wurde ich rot, weil mir klar wurde, dass ich ertappt worden war, wie ich sie offensichtlich zu auffällig gemustert hatte und insgeheim wohl mit Genugtuung festgestellt hatte, dass ich inzwischen besser entwickelt war als sie.
Das war noch eine relativ neue Erfahrung im letzten Jahr gewesen. Jahrelang hatte ich mit wechselnden Gefühlen versucht, die Tatsache, dass meine Freundinnen weiter waren als ich, zu ignorieren, unwichtig zu finden, damit nur heimlich zu hadern, es ganz praktisch beim Sport zu finden, zu ignorieren und schlicht und ergreifend zu verdrängen und aus meinem Leben zu verbannen. Nun war es seit ein paar Monaten jedoch einfach wunderbar und ich war glücklich darüber. - Wäre richtig glücklich gewesen, wenn wir uns in diesem Jahr vielleicht doch ein kleines bisschen Mittelmeer gegönnt hätten, mit Strand, Oben-Ohne und allem, was dazugehört.
Wer will schon topless auf dem Präsentierteller einer gut einsehbaren Terrasse sitzen und später - angezogen - die Nachbarn im Supermarkt treffen? Eben!
‘Oh, ich wusste nicht, dass das so ein wichtiges Thema ist. Ich bin noch eine Knospe, und du bist bereits dabei, eine Blüte zu werden, das wolltest du mir sagen? Annika heißt du, richtig?’
„Du kannst meine Gedanken lesen?”
‘Ja, aber es ist nicht so wie du denkst, ich kann nicht tief in dich hineinsehen. Nur das, was du im Flur hast, kann ich sehen.’
„Im Flur?”
‘Das, was du offen denkst, aber nicht sagst, meine ich. Wie im Eingang zu einem Haus. Nicht dass, was tief verborgen ist, wie im Keller.’
„Wie beruhigend!”
‘Das andere steht deutlich auf deiner Stirn geschrieben und ich müsste wegsehen, um es nicht zu bemerken. Nur eure Wörter sind mir noch fremd. Eigentlich sollte ich euch keine Gedanken spenden, aber ich bin einfach zu neugierig.’
„Da bin ich aber man froh, dass es nicht nur mir so geht. Du hast mich ganz gut überrumpelt. Ist ja auch fies, einem so die Gedanken aus dem Kopf zu ziehen. Das mit 75A tut mir leid. Aber das mit der Knospe und der Blüte hast du schön gesagt. So habe ich mich auch lange Zeit gefühlt. Noch mit vierzehn war das so.”
‘Du bist vierzehn?’
„Nein fünfzehn! Seit fast zwei Monaten. Und du?”
‘Älter, aber lassen wir das im Moment. Wenn es dir übrigens unangenehm ist, laut zu reden, dann kannst du mir deine Gedanken auch im Kopf zusammenstellen, und ich hole sie mir dann ab. Uns ist das Reden mit dem Mund meist sehr unangenehm. Es klingt für uns laut und rüpelhaft.’
Ich musste schmunzeln.
‘Ja, dein Bruder könnte so ein passendes Bild dafür sein, was ich meine. Also sollten wir uns vielleicht auf deine Gedanken statt deiner Worte einigen. Wenn du beides gleichzeitig machst, bekomme ich auf die Dauer Kopfweh, denn du glaubst gar nicht, wie widersprüchlich die Aussagen von Mund und Kopf mitunter sind.’
„Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie du heißt. Und dabei hast du meinen Namen bereits aus meinem Kopf geklaut, und wer weiß was sonst noch alles. Warum kenn ich manche Gedanke von dir und andere nicht?”
‘Nein, geklaut ist er nicht, der Inhalt von deinem Kopf, er ist ja noch da. Wenn wir Gedanken lesen, dann nutzen die sich nicht ab. Gedanken werden besser, wenn man sie teilt. Aber entschuldige, ich habe nicht daran gedacht, dass du nicht meine Gedanken lesen kannst. - Ich heiße Chiòcciola.
Nur die Gedanken, die ich dir schicke sind für dich sichtbar. Entschuldige, aber ich befürchte, du bist klar im Nachteil, bei dieser Art der Unterhaltung.’
„Das sehe ich auch so.”
‘Tut mir leid!’
„Willst du nicht mit zu uns hineinkommen? Ich könnte uns einen Latte Macchiato machen, oder einen Tee.”
‘Nein, danke, das ist lieb gemeint, aber es geht im Moment nicht. Wie gesagt, ich soll euch eigentlich keine Gedanken spenden.’
„Sagt wer?”
Irgendwie war meine Sprachlosigkeit wie weg geblasen und ich war wieder in Kämpferlaune.
‘Du würdest ihn Pa nennen.’
„Wo kommt ihr eigentlich her? Mein Bruder meint aus Holland oder Großbritannien. Aber da irrt er doch wohl ganz offensichtlich, oder?”
‘Du, Annika, das geht jetzt nicht. Entschuldige, aber ich muss gehen. Ich kann mich jetzt nicht auf dich allein konzentrieren. Ich erkläre es dir vielleicht ein anderes Mal. Sei mir nicht böse, bitte. Die Knospe hätte gern die Blüte zur Freundin. - Nicht böse sein, bitte, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich werde an anderer Stelle gebraucht.’
Dann war sie weg, so unauffällig wie sie vorhin plötzlich vor mir stand, war sie im Haus verschwunden.
Hatte ich die ganze Zeit allein vor mich hin geredet? Und überhaupt, welche Bestandteile unserer Unterhaltung waren für andere hörbar gewesen. Ich versuchte, mich zu erinnern. Soweit ich wusste, war alles, was ich zu unserer Unterhaltung beigetragen hatte, von mir auch gesagt worden, nicht nur gedacht. Na ja, das mit der Oberweite vielleicht ausgenommen. Aber hatten andere zuhören können?
Ich tröstete mich ein wenig mit dem Gedanken, dass wir im Moment wahrscheinlich die einzigen aus der Siedlung waren, die nicht auf irgendeiner Insel im Mittelmeer die Füße ins Meer und andere Körperteile in die Sonne hielten.
Dieser Gedanke schaffte mir überraschender Weise diesmal sogar ein wenig Linderung. Trotzdem war ich innerlich ganz schön aufgewühlt. Habe ich das eben wirklich alles mit einem mir wildfremden Menschen besprochen? Das sind doch alles Dinge, über die nicht mal Ma Bescheid wusste.
Gut, sie hatte irgendwie einen Radarblick und konnte nach fünf Stunden Yoga nach Hause kommen um dann gerade nach der Mathearbeit zu fragen, die man letzte Woche versiebt hatte. Deshalb wusste ich auch nie so recht, was sie über mich wusste und was nicht. Ich hoffte natürlich, dass sie meine Gedanken nicht erriet, denn gesprochen hatten wir über so etwas natürlich nie.
Und Pa? Pa? Nein ehrlich, der zählte abends seine Familie durch, und wenn er auf vier plus ihm selbst kam, dann hatte er seiner Fürsorgepflicht Genüge getan.
Eines aber vergaß er fast nie beim Abendessen.
„Was machen eigentlich Eure Praktikumspläne nach den Ferien?”
„Ich möchte gern den Fusionsreaktor in Greifswald ansehen”, sagte Dennis stets.
„Wendelstein 7-X”, meinte Pa dann regelmäßig, „ist zwar kein nachgeordneter Bereich von uns, aber ich kenne im betreffenden Ressort jemanden. Das kriegen wir hin, mein Junge. Erinnere mich bitte noch einmal daran! Und du Annika?”
„Ich habe für Annika eine spannende Praktikumstelle bei meiner Ergotherapeutin in Aussicht. So kann sie in den medizinischen Bereich hineinschnuppern.”
„Medizinischer Bereich, sehr gut. Oder was mit Tieren? Annika, du magst doch Tiere, oder?”
Cool Guess! Da jedes Jahr, seit ich schreiben kann, ein Hund oder eine Katze auf meinem Wunschzettel stand, war das anzunehmen! Aber wollte ich wirklich mein Leben damit verbringen, arme, kleine Katzen zu kastrieren? Ist irgendwie auch öde.
Die Sommerferien waren schon schlimm genug; ich musste auf andere Gedanken kommen. Deshalb dachte ich, dass ich Dennis einen Besuch abstatten könnte. Natürlich würde er eine zensierte Version meines Erlebnisses zu hören bekommen. Es macht einfach keinen Sinn, mit einem pubertierenden Bruder über Dinge wie Körbchengrößen zu reden, wenn ihr versteht, was ich meine.
Als ich halb die Treppe zu seinem Spitzboden hinaufgestiegen war, hörte ich schon sein energisches „Du störst!” - Im Sekundentakt zerlegten sich gerade irgendwelche Aliens und Monster in ihre elementaren Bestandteile.
Da seine Gehirnaktivität ohnehin gerade für den im Raumkampf überlebenswichtigen Zeigefinger benötigt wurde, konnte ich mich ebenso gut auch mit Naike unterhalten.