Читать книгу Eliten, Lurche, flache Erde!!11!!! - Kiara Borini - Страница 6

DAS EREIGNIS

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Es war ein ausgezeichneter Inder, nein, korrekt ein vorzügliches indisches Restaurant, in einer ruhigen Seitenstraße in Zehlendorf in Berlin gelegen. Im Kiez und darüber hinaus bekannt, weil die Tandoori-Gerichte in einem eigens gemauerten Lehmofen zubereitet wurden.

„Murgh Malai Tikka“ war eine der Spezialitäten, die sich gerade auf dem Tisch befand, genauso wie leckere vegetarische Speisen, dazu diverse Naans, Baturas, Paneer Pakoras und natürlich Papadams, diverse Soßen und für jede der jungen Damen ein großes Glas Mango-Lassi.

So saßen sie kichernd am Vorabend des Valentinstags beisammen: Sandra, die an diesem Freitag den dreizehnten ihren 21. Geburtstag feierte, zusammen mit Melanie, Jaqueline und Katja.

Sandra war die jüngste in diesem Quartett. Die anderen waren bereits im Laufe des letzten Jahres 21 geworden. Sie studierten, hatten ausgelernt und ihre erste feste Arbeitsstelle oder planten gerade einen Auslandsaufenthalt.

Kurzum, sie hatten sich viel zu erzählen. Und auch wenn sie allesamt emanzipiert und erwachsen genug waren, dem kommenden Valentinstag keine große Aufmerksamkeit oder gar Wichtigkeit beizumessen. So ganz unromantisch waren die jungen Damen dann allerdings doch nicht: Und so erzählten sie der Reihe nach von ihren Erwartungen an diejenigen, die aktuell ihr Herz erobert hatten.

Und wie das so in kleinen Gruppen ist, mit jedem Redebeitrag wurde es lustiger und phantasievoller, die Erwartungen an die jeweiligen Liebhaber wurden freizügiger und unerfüllbarer. Und natürlich wurde das Ganze untermalt von allerlei Gekicher. Und obwohl lediglich Joghurtgetränke auf dem Tisch standen, war die Stimmung ausgelassen.

„Ich habe zu Weihnachten diesen Balconett-BH bekommen mit diesem String-Tanga. Den hatte ich noch nie an. Es gab einfach keine Gelegenheit, wenn ihr wisst, was ich meine“, meinte Sandra mit einem Augenzwinkern. „Aber wenn er ein richtig gutes Restaurant ausgesucht hat und hinterher nicht zu müde ist, dann bin ich zumindest vorbereitet. Und wenn nicht, dann hat er eben sein Valentinstagsgeschenk nicht abgeholt. Sein Pech!“

Jaqueline saß nach vorn gebeugt, so dass ihr brauner Pagen-Schnitt ihr ins Gesicht hing und nuckelte an ihrem Strohhalm. Fast hätte sie sich an ihrem Mango-Lassie verschluckt. Sie richtete sich auf und sah zu Sandra hinauf, die ihr gegenübersaß. Jaqueline war klein, eigentlich sehr klein. Alle hatten sich darauf verständigt, dass Jaqueline fast ein Meter sechzig groß war. Darauf legte sie Wert: Ein Meter sechsundfünfzig, oder gar nur fünfundfünfzig, das hätte fast nach Ausgrenzung geklungen, fand Jaqueline. Es hätte sie der Teilhabe beraubt, zur Außenseiterin gemacht. Und nein, dass war sie nicht, sie war mitten drin im Leben. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie als Kind zu behandeln, sie nicht als erwachsene Frau wahrzunehmen. Sie war darüber hinaus quirlig wie ein Wurf junger Hunde und tanzte auf allen Hochzeiten. Wo sie war, war immer das Zentrum jeder Ansammlung von Menschen. Im Moment bereitete sie sich gerade auf einen Studienaufenthalt in Paris vor. Sie lernte Sprachen wie niemand sonst am Tisch, oder auch nur wie jemand, den die anderen kannten. Sie ging auf fremde Menschen zu wie niemand sonst, auch wenn sie sich recken musste, um den Menschen in die Augen zu sehen.

Melanie atmete pfeifend wie eine Hyäne, nur Katja war noch in der Lage, Worte zu formulieren:

„Ich mag diese Strings ja nicht so. Wenn mir etwas in der Po-Ritze hängt, finde ich das fies. Das versaut einem den ganzen Tag“, kicherte sie.

Sandra lachte und erwiderte: „Jetzt wisst ihr, warum ich den BH zwar schon ein paar Mal anhatte, aber mich mit Strings nicht wirklich anfreunden kann. Das ist nicht meine Welt, aber was tut man nicht alles für seinen Liebsten.“

Wieder ging eine Bemerkung in allgemeinem Gelächter unter, und niemand hatte Stefan gesehen, der an den Tisch herangetreten war, einen Strauß Supermarkttulpen ungelenk in der Hand, einen Fahrradhelm in der anderen.

„Da ist es ja gut, dass ich gerade zur rechten Zeit komme. Strings sind meine Spezialität, meine zweite Dissertation wird Strings nie wieder so erscheinen lassen, wie sie derzeit wahrgenommen werden. Denn meine Strings sind fundamental anders.“

Der letzte Satz war im allgemeinen Gelächter schon gar nicht mehr zu verstehen.

„Das“, meinte Sandra mit viel Mühen und unter Zuhilfenahme ihrer rechten Hand, die sie auf ihr Zwerchfell presste, „Das ist Stefan, mein älterer Bruder. - Und das klägliche Gemüsezwiebelbündel ist wohl für mich als Geburtstagsgruß, oder?“

„Ja, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Alles Gute, was du dir so wünscht als Frau.“

„Strings“, lachte Jaqueline.

„Du bist der Nerd-Bruder, oder?“, prustete Melanie los. Sie war die freche Berliner Göre in der Runde. Ein bisschen zu groß, ein bisschen zu breite Schultern und immer ein bisschen zu vorlaut.

„Na, zumindest mit den Strings kann ich euch helfen, falls das noch ein Thema ist“, meinte Stefan trocken. Groß, schlaksig und immer in Bewegung. Er trug einen Hipster-Bart, Brille mit dunklem Rand, die seine braunen Augen gut zur Geltung brachte. Seine braunen Haare kringelten sich vom Schweiß, der sich unter seinem Fahrradhelm gebildet hatte.

„Setz dich“, fand Katja. „Wir sind gerade in der richtigen Stimmung, eine männliche Expertise zum Thema Strings zu hören.“ Katja war die Exotische im Bunde. Von ihrem Vater hatte sie eine karamellbraune Hautfarbe geerbt, ihre Mutter hatte die dunkelgrünen Augen beigesteuert.

Das ließ Stefan sich nicht zweimal sagen. Er setzte sich ans Kopfende des Tisches und fing an zu dozieren.

„Meist sind Mädchen ja nicht so interessiert daran, was das Universum im Innersten zusammenhält. Die Nobelpreise zeigen ja auch in der Gesamtschau, dass die MINT-Fächer schlicht Männersache sind. Deshalb will ich auch ein wenig ausholen, damit das für euch Mädels verständlich wird.“

„Lass mich raten: Strings, oder?“, unterbrach Jaqueline ihn, bevor er überhaupt in Fahrt gekommen war.

„Natürlich Strings, aber der Reihe nach. In der aristotelischen Weltsicht war das Atom, das atomos, das Unteilbare. Aus diesem Grundbaustein setzte sich die gesamte Welt zusammen. Alles was wir hier sehen, der Tisch, die Speisen.“ - und dann zum hinzugetretenen Kellner: „Für mich bitte einen Chai-Tee, danke!“ - „Alles hier ist aus Atomen zusammengesetzt. Natürlich sehen wir zunächst die größere Ebene, die Moleküle, dann, bei höherer Vergrößerung, in ihnen enthalten, die Atome. Aber, wenn ihr in den letzten Jahrzehnten auch nur ein wenig aufgepasst habt, dann wisst ihr, dass man Atome durchaus teilen kann.“

„Wissen wir“, nickte Melanie ergeben.

„Und bei dieser Teilung wird eine enorme Energie frei.“

„Wissen wir“, nickte Melanie ergeben.

„Wir können sogar berechnen, wie hoch diese Energie ist...“

„e=mc2“, meinte Katja regungslos. „Nur, was hat das mit Unterwäsche zu tun?“

Diese Irritation wiederum ließ Stefan unbeantwortet, und fragte sie direkt:

„Woher weißt du das eigentlich - so als Mädchen?“

„Einstein war schließlich auch eine Frau“, entgegnete sie trocken.

„Albert Einstein, eine Frau?“, wiederholte Stefan irritiert.

„Hast du mal ihre Haare gesehen?“, nahm ihn nun Jaqueline ebenfalls auf den Arm.

Stefan versuchte die sich gerade bildenden Spinnweben in seinen Kopf zu vertreiben und nahm schließlich seinen Monolog wieder auf.

„Auch die kleinsten Teilchen sind aus weiteren Teilen zusammengesetzt. Und jetzt kommt es, jeweils drei Quarks bilden ein Elementarteilchen. Also Proton, Neutron. Und je nach dem aus welchen Quarks sie zusammengesetzt sind, also zwei Up-Quarks und ein Down-Quark oder umgekehrt zwei Down-Quarks und ein Up-Quark entsteht ein positives oder negatives Teilchen.“

„Und nun erzählst du uns bestimmt gleich noch, dass es diesen Quark in verschiedenen Geschmacksrichtungen gibt. Also einen Erdbeerquark für ein Universum aus Antimaterie, in das ihr die Frauen lockt, und ein Mate-Quark als Rückzugsgebiet für die von den Frauen verängstigten Astrophysiker, die sicherlich irgendwo auch ihr eigenes Universum mit ganz viel Video-Spielen und SciFi haben?“, nahm Katja ihn auf die Schippe.

„Ja!“, Stefan strahlte fast. „Man nennt diese unterschiedlich energetisch aufgeladenen Quarks im Englischen wirklich ‚Flavours‘!“

Die jungen Damen sahen sich gegenseitig an und waren sich spontan einig, dass sie Stefan dieses Spiel weiterspielen lassen wollten, allerdings nach ihren Regeln.

„Nun zu den Strings. Sind die Strings nun aus diesen Down-Quarks, während analog BHs aus Up-Quarks sind? Irgendwoher muss ja der Push-Up-Effekt herkommen?“

Stefan sah seine Schwester verdutzt an. Wenigstens sie sollte das Wesen der Quarks doch verstanden haben, so viel Zeit wie er ihr über die Jahre gewidmet hatte, die Forschungen seiner ersten Doktorarbeit zu erläutern.

Sandra musste sich dann auch ein Lachen verkneifen. Stefan war ein unerbittlicher Lehrer. Er duldete es einfach nicht, wenn man seine Sicht der Dinge nicht teilte. Doch er fasste sich schnell.

„Alles was wir über die Quarks und ihr Innenleben wissen, kennen wir nur, indem wir sie bei extrem hoher Temperatur mit sehr viel Energie beschießen und so zerstören. Dann schauen wir uns genau an, woraus ihre Trümmer bestehen.“

„Ich würde bei Strings nie höher als 30 Grad gehen“, meinte Jaqueline.

„Müsst ihr immer alles kaputtmachen, um es zu verstehen?“, wollte Melanie wissen.

Stefan sah sie missbilligend an. weil ihm aber auch keine sinnvolle Erwiderung einfiel, setzte er seine unaufgeforderte, aber für die Damen doch zumindest streckenweise amüsante Unterrichtsstunde fort.

„Das Wichtigste ist, dass das Wesen dieser Quarks nun wieder aus einem Gebilde besteht, das lang und dünn ist und wie eine Gitarrensaite schwingt, den Strings. Und jetzt kommt das Verrückte, dieses Schwingen, diese Energie ist es was das Wesen der Materie ausmacht.“

Er sah sie triumphierend an. Dummerweise blickte er nicht in demütig niedergeschlagene Augenpaare, wie er es erwartet hatte, sondern in vier belustigt dreinblickende Gesichter, die aus dieser doch eigentlich sehr ernsten Thematik eine Menge Spaß zu ziehen schienen.

Er räusperte sich, rührte fast theatralisch den Honig in seinem Chai-Tee um und fuhr fort.

„Wenn also die Materie im Wesentlichen nicht Masse, sondern oszillierende Energie ist, dann stellt sich die Frage, wieso reicht diese Energie nicht aus, die Masse im Universum zu erklären?“

„Reicht sie nicht?“, wollte Melanie wissen. „Ich dachte der Jo-Jo-Effekt erklärt ja, dass sich Masse um das Zentrum eines Körpers periodisch wieder sammelt.“

Jaqueline blubberte Blasen in ihren Mango-Lassi.

„Das ist wieder ein anderer Aspekt“, meinte Stefan und vermied es, diesen irritierenden Faden aufzunehmen. Festkörperphysik war nicht seine Kernkompetenz und er wollte vermeiden, sich vor den Freundinnen seiner Schwester eine Blöße zu geben. Es lief doch gerade so gut.

„Wenn eine Masse eine Gravitation auslöst, dann wird es sehr merkwürdig, wenn diese Masse nicht für die gemessene Gravitationsstärke ausreicht. Mathematisch ist die Realität nicht zu erklären.“

Melanie fasste sich als erste: „Und weil sie nicht dein Idealgewicht hat, findest du sie nicht anziehend?“, prustete sie los.

„Es geht gar nicht um mich; dem ganzen Universum fehlt die Basis für die Gravitation. Wir benötigen etliche weitere Universen, die mit unserem interagieren, um das Phänomen der Anziehung zu erklären.“

„Und mit Strings ist es leichter, Anziehung zu erreichen?“ - Melanie sah ihn schelmisch an.

„Wir sind es gewohnt, dass die möglichen Universen strikt voneinander getrennt sind. Nur im mehrdimensionalen Schwingungsverhalten der Strings ließe sich die Kraft bündeln, die notwendig ist, die benötigte Masse durch die Energie zu erreichen, um die Gravitation schlüssig zu erklären. Und wir benötigen entschieden mehr Dimensionen als die drei, vier, die wir kennen. In meinen Berechnungen sind wir schnell bei zwölf Dimensionen, vielleicht sogar mehr.“

„Wow“, meinte Jaqueline und sah ihn mit so großen rehbraunen Augen an, dass selbst Stefan etwas mulmig wurde.

Er rührte weiter in seinem Tee und hörte Katja sagen: “Wer hätte gedacht, welche Energie in Strings steckt?“

Stefan atmete tief durch.

„Das Entscheidende ist aber, auch wenn die Strings in sehr vielen Dimensionen schwingen und diese Oszillationen nicht nur unser Universum durchdringen, sondern mindestens ein ganzes Dutzend von ihnen. So sind die Universen doch nicht so hermetisch voneinander getrennt, wie wir das gemeinhin so denken.

Schon eine Kleinigkeit, wie die Drehrichtung, in der ich gerade meinen Chai rühre, kann, wenn es in einem Paralleluniversum eine zeitgleiche Entsprechung gibt, zu einer Durchdringung der Barrieren innerhalb der Strings führen, die unser gesamtes Materiegefüge, also die Welt, so wie wir sie kennen, in Unordnung bringt.“

Die vier jungen Damen sahen ihn mit großen Augen an. Diese Reaktion gefiel ihm. Sehr sogar! Stefan stand gern im Mittelpunkt. Obwohl die Reaktion nach einer Weile doch heftiger auszufallen schien, als er sich erträumt hatte. Sogar, wenn er bedachte, dass Katja ein wenig in sein Beuteschema passte. Sie war drahtig, sportlich und dass sie gerade mit einer Arzthelferin liiert war, das konnte man sicherlich ändern. Dass er einmal nicht jederzeit den Fokus einer Frau auf sich lenken konnte, daran hatte er noch nie Zweifel gehabt.

Dann bemerkte er, dass der Tisch irgendwie höher war als vorher. Und als er sich irritiert im Stuhl zurücklehnte, spürte er das Gewicht seiner Oberweite, und als er dann blonde Locken aus seinem Gesicht wischen musste, sah er ein wenig verängstigt in die Runde. Zu seiner Überraschung sah er klar und deutlich, ganz ohne Brille.

Die vier jungen Damen schienen es mit Fassung zu nehmen.

„Wir sollten dich wohl ab jetzt Stefanie nennen“, meinte Sandra als erste so trocken und nüchtern, dass Stefan zusätzlich erschrak. Er nahm einen Schluck Chai-Tee und entdeckte beim Absetzen des Glases Lippenstiftspuren am Rand. Erst jetzt nahm er seine lackierten Fingernägel wahr.

Es geschah nicht oft, dass Stefan sich in einer geselligen Runde befand und diese nicht dominierte. Nun aber fühlte er sich unwohl. Unwohl und klein. Alles wirkte größer und höher: der Tisch, der Stuhl. Er wagte nicht, an seinem Körper herunterzusehen. Er ahnte, was er sehen würde. Er spürte es beim Ein- und Ausatmen. Er spürte wie das ungewohnte Gewicht Auswirkungen auf seine Rückenmuskulatur hatte. Und er spürte, wie seine Füße sonderbar schmerzten. Warum nur hatte er viel zu kleine Schuhe an?

Die anderen sahen ihn noch immer voller Erwartung an. Sollte er wirklich mit seinem Vortrag fortfahren? Es gab natürlich noch etliche Aspekte, die erörterungswürdig waren. Aber es gab offensichtlich auch Aspekte, die es unvermittelt in die Praxis geschafft hatte, die nun ebenfalls einer entsprechenden Würdigung wert waren.

„F**k!, selbst als Frau muss mein Bruder wieder maßlos übertreiben. Wäre nicht auch ein B-Körbchen gut genug gewesen? Nein, er muss natürlich wieder alle hier am Tisch ausstechen!“, schäumte Sandra. Aber es wirkte nicht wirklich verärgert, denn ihre ernste Miene wich gleich wieder einem prustenden Lachen.

„Willkommen im Club!“, kicherte Melanie, die sich nun am Ehesten mit Stefans Oberweite messen konnte. Allerdings war sie größer und hatte breitere Schultern.

„Wow, was diese Strings doch für Power haben“, meinte Katja. „Dann werde ich das mit der Po-Ritze eben doch mal in Kauf nehmen müssen.“ Ihre grünen Augen blitzten, was dadurch besonders zur Geltung kam, weil ihre Haut nun eine Spur dunkler zu sein schien. Und dann waren da noch die goldblonden Strähnen, die sich nun durch ihre dunklen Locken zogen.

Es gab an diesem Abend noch einige Mango-Lassis und Chai-Tees und selbstverständlich jede Menge Gekicher. Besonders für Jaqueline war die Freude riesig, als sie feststellte, dass sie genauso groß war wie Stefan, und der hatte in seinem Ausweis als Größe ein Meter einundsechzig eingetragen. Zur Überraschung aller stellte Jaqueline dann fest, dass dieselbe Größe auch in ihrem Personalausweis stand.

Die Freude darüber führte zu einer weiteren Runde. Sie waren inzwischen bei alkoholfreien Cocktails angekommen. Auch ohne Alkohol war es ein beschwingter Abend, bei dem viel gelacht und diskutiert wurde. Und es sprach für die Höflichkeit des Personals, dass man sie als inzwischen einzige Gäste dieses noch lange tun ließ.

Nur die allerwichtigste Frage - zumindest für Stefan - "Was nun?“ - wurde an diesem Abend komplett ausgeblendet.

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Stefan erwachte in einem fremden Bett. Das große Boxspring-Bett seiner Schwester, wie er erschreckend feststellte. Und sie lag neben ihm! Und es gab nur eine gemeinsame Decke, dieses amerikanische Monstrum aus weißem Laken am oberen Ende über einer Wolldecke umgeklappt und an den Seiten festgesteckt.

Ein mulmiges Gefühl zuckte durch seinen noch nicht ganz wachen Kopf. Hatten sie etwa? Instinktiv drehte er sich von seiner Schwester weg, und dann war der vergangene Abend wieder präsent. Schwer hingen ihm fremde Körperteile an seiner Brustmuskulatur. Er wollte aufstehen und stellte fest, dass das Bett entweder ungewöhnlich hoch war oder seine Beine entsprechend kürzer. Zudem war er fast nackt; nur ein T-Shirt und ein Slip! Nichts, was die Körperteile, die ungewohnt baumelten und wackelten daran hinderte, es zu tun. Immerhin hatte er keine Morgenlatte. Wäre im Schlafzimmer seiner Schwester noch peinlicher gewesen.

Er schielte zur anderen Bettseite und stellte erleichtert fest, dass Sandra noch schlief und schlich in Richtung Bad.

Langsam erinnerte er sich. Es war gestern spät geworden. Irgendwann hatten Sandra und ihre Freundinnen ihm geraten, nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Zehlendorf über den Alex zu seiner WG im Osten der Stadt zu fahren. Der Alex schien für sie eine Art No-Go-Zone zu sein, zumindest nachts.

Er wäre ja auch mit dem Fahrrad zurückgefahren, so wie er hergekommen war. Aber sein schöner, von einer Fahrradmanufaktur eigens per Hand hartgelöteter Rahmen wollte so gar nicht zu seiner neuen Beinlänge passen. Selbst mit ganz nach unten geschraubtem Sattel kam er nicht an die Pedale. Und beim Versuch im Stehen zu radeln, drückte die obere Stange so energisch in den Schritt, dass er befürchtete, dass dies seiner Konzentration und Sicherheit nicht guttun würde.

Sandra, Katja, Melanie und Jaqueline hatten sich vor Lachen gebogen.

Dann waren Sandra und er zum Haus ihrer Eltern in der Nähe gegangen, in der Sandra seit kurzem im Dachgeschoss eine Einliegerwohnung hatte.

Stefan schlich in Richtung Toilette und setze sich. Soweit hatte er sich inzwischen im Griff und wenn auch nicht mit seiner neuen Form abgefunden, doch instinktiv an die neuen Notwendigkeiten angepasst.

Die kleine Wohnung war schön geworden. Seit er mit Beginn des Studiums in eine WG eingezogen war, hatte Sandra sein ehemaliges Zimmer in Besitz genommen und zum Schlafzimmer umfunktioniert. Das große Boxspring-Bett war ein neues Möbelstück, das dem Raum eine ganz andere Note gab. Natürlich hatte auch der neue und entschieden feminine Anstrich der Wände nicht unerheblichen Anteil. Es gab inzwischen sogar ein eigenes Bad. Klein, aber bequem.

Ihr Vater, ein alteingesessener Zehlendorfer Handwerksmeister, hatte es sich nicht nehmen lassen, seiner Tochter eine eigene Dusche mit Toilette zu bauen. Die Rohre im Haus lagen günstig; Stefans ehemaliges Zimmer schloss direkt an das bereits vorhandene Badezimmer an.

Nach ein paar Trockenbauwänden, Klempnerei, Fliesenlege- und Elektroarbeiten, hatte Sandras Reich einen eigenen Eingang vom Flur bekommen, sowie ein eigenes kleines Bad.

Zugegeben, Stefans ehemaliges Zimmer war nun ein wenig kleiner. Aber es reichte für ein großes Bett, einen körperhohen Spiegel in der Ecke, eine großzügige Frisierkommode, die ihre Großmutter beigesteuert hatte, und die inzwischen frisch gesandstrahlt und mit neuester LED-Technik rund um den Spiegel ausgeleuchtet, jedem angehenden Star zu Ehre gereicht hätte.

Sandra war eigentlich eher eine moderne, zielstrebige Frau. Keine jedenfalls, die Stunden mit Kosmetik und Schminken verbracht hätte. Groß, schlank und mit ihrer praktischen braunen Kurzhaarfrisur fand sie morgens nur wenig Zeit, sich für die Welt zurechtzumachen. Sie wollte wegen ihres Kopfes geschätzt werden, nicht dafür, was sie an Farben für diesen verwendet hatte.

Dennoch fand sie die Energie, die ihr Vater in die Schaffung ihres neuen Reichs gesteckt hatte, ganz herzallerliebst und hatte tatsächlich Mühe, nicht loszuheulen, als er ihr eines Abends den Schlüssel dazu überreicht hatte.

Stefan saß auf der Toilette und überlegte, wie er nun verfahren sollte. Da gab es etwas Wichtiges, was zu beachten war. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter Sandra stets ermahnt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wenn man falsch wischte, dann bekam man eine Blasenentzündung. So war das doch, oder?

Und plötzlich schoss ein Gedanke durch seinen Kopf und er saß er kerzengerade auf der Klobrille. Würde er etwa auch diese Tampons benutzen müssen? F**k!, wenn er Glück hatte, dann hatte er nur noch drei Wochen, um eine Lösung zu finden, wie er diesen Körper wieder loswerden konnte. Ihm grauste vor dem Gedanken, da irgendetwas hineinzustecken. Und dann konnte er noch nicht einmal sehen, wie das da unten aussah. Früher wusste er genau, welche Körperpartien der Hygiene bedurften. Wie sollte das im Blindflug funktionieren?

Sandra stand gähnend in der Badezimmertür.

„Brauchst du noch lange, Schwesterherz?“

„Ich glaube, das sind zwei Öffnungen“, meinte Stefan in sich selbst versunken.

„Wie bitte?“

„Eine zum Pinkeln, und eine für den Spaß“, resümierte Stefan.

„Ach“, meinte Sandra. „Da ist mein Brüderchen in der Lage, den Zusammenhalt des ganzen Universums zu erklären und entdeckt gerade eben auf dem Klo die Venus?“

„Na, sonst muss es ja immer schnell gehen“, meinte Stefan etwas verschüchtert.

„Das wäre ein guter Ansatz, mal die Perspektive und Praxis zu ändern, so wie du aktuell gebaut bist. Nutze die Chance und entdecke die Langsamkeit. Aber nicht jetzt! Ich muss mal pinkeln.“

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Stefan stand vor dem großen Spiegel in Sandras Zimmer und beäugte sich skeptisch. Dass er jetzt kleiner war - geschenkt. Dass er eine Frau war, war er ebenfalls geneigt zu akzeptieren, zumindest vorerst. Aber diese Art von Frau. Ihn schüttelte es fast.

Widerwillig zog er sein T-Shirt aus. Nicht auf diese theatralische Art mit verschränkten Armen. Ganz normal, so wie man es auszieht: oben angepackt und runter damit. Das erwies sich aber als schwieriger, als gedacht. Es gab Hindernisse, die er nicht eingeplant hatte, und die den Saum energisch festhielten. Das besserte seine Stimmung nicht. Nicht im Geringsten!

Er sah, was er erwartet hatte. Viel zu viel Haut, da wo Muskeln hätten sein müssen, war nur Fleisch. Jeder andere hätte seinen Körper als attraktiv beschreiben können, für Stefan war es nur Schwabbel. Er zwang sich förmlich, sein Spiegelbild in sich aufzunehmen. Er musste wissen, wo er ansetzen musste, um diesen Körper in einen halbwegs erträglichen Zustand zu versetzen. Zumindest, für die Zeit in der er in ihm gefangen war.

Der Gummizug des Slips schnürte leicht in das bisschen Bauchspeck, das ein wohlwollenderer Betrachter eingestanden hätte. Die hüpfenden Massen vor seinem Brustbein hätte ebendieser, nach ein wenig Unterstützung durch einen BH, ein sehr attraktives Dekolleté genannt. Und um diesen 'fetten' Arsch hätten ihn etliche Frauen beneidet, die gerade große Summen beim Schönheitschirurgen ließen, um eine Jeans knackig auszufüllen. Stefan haderte damit, unerwartet eine Frau geworden zu sein, und ganz besonders, diese Art von Frau.

Warum spielte das Schicksal so einen Streich mit ihm. Er war einer der Administratoren von „Triple-Double-U“. Gründungsmitglied! Es brauchte gar kein Meeting, um ihn zu entlarven. Der Führungszirkel war seine WG. Der Server stand unter seinem Schreibtisch. Er würde zerrissen werden, sobald er nach Hause kam! Atomisiert! Und wenn er die nächsten Wochen gar nichts mehr aß? Würden sie dann Gnade walten lassen? Auf ein bloßes Versprechen hin? Hatte er überhaupt eine Chance gegen den Schwabbel? Er, der versuchte, das Universum zu verstehen, und das vielleicht auf die denkbar beste Weise bereits geschafft hatte, wurde von ebendiesem verarscht.

Er riss sich förmlich von seinem Spiegelbild los und suchte „seine“ Bekleidung. Der BH widerte ihn an. Der Versuch, ihn hinter dem Rücken zu verschließen scheiterte kläglich. Es wäre vielleicht einfacher gegangen, wenn er nicht gleichzeitig diese Massen vorn hätte verstauen müssen und in dem noch nicht verschlossenen Zustand hätte daran hindern müssen, wieder hinaus zu hüpfen, Seine Verachtung für diesen Körper stieg ins schier Unermessliche.

Er erinnerte sich daran, dass seine Schwester BHs vorn schloss und dann nach hinten drehte. Nur war sie anders dimensioniert. Er sah auch vorn den Verschluss kaum und dann hinderte das, was der BH bändigen sollte, ihn auch daran, diesen elegant umzudrehen.

Als es ihm endlich gelungen war, bemerkte er zu spät, dass die Träger nach unten hingen. Er klappte den BH energisch nach oben um und stellte nun fest, dass die Innenseite nach außen zeigte. Wutentbrannt schleuderte er das Kleidungsstück in die Zimmerecke.

„Schwesterherz, darf ich dir helfen?“, hörte er Sandra sagen. Sie hob den BH auf, griff um seinen Körper herum und verschloss den BH hinter seinem Rücken. Dann bugsierte sie seine Arme durch die Träger und justierte diese noch ein wenig nach.

„Du hast mich eben wieder Schwesterherz genannt. Vorhin Brüderchen. Wieso? Was bin ich in deinen Augen?“

„Die Bezeichnung war immer der Situation angepasst. Je nach dem, ob du dich wie eine junge Dame verhalten hast, oder wie mein ehemaliger nerdiger Bruder.“

„Aber du erinnerst dich noch daran, dass ich mal ein Mann war?“

„Selbstverständlich. Und ehrlich gesagt, du verhältst dich zwischendurch auch immer wieder wie einer. Ich finde das gerade überaus spannend.“

„Was meinst du?“

„Die für dich neue Urogenitalzone weckt bei dir den Forschergeist, nicht die Lust.“

„Lust? Nein, wirklich nicht! Also, ich finde das eigentlich alles eklig. Mir ist das entschieden zu viel Körper, obwohl ich jetzt sogar kleiner und leichter bin gibt es keinen Moment, wo ich nicht an diese Form erinnert werde. Alles wackelt irgendwie und führt ein Eigenleben. Sämtliche Regionen sind nicht so definiert, wie ich es gewohnt war. Den anderen Körper, meinen eigenen, habe ich durch harte Arbeit geformt. Dieser hier hat einfach überall Haut, Fett und was auch immer. Es wackelt, schwabbelt und wird bestimmt bald auch dellig.“

„Ja, so ist das halt, wenn man auf die Dreißig zugeht. Wenigstens hat man dir deinen klugen Kopf gelassen. Wäre ja noch schöner, wenn du jetzt, statt das Universum zu erforschen, einen eigenen YouTube-Kanal haben wolltest, um etwa Lidschatten-Tipps zu geben.“

„Du meinst, ich bin wenigstens noch so klug wie vorher?“

„Wieso fragst du?“

„Woher weiß ich, dass sich mein Verstand nicht verändert hat?“

„Kluge Frage! - Ist ja schon mal ein Indikator. Lies mal Descartes.“

„Du meinst Philosophie würde mir helfen?“ Ihn, als Naturwissenschaftler schauderte es zutiefst. Wenigstens Descartes, der hatte immerhin ein paar kluge Sachen zur Geometrie gesagt, überlegte er.

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In der Küche war ihre Mutter bereits eifrig damit beschäftigt, das Frühstück zuzubereiten.

„Guten Morgen Sandra! Die Eier sind gleich fertig. Ach, du bist ja auch da, Stefanie. Das ist schön, beide Mädels am Frühstückstisch. Das ist selten geworden, seit du das Universum erforscht. Wie fühlst du dich so ganz allein unter all den Nerds?“

Stefan sah sie irritiert an. Sandra schaltete schneller.

„Wie soll es schon sein, Männer halt. Wenigstens sind die wohl alle so im Sheldon-Modus, dass Stefanie nicht permanent ihre Jungfräulichkeit verteidigen muss.“

„Also, ich weiß ja nicht...“, kicherte ihre Mutter und stellte die Eier zu den restlichen Leckereien auf den Tisch.

Kaum hatten sie sich gesetzt, schaute sie ihre Töchter der Reihe nach an und ließ ihren Blick lange auf Stefanie ruhen.

„Irgendwas ist anders!“

Dann herrschte einige Zeit angespanntes Schweigen.

„Die Haare!“, meinte sie nach einiger Zeit. „Du hast die Locken mit einem Glätteisen rausgezogen. Steht Dir Übrigens sehr gut, die glatten Haare!“ Dann, nach einer Weile: “Verzeiht, ich brauche ein Taschentuch. Dieser verflixte Schnupfen. Muss ich mir gestern Abend an der Bushaltestelle eingefangen haben, die Erkältung. Da ist heute wieder mal eine Tour ausgefallen. Und als der Bus endlich kam, hat der Fahrer in einer Tour gemeckert. Nicht zum Aushalten.”

Sandra und Stefan sahen sich fragend an.

„Wo ist eigentlich POTUS?“, wollte Stefan wissen. Und dann kam der Kater des Hauses auch schon, lauthals Töne der Genugtuung von sich gebend, angesaust und saß mit geübtem Satz auf seinem Schoß. Den zimtfarbenen Rücken zu Stefan gewandt und eng an ihn angekuschelt, die weißen Pfoten artig auf der Tischkante abgelegt. POTUS bettelte nicht. Er wollte einfach nur Tuchfühlung zu seiner Familie haben und ganz besonders zu seinem Lieblingsmenschen Stefan.

Wenn nicht gerade Mahlzeiten eingenommen wurden, dann bewachte POTUS das obere Stockwerk. Daher stammte ja auch der Name: „Proprietor Of The Upper Stairs.“ - Denn POTUS war wirklich der Herrscher über das obere Stockwerk. Im Moment schien POTUS aber einfach glücklich, dass sein Lieblingsmensch wieder da war.

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Sandra und Stefanie beratschlagten, wie sie weiter fortfahren sollten. Dass Stefanie die kommende Nacht wieder bei Sandra schlafen würde, galt als ausgemacht, bis sie eine Lösung hatten. Aber irgendwann musste sie sich ja mit Klaus und Peter arrangieren, oder eine neue Wohnung finden.

Dann summte Sandras Telefon.

Katja: Ihr wisst, dass ich einen afrikanischen Vater habe und eine Mutter, die Ärztin ist?

Sandra: Klar! Aus Ruanda. Der macht jetzt so Menschenrechtssachen, wegen des Völkermords, oder?

Stefanie: Ist deine Mutter nicht im Auswärtigen Amt?

Katja: Haltet euch fest. So war es, als ich vorhin das Haus verlassen habe. Als ich zurückkomme, ist die seit zwei Jahren Gesundheitsministerin.

Sandra: Seit zwei Jahren?

Katja: Seit zwei Jahren, vier Monaten und neun Tagen. Seit der letzten Bundestagswahl. Ich habe es in Wikipedia nachgeschaut. Es ist offensichtlich wahr. Nur, dass ich mich nicht daran erinnere. Nach meiner Erinnerung ist sie Referentin im Auswärtigen Amt.

Jaqueline: Krass! Und geht es euch jetzt finanziell besser? Ist das noch die etwas in die Jahre gekommene Einrichtung, oder lebt ihr jetzt in einer schicken Villa?

Stefanie: Es geht offensichtlich weiter!

Katja: Das Übelste wisst ihr noch nicht. Mein Vater ist ebenfalls Gesundheitsminister - in Ruanda!

Jaqueline: Wow! Dann bist du ja jetzt wichtig.

Katja: Ich bin tot, habe ich vergessen zu erwähnen. Ich bin ja jetzt meine Cousine.

Melanie: Stimmt. Das wird wirklich immer merkwürdiger.

Katja: Und noch etwas: Meine Mutter und mein Vater haben gerader ein bilaterales Abkommen geschlossen. - AIDS-Medikamente gegen Nieren...

Sandra: Wie bitte?

Katja: Ja - Lebendspenden. Da werden Bürgern in Ruanda Spendernieren entnommen, und wir bezahlen wohl mit abgelaufenen AIDS-Medikamenten.

Sandra: Das würde deine Mutter nie tun!

Katja: Seit ich offensichtlich an Nierenversagen gestorben bin, ist sie wohl völlig durch den Wind. Was ich allerdings noch viel weniger verstehe, warum sich die Vergangenheit nachträglich verändert.

Ach ja - Die Spender sind alle Hutu, mein Vater ist Tutsi...

... und alle in meiner Familie sind erkältet und furchtbar gereizt.

Sandra: Wir müssen uns unbedingt treffen!

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„Die Frage ist berechtigt“, meinte Sandra nach einigem Überlegen. Sie hatten sich endlich wieder getroffen und ausgiebig diskutiert.

„Wenn es wirklich etwas ist, was in einem anderen Universum seinen Ursprung hatte, damit ist ja nicht gesagt, dass wir es von hieraus stoppen können. Dann haben wir vielleicht gar keine Chance“, ließ Katja den Mut sinken. „Wir wissen ja noch nicht einmal, wo dieses andere Universum ist. Kann man es denn sehen? Kann man das mit einem Teleskop beobachten?“, überlegte Melanie.

„Nein“, antwortete Stefanie entschieden. „Es ist genau hier!“

Sie spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen.

„Als alle Universen entstanden sind, war alles reine Energie. Erst viel später ist aus dieser Energie Materie kondensiert. Da ist unser Universum entstanden, so wie wir es kennen. Aber auch all die anderen. Und alle sind voneinander jeweils nur durch eine hohe Energiebarriere getrennt. Die Masse von der Materie von allen Sternen in allen Galaxien zusammen macht nur einen Bruchteil davon aus, was wir benötigen, damit wir die messbare Schwerkraft erklären können. Da muss also viel mehr existieren. Und ein Erklärungsmuster ist, dass es ganz viele Universen gibt, die alle am scheinbar gleichen Platz existieren, aber durch Energie und Dimensionen voneinander getrennt sind. Das allermeiste nach dem Urknall ist noch nicht Materie geworden, sondern ist nach wie vor Energie. - So wie vor dem Urknall.“

Stefanie überlegte, ob sie weiter fortführen sollte, oder ob sie dann in die Muster von Stefan verfallen würde. Dann schob sie noch einen Satz nach.

„Als die Materie in all diesen Paralleluniversen entstand, entwickelten sie sich von einem gemeinsamen Ursprung alle ein klein wenig in unterschiedliche Richtungen.“

„Und aus irgendeinem Grund kommen gerade jetzt die Unterschiede von irgendwoher zu uns?“, überlegte Katja. „Wie können wir den Damm wieder reparieren?“

„Sonst müssen wir uns wohl langfristig damit abfinden, dass wir der Mülleimer von irgendjemandem geworden sind“, ergänzte Melanie.

„Und ich werde mich wohl damit abfinden müssen, dass ich mit einem alten afrikanischen Sack verheiratet werde, nur weil es der Karriere meines Vaters dient, von dem ich immer mehr das Gefühl habe, dass er gar nicht mehr mein Vater ist. Er ist mir inzwischen so fremd geworden. Meine ganze Familie ist nicht mehr die, die ich zu kennen geglaubt habe. Na ja, noch aktueller Lage ist es ja ohnehin die Familie meines Onkels.“

„Wir haben überraschend einen neuen Großvater, der in dieser Hinsicht vielleicht hilfreich ist. Er ist zwar inzwischen in Hamburg begraben, aber er hat uns ein Haus hinterlassen, in dem du erstmal untertauchen kannst. Stefanie nimmt dich nachher mit.“

„Gut, dass wir die drängenden Probleme geklärt haben“, fand Melanie. „Aber da die Veränderungen ja offensichtlich immer noch passieren, müssen wir ein Schema finden. Dazu gehört, dass wir die Augen und Ohren offenhalten und uns ein Forum einrichten, in dem wir unsere Beobachtungen ablegen können. Dann können wir uns später zusammensetzen und sie klassifizieren. Vielleicht finden wir etwas, was uns hilft, das Ganze zu verstehen. Und jetzt, da wir wissen, dass alles nicht auf Berlin beschränkt ist, zumindest Hamburg und Ruanda schienen ja ebenfalls betroffen zu sein, wird es umso wichtiger, das aufzuhalten. Vielleicht sind wir wirklich die einzigen fünf, die geblieben sind, die das Ausmaß erkennen können...”

In ihren Augenwinkeln bildete sich eine Träne. Und wer Melanie kannte, wusste das als sehr ernstes Zeichen zu deuten, denn ihren Schultern konnte sie eine große Last aufbürden, ohne dass sie sich gemeinhin etwas anmerken ließ. Die Scheidung ihrer Eltern vor ein paar Jahren, den Verlust ihres geliebten Hundes, der wegen eines Hüftleidens letztes Jahr eingeschläfert werden musste, all das ließ sie sich nicht anmerken. Äußerlich war sie stark. Wer sie kannte, wusste, wie sensibel sie im Inneren war. Nun aber war offensichtlich ein Punkt erreicht, wo selbst sie die Fassade kaum noch aufrechterhalten konnte.

“Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist; aber irgendwie scheint jeder heute erkältet zu sein. Überall trieft und schnieft es.” Alle nickten auf Katjas Bemerkung hin.

“Nicht, dass es so schlimm wird wie in China. Da hat man vor vierzehn Tagen wohl eine ganze Stadt abgeriegelt, damit die erkälteten Bewohner nicht andere anstecken beim chinesischen Neujahrsfest”, ergänzte Melanie. “Ich habe es heute im Radio gehört.”

“Ich ebenfalls”, meinte Sandra. “Und das hat mich sehr verwirrt.”

“Ist auch krass, gleich eine ganze Stadt in Quarantäne...”

“Das meine ich nicht. Ich habe es heute zum ersten Mal gehört. Hätten wir da nicht schon vor Tagen von hören müssen?”

“Das bedeutet, wir haben es auch hier mit einer veränderten Vergangenheit zu tun?”, überlegte Stefanie.

„Wäre das nicht sinnvoll, wenn wir irgendwo einen Server hätten, auf dem wir unsere Ergebnisse sammeln können? Und wäre das nicht etwas, was früher in Stefans Bereich gefallen wäre?“, überlegte Katja.

“Ja, cool wäre natürlich, wenn wir diesen Server gegen Veränderungen dieser bekloppten Universumseinstülpung absichern könnten”, meinte Jaqueline.

Alle Blicke ruhten auf Stefanie.

„Ihr meint, ob ich so etwas überhaupt noch kann?“ - Das wäre dann aber schon etwas sexistisch, oder?“, formulierte Stefanie.

Die anderen wurden rot.

„Gut, dann kann ich mal einen Web-Server einrichten, der wirklich mal zu etwas nützlich ist. Aber Zeitlinien sicher? Ihr verlangt zu viel... Dennoch: Vielleicht soll das ja meine neue Funktion in dieser Gruppe sein, dass ich mich mal nützlich machen kann. Ich versuche mal was mit gehashten Quersummen, die ich auf einem Server auf einem anderen Kontinent ablege. Dann erkennen wir zumindest, sobald die Quersummen nicht mehr zusammenpassen, dass sich was verändert hat, und wie oft dieser Effekt eintritt. - Ihr bekommt die Zugangsdaten dann über den Messenger-Dienst. Zumindest muss ich mir nichts extra einfallen lassen. Download-Seiten arbeiten schon seit vielen Jahren mit diesem Schutzmechanismus.

Tragt einfach alles ein, was euch auffällt, was ihr denkt, dass es sich gegenüber der Welt, wie wir sie in Erinnerung haben, verändert haben könnte. Wir treffen uns dann morgen oder übermorgen und analysieren das und versuchen ein Schema zu finden.“

Und geschah in den folgenden Tagen und Wochen einiges, was sie zusammentrugen und aufzeichneten, denn die Welt spielte förmlich verrückt. Nichts schien mehr vorhersehbar zu sein, oder konventionellen Gepflogenheiten zu entsprechen.

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Es war nicht bei der abgeriegelten Stadt geblieben. Langsam verdichteten sich die Nachrichten - sie veränderten sich zunehmend, um ein anderes Wort zu wählen - dahingehend, dass eine gesamte chinesische Provinz abgeriegelt worden war. Zugleich wurde ein Krankenhaus mit riesiger Kapazität quasi aus dem Erdboden gestampft. In diesen Baracken oder Containern sollten angeblich tausend Betten untergebracht sein.

Offenbar hatte das Abriegeln aber nicht ausgereicht. Es gab erste Anzeichen dafür, dass der Infekt sich bereits in andere Länder ausgebreitet hatte.

“Wieso so ein Aufriss wegen einer Erkältung? Hier haben auch alle einen Schnupfen. Aber es ist ja auch noch Winter; selbst wenn es laut Kalender bald Frühling wird”, war eine oft gehörte Meinung.

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Eliten, Lurche, flache Erde!!11!!!

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